Historical Exklusiv Band 77

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Anne Herries
Gekauft für den Harem

"2000 Goldstücke!" Von Piraten geraubt, steht Lady Harriet gefesselt auf dem Sklavenmarkt - und wird für den Harem des Kalifen Khalid gekauft. Von Kasim. Er ist der Ziehsohn des türkischen Herrschers. Und ein englischer Lord. Harriet beschwört ihn, ihr die Freiheit zu schenken. Vergeblich. Sie sollte ihn hassen, entbrennt jedoch in heißer Leidenschaft für ihn. Doch wer den Sultan betrügt, riskiert sein Leben!

Marguerite Kaye
Die verbotenen Küsse des Scheichs

"Sie sehen aus, als würden sie in den Harem gehören, nicht ins Schulzimmer!", befindet Scheich Jamil empört. Eigentlich hat er die junge Cassandra als Gouvernante für seine Tochter engagiert. Doch ihre betörend sinnliche Ausstrahlung führt den stolzen Scheich gefährlich in Versuchung - und unter den Sternen der Wüste küsst er sie heiß. Aber die Tradition verlangt, dass Jamil eine arabische Prinzessin heiratet …


  • Erscheinungstag 11.06.2019
  • Bandnummer 77
  • ISBN / Artikelnummer 9783733737139
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Anne Herries, Marguerite Kaye

HISTORICAL EXKLUSIV BAND 77

PROLOG

Du weißt, dass du wie ein Sohn für mich bist, Kasim?“

„Ja, Hoheit.“ Kasim, seines Zeichens Berater und angenommener Sohn des Kalifen Khalid bin Ossaman, neigte respektvoll den Kopf. „Euer Vertrauen ehrt mich zutiefst.“

„Ich würde diese Aufgabe keinem anderen übertragen wollen, Kasim. Prinz Hassan liegt mir am Herzen. Nicht mehr lange, dann ist er im Heiratsalter, und ich muss eine passende Braut für ihn finden. Er hat viele schöne Frauen in seinem Harem, aber sie alle sind nicht geeignet. Hassan soll mein Nachfolger werden, wenn ich sterbe …“ Der Kalif winkte ab, als Kasim protestieren wollte. „Allahs Wille geschehe, mein Sohn. Wir alle müssen diese Erde verlassen, um unseren Platz im Paradies einnehmen zu können, und ich werde den Tod nicht fürchten, wenn meine Zeit gekommen ist – aber ich will meine Nachfolge gesichert wissen. Die Frau, die Hassan zur Braut nimmt, soll außergewöhnlich schön und klug sein, aber auch mutig und unerschrocken, denn sie wird seinen Erben gebären. Hassans Mutter war eine solche Frau, und seine Gattin soll ihr gleichen.“

Kasim sah den Kalifen nachdenklich an. „Gibt es unter Euren Gefolgsleuten von Rang denn keinen mit einer Tochter, die Eure Anforderungen erfüllt? Wenn, so wäre sie zumindest muslimischen Glaubens und in allem geschult, was sie wissen muss, um ihre Pflichten als Hauptfrau des Prinzen zu erfüllen.“

Der Kalif schwieg einen Moment. In seine Augen trat ein kaltes Glitzern, als er Kasim ansah, und er presste den Mund kurz zu einer schmalen Linie zusammen, bevor er weitersprach. „Wenn ich Hassan eine Gattin aus einer der einflussreichen Familien erwähle, mache ich mir alle anderen zu Feinden. Du kennst die Eifersucht der Stammesfürsten zur Genüge, Kasim. Immer wieder zetteln sie Aufstände und Rebellionen an, die wir niederschlagen müssen. Meine eigene Hauptfrau – die, die ich am meisten geliebt habe – stammte aus dem Land, in dem du geboren wurdest, und ich wünsche, dass auch Hassan eine englische Gattin nimmt.“

„Ihr wollt, dass ich eine Sklavin auf den Märkten in Algier kaufe?“ Kasim wiederholte die Forderung des Herrschers, um sicherzugehen, dass er sie genau verstanden hatte.

„So lautet meine Anordnung. Triff eine kluge Wahl, mein Sohn. Der Preis ist bedeutungslos. Ich möchte ein unbezahlbares Juwel für Prinz Hassan.“

Kasim zögerte einen winzigen Moment. „Wie Ihr befehlt, Hoheit.“

Er verneigte sich vor seinem Herrscher und machte fünf Schritte rückwärts, bevor er den Audienzsaal verließ, dann begab er sich stirnrunzelnd in seine Palastgemächer. Der Kalif behandelte ihn mit Respekt, sogar Zuneigung. Er verdankte seine Position einem Herrscher, den er als ebenso brutal wie barmherzig kennengelernt hatte, als ebenso weise wie mitleidlos. Khalid war ein gerechter Regent der Provinz, in der der Sultan ihn als Statthalter eingesetzt hatte, und er gab seinen Feinden kein Pardon. Sich gegen ihn zu erheben und ihn nicht zu besiegen bedeutete den sicheren Tod. Kasim war seit Kurzem zurück von einem Feldzug, bei dem er einen aufständischen Stamm im Norden von Khalids Territorium niedergeworfen hatte. Der Befehl war effizient und ohne unnötiges Blutvergießen ausgeführt worden, aber Kasim wusste, dass den Gefangenen, die die Janitscharen gemacht hatten, eine harte Bestrafung bevorstand. Er konnte nichts tun, um das zu ändern, denn jede Einmischung hätte ihm Unverständnis eingebracht. Grausamkeit gehörte zu seinem Leben in diesem Land – einem Leben, das er aus freiem Willen gewählt hatte –, und er musste sie akzeptieren.

Immerhin würde er sich die Bestrafungen nicht ansehen müssen, denn die Bitte des Kalifen, eine englische Sklavin zu kaufen, war ein Befehl. Es galt, sein Schiff zum Auslaufen klarzumachen und nach Algier zu segeln, um eine Braut für den Prinzen zu ­erwerben. Eine junge Engländerin von außergewöhnlicher Schönheit und Intelligenz.

Es würde nicht einfach sein, die Richtige zu finden. Die Suche nach einer solchen Frau konnte viele Monate dauern – wenn sie denn überhaupt erfolgreich war.

Kasim verstand die Überlegungen, die hinter dem Auftrag seines Gebieters steckte, sehr wohl. Die Tochter eines Stammesfürsten zu bevorzugen würde ganz sicherlich Neid und Unruhe he­raufbeschwören. Gleichwohl gab es etwas an dieser Mission, das ihm überhaupt nicht behagte. Wäre es möglich gewesen, hätte er abgelehnt, sie zu übernehmen, aber er konnte nicht wählen – außer er wollte den Palast verlassen und ein neues Leben anfangen.

Er war hoch aufgestiegen im Dienst des Kalifen und hatte ein beachtliches Vermögen anhäufen können, dennoch verspürte er eine Leere und Rastlosigkeit, ein Verlangen nach etwas, das er nicht benennen konnte. Ein ironisches Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. Vor Jahren hatte er England unter schwierigen Bedingungen verlassen, und erst nach einer langen Zeit der Bedrängnis war er im Palast des Kalifen gelandet. Er hätte ein Narr sein müssen, sein Leben als geachtetes Mitglied von Khalids Hof aufs Spiel zu setzen.

1. KAPITEL

Was geschieht mit uns? Wo bringen sie uns hin?“

Mitfühlend musterte Lady Harriet, die Tochter des verstorbenen Viscount Sefton-Jones, die junge Frau, die sich verzweifelt an ihrem Arm festhielt. Vor ein paar Wochen hatten Korsaren das Schiff, auf dem sie nach Spanien gereist waren, gekapert und sie und ihre Cousine tagelang im Laderaum gefangen gehalten. Als die Galeasse der Seeräuber kurz darauf im Hafen von Algier festgemacht hatte, waren sie in ein Haus irgendwo in der geschäftigen Innenstadt gebracht worden. Den Männern, die in jener entsetzlichen Nacht mit ihnen in Gefangenschaft geraten waren, hatten die Freibeuter Ketten angelegt. Ihr und Marguerite war dieses Schicksal Gott sei Dank erspart geblieben. In der Unterkunft hatte eine ältere Frau sich um sie gekümmert, ihnen ein Bad bereitet und die Kleidung gegeben, die sie seitdem trugen. Die Sachen waren sauber, aber es fühlte sich ungewohnt an, sie anzuhaben … lange Hosen, die die Knöchel eng umschlossen, und darüber ein Gewand und einen dunklen Schleier, der, wenn sie es richtig verstanden hatte, hidschab genannt wurde und sie von Kopf bis Fuß verhüllte.

„Ich bin nicht sicher, Liebes“, erwiderte Harriet mit gesenkter Stimme. Der Mann, der sie bewachte, hatte ihnen verboten zu sprechen. „Miriam zufolge wurden wir an einen gewissen Ali bin Ahmed verkauft. Aber ich weiß nicht, wohin man uns bringt.“

„Ich habe kein Wort von dem verstanden, was der Piratenkapitän sagte“, flüsterte Marguerite unter Tränen. „Wenn wir doch nur auf dem Schiff geblieben wären, Harriet! Vater und Captain Richardson glaubten, dass sie uns retten, als sie uns und die anderen mit dem Ruderboot fortschickten, aber …“ Ein Zittern durchlief sie, und für einen Moment konnte sie nicht weitersprechen. „Glaubst du, sie wurden getötet?“

Harriet antwortete nicht gleich. Das Letzte, was sie von ihrem Onkel, Sir Harold Henley und dem tapferen jungen Kapitän gesehen hatte, war, dass die beiden in einen erbitterten Kampf mit den Korsaren verwickelt gewesen waren. Es hatte Flaute geherrscht, und der Mann im Ausguck schien geschlafen zu haben, denn mitten in der Nacht war Marguerites Vater in ihre Kajüte gestürmt, hatte sie geweckt und an Deck gescheucht. Während die Seeräuber das Schiff bereits enterten, waren die beiden Frauen zusammen mit anderen Passagieren und einigen Mannschaftsmitgliedern im Beiboot entkommen. Sie hatten gehofft, der Kampf an Bord würde so lange dauern, dass sie die Küste erreichen könnten, doch die Piraten hatten sie verfolgt und eingeholt.

Marguerite war eine Schönheit und würde auf dem Sklavenmarkt einen hohen Preis erzielen. Als attraktiv auf ihre eigene Art konnte auch die um ein paar Jahre ältere Harriet mit dem dunklen Haar und den großen rauchblauen Augen gelten. Ihr Vater, der vor etwas über einem Jahr gestorben war, hatte sie von Kindesbeinen an ermutigt, Sprachen zu lernen, und sie beherrschte Französisch und Spanisch fließend. Griechisch und Arabisch konnte sie lesen, und da sie auch ein paar Brocken Sephardisch sprach, war sie sogar in der Lage gewesen, sich mit Miriam, jener älteren Frau, die sie in Algier beherbergt hatte, zu verständigen.

In der Hoffnung, Marguerite und sich selber freikaufen zu können, hatte Harriet ihrer Cousine bislang nichts von ihren Befürchtungen erzählt. Doch nachdem Miriam auf keinen ihrer Hinweise auf eine mögliche Lösegeldzahlung eingegangen war und nur ablehnend den Kopf geschüttelt hatte, machte Harriet sich Sorgen. Trotzdem war sie nicht willens aufzugeben. Früher oder später würde sie auf jemanden treffen, der ihr zuhörte und nicht so tat, als verstünde er sie nicht – so wie der Piratenkapitän, der ihr Angebot mit einem Hieb quittiert hatte. Die Prellung an ihrer Wange tat immer noch weh, aber einschüchtern ließ sie sich davon nicht.

Sie nahm Marguerites Hand. „Was immer geschieht, wir müssen zusehen, dass wir zusammenbleiben“, sagte sie eindringlich. „Tu einfach immer, was ich tue, und halt dich an mir fest, auch wenn sie uns drohen.“

„Harriet …“ Marguerites Augen füllten sich erneut mit Tränen. „Wenn du Vater und mich nicht nach Spanien begleitet hättest, wäre ich jetzt ganz allein, und ich könnte es nicht ertragen …“

„Ich lasse nicht zu, dass sie uns trennen.“ Harriet drückte sie an sich. „Ich verspreche dir, ich beschütze dich, solange ich lebe.“

„Ich habe solche Angst …“

Harriet tröstete die Cousine, so gut sie es vermochte – in dem Wissen, dass ihnen unter diesen unbarmherzigen, gewalttätigen Menschen Entsetzliches widerfahren konnte. Als ihr Blick auf den hohen Zaun fiel, der das Lager, in das man sie brachte, umgab, sah sie ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt.

Kasim schlenderte über den Basar, auf dem es von Menschen aus aller Herren Länder wimmelte; das nie nachlassende Geschrei in mindestens einem Dutzend bekannter und unbekannter Sprachen und Dialekte, das auf dem Platz herrschte, tat ihm in den Ohren weh. Seit zwei Monaten nun stattete er dem Markt täglich einen Besuch ab, auf der Suche nach dem besonderen weiblichen Geschöpf, das zu finden ihm der Kalif aufgetragen hatte, doch bislang war ihm keine Frau unter die Augen gekommen, die seinen anspruchsvollen Gebieter zufriedengestellt hätte. Bei den Versteigerungen fanden sich zwar immer Sklavinnen von ungewöhnlicher Schönheit, doch in den vergangenen Wochen hatte er nur eine Engländerin entdeckt, und sie war in anderen Umständen gewesen, was sie als Braut für den Sohn des Kalifen natürlich völlig ungeeignet machte, und verfügte auch nicht über ein angenehmes Äußeres.

„Werden Euer Hoheit bei der heutigen Versteigerung Ali bin Ahmeds anwesend sein?“

Kasim wandte den Kopf in Richtung der Stimme und sah auf das schelmische Gesicht eines Sklavenjungen herunter, der ihn am Ärmel gezupft hatte. Der magere kleine Bursche trug schmuddelige Kleidung und verströmte einen nicht allzu frischen Geruch, dennoch hatte er etwas an sich, das Kasims Herz berührte. Das Leben des Jungen als Ali bin Ahmeds Prügelknabe war sicher nicht leicht.

„Schickt dich dein Gebieter, Yuri?“

„Oh ja, gnädiger Herr, erhabener Hofmeister des erlauchten Kalifen und Befehlshaber seiner Janitscharen. Ali bin Ahmed kam zu Ohren, dass Ihr eine ganz spezielle Sklavin sucht.“

„Es besteht kein Anlass, mich mit all diesen Titeln anzureden.“ Kasim verzog die Lippen zu einem ironischen Lächeln. Der kleine Bursche brachte eine Saite in ihm zum Klingen, beschwor irgendeine Erinnerung herauf, die er nicht recht zu greifen bekam. Aber vielleicht würde er zu einem späteren Zeitpunkt noch darauf kommen. „Ich bin Kasim, ein bescheidener Diener des Kalifen“, belehrte er den Jungen. „Doch sag mir, ob dein Gebieter besondere Frauen im Angebot hat.“

Yuri nickte eifrig. „Eine, gnädiger Herr. Sie ist wunderschön. Leider weint sie ununterbrochen und klammert sich an die andere Frau, die ich Zankteufelin nenne.“ Der Junge verzog angewidert das Gesicht. „Ich glaube nicht, dass sie für Euch von Interesse ist.“

Kasim unterdrückte ein Lächeln. Der kleine Bursche amüsierte ihn. Sein Mut und seine Beherztheit waren bemerkenswert, und er verfügte über einen bissigen Humor. „Beschreib mir die Frau“, hakte er nach. „Die, die du so schön findest.“

„Sie hat Haar von der Farbe der Sonnenstrahlen – feines Haar, das wie Seide schimmert, und es reicht ihr bis auf die Hüften. Ihre Augen sind blau wie der Sommerhimmel, und ihre Lippen haben die Farbe persischer Rosen. Aber sie hält sich an der Zankteufelin fest und weigert sich, sie loszulassen. Selbst als mein Gebieter ihr mit der Peitsche drohte, ließ sie nicht ab von ihr, und die Zankteufelin starrte meinen Herrn nieder, bis er klein beigab und den beiden erlaubte, zusammenzubleiben.“

„Tatsächlich?“ Der Anflug eines belustigten Lächelns zuckte um Kasims Mundwinkel. „Es wundert mich, dass Ali sie nicht vorher getrennt hat.“

„Die Zankteufelin drohte ihm, sein Gemächt würde verdorren und abfallen, sollte er auch nur in Erwägung ziehen, sie auseinanderzureißen, und sie sagte ihm all das auf Arabisch, obwohl sie und die Schöne beide aus einem Land kommen, das England heißt. Mein Gebieter hat Angst vor ihr, edler Herr. Wahrscheinlich fürchtet er, dass sie ihn verflucht hat.“

„Du meinst, sie ist eine Hexe?“, fragte Kasim fasziniert. Wer war diese Frau, die einen Sklavenhalter in seiner eigenen Sprache verfluchen konnte? Gewiss keine, die er in jenem anderen, früheren Leben gekannt hatte – einem Leben, an das er sich nicht zu erinnern wünschte. „Richte deinem Gebieter aus, dass ich die Versteigerung am heutigen Nachmittag besuchen werde.“

„Selbstverständlich, edler Herr …“ Yuri wollte davoneilen, doch Kasim ergriff ihn beim Arm. Der Knabe sah ihn fragend an, machte indes keinen Versuch, sich loszureißen.

„Wie alt bist du, Yuri? Zehn Jahre … elf?“

„Ich weiß es nicht, Herr. Niemand hat es mir je gesagt.“

„Wo kommst du her?“

Yuri sah ihn verständnislos an. „Ich bin hier geboren, Herr. Meine Mutter war die Sklavin eines Kaufmanns, und er hatte sie von den Korsaren erworben. Als sie an einen anderen Gebieter verkauft wurde, versuchte sie zu fliehen, und keiner sah sie je wieder. Die Frau meines jetzigen Gebieters nahm mich zu sich, und ich wuchs in ihrem Haushalt auf. Mehr weiß ich nicht, und niemand hat meine Mutter je wieder erwähnt.“ Ein sehnsüchtiger Ausdruck stand in seinen Augen, so, als hätte er seine Mutter gerne gekannt.

„Bist du zufrieden, in Alis Diensten zu stehen?“

„Mein Gebieter schlägt mich nicht, außer er ist sehr zornig. Wenn ich merke, dass er wütend wird, verstecke ich mich, bis er wieder bessere Laune hat.“

Kasim nickte. Der Junge lebte ein Leben, das nicht schlechter war als das Tausender anderer in dieser Stadt. Es war seine eigene Schuld, dass er in den vergangenen Wochen eine Schwäche für den kleinen Burschen entwickelt hatte, ganz abgesehen davon, dass er ihn später, bei der Versteigerung, vielleicht kaufen würde. Der Junge konnte ihm dienen, bis er alt genug war, um selbst über sein Schicksal zu entscheiden. Er wäre nicht der erste Sklave, den er freigelassen hatte.

Seine Gedanken wandten sich der Sklavin zu, die der Händler in seinem Lager hatte. Wenn die blonde Frau wirklich eine Engländerin war und so schön, wie Yuri behauptete, wäre seine Suche vielleicht endlich von Erfolg gekrönt, obwohl man die andere Frau wahrscheinlich irgendwie davon überzeugen musste, ihre Gefährtin gehen zu lassen …

„Was soll aus uns werden?“ Marguerite klammerte sich an Harriet, als sie mit den anderen Gefangenen in einen Pferch getrieben wurden. „Ob sie uns gegen Lösegeld freilassen, wie du angeboten hast?“

Harriet drückte ihr die Hand. Seit dem Tag, da man sie gefangen genommen hatte, befand Marguerite sich in einem Zustand der Angst. Die ersten Stunden waren tatsächlich furchterregend gewesen, doch da man sie einigermaßen gut behandelte, glaubte Harriet, dass ihnen nichts geschehen würde, solange sie sich vernünftig verhielten. Sie nahm an, dass zwei Engländerinnen für zu wertvoll erachtet wurden, als dass man ihnen einen Schaden zufügen würde, obwohl sich das ändern mochte, wenn sie einmal verkauft waren. Aber sie weigerte sich, irgendwelchen Ängsten nachzugeben. Sie redete mit dem Sklavenhändler, doch obwohl sie sicher war, dass er sie verstand, schüttelte der Mann nur den Kopf und lehnte es ab, ihre Fragen zu beantworten. Harriet hatte vergeblich versucht, herauszufinden, was aus ihrem Onkel und ihrer Zofe geworden war. Auf ihr Angebot, dass ihre Familie ein hohes Lösegeld für sie zahlen würde, hatte Ali bin Ahmed sie nur angestarrt und einen Unheil verkündenden Laut von sich gegeben.

Sie sprach mit einer anderen Gefangenen im Lager; einer Französin, Francine mit Namen, die man ein paar Tage zuvor ebenfalls von einem Schiff geraubt hatte. Neuigkeiten über Marguerites Vater, Captain Richardson und ihre Zofe brachte Harriet nicht in Erfahrung. Sie konnte nur hoffen, dass die drei noch lebten und in Sicherheit waren.

„Mich bieten sie als Leibsklavin an, weil ich in meinem Alter keinen hohen Preis mehr erziele“, erklärte Francine nüchtern. „Eure Freundin allerdings wird zweifellos irgendein reicher Mann für seinen Harem kaufen und Euch womöglich auch, denn Ihr seid beide jung, ansehnlich und unverheiratet.“

„Aber wir werden doch sicher gegen Lösegeld freikommen?“, fragte Harriet verzagt. „Mein Bruder ist wohlhabend und kann für unsere Freilassung zahlen.“

„Manchmal lassen sich die Sklavenhändler darauf ein.“ Francine nickte. „Aber die meisten nicht. Sie finden es einfacher, die Gefangenen als Sklaven zu verkaufen, als sich auf komplizierte Verhandlungen mit den Ungläubigen einzulassen.“

„Vielleicht geht der Käufer auf das Angebot ein.“ Als sie das Mitleid in den Augen Francines sah, drohte Harriet der Mut zu verlassen. „Irgendjemand muss uns doch helfen …“

„Wenn Euer Bruder seinen Einfluss beim Botschafter Frankreichs geltend macht, wird man Euch möglicherweise retten und zurückbringen, aber dann … es wäre am besten für Euch, wenn man Euch nie findet. Denn wenn Ihr noch lebt, werdet Ihr eine Schande für Eure Familie sein. Natürlich könnt Ihr Eurem Leben selbst ein Ende machen, bevor …“ Zu bekümmert, um fortzufahren, verstummte die Französin. Sie musste nicht mehr sagen; Harriet hatte sie auch so verstanden. Marguerite und sie würden in einen Harem gebracht, um demjenigen zu seinem Vergnügen zur Verfügung zu stehen, der sie kaufte.

Als Marguerite wissen wollte, was die Französin gesagt hatte, schüttelte Harriet nur den Kopf. Die Cousine glaubte noch immer, sie würden gegen Lösegeld freigelassen, doch seit sie in das Lager beim Sklavenmarkt gebracht worden waren, fiel es Harriet sichtlich schwer, den Mut nicht zu verlieren.

„Ich weiß nicht, wie es weitergeht“, erklärte sie Marguerite. „Deshalb müssen wir zusammenbleiben, koste es, was es wolle. Wenn wir uns nicht trennen lassen, wird man uns vielleicht zusammen verkaufen. Und solange wir zusammen sind, besteht Hoffnung für uns beide.“

„Oh, Harriet …“ Marguerite begann zu schluchzen und klammerte sich an sie. „Ohne dich wäre ich völlig verloren. Lieber hätte ich mich ins Meer gestürzt, als diesen Ungeheuern zu erlauben, mich gefangen zu nehmen.“

„Du darfst nicht verzweifeln, Liebes.“ Harriet legte der Cousine den Arm um die bebenden Schultern. „Ich werde alles tun, um uns freizukaufen. Ach, wenn sie uns doch erlauben würden, Kontakt mit meinem Bruder aufzunehmen …“

„Und Vater … und Captain Richardson?“, fragte Marguerite. „Denkst du, sie fanden den Tod auf dem Schiff? Ich frage mich immer noch, ob es nicht besser gewesen wäre, bei ihnen zu bleiben. Wenn Papa tot ist …“ Sie schluckte schwer. „Lieber möchte ich auch sterben, als die Sklavin eines Barbaren zu sein.“ Sie erschauderte. „Diese Männer machen mir Angst, Harriet. Ich finde es abstoßend, wie sie herumbrüllen, wie sie riechen …“

„Korsaren sind brutal, und sie riechen tatsächlich nicht gut, aber im Har… wenn wir im Haushalt eines wohlhabenden Mannes leben, werden wir nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Soviel ich weiß, sind Türken und Sarazenen gebildet und baden häufig und gern. Vermutlich werden sie eher nach Parfüm duften, als nach Schweiß riechen.“

„Harriet!“ In Marguerites Augen stand das blanke Entsetzen. „Wie kannst du behaupten, sie wären gebildet, wo sie Frauen als Sklaven halten! Das ist böse und unmenschlich, und ich würde eher sterben, als mich zwingen zu lassen … die Scham würde mich umbringen.“

„Ich weiß sehr wohl, dass wir ruiniert wären und uns keine Hoffnung mehr auf eine Heirat in England machen könnten, falls sie uns freilassen würden. Aber es gibt mehr im Leben als eine Ehe. Und wenn unser Käufer ein Ehrenmann ist, wird er gestatten, dass man uns freikauft.“

Marguerite warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. „Das sagst du nur, um mich zu trösten. Dabei weißt du genau, dass es niemals passieren wird.“

Harriet senkte den Blick. Ihre Hoffnung, freigekauft zu werden, war in der Tat sehr geschrumpft, doch als sie die Angst und Verzweiflung in den Augen ihrer Cousine sah, wurde ihr klar, dass sie nicht aufgeben durfte.

„Ich kann nichts versprechen, Marguerite, aber ich werde nichts unversucht lassen. Wenn mir nur endlich jemand zuhören würde …“

Sie unterbrach sich, als der Sklavenhändler das Lager betrat und mehrere Männer und Frauen aussuchte, die daraufhin fortgebracht wurden. Ihr Herz fing wie wild zu klopfen an, und sie packte Marguerite und drückte sie an sich.

„Ich glaube, sie bringen uns zur Versteigerung. Halt dich an mir fest, Marguerite, und lass mich auf keinen Fall los, egal, was sie sagen.“

Marguerite nickte, das Gesicht aschfahl vor Angst. Sie griff nach Harriets Arm, entschlossen, ihn nicht loszulassen, selbst wenn man ihr drohen sollte wie schon etliche Male zuvor.

„Lass sie gehen“, befahl der Sklavenhändler. „Ich will die Hellhaarige, nicht dich.“

„Wir bleiben zusammen.“ Harriet starrte ihn nieder. In einem Ton abgrundtiefer Verachtung murmelte sie einen Schimpfnamen, den sie vor Jahren einmal in einem Buch aus der Bibliothek ihres Vaters gelesen hatte; einer Sammlung schlüpfriger Geschichten aus Arabien, die als amouröse Abenteuer verkleidet waren und die sie nie hätte anrühren sollen, geschweige denn lesen. Aber die Lektüre war erhellend gewesen, und vielleicht hatte sie sie auf das, was ihr als Frau in einem orientalischen Harem bevorstand, besser vorbereitet.

Der Sklavenhändler wirkte wie vom Donner gerührt, doch gleichzeitig trat ein Anflug widerwilliger Bewunderung in seine Augen.

„Dann geh mit, aber ihr werdet getrennt versteigert.“

„Schnell“, zischte Harriet ihrer Cousine zu, während sie den anderen in einen Korridor folgten. „Hilf mir, unsere Handgelenke zusammenzubinden. Dann müssen sie uns auseinanderschneiden, wenn sie uns trennen wollen.“

„Oh, Harriet …“ Marguerite zitterte vor Angst, als sie Harriet mit schreckgeweiteten Augen ansah. „Was geschieht mit uns, wenn man uns verkauft?“

„Ich werde tun, was ich kann, um dich zu schützen.“ Im Stillen fragte Harriet sich, wer sie beschützen würde. Die Angst saß ihr wie ein riesiger Knoten in der Brust und ließ sie sehnsüchtig wünschen, zu Hause zu sein, in England, bei ihren Hunden und Pferden. Aber sie würde keine Schwäche zeigen. Stolz richtete sie sich auf und reckte entschlossen das Kinn. Wenn sie nur niemals zugestimmt hätte, ihren Onkel nach Spanien zu begleiten! Dann säße sie jetzt auf ihrer Lieblingsstute, könnte den Wind in den Haaren spüren … nein, sie durfte nicht so selbstsüchtig denken. Marguerite würde ohne sie nicht überleben. „Was immer geschieht, ich tue mein Bestes, um dich vor Schaden zu bewahren“, wiederholte sie.

Kasim sah zu, wie die Sklaven einer nach dem anderen das ­Podest bestiegen und versteigert wurden. Es waren einige Männer darunter, die dem Aussehen nach zu urteilen über enorme Körperkräfte verfügten und hervorragende Janitscharen abgegeben hätten. Aber er war nicht hier, um männliche Sklaven zu kaufen, sondern eine Braut für den Sohn des Kalifen. Ein paar Frauen waren bereits versteigert, doch keine von ihnen hätte sich für Khalids Harem geeignet. Kasim begann sich zu fragen, ob man ihn unter Vorspiegelung falscher Tatsachen auf die Auktion gelockt hatte, doch dann entstand ein Tumult bei der Tür, und zwei Sklavinnen wurden gemeinsam auf das Podest gestoßen.

Gebannt beugte er sich vor, als sein Blick auf die eine der beiden Frauen fiel. Sie war von erlesener Schönheit; ihr blondes Haar fiel ihr in seidigen Wellen den Rücken hinunter, genau, wie Yuri es beschrieben hatte. Sie war blass und wirkte furchtsam, was unter den gegebenen Umständen nicht verwunderte. Kasim hatte am eigenen Leib erfahren, wie es war, von Piraten erbeutet zu werden, und er konnte ihre Angst verstehen. Dann nahm er die andere in Augenschein und runzelte die Stirn. Sie war etwas älter; apart, aber nicht schön im landläufigen Sinne. Ihr Haar hatte die Farbe von Kastanien – ein sattes Dunkelbraun mit einem rötlichen Schimmer. Auch sie war blass, schien ihm aber weniger verängstigt als ihre Gefährtin. Ihre Haltung war stolz, und sie wich der Jüngeren nicht von der Seite. Ein grimmiges Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als er sah, dass die beiden Frauen an den Handgelenken zusammengebunden waren. Yuri hatte die Ältere Zankteufelin genannt. Der Name war passend gewählt.

Ein Wortwechsel entbrannte unter den Bietern. Nicht wenige von ihnen waren an der blonden Schönheit interessiert, aber keiner von ihnen wollte beide Frauen kaufen. Einer der Diener des Sklavenhändlers versuchte, die ältere Frau von dem Podest zu ziehen, woraufhin sie erbittert mit ihm zu streiten begann und er, sichtlich bestürzt von dem, was sie äußerte, von ihr abließ. Kasim stand nicht nahe genug bei dem Podest, um zu verstehen, was sie gesagt hatte, aber gesehen hatte er genug. „Ich biete eintausend Goldstücke für beide Sklavinnen.“

Einen Moment herrschte verblüffte Stille, dann erhob sich eine Stimme aus der Menge, die erklärte, zwölfhundert Goldstücke zahlen zu wollen. Kasim wartete auf weitere Gebote, dann hob er die Hand.

„Fünfzehnhundert Goldstücke.“

Wieder senkte sich Stille über den Saal. Jeder schien gespannt darauf zu warten, was als Nächstes passieren würde.

„Sechzehnhundert.“

„Zweitausend.“ Diesmal gab es niemanden, der Kasim überbot. Es war eine enorme Summe für eine Sklavin – einfach, weil die zweite Frau nicht zählte. Anscheinend weigerte sie sich, von ihrer Gefährtin getrennt zu werden, doch sobald sie im Harem war, würde sie lernen müssen zu gehorchen.

„Zweitausend zum Ersten … zum Zweiten … und zum Dritten. Den Zuschlag erhält der Haushofmeister des Kalifen“, beschied der Sklavenhalter flink. Ehrerbietig beugte er das Knie vor dem Mann, der einen so märchenhaften Preis geboten hatte. „Möge Allah Eure Verbindung segnen und Euch viele Söhne ­bescheren, hoher Herr.“

„Ich will die Sklavinnen gleich mitnehmen.“

Kasim verließ seinen Platz und erklomm die Stufen zum ­Podest. Dort angekommen, nahm er die Ware in Augenschein. Aus der Nähe betrachtet, war die Schönheit noch schöner, als er gedacht hatte. Sie brauchte höchstens noch ein paar vorteilhafte Kleider, aber auch so würde Khalid begeistert sein. Kasim runzelte die Stirn, als er ihre Gefährtin musterte. Die ältere Sklavin begegnete seinem Blick, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken; ihre Augen verrieten Klugheit und Neugier. Sie erinnerten ihn an einen von Dunstschleiern überzogenen englischen Himmel, und gänzlich unerwartet tat sein Herz einen Satz. Erinnerungen an sein Elternhaus, an seine Kindheit stiegen in ihm auf; Erinnerungen daran, wie er auf dem Landsitz herumgelaufen war, frei und unbeschwert …

Rasch verdrängte er die Bilder. Dieses Leben gehörte unwiderruflich der Vergangenheit an.

„Ihr seid beide Engländerinnen?“, fragte er die Frauen in seiner Muttersprache. „Ihr habt nichts zu befürchten. Mein Name ist Kasim, ich bin der Berater des Kalifen, und Ihr seid meinem Schutz unterstellt. Ihr habt schlimme Erfahrungen hinter Euch, doch ab jetzt wird man Euch so respektvoll behandeln, wie es sich für Frauen geziemt, die zum Haushalt des Kalifen zählen.“

„Ihr sprecht Englisch?“ Die Schönheit sah ihn erleichtert an. „Werdet Ihr uns gegen Lösegeld freilassen? Der Preis, den Ihr für uns gezahlt habt, wird Euch erstattet und Ihr bekommt eine Belohnung für Eure Mühen, nicht wahr, Harriet?“

„Mein Bruder ist der Viscount Sefton-Jones, wohnhaft in London, der Hauptstadt Englands“, sagte die Ältere. „Meine Cousine spricht die Wahrheit, Sir. Wir wären Euch zu größtem Dank verpflichtet, wenn Ihr uns gegen Lösegeld freilassen würdet. Ich kann Euch versprechen, dass es nicht zu Eurem Nachteil wäre, da ich über ein eigenes Vermögen verfüge und dafür sorgen würde, dass man Eure Preisvorstellungen erfüllt.“

Mit verengten Augen musterte Kasim die Frau, die die Schönheit Harriet genannt hatte. Im Gegensatz zu ihrer Gefährtin schien sie zu wissen, für welch märchenhafte Summe er sie erworben hatte.

Ihre Stimme machte Eindruck auf ihn, und für einen kurzen Moment war er versucht, sich ihre Bitte anzuhören, doch dann unterdrückte er die ungewohnte Anwandlung von Schwäche mit aller Entschlossenheit. Noch einmal eine Frau zu finden, die den Anforderungen des Kalifen entsprach, würde Monate dauern – wenn er sie überhaupt fand.

„Vergebt mir, meine Damen“, erwiderte er, ohne auch nur die Andeutung eines Gefühls zu zeigen. „Ich bin lediglich der Diener des Kalifen. Das Geld, das ich Ali bin Ahmed zahle, gehört meinem hohen Herrn. Es steht mir nicht zu Gebote, Euch gegen Lösegeld freizulassen, aber vielleicht wird der Kalif Euch anhören, denn er ist ein gerechter Herrscher. Kommt jetzt, Ihr habt nichts zu befürchten. Wenn Ihr Euch fügsam verhaltet, wird Euch nichts geschehen.“

Die Schönheit starrte ihn an, dann wandte sie sich zu ihrer Gefährtin um. Tränen quollen ihr aus den Augen. „So tu doch etwas, Harriet! Er darf uns nicht mitnehmen. Bitte, lass nicht zu, dass er uns mitnimmt!“

„Er wird mich genauso wenig anhören wie die anderen.“ Die Frau, die Harriet hieß, musterte ihn voller Verachtung. „Wie die Dinge liegen, haben wir keine andere Wahl, als zu tun, was er sagt, Marguerite. Ängstige dich nicht, Liebes. Vielleicht ­erweist sich der Kalif als vernünftiger Mann und zeigt Mitleid.“

Kasim neigte schweigend den Kopf. Die Frau hatte etwas Gebieterisches, und er fragte sich, was sie Ali bin Ahmed gesagt hatte. Einen Sklavenhändler in die Schranken zu weisen gelang wahrhaftig kaum einer Frau, doch Kasim glaubte zu verstehen, was an dieser so einschüchternd war. Als Jugendlicher hatte er Frauen wie sie gekannt; Frauen, die sich mit einem Blick oder einem leise gesprochenen Wort Respekt verschafften. Ihre Verachtung verursachte ihm Unbehagen, denn wenn er ehrlich war, hatte er eine Wahl. Er konnte seinem Leben als Vertrauter des Kalifen den Rücken kehren, auch wenn er nicht wirklich frei war. Als er aus den Sklavenquartieren zum Günstling des Kalifen aufgestiegen war, hatte er sein Wort gegeben. Er konnte kommen und gehen, wie es ihm beliebte, doch es war eine Frage der Ehre, dass er sich seinem Gebieter gegenüber loyal verhielt. Der Kalif behandelte ihn wie einen Sohn, überhäufte ihn mit Ehren, und Kasim verdankte ihm seinen hohen Rang und sein Vermögen. Wegen einer Frau, die er nicht kannte, würde er Khalid gegenüber nicht wortbrüchig werden. Dennoch war ihm beklommen zumute, als er die beiden Frauen vom Sklavenmarkt fort zum Hafen führte, wo sein Schiff vor Anker lag.

Er verdrängte die Erinnerung daran, dass er vor langer Zeit selbst in der Welt gelebt hatte, aus der die jungen Frauen kamen. Wäre da nicht der unglückselige Streit mit seinem Vater gewesen, würde er wohl noch immer in England leben – als privi­legierter Nichtsnutz, der seine Tage mit nichts anderem zu füllen wusste als dem Glücksspiel und den Auseinandersetzungen über die Frauen, die er mit seinen sogenannten Freunden teilte.

Es war einer dieser Freunde gewesen, dessen Lügen sein Verderben und den Bruch mit seinem Vater herbeigeführt hatten. Danach war Kasim als Freibeuter losgezogen, auf der Suche nach Reichtum und Abenteuern. Leider hatte er sein Schiff in einem Sturm verloren und das zweifelhafte Glück gehabt, mehr tot als lebendig von Korsaren an Bord genommen zu werden. Er war geschlagen und verkauft worden, doch ein gütiges Schicksal hatte ihn an den Hof des Kalifen gebracht, und nachdem er dessen Lieblingssohn vor einer Entführung bewahrt hatte, war er in seine heutige Stellung aufgestiegen.

Seither behandelte Khalid bin Ossaman ihn respektvoll und gerecht. Wäre Kasim der Bitte der Schönheit nachgekommen, hätte er seinen Treueeid dem Kalifen gegenüber gebrochen; trotzdem konnte er sich eines nagenden Schuldgefühls nicht erwehren, als er die Frauen zum Hafen begleitete.

Sein Schiff würde sie nach Konstantinopel bringen – Istanbul, wie die Stadt im gesamten Osmanischen Reich genannt wurde. Sobald die Frauen sicher in seiner Kajüte untergebracht waren, wollte er Ali bin Ahmed aufsuchen, die zweitausend Goldstücke zahlen und, sofern der Sklavenhändler einverstanden war, den kleinen Yuri für sich erwerben. Er würde seine Pflicht tun und irgendwelchen Zweifeln keine Beachtung schenken.

Er hatte einen Auftrag, den er nach bestem Wissen erfüllte. Sollte Khalids Sohn die Schönheit nicht begehrenswert finden, bestand sogar die Möglichkeit, dass der Kalif ihrer Bitte um Freilassung gegen Lösegeld stattgab. Zudem erleichterte es sein Gewissen, als Kasim sich klarmachte, dass den Frauen ein weitaus schlimmeres Geschick drohen würde, wenn der Stammesfürst, der gegen ihn geboten hatte, den Zuschlag erhalten hätte.

Die Ältere wäre geschlagen worden und hätte bei anhaltender Widerspenstigkeit zweifellos einen grausamen Tod gefunden, während die Jüngere angesichts des Schicksals, das ihr dieser Teufel bereitet hätte, vermutlich lieber gestorben wäre. Die beiden hatten Glück gehabt, dass sie von ihm ersteigert worden waren, auch wenn sie im Augenblick noch nicht ermessen konnten, wie knapp sie dem Verhängnis entronnen waren.

Auf dem Weg zum Hafen sah Harriet sich aufmerksam um. Alle Arten von Waren wurden zum Kauf angeboten oder auf Schiffe verladen, und es herrschte ein unglaubliches Durcheinander. Der Mann, der sie ersteigert hatte, eskortierte sie durch das Gewühl von Menschen, Hunden, Eseln und Fuhrwerken, und sie sagte sich, dass es, wenn überhaupt, in diesem Gewimmel möglich sein musste, ihrem Käufer zu entkommen und in der Menge unterzutauchen. Sobald er einen Moment abgelenkt wäre, würde sie Marguerite packen und fliehen, denn alles war besser als ein Leben als Sklavinnen.

„Denkt nicht einmal daran zu fliehen.“ Der Mann packte ihr Handgelenk so plötzlich mit seinem stählernen Griff, dass sie zusammenfuhr. Seine Finger schienen ihre Haut zu versengen. Als sie hochsah, begegnete sie seinem zornigen, Furcht einflößenden Blick und hatte für einen Moment das Gefühl, dass er ihre Gedanken lesen konnte. „Ihr seid Eigentum des Kalifen, und auch wenn er wenig Verwendung für Euch haben dürfte, würde ich Euch verfolgen, bis ich Eure Gefährtin wiederhabe. Bei Euch dagegen könnte ich versucht sein, Euch Eurem Schicksal zu überlassen. Macht Euch klar, was das heißt – an diesem Ort würdet Ihr ohne meinen Schutz nicht lange überleben.“

„Was meint Ihr?“ Harriet hielt die Luft an, als sie die Warnung in seinen Augen las.

„Die Männer hier hätten keine Skrupel, Euch Gewalt anzutun. Vermutlich würden sie über Euch herfallen wie ein Rudel Hunde und sich streiten, wer von ihnen Euch als Nächster haben darf. Ihr wärt eine gebrochene Frau, wenn sie sich an Euch vergangen hätten. Ihr würdet an einer schändlichen Krankheit sterben oder verhungern. Ist es das, was Ihr wollt, für Euch und Eure Gefährtin?“

„Nein …“ Ein Zittern durchlief Harriet. Irgendetwas an ihm erinnerte sie an einen Traum, den sie in ihrer letzten Nacht in England geträumt hatte. Das meiste war ihr entfallen, doch sie erinnerte sich, dass sie in dem Traum einem Mann in die Augen geblickt und entsetzliche Angst gehabt hatte. „Ich will, dass wir beide freikommen. Wir sind Engländerinnen, Frauen von Stand, und stammen aus vornehmen Familien. Wie könnt Ihr es als rechtens erachten, uns zu kaufen, als wären wir Lasttiere? Ihr hattet kein Recht, dieses viele Geld zu bieten. Eine so absurd hohe Summe!“

„Ich wollte erreichen, dass niemand dagegen bietet. Ihr könnt Euch glücklich schätzen, dass meine Börse wohlgefüllt war.“

„Glücklich?“ Harriet starrte ihn an. „Ich betrachte es nicht als Glück, in die Sklaverei verkauft worden zu sein.“

„Hätte ich Euch nicht erworben, wärt Ihr trotzdem versteigert worden – getrennt wahrscheinlich, und an einen Gebieter, der Euch die Kehle aufgeschlitzt hätte, wenn Ihr ungehorsam gewesen wärt.“

„Oh Gott …“ Harriet erschauderte. „Seht Ihr nicht, dass es unrecht ist, freie Frauen zu Sklavinnen zu machen?“

„Ich bin nicht bereit, diese Fragen mit Euch zu erörtern.“ Seine Miene wurde kalt und abweisend. „Ihr seid nicht in England und müsst Euch an die hiesige Kultur anpassen.“

„Ihr könnt eine andere Frau für Euren Harem ersteigern. Warum erlaubt Ihr nicht, dass wir gegen Lösegeld freikommen? Ich zahle Euch das Doppelte dessen, was Ihr gezahlt habt.“

„Es geht nicht. Ich bin beauftragt, meinem Gebieter eine Engländerin von ausgesuchter Schönheit und Klugheit zu beschaffen. Ich habe nicht die Befugnis, Euch freizulassen.“

„Niemand würde es erfahren.“

Ich wüsste es. Es ist eine Frage der Ehre.“

„Welche Ehre liegt darin, zwei Frauen zu versklaven?“

Eine Ader an seiner Kehle begann zu pochen, als hätte sie ­einen wunden Punkt getroffen. „Im Harem des Kalifen erwarten Euch Luxus und Bequemlichkeit und sogar ein gewisses Maß an Bewegungsfreiheit, sofern Ihr Euch fügsam zeigt. Es steht Euch nicht zu, mehr zu verlangen. Ihr seid Eigentum des Kalifen, und ich werde es mit allen Mitteln zu verhindern wissen, dass Ihr flieht. Man wird Euch gut behandeln, solange Ihr Euch vernünftig benehmt.“

„Ihr hättet die Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass wir freikommen. Es wäre sogar zu Eurem Vorteil. Aber Ihr besitzt offenbar nicht so viel Mitgefühl oder Anstand, um uns zu unseren Familien zurückkehren zu lassen. Ihr seid ein Barbar ohne Ehre …“

„Haltet Eure Zunge im Zaum! Meine Geduld ist nicht unendlich, und Ihr bewegt Euch auf Messers Schneide. Werdet Euch darüber klar, dass ich Euch bestrafen könnte, wenn ich es wünschte.“

Das brachte Harriet zum Schweigen. Sie wusste, dass sie es schon etliche Male riskiert hatte, bestraft zu werden. Es war ihr gelungen, den Sklavenhändler einzuschüchtern, doch Flüche und Beleidigungen würden diesem Mann nichts anhaben. Er strahlte etwas Hartes, Gebieterisches aus; etwas, das ihr Schauer den Rücken hinunterjagte, auch wenn sie in den Tiefen seiner Augen Mitgefühl zu lesen glaubte.

Aber sie durfte sich nicht gestatten, schwach zu werden. Ihr Gegenüber war weder nachgiebig, noch war er ein Mann von Ehre. Er war ein Wilder, ein Barbar, und sie verachtete ihn und seinesgleichen.

Die Kajüte, in der man sie untergebracht hatte, war bemerkenswert komfortabel, und Harriet nahm an, dass sie normalerweise den Schiffseigner beherbergte. Der Art und Weise nach zu urteilen, wie man ihn begrüßt hatte, glaubte sie, dass das Schiff dem Mann mit den blauen Augen gehörte.

Doch auch wenn sie sich nicht ganz sicher war, genügte der Verdacht, um Bitterkeit und Zorn in ihr heraufzubeschwören. Warum brachte er sie nicht nach England? Wenn er sein eigener Herr war, konnte er Marguerite und sie gegen Zahlung eines großzügigen Lösegelds freilassen. Sie würde ihm liebend gern alles ersetzen, was er ausgelegt hatte – und mehr –, auch wenn das bedeuten würde, dass ihr nicht mehr genug von ihrem Vermögen bliebe, um weiterhin Reisen zu machen.

Ein Schauder durchlief sie. Nach allem, was ihr widerfahren war, würde sie England vermutlich nie mehr verlassen wollen. Was hätte sie darum gegeben, wenn Marguerite und sie niemals an Bord jenes Schiffs gegangen wären, das sie nach Spanien bringen sollte.

„Harriet …“ Als sie Marguerite würgen hörte, wirbelte Harriet herum. Die Cousine stand vornübergekrümmt und erbrach sich heftig. „Mir ist so elend“, jammerte sie, als der Anfall vorbei war, „und mein Bauch tut furchtbar weh.“

„Setz dich, Liebes. Sind es die gleichen Beschwerden wie während des Unwetters?“

„Nein, viel schlimmer. Ich glaube, das Essen in dem Lager ist mir nicht bekommen.“

„Leg dich aufs Bett. Ich hole Hilfe.“

Harriet drehte den Türknauf. Sie hatte erwartet, dass die Tür verschlossen sein würde, doch sie ließ sich ohne Weiteres öffnen. Sie trat in den schmalen Durchgang, spähte nach links und nach rechts in der Hoffnung, jemanden zu sehen.

„Hilfe … Bitte helft mir …!“

„Es hat keinen Sinn, nach Hilfe zu rufen. Niemand wird sich auf Eure Seite schlagen, wenn Ihr fliehen wollt.“

Harriet zuckte zusammen, und als sie aufsah, stand der Mann mit den blauen Augen vor ihr. Sie reckte trotzig das Kinn. „Ich bin nicht so dumm anzunehmen, dass es eine Möglichkeit gäbe, von einem Schiff zu entkommen. Ich brauche Hilfe für meine Cousine. Sie ist krank.“

Er musterte sie nachdenklich. „Was fehlt ihr?“

„Sie hat sich erbrochen und klagt über Bauchschmerzen. Ich nehme an, das Essen im Lager war verdorben. Ich selber habe außer dem Brot nichts davon zu mir genommen, doch Marguerite war hungrig und aß von dem Fleisch.“

„Was für Fleisch?“

„Ich weiß es nicht. Sie sagt, es schmeckte fürchterlich.“

„Wahrscheinlich war es stark gewürzt. Eure Gefährtin ist zu wertvoll, als dass man riskieren würde, ihr verdorbene Speisen zu geben.“

„Sie ist meine Cousine, und ich liebe sie. Habt Ihr etwas, das ihre Qualen lindert?“

„Seht in der Seemannstruhe in der Kajüte nach. Irgendwo in meinen Sachen befindet sich eine kleine blaue Flasche. Wenn Ihr drei Tropfen der Flüssigkeit, die sie enthält, mit Wasser mischt, sollte das den Beschwerden abhelfen.“

„Seid Ihr sicher?“

„Die Arznei half mir, als ich vor Jahren an einer ähnlichen Erkrankung litt. Ich habe sie aufbewahrt für den Fall, dass ich sie noch einmal brauche, obwohl ich inzwischen an das scharfe Essen gewöhnt bin … wie Ihr es übrigens auch sein werdet mit der Zeit.“

„Ich habe nicht die Absicht, lange genug in Eurem Land zu bleiben, um mich an irgendetwas zu gewöhnen. Wenn ich Euren Gebieter treffe, werde ich unsere Freilassung verlangen.“

Belustigung flackerte in seinen Augen auf; beinahe so, als müsse er gegen seinen Willen lachen. Doch dann trat wieder die gewohnte Härte in seine Züge. „Ich bezweifle, dass der Kalif überhaupt Notiz von Euch nehmen wird, meine Dame. Und sollte er es tun, wärt Ihr gut beraten, keine Forderungen zu stellen, sonst könnte es sein, dass Ihr Euch an einem Ort wiederfindet, an dem zu sein Ihr Euch niemals gewünscht habt.“

Harriet schoss ihm einen hochmütigen Blick zu, drehte sich um und ging zurück in die Kajüte. Sie hob den Deckel der Seemannskiste, fand die blaue Flasche und kostete einen Tropfen der Flüssigkeit, die sie enthielt. Der Geschmack war durchdringend bitter, so bitter, dass sie sich schüttelte. Aber wenigstens konnte sie sicher sein, dass es kein Gift war. So sorglos ging der Mann mit den blauen Augen nicht um mit dem Eigentum des Kalifen.

Sie bereitete die Medizin und gab ihrer Cousine den Becher. Marguerite schnitt eine Grimasse, nachdem sie ihn ausgetrunken hatte, doch bereits kurz darauf ging es ihr besser, und sie schlief sogar ein.

Marguerite war kraftlos vom vielen Weinen. Als Harriet sie voller Mitgefühl betrachtete, wurde ihr klar, dass das Mädchen furchtbare Angst vor der Zukunft hatte – mit gutem Grund, denn Marguerites Schönheit würde ihr die Gunst des Mannes einbringen, der sie gekauft hatte. Mit etwas Glück stand ihr selbst ein Leben als Dienerin bevor, doch Marguerite würde eine Konkubine werden.

Stirnrunzelnd ging Kasim zurück an Deck. Die Zankteufelin machte ihrem Namen alle Ehre, und er konnte sich jetzt schon denken, dass sie im Harem für Aufregung sorgen würde. Er verspürte Gewissensbisse, wenn er sich klarmachte, dass es in seiner Macht gelegen hätte, die Engländerinnen freizulassen. Es wäre nicht unmöglich gewesen, dem Kalifen eine andere Braut für seinen Sohn mitzubringen oder an den Hof zurückzukehren und zu behaupten, dass die richtige Frau nicht zu finden war.

Für einen kurzen Moment spielte er mit dem Gedanken, nach England zu segeln, doch dann kamen die bitteren Erinnerungen in ihm hoch und hielten ihn davon ab. Er würde nie in die Welt zurückkehren können, die einmal seine gewesen war. Am Hof des Kalifen hatte er seinen Platz gefunden, und sein Leben war angenehm. Er wäre ein Narr, es wegzuwerfen, und das für eine Frau, die er nicht einmal kannte.

2. KAPITEL

Harriet stand über die Koje gebeugt und legte ein feuchtes Tuch auf Marguerites Stirn, als sie hörte, wie jemand in die Kajüte trat. Sie wirbelte herum und sah sich dem Mann gegenüber, der sie gekauft hatte.

„Was wollt Ihr?“, fragte sie in scharfem Ton. Ihr Herz fing an zu rasen. Er hatte zwar behauptet, dass Marguerite und sie für den Kalifen bestimmt waren, doch sein Anblick jagte ihr Angst ein. Was, wenn er beschlossen hatte, Marguerite für sich zu behalten?

„Ich wollte sehen, wie es Eurer Cousine geht.“ Als Kasim ihre ängstliche Miene gewahrte, runzelte er die Stirn. „Ihr habt nichts von mir zu befürchten, meine Dame.“

„Ihr Zustand hat sich wieder verschlechtert. Sie ist schweißgebadet und fiebert.“

„Habt Ihr ihr die Medizin gegeben?“

„Ja. Eine Zeit lang ging es ihr besser, doch dann erbrach sie sich von Neuem.“

Er trat ans Bett und legte Marguerite die Hand an die Wange. „Sie fühlt sich heiß an. Ihr solltet sie mit kaltem Wasser abreiben; man sagt, das senkt das Fieber. Vielleicht hat sie sich irgendwo angesteckt. Wart Ihr auf der Fahrt nach Algier im Laderaum eingesperrt?“

„Ja. Es stank, und die Luft war fürchterlich. Eure Leute haben uns behandelt wie Tiere, Sir.“

Seine Augen verdunkelten sich vor Zorn. „Die Korsaren sind nicht meine Leute“, erwiderte er kurz angebunden. „Und Ihr seid nicht die Einzigen, die unter ihnen zu leiden hatten. Aber seid beruhigt – dort, wo man Euch hinbringt, erwartet Euch ein Leben, das Euch nur das Beste von allem bietet.“

„Wir werden nicht frei sein.“

„Wart Ihr in Eurer Heimat frei, Lady Harriet? Wenn, dann seid Ihr eine Ausnahme. Die Frauen, die ich in England kannte, waren höchst einschränkenden gesellschaftlichen und familiären Regeln unterworfen.“

„Ihr habt in England gelebt?“ Harriet musterte ihn mit schmalen Augen. Seine Haut hatte einen tiefen Bronzeton, aber etwas an seinen Gesichtszügen kam ihr vertraut vor. „Seid Ihr Engländer? Wie kamt Ihr hierher?“

„Ihr stellt zu viele Fragen.“ Als Marguerite aufstöhnte, drehte Kasim sich zu ihr um. „Ich bereite ihr noch etwas von der Arznei zu. Dann gehe ich, damit Ihr Eure Cousine kalt abreiben könnt.“

„Ich danke Euch.“ Harriet beugte sich über die Fiebernde und nahm das Tuch von ihrer Stirn. Als der Mann, der sie gekauft hatte, mit der Medizin kam, schob sie Marguerite den Arm unter die Schulter und hob sie an. „Trink das, Liebes. Es wird dir guttun.“

Marguerite schluckte den bitteren Trunk, schloss die Augen und sank matt in die Kissen zurück.

„Es wird noch ein paar Tage dauern, bis wir unser Ziel erreichen.“ Kasim wandte sich zum Gehen. „An Bord des Schiffes könnt Ihr Euch frei bewegen. Kommt an Deck, wenn Ihr wollt. Meine Männer werden Euch aus dem Wasser fischen, solltet Ihr vom Schiff springen, aber ich würde Euch bitten, dass Ihr ihre Zeit nicht unnötig mit einem Fluchtversuch vergeudet.“

„Marguerite kann nicht schwimmen“, erwiderte Harriet. „Wäre ich alleine gewesen, hätte ich versucht, die Küste zu erreichen, als die Piraten uns nachsetzten. Aber ich würde meine Cousine niemals ihrem Schicksal überlassen.“

Sein Blick begegnete ihrem, und für einen winzigen Moment erschien ein sonderbarer Ausdruck in den Tiefen seiner Augen. „Ihr könnt sie nicht immer beschützen. Sie ist eine erwachsene Frau und wird ihre eigenen Entscheidungen treffen müssen.“

„In Spanien sollte sie einem Mann vorgestellt werden, der um ihre Hand angehalten hatte. Vermutlich fürchtete sie, gegen ihren Willen verheiratet zu werden, obwohl ihr Vater sie liebt und ihr die Wahl gelassen hätte. Jedenfalls flehte sie mich an, sie zu begleiten, und mir gefiel die Vorstellung, zu reisen und etwas von der Welt zu sehen.“

Kasim öffnete die Tür. „Ich nehme an, Ihr habt mehr gesehen, als Ihr wünschtet. Aber so ist das Leben, ob Ihr oder ich es mögen oder nicht.“ Er nickte ihr kurz zu und verließ die Kajüte.

Harriet beugte sich abermals über ihre Cousine, schlug die Decken zurück und begann Marguerites Beine eins nach dem anderen mit dem nassen Tuch abzureiben. Sie drehte die Kranke auf den Bauch, schob das Hemd hoch und kühlte ihr den Rücken, dann drehte sie sie wieder in die ursprüngliche Lage und tupfte Arme, Hals und Gesicht ab. Danach schien es Marguerite besser zu gehen.

Harriet beobachtete sie eine Zeit lang, ehe sie an die Fensteröffnung trat und einen Blick nach draußen warf. Der Nachthimmel war schwarz bis auf ein paar wenige Sterne. Sie seufzte. Tränen brannten ihr in den Augen, doch sie wischte sie ungeduldig fort, ging zur Koje zurück und legte sich neben die schlafende Marguerite.

Sie war müde … so unendlich müde.

Du bist mein. Du wirst mir auf ewig gehören. Es gibt für dich kein Entkommen außer dem Tod. Ich habe rechtmäßigen Anspruch auf dich, und du bist mein Eigentum.

Schweißgebadet schreckte Harriet aus dem Schlaf hoch. Das Herz klopfte ihr bis in die Kehle. Sie zitterte am ganzen Leib, und das Gefühl eines unerklärlichen Verlusts machte sich in ihr breit. Sie konnte sich nicht erinnern, je etwas so Beängstigendes geträumt zu haben.

Wo war sie überhaupt? Einen kurzen Moment starrte sie in die Dunkelheit, dann überfluteten sie die Erinnerungen, und sie ließ sich auf die Koje zurücksinken. Sie befand sich an Bord ­eines Schiffes, das sie an den Hof des Kalifen brachte, irgendwo im Osmanischen Reich.

Kein Wunder, dass sie einen Albtraum gehabt hatte. Und genau wie ihr Traum in der letzten Nacht in England würde auch dieser wahr werden. Sie war die Gefangene eines Mannes, der ihr schreckliche Dinge sagte – des Mannes, der sie auf dem Sklavenmarkt gekauft hatte. Wie hieß er doch gleich? Kasim? Ja, so lautete sein Name. Er war ein hoher Würdenträger am Hof des Kalifen und hatte sie für den Harem erworben.

Während sie geschlafen hatte, war die Laterne erloschen, und sie hatte nichts, um sie wieder anzuzünden. Harriet schlüpfte aus dem Bett, beugte sich über die schlafende Marguerite und fühlte ihr die Stirn. Das Fieber hatte nachgelassen, Gott sei Dank.

Harriet nahm die Laterne vom Haken und trat in den schmalen Gang hinaus. Am Aufgang zum Deck flackerte ein schwaches Licht. In der Absicht, die Kerze in ihrer Laterne daran anzuzünden, setzte sie sich in Bewegung.

„Wo wollt Ihr hin? Es ist ein Wachposten an Deck, für den Fall, dass Ihr an Flucht denkt.“

Harriet wirbelte herum. Ein Schauer durchlief sie, als sie Kasim in dem langen weißen Kaftan erblickte. Er war barfuß und sah genauso aus wie der Mann in ihrem Traum!

„Ich sagte Euch bereits, dass ich Marguerite niemals verlassen würde. Die Laterne ist ausgegangen, und ich wollte versuchen, sie wieder anzuzünden.“

„Lasst mich das tun.“ Er nahm ihr die Laterne ab, öffnete das Glasgehäuse und zog die Stirn in Falten. „Die Kerze ist heruntergebrannt. Nehmt diese unterdessen, ich werde eine neue besorgen.“ Er reichte ihr die Laterne, die beim Aufgang gehangen hatte. „Wie geht es Eurer Cousine? Hat die Arznei geholfen?“

„Ich glaube, ja. Sie schläft tief und fest.“ Harriet stellte fest, dass sie keine Angst vor ihm hatte. In ihrem Traum war er finster und leidenschaftlich gewesen, doch nun, da er vor ihr stand in einem Kleidungsstück, das sie an ein Nachtgewand erinnerte, erschien er ihr so harmlos wie ein Bruder. „Es ist sehr aufmerksam von Euch, Euch nach ihrem Befinden zu erkundigen. Ich danke Euch.“

„Es wäre ärgerlich, wenn ich meine Kapitalanlage verlöre, oder etwa nicht?“

Seine Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht. Einen kurzen Moment hatte Harriet sich ihm nahe gefühlt, fast seelenverwandt, doch als sie ihn nun ansah, wusste sie, dass er seine Pläne für sie und Marguerite nicht ändern würde, und das Herz wurde ihr schwer.

Wahrscheinlich war er einmal ein englischer Gentleman gewesen, doch wie es schien, hatte er seine Vergangenheit gänzlich hinter sich gelassen und war nun ein treuer Gefolgsmann des Kalifen. Wie töricht musste sie sein, dass sie sich eingebildet hatte, er würde seine Meinung ändern und sie zurück in ihr Heimatland bringen?

Kasim legte nachdenklich die Stirn in Falten und ging in die Kajüte, die ihm vorübergehend als Quartier diente. Er war sich nicht sicher, was ihn geweckt hatte, aber es kam ihm so vor, als sei es irgendetwas aus seinem Traum gewesen; etwas, das er vor langer Zeit aus seiner Erinnerung verbannt hatte. Er war aus dem Schlaf hochgeschreckt, und im selben Moment hatte er an die beiden Engländerinnen denken müssen. Sofort war er aufgestanden, um nach den Frauen zu sehen, und als er die Dunkelhaarige auf dem Gang entdeckt hatte, war er im ersten Moment sicher gewesen, dass sie fliehen wollte. Aus irgendeinem Grund hatte sich sein Magen bei dem Gedanken zusammengekrampft. Wollte sie tatsächlich ihr Leben riskieren, indem sie über Bord sprang? Egal wie gut sie schwimmen konnte, im Dunkeln wäre sie verloren. Das sonderbare Gefühl in seiner Magengrube hatte sich verflüchtigt, sobald sie ihm erklärt hatte, dass sie nur die Laterne anzünden wollte.

Normalerweise schlief er tief und fest, doch heute Nacht schien er nicht in der Lage, Ruhe zu finden. Er versuchte sich einzureden, dass es nichts mit den beiden Engländerinnen zu tun hatte. Sie waren nicht die Einzigen, die das Schicksal erlitten, in die Sklaverei verkauft zu werden. In diesem Teil der Welt galt Sklavenhandel als normal und gereichte den Betroffenen in vielen Fällen zum Vorteil. Zwar gab es grausame Herren, die mit ihren Sklaven umsprangen wie mit Vieh, aber die meisten Sklavenhalter unterschieden sich nicht von englischen Gentlemen, deren Landarbeiter zwar nicht als Sklaven bezeichnet, aber genauso behandelt wurden.

Am Hof des Kalifen hatten Sklaven ein gutes Leben; einige erwarben sich mit der Zeit sogar ihre Freilassung, und viele zogen die Sklaverei einer unsicheren Existenz auf den Straßen vor. Auch ihm selbst hatten die herrschenden Verhältnisse zum Vorteil gereicht. Er war wohlhabend geworden mit der Ein- und Ausfuhr von Waren aus aller Herren Länder. Auf den Kapitän seines Handelsschiffs konnte er sich verlassen, und bislang war sein Vertrauen in den Mann nicht enttäuscht worden. Vielleicht würde er die Nordprovinz eines Tages verlassen und sein Handelsimperium ausdehnen, doch einstweilen war er es zufrieden, am Hof des Kalifen zu leben und ihm die Treue zu halten. Er verdankte dem Herrscher, der ihn seinen Sohn nannte, alles und schätzte Khalid als wohlwollenden Freund. Sein Sohn, Prinz Hassan, war ihm in allem außer der Blutsverwandtschaft wie ein Bruder.

Kasim schob jeden Gedanken daran, Lady Harriets Forderungen, sie zu ihrer Familie zurückzubringen, von sich. Die Wünsche seines Gebieters zu missachten wäre gleichbedeutend mit Verrat; das Vertrauen zwischen ihnen zerstört. Er hätte ein Narr sein müssen, um all das aufs Spiel zu setzen, was er in langen Jahren aufgebaut hatte.

Doch selbst, als er sich ankleidete und die rote Schärpe über der weißen Tunika um seine Taille schlang, gelang es ihm nicht, den flehenden Blick jener blauen Augen aus seiner Erinnerung zu verbannen …

„Wie geht es dir heute Morgen, Liebes?“ Harriet musterte ihre Cousine aufmerksam. „Die zweite Arzneigabe scheint gewirkt zu haben. Du bist sofort nachdem du sie getrunken hattest eingeschlafen.“

Marguerite lag auf den zerwühlten Laken und starrte zu ihr hoch. „Als ich vorhin aufwachte, dachte ich im ersten Moment, es sei alles nur ein Albtraum gewesen, aber es ist Wirklichkeit, nicht wahr?“ Sie schob sich in eine halb sitzende Position. „Wir sind Sklavinnen … Er sagte, wir gehören dem Kalifen …“ Sie schluchzte auf. „Was sollen wir bloß tun, Harriet?“

„Wir müssen es durchstehen, so gut wir können“, erwiderte Harriet. Als sie sah, dass Marguerite die Tränen über die Wangen liefen, griff sie nach ihrer Hand. „Vielleicht wird es gar nicht so schlimm, wie wir es befürchten, Liebes. Kasim sagt, der Kalif sei ein gerechter Herrscher und gar kein Vergleich zu dem Mann, der uns ebenfalls zu kaufen versuchte. Er sagt, wir können uns glücklich schätzen …“

„Glücklich schätzen, dass wir Sklavinnen sind?“ Marguerite fuhr sich mit der Hand über die Augen. „Lieber wäre ich tot.“

„Das solltest du dir sorgfältig überlegen, Liebes“, sagte Harriet ernst. „Wärst du wirklich lieber tot? Solange wir leben, haben wir die Chance, eines Tages gerettet zu werden. Vielleicht gestattet man, dass Lösegeld für uns gezahlt wird. Wenn wir sterben, ist es das Ende. Dann sehen wir unsere Heimat und die Menschen, die wir lieben, nie wieder.“

Marguerite sah sie schweigend an. „Ich glaube …“ Sie schüttelte den Kopf. „Du wirst mich für albern halten, aber ich glaube, ich habe mich in Captain Richardson verliebt und er sich in mich.“

„Ich halte dich nicht für albern. Er ist jung und sieht gut aus, und er mochte dich gern. Hättest du Zeit gehabt, ihn kennenzulernen, wäre vielleicht eine tiefe Liebe daraus geworden, Marguerite.“

„Glaubst du, dass er noch am Leben ist? Oder meinst du, die Seeräuber haben ihn getötet? Er und Vater haben sich bestimmt nicht einfach ergeben.“

„Nein, ganz sicher nicht. Sie wollten, dass wir entkommen. Leider merkten die Piraten, was der Captain und dein Vater bezweckten, und verfolgten uns.“ Harriet überlief ein Zittern. „Hätten wir es bis zur Küste geschafft, wäre Don Sebastian Gonzales uns zu Hilfe geeilt.“

„Ich wünschte, er hätte nie um meine Hand angehalten.“ Auf einmal klang Marguerite zornig. „Und ich wünschte, der Antrag hätte Papa nicht so geschmeichelt, denn dann wären wir jetzt noch in England.“

„Ja. Obwohl ich mir überlegt hatte zu reisen …“

„Ich wäre nie von zu Hause fortgegangen, wenn ich gewusst hätte, was mit uns passiert.“

Harriet setzte sich auf die Koje. „Es ist zwecklos, sich das zu wünschen, Liebes. Wir sind hier, und wir müssen das Beste daraus machen.“

„Wie kannst du nur so gute Laune haben?“

„Weinen hilft nicht. Ich wollte an Deck gehen und ein wenig frische Luft schnappen. Warum wäschst du dir nicht rasch das Gesicht, ziehst dich an und kommst mit?“ Mit dem Kinn deutete Harriet auf die Seemannskiste. „Da liegt saubere Kleidung für dich. Kasim war so freundlich, uns frische Sachen bringen zu lassen, außerdem Wasser und etwas Obst. Probier die Trauben, sie sind köstlich.“

„Ich will meine eigenen Kleider …“ Marguerite zog einen Schmollmund.

„Ein paar von den Sachen sind ganz hübsch“, versuchte Harriet sie aufzumuntern. „Ich habe die weißen genommen, weil ich dachte, dass du Rosa lieber magst. Wenn du nicht mitkommen möchtest, gehe ich jetzt für einen Moment nach oben.“

„Heißt das, wir sind keine Gefangenen?“

„Wir dürfen an Deck gehen. Es gibt keine Fluchtmöglichkeit, selbst wenn du über Bord springen solltest, würden sie dir hinterherkommen und dich zurückholen. Sei also vernünftig und warte, bis wir im Palast sind. Ich werde um ein Gespräch mit dem Kalifen bitten, und vielleicht hört er mir zu.“

Marguerite musste selbst entscheiden, ob sie aufstehen oder im Bett bleiben wollte. Harriet verließ die Kajüte und kletterte die schmale Stiege zum Deck hinauf. Oben angekommen, blickte sie sich zögernd um. Von dem Korsarenschiff hatte sie nicht viel gesehen, weil es dunkel gewesen war, als man sie an Bord gebracht und im Laderaum eingesperrt hatte. Das Schiff, auf dessen Deck sie nun stand, ähnelte den Seglern, die sie aus England kannte, allerdings bestand die Mannschaft hauptsächlich aus Arabern oder Türken. Die Matrosen sahen verstohlen in ihre Richtung, wandten sich jedoch umgehend wieder ihrer Arbeit zu, als der Kapitän ihnen etwas zurief, das Harriet nicht verstand.

Er kam auf sie zu und musterte sie mit einem eigentümlichen Blick. „Ihr solltet Euer Haar bedecken, Mylady. Es lenkt die Männer ab, wenn sie Euch ohne Schleier sehen.“

„Vergebt mir. Das wusste ich nicht.“ Harriet stieg die Hitze in die Wangen. Sie hatte tatsächlich nicht gewusst, was sie mit dem dünnen Schal anfangen sollte, und ihn geflissentlich liegen gelassen. „Ich habe Euer Schiff bewundert. Gehört es Euch?“

„Wie kommt Ihr darauf?“

„Weil es so anders aussieht als das der Korsaren. Mir kam der Gedanke, dass es ein englisches Schiff ist und Ihr vielleicht …“

Kasim sah sie ausdruckslos an. „Selbst wenn es mein Schiff wäre, könnte ich den Kurs nicht ändern und Euch nach Hause bringen, Lady Harriet.“

„Darf ich Euch fragen, weshalb Ihr glaubt, dem Kalifen solche Treue zu schulden?“

„Er ist wie ein Vater für mich, und sein Sohn wie ein jüngerer Bruder.“

„Ich verstehe …“

„Ihr versteht gar nichts“, schnitt er ihr das Wort ab. „Aber darüber wollte ich nicht mit Euch reden. Seid Ihr damit einverstanden, dass ich dem Kalifen Eure Bitte, gegen Lösegeld freigelassen zu werden, unterbreite?“

„Das würdet Ihr für uns tun?“

„Für Euch ja“, erwiderte Kasim. „Aber es wird nicht möglich sein, dasselbe für Eure Cousine zu erreichen.“

„Ich werde sie nicht im Stich lassen.“

Für einen kurzen Moment war Hoffnung in ihr aufgeflackert, doch sie erlosch, als Harriet einsah, dass dies das letzte Wort war, das Kasim in der Angelegenheit gesprochen hatte.

„Ihr habt Eure Wahl getroffen. Fühlt Euch frei, die frische Luft an Deck zu genießen, wann immer Ihr wünscht.“

Er nickte ihr zu und wandte sich zum Gehen. Harriet biss sich auf die Lippe und beobachtete, wie er Kommandos gab, die die Mannschaft sich beeilte auszuführen. Er war eindeutig in seinem Element, ein befehlsgewohnter Mann.

Warum musste er so stur sein? Warum konnte er ihr Angebot einer Lösegeldzahlung nicht annehmen und sie und Marguerite freilassen? Er hatte ihr vorgeschlagen, dem Kalifen ihr Anliegen vorzutragen – wahrscheinlich, weil sie nicht schön genug war, um Khalids Aufmerksamkeit zu erregen –, aber was, wenn er darauf einging? Marguerite würde dableiben müssen.

Harriet konnte sie nicht zurücklassen. Wenn man sie trennen wollte, würde man Gewalt anwenden müssen.

Am nächsten Morgen ging es Marguerite besser, aber nichts vermochte ihre Lebensgeister zu heben. Wenigstens hatte sie aufgehört zu weinen. Man behandelte sie gut, sie konnte sich satt essen, bekam Wein zu trinken und hatte frisches Wasser und saubere Kleidung, aus der sie sich etwas heraussuchte, das ihr gut stand.

Nach dem kurzen Aufenthalt an Deck hatte Harriet den Mann mit den blauen Augen nicht mehr gesehen. Allerdings schickte er einen kleinen Jungen, der sich erkundigte, ob sie sich wohlfühlten und alles hatten, was sie brauchten. Harriet erkannte ihn als den Prügelknaben des Sklavenhändlers und fragte ihn, ob er ebenfalls für den Kalifen gekauft worden war.

„Der erlauchte Berater Kasim erwarb mich für sich selbst“, erklärte Yuri grinsend. „Ich wäre frei gewesen, wenn ich gewollt hätte, aber wo sollte ich hin? Ich bin es mehr als zufrieden, meinem neuen Gebieter zu dienen. Er ist rechtschaffen und großzügig wie kaum ein anderer.“

Harriet fragte sich, weshalb der edle Herr nicht persönlich zu ihnen kam, denn es war unzweifelhaft seine Kajüte, die sie bewohnten. Er musste sich ein anderes Quartier gesucht haben. Auch die Sachen in der Seemannskiste gehörten ihm, und ihr kam der Gedanke, dass er ihre Gesellschaft mied. Ob er Angst hatte, dass sie ihn wieder bat, sie gegen Lösegeld freizulassen?

Am späten Nachmittag liefen sie in den Hafen von Konstantinopel ein – jedenfalls glaubte Harriet, dass es der Hafen von Konstantinopel war. Sie stand an Deck und betrachtete hingerissen die fremdartig schöne Architektur der Stadt.

„Ein prachtvoller Anblick, findet Ihr nicht auch?“

Harriet drehte sich um zu dem Mann, der gesprochen hatte, und lächelte, ohne es zu wollen. Ihre Angst hatte sich verflüchtigt; stattdessen fühlte sie sich wie an der Schwelle zu einem großen Abenteuer.

„Wäre ich als Besucherin hier, ich würde Euch ohne Weiteres beipflichten.“

„Kaum eine Engländerin von Stand kommt als Gast in diese Stadt“, erwiderte er. „Ich hörte von ein paar wenigen kühnen Frauen, die ein selbstbestimmtes Leben führen. Eine von ihnen trat zum muslimischen Glauben über und lebt in Istanbul, obwohl sie weder verheiratet ist noch eine Sklavin. Sie ist ein gern gesehener Gast am Hof des Sultans, der sie als ernsthafte Gesprächspartnerin schätzt.“

„Sie muss eine unerschrockene Forschungsreisende sein. Ich hätte gern so gelebt wie sie.“

„Ernsthaft?“

„Oh ja. Mein Vater nahm mich mit auf seinen Reisen auf den Kontinent, ehe er vor ein paar Jahren krank wurde. Ich hatte immer vor, eines Tages nach Konstantinopel zu segeln …“

„Dann tut es mir leid, dass Ihr die Stadt auf diese Weise kennenlernt, Lady Harriet.“

„Es tut Euch leid?“ Harriet hob die Brauen. „Worte machen wenig Eindruck auf mich, Sir. In Eurem Fall wären Handlungen weit aussagekräftiger gewesen.“

„Dann wolltet Ihr zu viel. Doch es ist Zeit, dass Ihr Euch ­unter Deck begebt. Man wird Euch rufen, wenn alles bereit ist, dass Ihr von Bord gehen könnt.“

„Befürchtet Ihr, dass ich ins Wasser springe? Wieso sollte ich, wenn ich umgehend herausgefischt werde und mich dadurch nur zum Narren mache? Außerdem werde ich meine Cousine nicht allein lassen, ehe sie wieder bei ihrer Familie ist. Ich gebe nicht auf, Sir. Ihr und Euer Gebieter könnt verfahren, wie Ihr wollt, aber ich werde meine Cousine schützen – bis zu meinem letzten Atemzug.“

„Sie kann sich glücklich schätzen.“

Kasim neigte abschließend den Kopf, doch nicht schnell genug, als dass sie das Aufflackern von Zweifel in seinen Augen nicht gesehen hätte. Harriet kochte förmlich vor Wut, als sie unter Deck ging, um dort auf weitere Anweisungen zu warten, aber sie erzählte Marguerite nichts von Kasims Reaktion. Ihre Cousine war bleich und fahl, aber wenigstens weinte sie nicht mehr. Es schien, als habe sie ihr Schicksal akzeptiert, jedenfalls für den Augenblick.

Es muss mir gelingen, mit dem Kalifen zu sprechen, dachte Harriet. Es muss mir gelingen, ihm begreiflich zu machen, dass es falsch ist, freie Frauen zu versklaven.

Kasim sah Harriet hinterher, als sie im Niedergang verschwand. Es überraschte ihn, wie unbehaglich er sich fühlte. In der Kultur, in der zu leben er sich entschieden hatte, galt es als völlig rechtens, eine Frau zu kaufen. Genau besehen war den beiden Engländerinnen dadurch ein schlimmeres Schicksal erspart geblieben. Dennoch empfand er vage Schuldgefühle, wenn Lady Harriet ihn anklagend anblickte. Während der gesamten Reise hatte er versucht, einen Bogen um sie zu machen, denn obwohl seine Entscheidung feststand, befand er sich ihr gegenüber im Zwiespalt. Er wusste, dass er Khalid dazu hätte überreden können, sie gegen Lösegeld freizulassen; nicht aber ihre Cousine, die genau die Schönheit besaß, die die Hauptfrau Hassans haben musste.

Als sie kurz darauf an Land gingen, hatten sich Kasims Zweifel zerstreut, und er traf die notwendigen Vorbereitungen für den weiteren Weg. Die Frauen stiegen in Sänften, deren Seidenvorhänge sie vor neugierigen Blicken abschirmten und die jede von vier starken Männern getragen wurde.

„Ihr werdet ungestört reisen können“, erklärte er Harriet. „Die Gewänder, die Ihr anhabt, schützen Euch vor allzu dreistem Interesse, aber Ihr müsst Euer Antlitz stets verschleiert halten.“

„Meine Cousine ist erschöpft. Ist es notwendig, dass wir sofort weiterreisen? Können wir nicht eine Erholungspause ein­legen?“

„Ihr werdet Gelegenheit haben, Euch zu erholen, sobald wir den Palast des Kalifen erreichen. Wenn wir hier bleiben würden, könnte es passieren, dass Eure Cousine Aufmerksamkeit erregt, und möglicherweise stünde Euch dann ein schlimmeres Schicksal bevor als das, das Ihr fürchtet. Denn selbst der Kalif muss gehorchen, wenn der Sultan eine Frau verlangt, die ihm gefällt. Ihr hättet keinen Platz in seinem Harem, und Eure Cousine wäre die Geliebte eines viel älteren Mannes. So aber könnt Ihr ein wenig länger zusammenbleiben.“

Harriet warf ihm einen bösen Blick zu, und Kasim wusste, dass das Vertrauen, das sich zwischen ihnen entwickelt hatte, im Keim erstickt war. Ohne Zweifel hatte sie gehofft, dass er nachgeben und sie nach Hause bringen würde. Sie war wütend auf ihn, hasste ihn womöglich sogar.

Kasim setzte ein grimmiges Gesicht auf. Es ging ihm gegen den Strich, wie diese Engländerin sein Ehrgefühl untergrub und einen Teil von ihm berührte, den er lang tot geglaubt hatte. Er war kein englischer Edelmann mehr, und selbst wenn er es gewünscht hätte – er konnte nicht in das Leben zurückkehren, das einmal seins gewesen war. Er lebte hier, auch wenn er mehr als einmal in die Versuchung geraten war, ihr nachzugeben und zu tun, worum sie ihn gebeten hatte. Doch eine solche Schwäche konnte er sich nicht leisten. Er hatte dem Mann, der wie ein Vater für ihn war, sein Wort gegeben, und er würde es nicht brechen für eine Frau, die er kaum kannte. Selbst wenn es eine sehr besondere Frau war, die die Macht besaß, ihm schlaflose Nächte zu bereiten.

Harriet biss sich auf die Unterlippe. Es war ihr klar gewesen, dass es schwierig sein würde zu fliehen, doch er gab ihnen nicht die geringste Möglichkeit, entmutigte sie im Gegenteil durch Drohungen. Aber selbst wenn es ihnen gelungen wäre zu entkommen – wohin hätten sie sich wenden sollen? Früher oder später würde man sie aufgespürt haben, und womöglich wären sie sogar bestraft worden. Sie beobachtete die Männer auf dem Dock und stellte fest, dass sie sich bei ihrem Bewacher sicherer fühlte als ohne ihn. Wäre da nicht Marguerite gewesen und hätte es sich um seinen eigenen Harem gehandelt, zu dem er sie brachte, hätte es ihr möglicherweise nicht ganz so viel ausgemacht.

Nein, etwas Derartiges durfte sie nicht einmal denken. Er war ein Barbar, ein Mann ohne Moral und Ehre, und sie würde sich zum Narren machen, wenn sie sich erlaubte, ihn zu mögen – egal wie besorgt er sich gezeigt hatte, als Marguerite krank gewesen war.

Es wäre ärgerlich, wenn ich meine Kapitalanlage verlöre, oder etwa nicht?

Bitterkeit quoll in ihr hoch. Seine Besorgnis hatte dem Geld gegolten, das er bezahlt hatte, nicht ihrer Cousine.

Das ist nicht wahr, mahnte eine Stimme in ihrem Innern. Er war ehrlich besorgt und bot dir an, deine Freilassung beim Kalifen zu erwirken. Ja, sie musste zugeben, dass sie sich dumm verhielt, wenn sie ihn als Feind zu betrachtete. Er war der Einzige, der ihnen helfen konnte … wenn er es denn wollte. Sie hoffte, dass er sich nicht ganz und gar von seinen früheren Werten losgesagt hatte. Vielleicht gab es auch in ihm eine Stimme, die ihm sagte, dass es falsch war, Menschen zu versklaven.

Sie warf ihm einen sprechenden Blick zu, ehe sie in der Sänfte Platz nahm, doch er sah nicht einmal in ihre Richtung.

Da die Sänften nur Platz für eine Person boten, waren Marguerite und sie gezwungen, sich zu trennen. Harriet hatte Angst, dass es eine List sein könnte, mit der man sie auseinanderreißen wollte, und riskierte es mehrmals, nach draußen zu spähen, um sich zu vergewissern, dass ihre Cousine noch da war.

Es war gegen Mittag, als sie eine Rast einlegten. Die Sonne stand hoch am Himmel, und es herrschte eine sengende Hitze, als Harriet und Marguerite unter einer Steineiche Schatten suchten. Man bot ihnen Obst, Brot, Käse und Wasser an, doch außer Letzterem lehnte Marguerite alles ab. Sie sah noch immer elend aus. Harriet dagegen verzehrte die Mahlzeit hungrig.

Sie lagerten an einem Fluss, in dessen Nähe Dattelpalmen wuchsen. Nachdem Harriet ihren Hunger gestillt hatte, erhob sie sich, schlenderte zum Ufer, um sich die Bäume anzusehen. Sie kannte sie von Bildern, doch diese Exemplare waren echt, und sie war an allem Neuen und Andersartigen interessiert.

„Die Früchte sind noch nicht reif.“ Kasim war ihr gefolgt und trat neben sie. „Ihr kostet sie besser nicht, denn sie schmecken längst nicht so gut wie die, die Ihr eben gegessen habt.“

„Sie waren köstlich“, erwiderte sie, „genau wie die übrigen Früchte und der Käse, der so ganz anders schmeckte als der, den ich von zu Hause kenne.“

„In dieser Gegend wird Käse aus der Milch von Schafen bereitet. Er schmeckt in der Tat anders als der, den Ihr kennt – was auch auf viele andere Speisen zutrifft, doch Ihr werdet Euch ­daran gewöhnen.“

„Ich nehme es an.“ Harriet sah ihn stirnrunzelnd an. „Meiner Cousine geht es noch immer nicht wirklich gut. Wäre es nicht möglich, die Reise für ein paar Tage zu unterbrechen, damit sie sich erholen kann?“

„Ihr versucht das Unvermeidliche hinauszuzögern“, erwiderte Kasim unnachgiebig. „Der Palast wurde bereits von ­unserer Ankunft informiert, und es ist zu spät für irgendwel­che Änderungen. Aber mein Angebot an Euch gilt nach wie vor.“

„Ihr kennt meine Antwort.“

„Und Ihr meine. Was Ihr nicht begreift, Lady Harriet, ist, dass ich mein Wort gegeben habe und es nicht brechen könnte, selbst wenn ich bereu…“

Harriets Herz setzte einen Schlag aus, als er sich unterbrach, denn nun wusste sie, dass er schwankte. Vielleicht gelang es ihr doch noch, ihn von ihrem Standpunkt zu überzeugen.

„Ich weiß, dass Ihr im Grunde ein Ehrenmann seid, Sir.“ Sie berührte seinen Arm und sah ihn bittend an. „Ich hätte Euch nicht beschimpfen dürfen, aber ich war erschüttert von dem, was uns zustieß. Ich glaube Euch, wenn Ihr sagt, dass uns Schlimmeres hätte, widerfahren können, aber begreift Ihr nicht, was der Verlust der Freiheit für meine Cousine bedeutet? Es gibt jemanden, der ihr nicht gleichgültig ist.“

„Sie war nicht verheiratet.“ Kasim legte die Stirn in Falten. „Vielleicht, wenn es ein Verlöbnis gab …“ Er unterbrach sich, als auf einmal Rufe ertönten. Seine Männer deuteten zum Horizont, und als Harriet in die Richtung blickte, sah sie einen Trupp Reiter, die rasch auf sie zu galoppierten. „Verschleiert Euch und sagt Eurer Cousine, sie soll das Gleiche tun“, wies Kasim sie an. „Ich weiß nicht, was unsere Besucher im Schilde führen.“

Harriet beeilte sich, seinem Befehl nachzukommen, und einen Moment später hatten Marguerite und sie sich in die schweren dunklen hidschabs gehüllt, die sie während der Mahlzeit abgelegt hatten. Kasim bedeutete ihnen, in die Sänften zu steigen, und sie gehorchten. Das Getrappel von Pferdehufen wurde lauter, und die Staubwolke größer, als der Reitertrupp näher kam.

„Hab keine Angst“, sagte Harriet und drückte Marguerite kurz die Hand, bevor sie sich trennten. „Kasim wird uns beschützen.“

Sie wusste, dass ihre Cousine glaubte, sie würden angegriffen. Kasim und seine Männer hatten die Krummschwerter gezogen, als fürchteten sie das Gleiche. Nachdem sie die Vorhänge der Sänfte zugezogen hatte, versuchte Harriet, ihrer eigenen Angst Herr zu werden. Kasim würde nicht zulassen, dass jemand sie raubte. Schließlich waren sie eine Kapitalanlage für ihn. Trotzdem konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, dass er Momente vor dem Auftauchen der Reiter kurz davor gewesen war, ihren Bitten nachzugeben.

Auf einmal hörte sie Freudenrufe und riskierte einen kurzen Blick durch den Vorhangspalt. Die Stimmung hatte sich völlig gewandelt, und Kasims Männer begrüßten die Neuankömmlinge mit Lachen und Jubel.

Einer von ihnen musste der Anführer sein, denn alle anderen verneigten sich vor ihm. Er war jünger als Kasim und auf eine wilde, düstere Art attraktiv. Er blickte in Richtung der Sänften, als wolle er umgehend nachsehen, was sie verbargen, doch Kasim legte ihm die Hand auf den Arm und sagte etwas zu ihm. Der Jüngere schien widersprechen zu wollen, aber dann nickte er, und die beiden Männer unterhielten sich wie gute Freunde.

Nun trat Kasim zu der Sänfte, in der Harriet saß. Sie wich so weit wie möglich zurück und hielt den Vorhang nur so weit ­offen, dass sie ihn sehen konnte.

„Wer ist das?“, wollte sie wissen.

„Prinz Hassan. Er kam mit einem Trupp Janitscharen, um uns zum Palast zu eskortieren. Man hat Angehörige der Bergstämme in der Gegend gesehen, und er wusste, dass ich nur wenige Männer bei mir habe. Ich hoffe, Ihr seid Euch der Ehre bewusst, die es bedeutet, dass der Prinz Euch Geleitschutz gibt, Lady Harriet. Er ist um Eure Sicherheit besorgt – worüber sein Vater nicht sehr erbaut wäre, sofern er es wüsste, denn er schätzt es nicht, wenn Hassan sein Leben aufs Spiel setzt.“

„Ihr habt Euch gefreut, ihn zu sehen.“

„Der Prinz ist wie ein Bruder für mich.“ Kasim nickte bestätigend. „Er ist jung und sieht gut aus und wird nun bald auch heiraten.“

„Oh …“ Harriet wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte gehofft, Kasim überreden zu können, ein paar Tage auszuruhen, bevor sie wieder aufbrachen, aber nun, da der Prinz gekommen war, um sie sicher zum Palast zu geleiten, würde aus der Rast nichts werden. „Ich danke Euch für die Erklärung.“

„Ihr solltet Euch keine übermäßigen Sorgen um Eure Cousine machen, Lady Harriet. Womöglich hält die Zukunft mehr Glück bereit, als Ihr es Euch beide vorstellen könnt.“

Harriet schwieg. Als die vier Träger die Sänfte anhoben, lehnte sie sich in die Polster zurück. Wie konnte er so etwas sagen? Als Sklavinnen im Harem des Kalifen würden weder Marguerite noch sie jemals glücklich werden.

3. KAPITEL

Vor ihnen lag noch fast eine ganze Tagesreise, dennoch machten sie nur kurze Pausen, die gerade reichten, um die Sänftenträger zu wechseln. Einmal erschien eine Hand im Vorhangspalt und reichte ihr Früchte und Wasser, doch das schwerfällige Schaukeln ihres Transportmittels ließ es Harriet angeraten erscheinen, nichts zu essen. Sie dachte an die kurzen Momente am Fluss und fragte sich, wie Kasim reagiert hätte, wenn der Prinz und seine Männer nicht aufgetaucht wären. Hätte er ein Zugeständnis gemacht? Sie seufzte und schob die flüchtige Hoffnung beiseite. Nun, da der Prinz ihnen Geleitschutz gab, bestand keine Aussicht mehr auf eine Verzögerung. Womöglich lag ihr Schicksal gar nicht mehr in Kasims Hand.

Harriet kam es vor, als wolle die Reise kein Ende nehmen, doch gegen Abend waren auf einmal Fanfarenstöße zu hören, und als sie vorsichtig durch den Vorhangspalt spähte, sah sie an dem felsigen Bergabhang, der vor ihnen lag, eine hoch ummauerte Ansammlung prächtiger Gebäude, die wie eine befestigte Stadt wirkte und von der sie annahm, dass es sich bei ihr um den Palast des Kalifen handelte. Auf den ersten Blick wirkte die Bauweise fremd, doch dann erkannte sie, wie gut sie sich für eine Festung eignete.

Sobald sie sich in einem Innenhof der Anlage befanden, wurden die Sänften abgestellt. Marguerite sprang aus ihrer heraus und eilte zu Harriet, sobald diese ebenfalls ausgestiegen war. Die beiden Frauen ergriffen sich bei den Händen, hielten einander fest und blickten sich in der fremden Umgebung um; froh, am Ziel ihrer Reise angekommen zu sein. Für Harriet war es eine Erleichterung, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Sie fragte sich, wie lange es dauern mochte, bis sie mit jemandem sprechen konnte, der befugt war, darüber zu entscheiden, ob sie und ihre Cousine freigelassen wurden.

„Rosa …“, flüsterte Marguerite ungläubig. „Die Mauern … sie sind rosa. Dieser Palast sieht aus wie aus einem Märchen.“

„Ja, das finde ich auch, mit all diesen verschiedenen Trakten und Türmen und architektonischen Ornamenten.“ Harriet lächelte Marguerite aufmunternd zu, obwohl ihr Herz raste. „Wir sollten das alles als ein Abenteuer betrachten, dann wird es uns weniger schrecklich erscheinen. Wenigstens sind wir wohlauf und beisammen.“

„Ja …“ Marguerite lächelte zittrig. „Wer ist der Mann, der bei Kasim steht? Der, der mit den Reitern kam, von denen wir glaubten, sie würden uns angreifen.“

„Das ist Prinz Hassan, der Sohn des Kalifen.“

„Oh … Er sieht grimmig aus.“

„Dennoch ist er sehr attraktiv.“

„Mir macht er Angst.“ Marguerite erschauderte, als Kasim auf sie zukam.

„Meine Damen …“ Er verneigte sich vor ihnen. „Willkommen im Palast des Kalifen. Wenn Ihr mir folgen wollt – ich führe Euch zu Euren Gemächern.“

„Wohin bringt Ihr uns?“ Harriet musterte ihn misstrauisch. Das Herz trommelte ihr gegen die Rippen. „Lässt man uns zusammenbleiben?“

„Für den Augenblick ja“, erwiderte Kasim. „Was später wird … das entscheidet der Kalif. Sein Wort ist Gesetz, und jeder muss ihm gehorchen.“

„Tatsächlich?“ Harriet warf ihm einen herausfordernden Blick zu. „Seid Ihr kein freier Mann?“

„Ich bin frei, aber ich habe mein Wort gegeben. Ich diene einem Herrscher, den ich bewundere und achte. Es ist für mich eine Frage der Ehre, sein Vertrauen in mich nicht zu enttäuschen.“

„Wir bringen ihm weder Respekt noch Bewunderung entgegen“, erwiderte Harriet aufsässig. „Wir sind Engländerinnen, und wir beugen das Haupt vor niemandem außer unserer Königin Elisabeth.“ Auch wenn es nicht ganz stimmte, unterstrich es doch ihren Standpunkt, und sie sah etwas in Kasims Augen aufblitzen, das Humor hätte sein können.

„Ihr müsst lernen, Euren Stolz zu zügeln, meine Dame, denn Ihr gehört jetzt zum Hof des Kalifen. Er hat das Recht, mit Euch zu verfahren, wie es ihm beliebt. Ich würde Euch also raten, Eure Zunge im Zaum zu halten – um Euer beider willen.“

Marguerite drückte sich furchtsam an sie. In dem Wissen, dass ihre Cousine Angst hatte, verzichtete Harriet auf eine Erwiderung. Sie waren Sklavinnen, und auch wenn Kasim sie nicht wie Gefangene behandelte, ahnte sie, dass die Umstände nun andere waren. Womöglich hätte er sie längst auspeitschen lassen, wäre er nicht der Mann, der er war. Bis hierher hatte man sie gut behandelt, und vielleicht war der Kalif von ähnlichem Temperament wie Kasim und würde ihr die Möglichkeit geben, um ihre Freilassung zu bitten.

Die weichen Lederslipper, die man ihnen gegeben hatte, machten kein Geräusch auf den glänzenden Marmorböden. Die Wände im Innern des Palastes leuchteten in den verschiedensten Farbtönen – viele waren mit kunstvollen Kacheln bedeckt und zeigten filigran gearbeitete Mosaike, die Harriet ausnehmend gut gefielen. Sie hörte das Plätschern von Wasser, dann überquerten sie einen Innenhof mit einem dreistöckigen Springbrunnen, in dessen Umgebung eine angenehme Kühle herrschte. Es fühlte sich wunderbar an nach der Hitze auf der Reise. Kasim führte sie durch eine Reihe wunderbar schattiger Gärten in einen anderen Teil des Palasts, in dem Fenster mit geschnitzten Holzeinsätzen die Kühle im Innern der Räume hielten und gleichzeitig die Luft zirkulieren ließen. Alles in diesem Trakt wirkte privat und persönlich, und als Kasim vor einer hohen Doppeltür stehen blieb, die mit aufwendig gearbeiteten Silberbeschlägen und Halbedelsteinen geschmückt war, hielt Harriet den Atem an. Das Bild einer ähnlichen Tür hatte sie einmal zufällig in einem der Bücher ihres Vaters entdeckt, und sie wusste, welche Gemächer sich dahinter verbargen. Auf Kasims Klopfen hin ging die Tür auf, und ein massiger, riesig wirkender Mann mit kahl rasiertem Schädel stand vor ihnen.

„Ist dieser Ort das, was ich vermute?“, fragte sie Kasim, als der Riese ihnen bedeutete einzutreten.

„Ich verlasse Euch hier, denn mir ist es nicht gestattet, über diese Schwelle zu treten“, antwortete Kasim, ohne auf ihre Frage einzugehen. „Das dürfen nur die Eunuchen und die Mitglieder der Herrscherfamilie.“

„Also habt Ihr uns in den Harem gebracht.“ Harriet schoss ihm einen anklagenden Blick zu.

„Ihr seid in Sicherheit, meine Damen. Vielleicht sehen wir uns wieder, vielleicht nicht. Das wird der Kalif entscheiden.“

„Bitte …“ Harriet packte ihn am Ärmel. Ihre Hand streifte seine, und sie spürte, wie er zusammenzuckte und zurückwich. Seine Augen weiteten sich, verdunkelten sich, als sei ihm etwas Entscheidendes klar geworden. Sie nahm an, dass es ihm schwerfiel, Gelassenheit zu wahren, nun, da er seinen Auftrag erledigt hatte. „Ich bitte Euch, sprecht mit dem Kalifen“, sagte sie drängend. „Richtet ihm aus, dass wir gegen Lösegeld freigelassen werden wollen und ihm zahlen, was er verlangt. Für uns beide … bitte. Ich wende mich an Euch als Mann von Ehre.“

Kasim neigte kaum merklich den Kopf. Er zögerte, dann nahm er ihre Hand und löste sie von seinem Ärmel, hielt sie einen Moment, bevor er sie freigab, beinahe so, als wollte er sie trösten. „Ihr müsst Sulian folgen. Tut, was man Euch sagt, und man wird Euch gut behandeln. Aber seid gewarnt – Bestrafung wartet auf die, die nicht gehorchen; Bestrafung, die Euch nicht gefallen würde, und ich sähe es nicht gerne, wenn Ihr leiden müsstet, meine Dame.“

„Helft uns …“, wiederholte Harriet verzweifelt, dann packte der Eunuch Marguerite am Arm und zog sie über die Schwelle. „Ich flehe Euch an, Sir. Ihr gehört genauso wenig hierher wie wir. Helft uns um Himmels willen!“

„Geht mit Sulian“, wiederholte Kasim, doch an seiner Wange zuckte ein Muskel, und sie erkannte die Unschlüssigkeit in seinen Augen – Augen, die viel zu blau waren, um einem Araber zu gehören. Nein, sie irrte sich nicht, er war Engländer von Geburt, er hatte ein Gewissen. „Ich habe meine Pflicht meinem Gebieter gegenüber erfüllt. Vergebt mir, aber die Angelegenheit liegt nicht mehr in meinen Händen.“

Ihre letzte Hoffnung schwand bei seinen Worten, und ihre Angst verwandelte sich in Wut. „Ihr solltet Euch schämen, einem Herrn zu dienen, der Sklaven hält. Ihr wisst, wie es ist, ein freier Mensch zu sein. Wie könnt Ihr die Gunst eines Mannes akzeptieren, der kaum mehr ist als ein Wilder?“

„Schweigt, Weib!“ Kasims Züge verhärteten sich vor Zorn, als er sie ansah. „Ihr seid gut behandelt worden, und der Kalif ist ein kultivierter, gebildeter Herrscher, der Eurer Cousine eine große Ehre angedeihen lassen will.“

„Aber sie ist so jung und sollte leben können, wie es ihr beliebt“, machte Harriet geltend, obwohl sie wusste, dass es zu spät war, nachdem man Marguerite bereits fortgebracht hatte. „Bitte helft uns!“

„Geht jetzt. Ich kann nichts für Euch tun.“

Harriet begriff, dass ihr Flehen zwecklos war. Der Eunuch stand da und wartete, seine Miene war ausdruckslos. Sie sah ihn an, als sie an ihm vorbeiging, und eine Welle von Mitleid überschwemmte sie. Er hatte so viel mehr verloren als seine Freiheit; er war kein Mann mehr, denn nur aufgrund der Verstümmelung konnte ihm die Bewachung des Harems anvertraut werden.

Mit einem dumpfen Knall schloss sich die Tür hinter ihnen, und Harriet überlief ein Zittern. Bis zu diesem Moment hatte sie gehofft, dass Kasim nachgeben und sich um ihre Freilassung kümmern würde. Sie glaubte gespürt zu haben, dass der Mann mit den blauen Augen im tiefsten Innern zu Mitgefühl fähig war, doch nun befanden sie sich im Harem des Kalifen, und sie bezweifelte, dass eine Flucht möglich sein würde.

Marguerite sah sie ängstlich an. Harriet ergriff die Hand ihrer Cousine und drückte sie beruhigend, dann folgten sie der massigen Gestalt des Eunuchen den Flur hinunter, von dem zu beiden Seiten Türen abgingen. Sie führten anscheinend zu privaten Gemächern, doch der Eunuch blieb erst stehen, als sie einen weitläufigen Saal mit einem Springbrunnen in der Mitte und Ruhebänken aus Marmor und Holz erreichten. Kübel mit Blumen und Grünpflanzen standen kunstvoll im Raum verteilt, und durch die offene Tür am gegenüberliegenden Ende blickte man in einen herrlichen Garten. Der Eunuch sprach mit einer Frau von vielleicht vierzig Jahren, die ein paar Mal nickte und verstohlene Blicke in Richtung der beiden Neuankömmlinge warf. Als er sich zum Gehen wandte, hob die Frau die Hand und winkte Marguerite und Harriet zu sich.

Harriet hielt Marguerites Hand fest in der ihren, als sie auf die Frau mit der olivfarbenen Haut und den Habichtsaugen zugingen. Nachdem sie sie einen Moment lang neugierig angestarrt hatte, streckte die Frau den Arm aus und schob Marguerites Gesichtsschleier zurück, um gleich darauf begeistert in die Hände zu klatschen, als sie das ungewöhnlich schöne hellblonde Haar erblickte.

„Der Berater Kasim hat eine gute Wahl getroffen“, erklärte sie auf Französisch. „Die junge Frau wird dem Sohn des Kalifen gefallen.“

„Was sagt sie?“ Voller Angst sah die Cousine Harriet an.

„Sie findet, dass du sehr schön bist.“ Harriet war froh, dass Marguerite ihre Französischstunden meist hatte ausfallen lassen. „Dürfen wir erfahren, wie Ihr heißt, madame?“

Der Blick der Frau mit den Habichtsaugen richtete sich auf Harriet. „Ihr versteht mich? Das ist gut. Einige Haremsdamen tun das nicht, und es macht das Leben schwieriger für sie. Versteht die Kleine mich auch?“

„Meine Cousine beherrscht nur ein paar Brocken Französisch, madame. Aber wenn Ihr langsam sprecht, wird sie das ein oder andere Wort verstehen.“

„Dann werde ich mich an Euch wenden, denn Ihr erscheint mir eine verständige Frau. Mein Name ist Mellina, und ich bin die Oberaufseherin im Harem des Kalifen. Solange Ihr fügsam seid, werdet Ihr hier ein angenehmes Leben haben, aber wenn Ihr Ärger macht oder schlechte Stimmung verbreitet, bringt der Eunuch Peitschen zum Einsatz, die nicht einmal Male auf der Haut hinterlassen. Der Kalif bevorzugt ganz bestimmte Frauen und schickt selten nach anderen. Ihr seid dazu da, seinen Favoritinnen aufzuwarten, doch wenn alles gut geht, wird Eure Gefährtin nicht lange hierbleiben.“

„Das werden wir hoffentlich beide nicht“, erwiderte Harriet rasch. „Wir haben angeboten, uns freikaufen zu lassen. Unsere Familien würden viel für unsere Rückkehr zahlen.“

Mellina ließ ein spöttisches Lachen hören. „Seit ich hier bin, hat sich noch keine Frau freigekauft.“

„Nein? Wie lange seid Ihr hier?“

„Ich war sehr jung und sehr schön, als ich in den Palast kam. Ich gefiel dem Sohn des Kalifen, und er erwählte mich zu seiner Lieblingsfrau. Inzwischen ist er der Kalif und hat selber erwachsene Söhne.“

Harriet erschauderte. „Gab es niemanden, der Euch hätte retten können?“

„Mein Vater machte mich dem Kalifen zum Geschenk, um sich seiner Gunst zu versichern.“ Mellina zuckte mit den Schultern. „Lange Jahre war ich die Favoritin, jetzt führe ich die Aufsicht über den Harem. Ich sorge für Ordnung, und die Frauen haben Respekt vor mir. Manchmal lässt mein Gebieter mich holen, um mit mir zu plaudern. Er hat mich immer noch gern, obwohl andere längst meinen Platz in seinem Bett einnehmen.“

„Kränkt Euch das nicht?“, wollte Harriet wissen.

„Warum sollte es? Ich kannte mein zukünftiges Geschick bereits, als ich noch ein Kind war; Ihr dagegen kommt aus einer anderen Kultur. Es fällt Euch schwer, Euch hier einzuleben, aber es ist aussichtslos, Widerstand zu leisten.“

„Was sagt sie?“, fragte Marguerite abermals und zupfte Harriet am Ärmel. „Ich bin hungrig. Frag sie, ob wir etwas zu essen und zu trinken bekommen können. Mir knurrt der Magen, nachdem ich seit Stunden nichts mehr zu mir genommen habe.“

Madame, wir haben eine anstrengende Reise hinter uns, und die meiste Zeit konnte Marguerite nichts essen, weil sie krank war. Nun fühlt sie sich besser und hat Hunger und Durst.“

Mellina nickte lächelnd. „Marguerite! Was für ein hübscher Name. Der Prinz wird sehr angetan sein von der Frau, die sein Vater für ihn erstanden hat.“

Autor

Marguerite Kaye

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