Historical Saison Band 86

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WINTERZAUBER AUF DEM WEIHNACHTSBALL von AMANDA MCCABE
Captain Harry St George ist in einer prekären Lage. Eigentlich muss er eine gute Partie machen, um das geerbte Landhaus zu renovieren. Doch sein Herz hat er längst an die schüchterne und leider mittellose Rose verloren, die ihn beim Weihnachtsball bezaubert hat!

EISIGES HERZ, GLÜHENDE KÜSSE von MARGUERITE KAY
Nachdem sie aufs Schlimmste betrogen wurde, hat Emily der Liebe abgeschworen. Doch dann landet der verwegene Captain Treeve Penhaligon in dem kleinen Dorf an der kornischen Küste und schenkt ihr glühende Küsse. Darf sie ihr gefrorenes Herz davon erwärmen lassen?

STÜRMISCHE MELODIE DER LIEBE von BRONWYN SCOTT
Besinnliche Weihnachtsstimmung kommt bei Rosenwyn nicht auf. Dafür streitet sie sich zu oft mit diesem furchtbaren Cador Kitto! Allerdings kann sie nicht leugnen, dass der Komponist durchaus attraktiv ist. Vielleicht kann er ihr ja helfen, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen und die Liebe neu zu entdecken …


  • Erscheinungstag 07.12.2021
  • Bandnummer 86
  • ISBN / Artikelnummer 9783751503006
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Amanda McCabe, Marguerite Kaye, Nikki Poppen

HISTORICAL SAISON BAND 86

PROLOG

Barton Park, Sommer 1820

Oh, Rose! Möchtest du nicht tanzen und tanzen und tanzen, wenn du die Musik hörst?“

Rose Parker saß in der Hocke, während sie ihrer Schwester Lily lachend dabei zusah, wie sie sich ausgelassen in ihrem neuen weißen Spitzen- und Tüllkleid drehte, dass die Röcke sich wie eine große Wolke um ihre Beine bauschten. Die Musik vom Fest schwebte zu ihrem Zimmer herauf und war in der Tat sehr mitreißend. „Du wirst nicht tanzen können, wenn ich nicht mit dem Saum fertig werde. Er wird aufgehen, und du wirst stolpern und auf die Nase fallen – noch dazu genau vor Mr. Hewlitt.“

Abrupt hörte Lily auf herumzuwirbeln. „Oh nein, Rose!“, rief sie, das hübsche, herzförmige Gesicht voller Grauen. „Das darf niemals geschehen. Wie sehr er mich verachten würde!“

Rose musste wieder lachen. Sie konnte nicht anders, ihre Schwester war manchmal wirklich zu komisch. „Lily, meine Liebste, Mr. Hewlitt würde dich in tausend Jahren nicht verachten, was du auch tust. Tatsächlich würde er dich wohl nur noch mehr vergöttern, wenn du stolpern und ihm in die Arme fallen solltest.“

Ein winziges Lächeln verdrängte Lilys Entsetzen. „Nun ja … vielleicht hast du recht. Er ist so unbeschreiblich süß.“

„Und vollkommen hingerissen von dir. Mama glaubt, dass er dich heute Abend etwas sehr Wichtiges fragen wird.“ Rose musste ihre Schwester ein wenig necken, obwohl sie ein kleines, goldgelocktes Engelchen war, das dazu neigte zu erröten und verärgert zu kreischen, wenn man es provozierte. Doch sie konnte auch sehr ernst sein. Mr. Hewlitt arbeitete seit Wochen – stammelnd und unsicher – auf diesen einen großen Moment hin, und dieser Ball zur Feier der Sommerwende im Haus ihrer Cousinen auf Barton Park schien die perfekte Gelegenheit zu sein. Gewiss, er war nicht mehr als ein Hilfsgeistlicher mit einem eher mittelmäßigen Einkommen, doch jeder konnte sehen, wie gut er seine Aufgabe erfüllte, wie warmherzig und energisch er war. Zweifellos erwartete ihn irgendwann in der Zukunft ein Bischofsamt.

Und er liebte Lily über alles, ebenso wie sie ihn. Gemeinsam waren die beiden ebenso bezaubernd wie ein Korb kleiner Welpen. Rose freute sich für ihre Schwester, aber sie war auch ein wenig wehmütig. Jetzt würden sie und ihre Mutter allein sein, und im Cottage würde es viel zu still werden. Und einsam.

Sie seufzte. Sie würde sich ein Kätzchen anschaffen müssen oder vielleicht einen Singvogel. Das war es doch, was nützliche alte Jungfern taten, oder? Sie legten sich Haustiere zu, ganz besonders Katzen, und fingen an zu stricken. Eigentlich klang es sogar ganz amüsant.

„Komm, liebste Lily, lass mich den Saum zu Ende nähen. Sonst ist das Tanzen vorbei, bevor Mr. Hewlitt dich finden kann.“

Lily stieg schnell wieder auf den niedrigen Schemel und sah im Spiegel zu, während Rose weiterarbeitete. „Glaubst du wirklich ganz ehrlich, dass er um mich anhalten wird?“

„Selbstverständlich wird er das.“

„Denkst du also, ich sollte seinen Antrag annehmen? Sofort?“

Rose war verwundert über die plötzliche Unsicherheit im Ton ihrer Schwester. Sie sah auf, und tatsächlich schien Lily beunruhigt zu sein, etwas sehr Ungewöhnliches für sie. Sie dachte an Mr. Hewlitts Besuche im Cottage, seine kleinen Geschenke – Blumensträuße und Gedichtbände –, seine Spaziergänge mit Lily, an die Art, wie sie sich immer ansahen, als gäbe es außer ihnen niemanden sonst auf der Welt. War ihr da etwas entgangen? „Hast du Zweifel, mein Liebes? Hat er irgendetwas getan, was ein Gentleman nicht tun würde?“ Zwar konnte sie sich das nicht vorstellen, aber bei Männern wusste man ja nie. Ihr eigener Vater hatte seine Schulden geheim gehalten, ebenso wie seine schreckliche Spiellust, sodass seine Frau und Töchter erst davon erfahren hatten, nachdem er gestorben war und sie aus ihrem eigenen Heim vertrieben wurden.

Mr. Hewlitt würde so etwas sicherlich nie tun. Wenn er es wagen sollte, Lily auf irgendeine Weise wehzutun, würde Rose ihn zur Rechenschaft ziehen.

„Oh nein, überhaupt nicht! Es ist nur …“ Lily brach ab und kaute nervös auf der Unterlippe. „Nun ja, was werdet du und Mama tun?“

„Oh, Lily.“ Rose schenkte ihr das sorgloseste Lächeln, das sie zustande brachte. „Darum musst du dir keine Gedanken machen, mein Engel. Uns wird es gut gehen. Ich freue mich sogar schon darauf, dein Zimmer zu meinem persönlichen Salon umzufunktionieren. Die Vorstellung, so viel mehr Platz zu haben! Ich werde mir vorkommen wie eine Duchess in ihrer eigenen Suite.“

Lily lachte verständlicherweise. Ihr Cottage war in etwa so groß wie ein Fingerhut. „Du wirst mich doch oft besuchen, nicht wahr? Ich werde ja nicht weit entfernt sein.“

„So oft, dass du mich bald satthaben wirst.“

„Versprochen?“

„Nichts wird mich davon abhalten können.“ Rose tat den letzten Stich im Saum und stand auf, um ihre Schwester zu umarmen. Lily duftete nach Veilchen und Babypuder wie schon, als sie noch ganz klein gewesen war und Rose sie bei den Händen gehalten hatte, um ihr das Laufen beizubringen. Sie lachte, um nicht weinen zu müssen.

„Du solltest als Ältere eigentlich die Erste sein, die heiratet“, sagte Lily.

Rose lachte wieder. „Dann stöbere noch einen Mr. Hewlitt für mich auf. Denn bevor ich ein ebenso perfektes Exemplar von Mann finde, kann ich mir nicht vorstellen, die Pflichten einer Ehefrau zu erfüllen.“

„Er ist bestimmt irgendwo da draußen, Rose. Ich weiß es einfach! Der vollkommene Mann für dich. Du wirst ihm begegnen, wenn du es am wenigsten erwartest, genau wie ich Mr. Hewlitt.“

„Ich habe keine Zeit für eine Romanze.“ Rose steckte Nadel und Faden in ihr Nähkörbchen. Und das stimmte auch. Nachdem ihr Vater so plötzlich gestorben war und sie ihr Haus hatten aufgeben müssen, um ins Cottage zu ziehen, verfügten sie nur noch über ein sehr kleines Einkommen, das sie vor dem Verhungern bewahrte. Sie hatten jeden Gedanken an schöne Kleider, eine Kutsche oder eine Unmenge an Dienern aufgeben müssen. Rose übernahm die meiste Arbeit – das Putzen und Nähen, die Hühner und die Pflege ihrer zerbrechlichen Mutter. Es machte ihr auch nichts aus. Im Gegenteil, Rose mochte das Gefühl, sich nützlich machen zu können, den Tee vorzubereiten und Röcke zu bügeln. Und ihre Hühner waren die besten Legehennen in der ganzen Nachbarschaft.

Ihrer Mutter machte die neue Lage allerdings doch etwas aus. Mrs. Felicity Parker war in einem schönen Herrenhaus aufgewachsen und hatte damit gerechnet, in ihrer Ehe dasselbe luxuriöse Leben führen zu können – wurde jedoch bitter enttäuscht. Sie erzählte jedem davon, der bereit war zuzuhören. All ihre Hoffnungen stützten sich auf eine vorteilhafte Heirat ihrer schönen Lily. Ein armer Hilfsgeistlicher passte nicht in ihre Pläne, so freundlich und gut aussehend er auch war und so sehr er Lily auch vergöttern mochte. Rose wusste, was geschah, wenn eine Frau einem Mann völlig vertraute, und sie war nicht sicher, dass sie sich je dazu würde durchringen können.

Sie seufzte. Zweifellos würden die Pläne ihrer Mutter sich jetzt auf ihre ältere Tochter konzentrieren, und der Besuch auf Barton Park war gewiss ein Teil davon. Sosehr sie es auch genoss, das alte Haus wiederzusehen und ihre Cousinen zu besuchen, sie blieb auf der Hut.

„Geht es dir auch wirklich gut, Rose?“ Lily runzelte besorgt die Stirn. „Du siehst aus, als hättest du Kopfweh.“

Rose zwang sich zu einem Lächeln und zupfte die Spitze an den Ärmeln ihrer Schwester zurecht. „Aber nein. Es ist nur ein wenig stickig hier drin, findest du nicht auch? Wir sollten nach unten gehen. Mr. Hewlitt wird bestimmt bald ankommen.“

Mit einem aufgeregten Aufschrei lief Lily aus dem Zimmer, und ihr Kleid glitzerte und flatterte um sie herum wie die Flügel eines Engels. Nach einem schnellen Blick in den Spiegel, um sich zu vergewissern, dass sie präsentabel und ordentlich aussah, folgte Rose ihr.

Präsentabel und ordentlich ist wohl alles, was du bieten kannst, dachte sie trocken. Im Gegensatz zu Lily hatte sie nicht die blonden Locken, rosigen Wangen und zierliche Rundlichkeit ihrer Mutter geerbt. Rose war größer, fast schon zu schlank und hatte hellbraunes Haar, das sich weigerte, lockig zu werden, sosehr man es auch mit dem Lockenstab quälte, und ihre Haut war vom Arbeiten im Garten ein wenig zu braun geworden. Allerdings waren ihre Augen nicht allzu übel und von einem Grünbraun, das im richtigen Licht smaragdgrün aussah. Wenn sie nur nicht gezwungen gewesen wäre, diese verflixte Brille zu tragen. Leider war sie seit einer Weile immer nötiger geworden, besonders seit Rose angefangen hatte, bei Lampenlicht zu nähen.

Seufzend strich sie die Ärmel ihres Kleides glatt und griff nach ihren Handschuhen. Anders als Lily, die ein neues Kleid trug, hatte Rose ein älteres ihrer Mutter für sich umgearbeitet. Das olivgoldene Satinkleid, schlicht und schimmernd mit lediglich ein wenig goldener Stickerei am Saum, passte viel besser zu ihr als die gegenwärtige modische Vorliebe für blassen Musselin und bauschige Ärmel. Rose hatte den breiten Rock etwas abgenäht und die Ärmel ein wenig gebauscht, doch sie ahnte, dass man sie dennoch für bedauernswert unmodisch halten und die armen Parkers bemitleiden würde.

Sei es drum, sagte sie sich. Nach dem letzten Schrei gekleidet zu sein ist wirklich das geringste deiner Probleme, liebe Rose.

Sie lachte, steckte sich einen Elfenbeinkamm ins Haar und legte sich ihr cremefarbenes, indisches Schultertuch um, bevor sie Lily aus dem Zimmer folgte.

Die Feier begann gerade. Die ersten Gäste trafen ein und versammelten sich in der Eingangshalle mit dem weißen Marmorfußboden, überließen den Dienern ihre Schultertücher und begrüßten sich fröhlich.

Rose lugte über das Treppengeländer nach unten. Sie hatte Barton Park, das Heim der Bancrofts, entfernter Cousins ihrer Mutter, schon immer geliebt, obwohl sie nur selten zu Besuch kamen. Es war ein wunderschönes Haus, nicht zu groß, nicht zu klein, nach eleganter klassischer Manier erbaut und angefüllt mit bequemen Möbeln, vielen Büchern und schönen Gemälden und Kunstgegenständen. Es war seit Generationen ein wahres Familienheim, durchtränkt mit den Geschichten, Gefühlen und Hoffnungen ihrer Ahnen. Einige Jahre war es vernachlässigt worden, doch unter der Pflege der jetzigen Besitzer, Jane, der Countess of Ramsay, und deren Schwester Emma, war es zu neuem Leben erblüht.

Die Gärten hinter den hohen Fenstern waren ebenfalls hinreißend schön, ganz besonders an einem so sanften, warmen Sommerabend wie heute. Chinesische Lampions hingen in den Bäumen und beleuchteten die Gehwege und farbenfrohen Blumenbeete, während die Kutschen über die Kiesauffahrt zum Haus rollten.

Rose beobachtete die Menge der lachenden, elegant gekleideten Gäste, die sich um Jane und ihren Mann, den umwerfend attraktiven Lord Ramsay, versammelten. Jane in ihrem dunkelblauen Kleid mit den lavendelfarbenen Perlen begrüßte jeden Neuankömmling voller Freude, bevor sie ihn an ihre jüngere Schwester weiterreichte. Emma, ein blonder Engel genauso wie Lily, angetan mit einem grauen Satinkleid, das ihre feenhafte Schönheit nur noch unterstrich, lächelte ebenfalls, wenn auch etwas schüchterner als ihre ältere Schwester. Als Kind war Emma eher eine kleine Draufgängerin gewesen, doch jetzt war sie als junge Witwe nach Barton zurückgekehrt, und der Hauch eines Skandals umgab sie. Rose liebte sie von Herzen, machte sich aber auch große Sorgen um sie.

Ohne Brille nahm Rose nicht alle deutlich war, aber sie entdeckte Lily in der Nähe der offenen Türen, die zum Salon führten. Ihre Mutter stand neben ihr, und während sie mit den Gästen plauderte, wippten die Federn ihres gestreiften Turbans im Takt zu ihrem Lachen. Doch Lily schien ihrer Umgebung keine Aufmerksamkeit zu schenken.

Oje, dachte Rose. Mr. Hewlitt war offensichtlich noch nicht erschienen. Sie ging auf Zehenspitzen die Treppe hinunter und bahnte sich einen Weg durch die Menge, um zu Lily und ihrer Mutter zu gelangen. Doch als Jane sie bemerkte, musste sie stehen bleiben.

„Rose, meine Liebe, komm doch bitte her. Ich möchte dich jemandem vorstellen!“, rief Jane, nahm ihre Hand und zog sie mit sich. Jane war die freundlichste Frau auf Erden, aber sehr oft beharrlicher als nötig, wie Rose fand. Sie erlaubte einem Mauerblümchen einfach nicht, ein Mauerblümchen zu bleiben.

Hastig lächelte sie Emma zu, die ihr Lächeln etwas unbehaglich erwiderte. Sie sah aus, als würde sie am liebsten in der gemütlichen Bibliothek verschwinden, genau wie auch Rose.

Doch dann drehte Rose sich um, um sich Janes jüngst eingetroffenen Gästen zu stellen – und erstarrte. Jeder Gedanke, in die Bibliothek zu fliehen – und eigentlich auch jeder andere Gedanke –, war vergessen.

Gerade eben war ein Gentleman durch die Tür gekommen. Und was für ein Gentleman das war! Er sah eher aus wie der Held aus einem jener romantischen französischen Romane, aus denen Lily abends gern vorlas – hochgewachsen, dunkelhaarig und geheimnisvoll. Seine Miene war finster und misstrauisch, während er die Menge um sich herum betrachtete, als rechnete er nicht damit zu tanzen, sondern sich irgendeinem Gefecht stellen zu müssen.

In jedem Fall besaß er die gerade Haltung eines Soldaten, war schlank und hatte breite Schultern unter seinem perfekt sitzenden dunkelblauen Frackrock. Die sonnengebräunte Haut wurde noch betont durch das schlichte blütenweiße Krawattentuch. Sein Haar war so schwarz, dass es fast blauschwarz schimmerte, und die Augen waren von einem samtigen Braun. Es umgab ihn eine so seltsame Stille, eine Wachsamkeit, dass er fast bedrohlich wirkte, aber seltsamerweise auf eine verlockende und gar nicht beängstigende Art. Er war völlig anders als alle Männer, die Rose jemals kennengelernt hatte.

„Harry, wie schön, dass du heute doch noch kommen konntest“, hörte sie Jane sagen, nachdem es ihr gelungen war, sich ein wenig aus der Verzauberung zu lösen. „Wir hatten gehört, dass du nach Sizilien wieder in die Schlacht gezogen bist.“

„Ein Soldat muss sich beschäftigen, so gut er kann.“ Der Mann lächelte, als er sich über Janes Hand beugte, und aus dem finsteren Mann wurde von einem Moment zum nächsten ein Charmeur mit einem Grübchen. Rose war wieder wie verzaubert. „Aber wie es aussieht, brauchen sie meine Hilfe zurzeit nicht. Wie könnte ich also die Gelegenheit verpassen, dich wiederzusehen, Jane? Es ist viel zu lange her, seit du Leben in Londons langweilige Bälle gebracht hast. Hayden ist ein Schurke, dich uns einfach vorzuenthalten.“

Jane lachte und schlug ihm spielerisch mit dem Fächer auf die Hand. „Alberner Schmeichler. Ich weiß, dass du schon die Minuten zählst, bis du dich mit Hayden und einem Glas Brandy in der Bibliothek verschanzen kannst, um über eure fürchterlichen Schlachtfelder zu reden. Aber es ist dennoch wunderbar, dich heil und gesund wiederzusehen. Und du, Charles! Wo in aller Welt hast du dich so lange versteckt?“

Wenn auch widerwillig, gelang es Rose, ihren Blick einen Moment vom dunkelhaarigen, poetischen Grübler zu reißen und den anderen Mann anzusehen, der genau hinter ihm stand. Er war ebenfalls hochgewachsen und sehr gut aussehend und hatte ein fröhliches Lächeln und blondes Haar, allerdings die gleichen braunen Augen wie der erste Mann. Doch obwohl er ebenso attraktiv war, strahlte er nicht dieselbe beängstigende Faszination auf sie aus.

„Nirgendwo, wo ich auch nur annähernd so nützlich sein konnte wie mein Bruder, versichere ich dir, Jane“, sagte er mit einer Verbeugung. „Aber ich habe seit Ewigkeiten nicht mehr getanzt, und im Gegensatz zu Harry, fehlt es mir mehr, als ich sagen kann.“

„Das ist ein Problem, das ich beheben kann. Ich habe das beste Orchester der Gegend engagiert.“ Jane zog Rose und Emma näher heran. „Emma, Rose, darf ich euch zwei unserer Nachbarn vorstellen? Captain Harry St George, ein großer Held bei Waterloo, und sein Bruder Mr. Charles St George. Gentlemen, meine Schwester, Mrs. Emma Carrington, und meine Cousine, Miss Rose Parker.“

Charles verbeugte sich so schwungvoll, dass Rose lachen musste und selbst Emma lächelte. „Meine Damen, ich fürchte, anders als mein Bruder bin ich nur im Billardzimmer ein Held, aber niemand kann mich beim Tanzen schlagen, vor allem beim Walzer. Wenn Sie mir die Ehre erweisen möchten?“

Jetzt lachte auch Emma – das erste Mal seit die junge Witwe nach Barton zurückgekommen war, soweit Rose wusste –, doch Roses Aufmerksamkeit galt noch beinahe ausschließlich Captain St George. Wie beeindruckend er aussah mit seinem trockenen Lächeln.

„Leben Sie in der Nähe von Barton, Miss Parker?“, fragte er mit tiefer, fast rauer Stimme. Er sah sie dabei sehr eindringlich an, als hätte er außer ihr alle anderen Anwesenden vergessen.

„Oh“, antwortete Rose und einen Moment lang wollte ihr nichts weiter einfallen. Sie musste über sich selbst lachen, so wenig passte es zu ihrer sonst so vernünftigen Art. Aber sie tröstete sich damit, dass es wohl keine Frau gab, die gegen diese Augen immun gewesen wäre.

„Nicht sehr weit entfernt“, fuhr sie schließlich fort. „Wir kamen oft zu Besuch, als wir noch Kinder waren, meine Schwester und ich. Und dann gingen wir mit Jane und Emma auf Schatzsuche.“

Er lächelte, und winzige Fältchen erschienen in seinen Augenwinkeln. „Schatzsuche? Das klingt wirklich sehr interessant.“

„Oh, das war es auch!“, rief sie, sehr erfreut darüber, dass sie ihn „interessiert“ hatte. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie sich nichts mehr wünschte, als ihn noch einmal zum Lächeln zu bringen. „Da gibt es eine wundervolle alte Geschichte über die Geliebte eines königstreuen Soldaten. Sie hieß Arabella Bancroft, und sie hatte ein königliches Vermögen auf dem Gut versteckt in der Hoffnung, es eines Tages, wieder mit ihrem Geliebten vereint, mit ihm gemeinsam auszugeben. Oder so in etwa. Wir haben uns als Kinder nicht lange mit den Einzelheiten aufgehalten.“

„Und haben Sie den Schatz gefunden?“

„Keinen Penny davon. Natürlich ist es nichts weiter als eine Legende, aber wir hatten viel Spaß dabei, im Wald danach zu graben. Wir kletterten auf die Bäume und gaben vor, Königstreue zu sein, die unsere Burg vor Cromwell verteidigten. Und die Baumstämme waren unsere Kanonen …“ Ihr wurde auf einmal bewusst, dass er ein echter Soldat war, ein Held in jenem fürchterlichen Gemetzel bei Waterloo, und sie errötete peinlich beschämt. „Natürlich nicht zu vergleichen mit einer echten Schlacht.“

Sein Lächeln wurde etwas angestrengt, und er wandte den Blick ab. „Aber bestimmt sehr viel amüsanter. Eine echte Schlacht ist sehr viel schmutziger und lauter, fürchte ich, Miss Parker. Aber Bäume und Äste als Kanonen klingt sehr lustig.“

Rose fühlte sich entsetzlich, dass sie ihn an solche Dinge erinnert hatte, während er doch sicher zu Janes Fest gekommen war, um alles zu vergessen. Nicht zum ersten Mal wünschte sie, sie hätte Lilys Talent für sorgloses Geplauder. „Das glaube ich Ihnen. Es tut mir so leid, dass ich schlechte Erinnerungen geweckt habe, Captain.“

Er lächelte wieder freundlich. „Die Erinnerungen schlafen nie, Miss Parker, aber an einem solchen Abend plagen sie mich nicht.“ Er hielt kurz inne. „Und haben Sie sich wiedergefunden?“

„Wiedergefunden?“, fragte sie verwirrt.

„Arabella Bancroft und ihr königstreuer Soldat.“

„Oh. Nein. Er kam niemals zurück. Ich glaube, am Ende heiratete sie jemand anderen und verließ Barton Park.“

„Dann gibt es also Hoffnung, dass der Schatz noch da ist.“

„So habe ich darüber nie nachgedacht“, meinte Rose schmunzelnd. „Vielleicht wirklich.“

Captain St Georges Bruder drehte sich lächelnd zu ihnen um. „Harry, ich habe gerade Mrs. Carringtons Zusage für den ersten Tanz bekommen, und Lady Ramsay sagt, es gebe noch nicht genügend Paare für die erste Formation. Du musst eine Partnerin finden und deinen Teil zur Feier beitragen.“

„Charlie, du weißt doch, dass ich ein hoffnungsloser Tänzer bin“, protestierte der Captain.

„Ach, überhaupt nicht!“, widersprach Charles. „Sei nicht wieder so ein Spielverderber. Sagst du nicht immer, man müsse seine Pflicht erfüllen? Nun, unsere einzige Pflicht heute Abend besteht darin, fröhlich zu sein.“

Harry lachte und wandte sich an Rose. „Nun, Miss Parker. Sind Sie tapfer genug, mit mir zum ersten Tanz anzutreten? Ich warne Sie aber, dass Anmut nicht zu meinen Stärken gehört.“

Rose konnte sich nicht vorstellen, dass das stimmte. Er war so schlank, so elegant, dass er sich beim Tanzen mit der Anmut einer Wildkatze bewegen musste. Sie sehnte sich danach, mit ihm zu tanzen, aber sie fürchtete, dass er sie nur deswegen aufforderte, weil sie zufällig neben ihm stand.

Nicht, dass es etwas ausmachte. Wann würde sie schon die Gelegenheit haben, wieder mit einem solchen Mann zu tanzen?

„Leider auch nicht zu meinen, Captain St George“, erwiderte sie. „Ich habe die schreckliche Neigung dazu, über meine eigenen Füße zu stolpern. Meine Schwester hasste es, beim Tanzunterricht mein Partner zu sein. Aber vielleicht gelingt es uns ja gemeinsam, eine einigermaßen gute Figur abzugeben.“

Er lachte, und plötzlich wirkte er so jung und sorglos. Rose stellte sich vor, dass er vor dem Krieg genauso gewesen war. „Da bin ich sicher. Dann also den ersten Tanz, Miss Parker.“

„Ja, vielen Dank, Captain.“ Und dann spürte sie eine Hand auf ihrem Arm, und als sie sich umdrehte, stand Lily neben ihr, die himmelblauen Augen besorgt aufgerissen.

„Oh, Rose!“, sagte sie. „Er ist noch nicht da! Was mag der Grund sein?“

Bevor Rose antworten konnte, flog die Vordertür wieder auf, als hätte ein heftiger Wind sie aufgestoßen, und eine furchterregende Gestalt erschien. Fast ebenso breit wie sie groß war, stand sie da – das eisengraue Haar im Stil des vorigen Jahrhunderts aufgesteckt, in Satin und Spitze gehüllt und die faltigen Wangen stark geschminkt. Mit dem Spazierstock bewaffnet, dessen Griff die Form eines Drachen hatte, schien sie eine Kreuzung aus der Kaiserin Maria Theresia und einem Wikinger zu sein.

„Tante Sylvia!“, rief Jane entsetzt. Sie lief auf sie zu, um ihr zu helfen, doch die alte Dame schubste sie ungeduldig fort. „Wie schön, dich zu sehen. Wir dachten, du würdest heute nicht kommen können.“

Tante Sylvia Pemberton. Rose starrte sie erstaunt an. Sie hatte die alte Dame, eine Schwester ihres Urgroßvaters, ebenso wie Janes und Emmas, für eine Legende gehalten. Doch hier stand sie vor ihnen. Sie lebte in einem riesigen Haus in der Nähe, war so reich wie Krösus und seit Jahrzehnten verwitwet, aber sie verließ ihr Anwesen nur äußerst selten. Selbst Captain St George schien verblüfft über ihren Anblick zu sein.

„Ich hätte es in der Tat nicht tun sollen, Jane. Es ist ein scheußlicher Abend und mein Rheumatismus plagt mich“, murrte Tante Sylvia. „Aber ich musste mir ansehen, was ihr mit dem alten Haus angefangen habt, nachdem ihr mit all dem modernen Firlefanz fertig seid. Ihr habt es völlig ruiniert, muss ich sagen. Die Fenster sehen fürchterlich aus, und was für eine Farbe ist das an den Wänden?“ Sie sah sich um und fuchtelte mit ihrem Gehstock herum, als wäre die neue blassblaue Farbe eine persönliche Beleidigung.

„Ah“, fuhr sie fort. „Hier haben wir unsere skandalöse Emma. Und wer ist das? Die Parker-Mädchen? Wie blass du bist, Kind. Und die andere – viel zu groß. Kommt her, damit ich euch besser sehen kann.“

Lily sah tatsächlich recht blass aus unter dem kühl prüfenden Blick. Sie klammerte sich an Roses Hand. „Müssen wir?“

Rose seufzte. „Ich fürchte, ja.“ Sie sah über die Schulter, doch der Captain war irgendwo in der Menge verschwunden. Insgeheim hoffte sie inständig, dass er sich an ihren Tanz erinnern würde.

„Mach dir keine Sorgen, liebste Lily“, flüsterte sie. „Wir müssen Sie nur begrüßen, dann können wir uns davonschleichen. Ich bin sicher, Mr. Hewlitt wird jeden Moment hier sein.“

„Wenn sie uns vorher nicht zu Stein erstarren lässt“, antwortete Lily erschaudernd.

Im nächsten Moment erschien ihre Mutter neben Lily, ein Lächeln um die Lippen. „Seid unbedingt sehr nett zu ihr, meine Liebsten. Wir könnten womöglich schon bald ihre Hilfe gebrauchen“, raunte sie ihnen zu, bevor sie weiterging und Tante Sylvia auf die Wange küsste. „Tante Sylvia, wie wunderbar, dich nach so langer Zeit wiederzusehen. Du erinnerst dich doch sicher an meine lieben Töchter, Rose und Lily.“

„Hm“, meinte Tante Sylvia und schlug mit ihrem Gehstock auf den Boden. „Sind also noch immer deine, was? Noch keine Ehemänner? Wie ärgerlich für dich, Felicity. Ich denke, wir haben viel zu besprechen.“

Als hätte er nur auf sein Stichwort gewartet, erschien Mr. Hewlitt in diesem Moment in der Tür, gut aussehend wie immer, doch sein Gesicht war gerötet und sein rotes Haar zerzaust. Seine Miene erhellte sich sofort, als er Lily erblickte, und er eilte zu ihr und nahm ihre Hand. „Miss Parker, es tut mir so leid, dass ich so spät komme! Ich habe mich gefreut …“

„Und wer sind Sie, junger Mann, wenn ich fragen darf?“, rief Tante Sylvia mit dröhnender Stimme.

Der arme Mr. Hewlitt sah ausgesprochen entsetzt aus, doch zu seiner Ehre muss gesagt werden, dass er Lilys Hand nicht losließ. Stattdessen stellte er sich vor sie, als wollte er sie beschützen. „Ich bin Mr. Peter Hewlitt, Hilfsgeistlicher in St. Anne’s, Madam.“

Rose ergriff die Gelegenheit, um sich zurückzuziehen und in den Salon zu gehen. Die Aubusson-Teppiche, die normalerweise die Parkettböden bedeckten, waren aufgerollt worden, um die Tanzfläche freizulegen. An deren Rand standen Brokatsofas und – sessel, halb verborgen hinter großen Blumentöpfen. Das Orchester spielte bereits auf dem dafür vorgesehenen Podium zum ersten Tanz auf, während die Paare sich gruppierten und mehrere Diener Champagner und Wein anboten. Die Terrassentüren waren offen, damit die sanfte Sommerbrise eingelassen werden konnte, und einen Moment lang schien alles nur Gelächter und Freude zu sein.

Rose strich ihren Rock wieder glatt und hoffte halb, Captain St George würde sie nicht finden –, und halb, dass er sie finden würde. Sie wollte in seiner Gegenwart nicht stottern oder sich albern verhalten, war aber sicher, dass sie genau das tun würde. Sobald sie ihm in die dunklen Augen sah, war es, als würde sie alles andere vergessen.

„Miss Parker? Zeit für unseren Tanz, glaube ich“, hörte sie seine tiefe Stimme genau hinter sich.

Sie fuhr herum, und sein ungezwungenes Lächeln nahm ihr sofort jede Unsicherheit. „Oh, natürlich. Danke, Captain.“

Als sie Captain St Georges Arm nahm und mit ihm durch den gedrängt vollen Raum ging, fühlte sie sich sehr seltsam. Feiern, schöne Kleider oder Männer hatten sie nie besonders begeistern können im Vergleich zu ihrer Freude am Klavierspielen oder einem guten Buch am Kaminfeuer.

Doch jetzt, an der Seite von Captain St George, spürte sie genau wie Lily und ihre Mutter, dass sie Spaß hatte auf einer Gesellschaft. Es war erstaunlich und eigentlich erfreulich. Sie folgten dem ersten Paar zu den Takten eines lebhaften Tanzes, hielten sich an den Händen, wechselten die Partner mit zwei weiteren Paaren und warteten schließlich am Ende der Reihe. Noch nie hatte Rose so viel Vergnügen beim Tanzen gehabt!

„Es tut mir leid. Ich bin kein besonders begabter Tänzer“, sagte er, während er sich mit ihr drehte und brachte sie zum Lachen.

„Ich finde, Sie sind ein großartiger Tänzer“, meinte sie. „Allerdings muss ich auch immer mit Lily üben, und die neigt dazu, mir öfter auf die Zehen zu treten, als mir lieb ist.“

„Dann werde ich versuchen, das zu vermeiden“, entgegnete er amüsiert lächelnd. „Ich habe auch nicht oft die Gelegenheit zu tanzen.“

„Das kann ich mir denken, wenn Sie doch ständig marschieren müssen. Kommen Sie überhaupt in Gesellschaft?“

„Nicht viel, aber eine Weile war mein Regiment in der Nähe von Bath stationiert, was ich ziemlich genossen habe, wie ich gestehen muss.“

„Ich war noch nie in Bath“, sagte Rose seufzend. „Und nur zweimal in London. Eine große Stadt muss wunderschön sein.“

„Nicht so übel“, erwiderte er mit einem so charmanten Lächeln, dass ihr die Knie weich wurden. „Aber Familienabende sind die schönsten.“

„Ja.“ Rose war ein wenig außer Atem. „Das stimmt.“ Und der heutige Abend erwies sich als der schönste ihres ganzen Lebens. „Mir gefallen Abende zu Hause auch. Ein Buch und ein warmes Feuer, ein Lied am Klavier.“

„Das klingt vollkommen, Miss Parker. Genau das ist es, was ich mir eines Tages wünsche. Musik an einem Winterabend, ein einladendes Feuer nach einem Spaziergang im Garten …“

Einen Moment erschien ein verlockendes Bild vor Roses innerem Auge, wie sie und der Captain Arm in Arm einen Weg entlanggingen. Hinter ihnen standen die Türen zum Herrenhaus offen, sodass das Licht auf sie fiel. Es war ein Bild von früher, als sie noch ein Kind gewesen und bevor ihr Vater gestorben war und sie herausgefunden hatten, dass alles nur ein Trugbild gewesen war. Doch mit diesem Mann konnte sie sich eine solche Idylle vorstellen, wenn auch nur für einen Augenblick.

Bei der nächsten Wendung in der Formation hob Captain St George sie fast vom Boden, als er sie herumwirbelte, und brachte Rose wieder zum Lachen. In seinen starken Armen kam sie sich fast zierlich vor, wie die Heldin in einem Roman. Schließlich, ganz atemlos, aber glücklich, knickste sie vor ihm, und er verbeugte sich.

Der Tanz war viel zu schnell zu Ende, und Rose musste seine Hand loslassen. Gemeinsam gingen sie an den Rand der Tanzfläche, wo Rose ihre Mutter mit Emma Carrington und Charles St George neben den offenen Balkontüren stehen sah. Sie lachten über etwas, und Rose freute sich, dass ihre Mutter sich offenbar gut unterhielt.

Dann erst bemerkte sie die Dame, die neben Charles St George stand und die übrigen mit einem trägen Lächeln betrachtete. Sie war so schön, dass sie nicht von dieser Welt zu sein schien. Hochgewachsen und schlank, erinnerte sie an die Göttin Athene, die sich unter die Menschen gemischt hatte.

Sie trug ein modisches Kleid aus blassrosafarbener Seide und ihr rotblondes Haar hochgesteckt zu einer eleganten Frisur. In der Hand hielt sie einen bemalten Seidenfächer, während sie den Blick über die Menge schweifen ließ.

Rose spürte, wie Captain St George neben ihr erstarrte. Erstaunt blickte sie zu ihm und sah, dass sein Lächeln erstarb. Der Mann, der so zwanglos und freundlich mit ihr getanzt hatte, war plötzlich angespannt und sein Blick voller Verlangen.

„Harry, da bist du ja endlich“, rief Athene, und etwas in Rose, etwas sehr Zartes, gerade eben erst Erblühtes, fiel sofort in sich zusammen. Plötzlich war ihr kalt, und sie wünschte sich nichts mehr, als sich abwenden und davonlaufen zu können. Warum hatte sie auch nur einen Moment lang geglaubt, sie könnte mehr sein als die unscheinbare, vernünftige Rose Parker?

Captain St George trat beiseite, nicht völlig, aber in gewisser Weise zog er sich doch zurück.

Die Dame kam geschmeidigen Schrittes auf sie zu und legte die behandschuhte Hand auf den Arm des Captains. Sie sahen sich tief in die Augen, und ihr Lächeln vertiefte sich. „Es tut mir fürchterlich leid, dass ich so spät komme“, sagte sie. „Ich hoffe sehr, dass du dich nicht gelangweilt hast. Schließlich weiß ich, wie sehr du solche Gesellschaften hasst.“

„Es stimmt, ich mache mir nicht viel aus großen Menschenmengen“, erwiderte er. „Aber Barton Park ist anders.“

„Ich verstehe.“ Ihr Blick glitt zu Rose, und ihr Lächeln wurde ein wenig spöttisch, während sie Rose von Kopf bis Fuß musterte, ganz offensichtlich nicht sonderlich beeindruckt von ihrer Erscheinung.

„Darf ich dir eine Cousine der Bancrofts vorstellen“, sagte der Captain. „Miss Rose Parker. Miss Parker, dies ist Miss Helen Layton, eine alte Freundin meiner Familie.“

„Eine alte Freundin, mein lieber Harry?“, wiederholte Miss Layton mit einem perlenden Lachen. „Gewiss doch mehr als das. Wir kennen uns schließlich, seit wir Kinder waren. Charles sagte eben, er erwarte jeden Moment eine … nun, eine interessante Bekanntgabe.“

Eine Bekanntgabe? Das konnte nur eins bedeuten. Rose musste schlucken. Captain St George und Miss Layton waren ein Paar. Jetzt war ihr sogar noch kälter, und sie kam sich noch dümmer vor.

„Es freut mich, Sie kennenzulernen, Miss Layton“, brachte sie jedoch mit ruhiger Stimme hervor.

„Ich glaube, ich bin gerade Ihrer Mutter begegnet, Miss Parker“, sagte Miss Layton. Sie wies mit dem Fächer auf Roses Mutter, die noch immer mit Emma und Charles St George plauderte. „Sie sagt, Sie leben in einem Cottage hier in der Nähe. Wie reizend das klingt. Wie Wordsworth irgendwie. Rosen über dem Eingang und Schafe auf den Hügeln.“

Rose lächelte und dachte an den rauchenden Kamin, an das Gemüse, das sie im Küchengarten zu ziehen versuchte, und an ihre Hühner. „So ungefähr ist es wohl auch, Miss Layton.“

„Wir müssen genau so etwas suchen, wenn du von dieser dummen Angelegenheit auf Sizilien zurück bist“, sagte Miss Layton und umfasste den Arm des Captains fester.

Er lächelte nur gezwungen, und Rose spürte, wie sie errötete, und wünschte sich, sie könnte sich in Luft auflösen.

„Rose! Rose!“, hörte sie plötzlich Lily rufen, und sie war noch nie so erleichtert gewesen, ihre Schwester zu sehen. Sie drehte sich um, um den hinreißenden Captain St George nicht mehr neben der liebreizenden Miss Layton anschauen zu müssen, um die närrischen Gefühle zu verdrängen, denen sie sich unklugerweise erst vor wenigen Minuten hingegeben hatte.

Lily kam auf sie zugelaufen, das Gesicht strahlend vor Glück, und es war ihr offensichtlich völlig gleichgültig, wie ungehörig es war, auf einem Ball mit lautem Rufen auf sich aufmerksam zu machen. Mr. Hewlitt folgte ihr auf dem Fuße und strahlte ebenso sehr. Gemeinsam eilten sie dann auf Roses Mutter zu, die sie begierig erwartete.

„Mrs. Parker“, sagte er mit einem Ernst, der ihm nicht gelingen wollte. „Darf ich mir erlauben, einen Moment mit Ihnen zu sprechen? Ich weiß, solche Dinge gehören sich normalerweise nicht auf einem Ball …“

„Bitte folgen Sie mir“, warf Emma ein. „Sie können die Bibliothek benutzen. Dort haben Sie die nötige Ruhe.“

Während sie davongingen, hielt Lily ihrer Schwester die Hand hin, um ihr einen kleinen Perlenring zu zeigen. „Oh, Rose! Ist es nicht der schönste Ring, den du je gesehen hast?“

Rose lächelte, fürchtete aber, dass sie auch nahe daran war, in Tränen auszubrechen. Die Träume ihrer Schwester wurden gerade in dem Moment Wirklichkeit, als ihre eigenen zarten Hoffnungen im Keim erstickt worden waren, und es war fast mehr, als sie ertragen konnte. Aber sie lachte und umarmte ihre Schwester. „Wirklich, der schönste, Lily. Ich weiß, dass du glücklich werden wirst.“

Über Lilys Schulter hinweg erhaschte sie noch einen kurzen Blick auf Captain St George, der sich mit seinem Bruder und Miss Layton in eine ruhige Ecke zurückgezogen hatte. Und der Captain schenkte ihr ein kleines, trauriges Lächeln, voller Mitgefühl und Verständnis, sodass Rose wirklich fast in Tränen ausgebrochen wäre. Wie vollkommen jener eine Tanz doch gewesen war! Sie mochte ihr Leben und ihre Unabhängigkeit, doch einen kurzen Augenblick lang hatte sie einen flüchtigen Blick auf etwas Wundervolles erhascht – auf ein wahres Heim.

Miss Layton flüsterte dem Captain etwas ins Ohr, und beide wandten sich gemeinsam ab – beide so schön, so vollkommen – und ließen Rose allein zurück in ihrer farblosen, gewöhnlichen Welt. Nun ja, dachte sie und musste ein wenig über sich lachen. Ein gewöhnliches Leben war doch gar nicht so schlecht.

„Du wirst eine wunderschöne Braut sein, liebste Lily“, sagte sie und drückte ihre Schwester noch ein wenig fester an sich, bevor sie sie losließ.

„Und dann kommst du an die Reihe, Rose, das verspreche ich dir. Ich werde jemanden finden, der ebenso attraktiv und süß ist wie mein Hewlitt.“

Rose schloss die Augen und sah wieder Captain St Georges viel zu flüchtiges Lächeln vor sich. „Ach, Lily. Ich glaube nicht, dass das möglich ist.“

In der Kutsche war es zum Glück dunkel und still, als er Barton Park verließ. Harry lehnte den Kopf gegen die Lederpolster, schloss die Augen und ließ sich von der Stille einhüllen.

Stille war in den vergangenen Jahren zu einem kostbaren Gut geworden. In Spanien und danach in Waterloo war der Lärm allgegenwärtig gewesen. Der Missklang der Militärlager, der Trommelschlag und die lauten Befehle, und das trunkene Gelächter in der Nacht, wenn die Männer versuchten, ihre Angst und Einsamkeit am Lagerfeuer zu vergessen. Die Explosion der Schüsse und Kanonen, das Schreien der Menschen und Pferde, wenn sie fielen, das Schluchzen danach. Nein, im Krieg gab es keine Stille.

Aber auch nicht in einer Welt nach dem Krieg, wie es schien. Harry war in dem Glauben nach England zurückgekehrt, dass er hier eine Welt grüner Wiesen, eine Welt des Friedens vorfinden würde – eine Welt, von der er in seinem Lagerzelt geträumt hatte. Er hatte Jahre gebraucht, sich zur Rückkehr zu entschließen, aber er hatte gewusst, dass es am Ende geschehen würde.

Sobald er wieder in London gewesen war, hatte sich herausgestellt, wie sehr er sich geirrt hatte. Ständig fanden Gesellschaften statt, abends und zum Tee, und Bälle, auf denen jeder nach Geschichten über ruhmvolle Heldentaten im Krieg verlangte. Er konnte ihnen kaum die ganze Wahrheit erzählen, den Schmutz und das Blut und das Sterben, also sagte er kaum etwas. Charmante Konversation war schon immer eher Charles’ Stärke gewesen, nicht seine.

Und doch schien gerade sein Schweigen ihn zum heiß begehrten Gast zu machen. Noch mehr Einladungen erreichten seine Unterkunft, noch mehr Damen wollten im Salon neben ihm sitzen oder im Park mit ihm ausreiten. „Wie ein Seeräuber aus einem Gedicht“, hatte er einmal bei einem Musikabend eine Dame ihrer Freundin zuflüstern hören.

Bei dem Gedanken daran musste er wieder lachen. Er, ein romantischer Seeräuber! Wenn sie wüssten. Er war nichts als ein rauer Soldat, der der Trommel gefolgt war, seit er ein junger Mann gewesen war. Ein Soldat, der davon träumte, eines Tages sein Land zu bewirtschaften, am Ende des Tages vor dem Kamin zu sitzen, seine Ernte heranreifen und seine Schafe fett werden zu sehen. Er sehnte sich nach einem Haus, in dem es still sein würde, bis vielleicht auf das Kichern seines Kindes und das Klavierspiel seiner Frau.

Es war ein Traum, der wieder einmal verschoben werden musste, wenigstens für eine Weile. Sein Regiment hatte ihn nach Sizilien gerufen, um einen Aufstand niederzuschlagen. Es blieb ihm nur Zeit für diesen einen Besuch im Haus seines Vaters auf Hilltop Grange in der Nähe von Barton Park.

Er hatte nicht zur Feier auf Barton gehen wollen. Noch mehr Lärm, noch mehr Gerede, noch mehr gaffende Blicke. Doch Jane und Emma Bancroft waren alte Nachbarn und freundliche Menschen, und so hatte er sich von Charles überreden lassen. Jetzt war er sogar froh, dass er es getan hatte.

Als er die Augen schloss, sah er etwas sehr Unerwartetes – Miss Rose Parkers Gesicht. Sie hatte das süßeste Lächeln, das er jemals gesehen hatte, und selbst das Tanzen, das er eigentlich hasste, war zu einem Vergnügen geworden, weil er währenddessen mit ihr gesprochen hatte. Noch nie war er einer Frau wie ihr begegnet. Sie war so ruhig, so gelassen, dass ihm in ihrer Gegenwart alles gleich etwas leichter erschien.

Nach so langer Zeit in der rauen Welt des Krieges, hatte Harry fast die Hoffnung aufgegeben, jemals wieder reine, aufrichtige Lieblichkeit wiederzufinden. Und doch hatte er einen Blick davon erhascht – in Rose Parkers Lächeln.

Bis Helen aufgetaucht war. Helen – eine seiner ältesten Freunde, die Tochter der besten Freundin seiner verstorbenen Mutter und eine Dame von so großer Schönheit, dass sie in London die Unvergleichliche genannt wurde. Und sie war die Dame, die er nach Ansicht aller heiraten würde.

„Wie launisch du doch heute bist, Harry“, sagte Charles. „Zuerst lachst du, dann runzelst du finster die Stirn. Man weiß nicht, was man als Nächstes von dir erwarten soll.“

Harry öffnete die Augen, um seinen Bruder anzusehen, der sich auf dem Sitz ihm gegenüber flegelte. Sein goldblondes Haar glänzte im Mondlicht, das auch seine vornehme Adlernase beschien. Er war ihrer verstorbenen Mutter am ähnlichsten und deswegen auch immer ihr Liebling gewesen. Charles war der vollkommene Apoll, immer lachend und gut gelaunt, Harry selbst im Vergleich eher ein finsterer Hephaistos. Doch jetzt, da die Feier hinter ihnen lag, wirkte Charles fast traurig – wie schon so oft, seit Harry nach England zurückgekehrt war. Und Harry fragte sich nicht zum ersten Mal, was seinen Bruder wohl quälen mochte.

Vielleicht lag es daran, dass Charles all die Jahre gezwungen gewesen war, sich um Hilltop und ihren Vater zu kümmern, während Harry im Krieg war. Und ihr Vater war selbst unter den besten Umständen kein besonders freundlicher Mann. Er hatte Schande gebracht über das Haus, den ganzen Stolz ihrer Mutter, und über den Familiennamen, den sie so geliebt hatte.

„Ich lache, weil der Abend besser verlaufen ist, als ich erwartet habe“, sagte Harry.

„Aha!“, entgegnete Charles. „Also hatte ich recht. Die Bancroft-Mädchen sind immer die Freundlichkeit selbst.“

„Es sind wohl kaum noch Mädchen, oder? Jane ist eine Countess und Emma Witwe.“

„Arme Emma. Erinnerst du dich noch, wie Mama uns zu den Kinderpartys auf Barton schickte, und wir stattdessen auf Bäume kletterten?“, sagte Charles mit einem Lachen. „Vater war nicht sehr erfreut, uns in unserer zerrissenen, schmutzigen Kleidung zurückkommen zu sehen. Er meinte immer, Mama würde zwei kleine Affen großziehen.“

„Und er griff zur Rute.“ Die Rute kam damals sehr oft zum Einsatz, besonders nach dem Tod ihrer Mutter. „Aber der Besuch auf Barton war es immer wert.“

„Ja, nicht wahr? Es war, als wären wir in einer anderen Welt.“

Harry nickte. Er dachte an Miss Parkers Geschichten vom verlorenen Schatz und fragte sich, warum ihre Wege sich niemals gekreuzt hatten, als sie noch Kinder gewesen waren. Was wäre gewesen, wenn sie sich schon damals begegnet wären?

„Die schöne Helen sah heute wieder hinreißend aus“, meinte Charles. „Wenn wir doch nur eintausend Schiffe hätten, die wir ausschicken könnten, um sie zu gewinnen …“

Harry runzelte die Stirn. Helens elegantes Gesicht erschien vor seinem inneren Auge und verdrängte Miss Parkers sanftes Lächeln. Die Last der Pflicht, die Last all dessen, was bereits hinter ihm lag und was in Zukunft von ihm erwartet wurde, fiel wieder auf seine Schultern. „Helen war schon immer schön.“

„Hat Miss Lily Parkers süße kleine Verlobung dich nicht inspiriert, Harry? Noch kein Ring für Helens hübschen Finger?“

Harry war nicht sicher, ob ihm Charles’ Ton gefiel. Auch sein Lächeln wirkte eher hart und spöttisch. „Helen weiß, dass jetzt nicht die richtige Zeit für eine Verlobung ist. Ich würde sie nicht an einen Mann wie mich fesseln wollen.“

„Du magst ja so denken, aber tut sie es auch? In den Wettbüchern der Londoner Clubs wird schon gemutmaßt, wann sie dich in die Ehefalle locken wird. Alle rechnen damit. Im Grunde schon, seit wir Kinder waren.“

Mit gerunzelter Stirn sah Harry aus dem Fenster, wo der Mond auf die stillen Hecken schien. „Du hast irgendwelchen lächerlichen Klatsch in deinen Clubs aufgegriffen, Charlie.“

„Nun, irgendwie muss man sich ja ablenken, weißt du. Jeder sagt, du und Helen seid wie füreinander geschaffen. Ebenso wie jeder Mann seinen rechten Arm geben würde, um an deiner Stelle sein zu können.“

Etwas in der Stimme seines Bruders erregte Harrys Aufmerksamkeit – eine Schärfe und Härte, die Charles gar nicht ähnlich sah. Er wandte den Kopf, um ihn anzusehen, doch Charles’ Gesicht war in Schatten getaucht.

„Füreinander geschaffen?“, wiederholte Harry. Vielleicht stimmte es. Schließlich waren sie so lange miteinander befreundet, vereint durch die Bande ihrer Familien und den Wunsch ihrer Mütter. Er hatte an sie gedacht, während er fort gewesen war, hatte auch von ihr geträumt und ihre Miniatur bei sich getragen. Sie war wie ein Traum für ihn, genauso wie die ruhige grüne Landschaft Englands ein Grund für seine Rückkehr gewesen war.

Und sie war wirklich umwerfend schön, die schönste Frau in ganz London, die jeden Mann haben konnte. Doch aus irgendeinem Grund schien sie Harry allen anderen Männern vorzuziehen – zumindest noch.

Aber würde Helen jemals zufrieden sein mit einem Leben auf dem Land, das er sich vorstellte? Mit den ruhigen Abenden und der kleinen Gemeinde? Harry war sich alles andere als sicher. Vielleicht war es dieser Zweifel, der ihn zögern ließ.

Wieder erinnerte er sich an Miss Parkers süßes Lächeln, spürte die sanfte Berührung ihrer Hand, schob den Gedanken aber hastig von sich. „Sie ist einverstanden, so lange zu warten, bis ich mein Offizierspatent verkauft habe. Danach sehen wir dann, was wird.“

Charles schüttelte den Kopf. „Du solltest aufpassen, Harry. Während du deine Abenteuer erlebst, könnte jemand anders sie dir ausspannen. Man sagt, der Duke of Hamley sucht nach einer neuen Duchess, jetzt da sein Trauerjahr vorüber ist.“

Ein Lachen entfuhr Harry. Wenn Helen eine Rolle wie auf den Leib geschnitten war, dann die der Duchess. „Niemand würde eine bessere Duchess abgeben als Helen.“

Einen langen, angespannten Moment lang schwieg Charles, dann stieß er hervor: „Ich hätte dich niemals für einen solchen Narren gehalten, Harry.“

Bevor Harry etwas erwidern konnte, fuhr ihre Kutsche durch das Tor von Hilltop Grange und ratterte die gebogene alte Auffahrt zum Haus hinauf, vorbei am verwilderten Stück Land, das einst unter der strengen Aufsicht ihrer Mutter ein gepflegter Garten gewesen war.

Es hätte keinen größeren Kontrast geben können als den zwischen Hilltop Grange und dem in warmes Licht getauchten Barton Park. Hilltop stand in völliger Dunkelheit da, wenn man von einer einzigen Lampe im Fenster der Bibliothek absah. Bei Tageslicht würde man den wild wuchernden Efeu sehen können, der sich an den grauen Steinmauern emporrankte, die bröckelnden Schornsteine und die abgedeckten Fenster. Harry wurde wieder von Kummer und Schuldgefühlen erfasst, weil er sich entschlossen hatte, anderen Pflichten zu folgen.

Doch das Licht bedeutete, dass ihr Vater noch wach war oder – sehr viel wahrscheinlicher – nach dem Leeren einer Flasche Brandy im Sessel eingeschlafen war. Jetzt verließ er die Bibliothek kaum noch.

„Unser großartiges Erbe“, meinte Charles leise und bitter.

Harry nickte grimmig. „Es tut mir leid, Charles. Ich hätte ebenfalls hierbleiben sollen.“

Erstaunt sah Charles ihn an. „Aber nein, Harry, niemals. Du tust, was du tun musst – du erfüllst deine Pflicht für König und Vaterland, so wie es sein soll. Niemand ist pflichtbewusster gewesen als du, schon als wir noch Kinder waren. Was ich hier mit Vater auch durchmachen muss, es ist nichts im Vergleich zu dem, was du all diese Jahre erleben musstest. Außerdem bin ich derzeit kaum hier.“ Er grinste, und der ungewohnt ernste, nachdenkliche Charles verschwand und machte dem verwegenen, lebenslustigen jungen Mann Platz, den jeder kannte. „London ist viel amüsanter. Warum sollte irgendein Mann woanders leben wollen?“

„Amüsant und teuer“, bemerkte Harry trocken, musste aber über Charles’ unbekümmerte Miene lachen. Sein jüngerer Bruder, der Goldjunge ihrer Mutter, war schon immer so gewesen – übermütig und sorglos, während Harry der verantwortungsbewusstere, der ruhigere Bruder gewesen war.

Charles zuckte mit den Schultern. „Was kann man sonst schon tun? Ich wäre ein armseliger Soldat, völlig nutzlos. Und die Kirche würde mich niemals haben wollen.“

„Was ist mit deiner Malerei?“ Harry erinnerte sich an Charles’ überragendes Talent mit dem Pinsel, an die Art, wie er mit wenigen geschickten Strichen die Stimmung einer Landschaft einfangen konnte.

Charles lachte. „Die Zerstreuung eines Jungen. Nichts für einen erwachsenen Mann, oder?“

„Sagt wer? Unser Vater?“, fragte Harry leise.

Statt zu antworten, stieß Charles die Tür der Kutsche auf, kaum dass sie zum Stillstand gekommen war, und sprang hinaus. Harry folgte ihm die niedrigen Steinstufen hinauf und in die riesige Halle von Hilltop Grange. Aus den Schatten wurden sie von den Porträts ihrer Vorfahren, einschließlich dem ihrer goldblonden Mutter, gemustert. In den Räumen dahinter lagerten die Möbel unter Schonbezügen. Das geliebte Klavier ihrer Mutter blieb stumm.

Einen winzigen Moment lang erschien ein ganz anderes Bild vom Haus vor Harrys innerem Auge – helles Licht überall ließ das polierte Holz glänzen, im Kamin prasselte ein munteres Feuer, Blumenduft drang aus dem Garten herein, das Geräusch kleiner Füße, Musik. Doch die Dame, die sich vom Klavier aus umdrehte, um ihn mit einem Lächeln zu begrüßen – hatte Rose Parkers sanfte grün-braune Augen.

„Vater, wach auf!“, schrie Charles und hämmerte mit der Faust gegen die Tür der Bibliothek. Der Traum löste sich auf, genau wie der einstige Glanz von Hilltop Grange.

1. KAPITEL

Winter, drei Jahre später

Jouissons dans nos asiles, jouissons de biens tranquilles! Ah, peut-on être heureux, quand on forme d’autres voeux?“

„Das reicht jetzt!“, rief Tante Sylvia von ihrem Sessel neben dem Kamin, trotz des warmen Feuers noch in mehrere Schals und eine Pelzdecke gewickelt. Ihre drei Schoßhunde rührten sich und kläfften. „Was für ein fürchterliches Lied von diesem grauenvollen Rameau! Warum singst du nur ein so schreckliches Lied?“

Rose seufzte und stützte die Hände auf den Rand der Tasten, während die letzten Klänge im viel zu stickigen Salon in Tante Sylvias riesigem Haus verklangen. Sie hätte gelacht, wenn sie nicht so müde gewesen wäre. Langsam nahm sie die Brille ab und rieb sich die Augen. In den Jahren, die sie als Tante Sylvias Gesellschafterin arbeitete, hatte sie gelernt, dass die alte Dame unberechenbar war. Eine Lieblingsspeise, die sie sich aus London kommen ließ und von Rose täglich aus dem Dorfladen abgeholt werden musste, immerhin ein Fußmarsch von zwei Meilen, konnte von Tante Sylvia zurückgewiesen werden, kaum dass Rose sie gebracht hatte. Der Rollstuhl musste für einen Spaziergang in den Garten herbeigeschafft werden, doch dann schimpfte Tante Sylvia: „Wofür hältst du mich, für eine gebrechliche alte Frau? Ich werde zu Fuß gehen! Reich mir sofort deinen Arm, Rose. So leicht wirst du mich nicht los, du dummes Mädchen.“

Rose wollte Tante Sylvia nicht loswerden. Sie zahlte ihr ein Gehalt, das Roses Mutter ermöglichte, in ihrem Cottage zu bleiben, jetzt da Lily und Mr. Hewlitt zwei Kinder hatten, und Mamas kleines Einkommen erschien noch ärmlicher als sowieso schon. Ihre Mutter hatte es verdient, in ihrem eigenen Heim zu bleiben, und Rose musste arbeiten, um das sicherzustellen. Allerdings wünschte sie, Tante Sylvia würde nicht ständig ihre Meinung ändern.

„Ich dachte, dir gefallen die alten französischen Lieder, Tante“, sagte sie. „Weil sie dich an deine Zeit in Versailles erinnern.“

In ihrer Jugend war Tante Sylvia eine von Königin Marie Antoinettes Hofdamen gewesen, bevor sie den reichen Mr. Pemberton geheiratet hatte und nach England zurückgekehrt war. Sie redete ständig davon und sorgte dafür, dass auch niemand sonst es vergaß, indem sie hartnäckig an der Mode jener Zeit mit dem hochgesteckten Haar, der tiefen Taille und den bauschigen Ärmeln festhielt.

„Warum sollte ich Lieder hören wollen, die mich an einen so schrecklichen Verlust erinnern?“ Tante Sylvia hieb mit dem Gehstock auf den Boden. Einer ihrer Hunde bellte. „Ihr jungen Leute wisst nichts von solchen Dingen. Und auch nicht, wie glücklich ihr euch schätzen könnt.“

Rose musste plötzlich an Captain St George denken und an ihren Tanz auf der Mittsommerfeier vor so langer Zeit. Sie erinnerte sich an den gequälten Blick seiner dunklen Augen, als er die Schlacht erwähnte und wahrscheinlich an Waterloo gedacht hatte. Seit damals hatte Rose viel zu oft an ihn denken müssen, besonders in den langen, ruhigen Nächten, während sie wach lag und darauf wartete, dass Tante Sylvia sie rief. Hatte er die schöne Miss Layton geheiratet? War er endlich aus dem Krieg heimgekehrt und hatte Frieden gefunden? Sie hoffte es jedenfalls von Herzen.

Jetzt sah sie aus dem Fenster, und durch einen kleinen Spalt zwischen den schweren Vorhängen, die Tante Sylvia zu allen Zeiten geschlossen hielt, konnte sie sehen, dass es angefangen hatte zu schneien. Es erinnerte Rose daran, dass es fast schon Dezember war und kurz vor Weihnachten, und sie fragte sich, was ihre Mutter und Lily und ihre kleine Familie gerade taten.

Lily und ihre Kinder schmückten sicher gerade ihren winzigen Salon mit Tannenzweigen und backten Kekse, um sie unter Mr. Hewlitts Gemeindemitgliedern zu verteilen. Ihre Mutter war vielleicht dabei, kleine Kittel zu besticken und sie als Geschenk für ihre Enkelkinder zu verpacken.

Rose verspürte wieder die vertraute Sehnsucht nach ihrer Familie, und sie musste sich daran erinnern, warum es wichtig war, dass sie arbeitete. „Vielleicht könnte ich dir ein oder zwei Weihnachtslieder vorspielen, Tante Sylvia? Es ist schon bald wieder so weit.“

„Weihnachten!“, höhnte Tante Sylvia. „Rede mir bloß nicht davon! Spiel etwas von Mozart. Du weißt, dass mir seine Musik immer gefällt.“

Außer natürlich wenn sie Mozart einen überschätzten Tanzbären nannte. Rose unterdrückte ein Lachen und begann mit dem Allegro aus der Hochzeit des Figaro. Und wie es ihr immer gelang, verlor sie sich auch jetzt in der Musik, und die raue Welt von Tante Sylvias Haus und ihr Heimweh verschwanden. Sie befand sich jetzt in ihrem eigenen Reich und schwebte über allem anderen.

Eines Tages, dachte sie mit einem glücklichen Lächeln, werde ich vielleicht mein eigenes Zuhause mit meinem eigenen Klavier haben. Ich werde spielen, was ich möchte, und meine Familie wird lauschen …

Das Stück endete, und Rose kehrte aus jener verzauberten Welt wieder zurück in den überhitzten Salon. Jetzt hörte sie nur das Schnarchen ihrer Tante, vermischt mit dem Schniefen der Hunde und dem Knistern des Kaminfeuers.

Sie wandte sich um und sah, dass Tante Sylvia tatsächlich eingeschlafen war. Um sie nicht zu wecken und damit den Abend noch zu verlängern, wagte Rose kaum zu atmen. Behutsam schloss sie den Deckel über den Tasten und erhob sich. Auf Zehenspitzen ging sie zu ihrer Tante, um sich zu vergewissern, dass ihre diversen Schals sie warm hielten, und schlich leise aus dem Zimmer. Miss Powell, die leidgeprüfte Zofe ihrer Tante, wartete vor der Tür.

Rose nickte ihr zu, Miss Powell erwiderte ihr Nicken knapp, und endlich konnte Rose die Treppe hinaufgehen und sich in ihr Zimmer zurückziehen. Es war kein sehr großer Raum, kaum groß genug, um ein schmales Bett, einen Waschtisch und ihre Truhe zu fassen, und es blickte auf den mit Frost bedeckten Küchengarten hinunter. Aber es gehörte ihr. Im Cottage hatte Rose ein Zimmer mit Lily geteilt, und nachts waren die Füße ihrer Schwester immer eiskalt gewesen.

Plötzlich fehlten ihr Schwester und Mutter wieder fürchterlich.

„Sei keine dumme Gans“, ermahnte sie sich streng. Es lag gewiss an der Weihnachtszeit, dass sie so melancholisch war. Und sie hatte zu viel zu tun, um sich jetzt um Mama und Lily zu sorgen. Tante Sylvia würde sie gewiss wie gewöhnlich sehr früh zu sich rufen lassen, damit sie Briefe für sie beantwortete und die Hunde ausführte.

Als sie in ihrer Truhe nach ihrem Nachthemd suchte, klopfte es plötzlich. Erstaunt, dass um diese Stunde noch jemand wach war, beeilte sie sich, zu öffnen.

Eins der Hausmädchen stand vor ihr und gähnte in ihre Schürze. „Verzeihung, Miss, aber die hier kamen mit der Nachmittagspost, aber ich habe vergessen, sie Ihnen zu geben. Wir haben dann immer so viel mit dem Tee zu tun …“

Rose erschauderte in Erinnerung an den Aufruhr, als Tante Sylvia sich heute Nachmittag wegen des angeblich nicht richtig durchgebackenen Mandelgebäcks beschwert hatte. „Schon gut, das macht nichts. Danke.“ Sie nahm die Briefe begierig in Empfang, und das Mädchen eilte die Treppe hinunter.

Einer war von Lily. Rose erkannte das hastige Gekritzel ihrer Schwester. Und einer war mit einem Siegel verschlossen worden. Er kam aus Barton Park.

Ein Brief aus Barton! Rose hielt aufgeregt den Atem an. Sie hatte schon seit langer Zeit nichts mehr von Jane gehört. In der Zwischenzeit war sie allerdings sehr damit beschäftigt gewesen, ihrem Gatten viele kleine Erben zu schenken, und Emma hatte kürzlich David Marton, einen ihrer Nachbarn, geheiratet.

Schnell zog Rose sich aus, legte ihr vernünftiges graues Seidenkleid ordentlich beiseite, schlüpfte in ihr Nachthemd und kletterte ins kalte Bett, um ihre kostbaren Briefe zu lesen. Zuerst öffnete sie den cremefarbenen, mit eleganter dunkelgrüner Tinte beschriebenen Brief aus Barton.

Meine liebe Rose,

es tut mir so leid, dass wir uns seit Cousine Lilys Hochzeit nicht mehr gesehen haben. Deine Familie fehlt uns so sehr, und wir reden oft davon, wie sehr deine Briefe uns zum Lachen bringen. Deine Geschichten über Tante Sylvia – eine liebe Dame, aber nun ja, sie ist eben Tante Sylvia – sind besser als ein komischer Roman und erheitern uns ungemein. Du bist wirklich eine sehr mutige Frau.

Wir sprechen auch oft von jenem wunderschönen Mittsommerball, als Lily und ihr Geistlicher sich verlobten. Es scheint unendlich lange her zu sein, seit Barton einen so schönen Abend erlebte.

Hayden muss seine Pflichten im Oberhaus erfüllen, die ihn oft nach London rufen, und wie du weißt, haben wir jetzt vier liebe Kinder – William, Eleanor, Emma und Baby Edward.

Emma und David erwarten auch schon bald ihr erstes Kind, doch Emma führt immer noch ihren kleinen Buchladen im Dorf. Sie besteht darauf, die Buchleiter hinauf- und hinunterzuklettern, und versetzt ihren armen Mann in höchste Angst, aber sie sagt, sie hätte sich noch nie so gut gefühlt! Worum ich sie nicht wenig beneide. Bei meinen Schwangerschaften war ich ständig müde und nickte oft neben dem Kamin ein, genau wie Tante Sylvia!

Rose lächelte bei der Vorstellung, dass Jane vor dem Feuer schlief, während ihre Kinder um sie herum weitertollten. Sie vertrieb den Anflug von Neid, der sie unwillkürlich überkam, und las weiter.

Um es kurz zu machen, liebe Cousine Rose, möchte ich dich um einen großen Gefallen bitten. Emma und ich haben beschlossen, wieder wie früher Gesellschaften auf Barton zu geben, dieses Mal zu Weihnachten. Es ist wirklich zu lange her seit der letzten Feier, und den Kindern würde es so viel Spaß machen.

Allerdings möchte ihre Gouvernante das Fest mit ihrer Familie verbringen und einige Wochen fort sein, und ich bin völlig überfordert. Falls Tante Sylvia dich entbehren kann und du glaubst, du könntest uns und unser Chaos ertragen, wäre eine Position für dich hier etwas, das du in Betracht ziehen könntest?

Ich erinnere mich, wie sehr du die Musik liebst, und meine kleine Eleanor beweist jetzt schon großes Talent am Klavier und der Harfe. Natürlich ist auch Tante Sylvia eingeladen, wenn sie sich von ihrem Haus trennen kann.

Ich hoffe so sehr, liebe Rose, du entscheidest dich zu kommen, da wir uns so sehr freuen würden, dich wiederzusehen, und natürlich deine Hilfe mit unseren kleinen Ungeheuern brauchen. Und solltest du uns gernhaben, wäre vielleicht auch ein längerer Aufenthalt hier auf Barton möglich?

Voller Hoffnung, deine Cousine Jane Ramsay

Rose ließ den Brief nachdenklich sinken. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie es gewesen war, als jeder von der Katastrophe mit den Schulden ihres verstorbenen Vaters erfahren hatte. Damals büßte ihre Mutter einen großen Teil ihrer Jahresrente ein, und sie hätten fast ihr Cottage verloren. Jane war damals so freundlich und bot ihnen Hilfe in Form finanzieller Unterstützung und einer Unterkunft auf Barton an. Doch Rose und ihre Mutter hatten von niemandem Almosen annehmen wollen, nicht einmal von Verwandten. Roses Stellung bei Tante Sylvia war immerhin eine Position, für die sie bezahlt wurde. Gewiss nicht vollkommen, nicht lustig oder angenehm, aber ihr Gehalt erlaubte ihnen zurechtzukommen und ihrer Mutter, ihr Zuhause zu behalten.

Jetzt fragte Rose sich, ob Janes Angebot auch nur aus Mitleid geschah. Sie schloss die Augen und erinnerte sich an Barton Park, wie schön es war, wie gastfreundlich, wie fröhlich. Sie erinnerte sich auch an ihren Tanz mit Captain St George und die Gefühle und Hoffnungen, die er in ihr geweckt hatte. Vielleicht würde sie einen Hauch von jenen Gefühlen wiederfinden, wenn sie Weihnachten auf Barton verbachte?

Sie legte den Brief unter ihr Kissen, zusammen mit Lilys, den sie sich für morgen früh aufsparte, und blies die Kerze aus. Dann machte sie wieder die Augen zu und hoffte, von Musik und Mistelzweigen und Tänzen mit faszinierenden Partnern zu träumen …

„Jane, es ist doch gewiss schon fast Mitternacht. Leg das beiseite und komm zu Bett“, bat Hayden Fitzwalter, der Earl of Ramsay, und klopfte mit der Hand auf die weiche Matratze ihres Bettes.

Jane lachte, aber sie sah nicht von ihren Papieren auf dem Schreibtisch auf. Sie wusste, wenn sie ihren aufregenden Mann ansah mit seinem zerzausten dunklen Haar, nur halb angezogen in ihrem schönen warmen Bett, würde sie ihre Arbeit nicht beenden können. Selbst nach so vielen Ehejahren führten seine blauen Augen sie noch immer in Versuchung.

„Ich muss nur noch ein paar Einladungen schreiben, denn sie müssen mit der Morgenpost los“, sagte sie und ließ die Schreibfeder über das Papier fliegen. „Wir werden die großartigste Weihnachtsfeier abhalten, die Barton Park jemals gesehen hat! Wir werden Weihnachtslieder singen und Bowle trinken und Schlitten fahren …“

Hayden lachte. „Schlitten fahren? Und wenn kein Schnee liegt, meine Liebe?“

„Dann sorgen wir dafür, dass es schneit. Es ist das erste Mal seit einer Ewigkeit, dass wir Weihnachten wieder auf Barton verbringen.“ Den größten Teil ihrer Zeit verbrachten sie in London oder auf Haydens Gut. Aber Barton, wo ihre eigenen Eltern einst glücklich gewesen waren und Emma und ihr eine wundervolle Kindheit geschenkt hatten, war für Jane ihr wahres Zuhause. „Als Emma und ich noch Kinder waren, erschien uns die Weihnachtszeit hier so märchenhaft. Wir spielten und hörten Musik und aßen die köstlichsten Süßigkeiten. Das Haus war mit Tannenzapfen geschmückt, und alle tanzten. Ich möchte, dass es für unsere Kinder genauso märchenhaft wird.“

„Das wird es auch, wenn du es möchtest. Alles, was du in unserem Leben erschaffst, mein Liebling, ist märchenhaft.“

Sie sah ihn an und lächelte. „Unser ganzes Leben ist märchenhaft, Hayden. Und wenn ich auch anderen Menschen helfen kann, dasselbe Glück zu finden wie wir …“

„Ah, ich verstehe“, meinte er fast triumphierend und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, als er sich in die Kissen sinken ließ. „Du versuchst wohl, Ehestifterin zu spielen, was? Wen habt Emma und du jetzt im Sinn?“

Jane schürzte die Lippen. „Niemanden. Wenn die Menschen sich zufällig auf unserer Feier begegnen und sich ganz zufällig ineinander verlieben – nun, das kann doch nicht schlecht sein, oder? Zu Weihnachten geschehen nun einmal märchenhafte Dinge.“

„Das ist wohl wahr. Und wen lädst du also ein?“

Jane warf einen Blick auf ihre Liste und zählte einiger ihrer Londoner Freunde auf, denen es auf Barton gefallen könnte. Ihr Elternhaus war recht klein im Vergleich zu Haydens prachtvollem Ahnensitz, und es gab nicht Platz für sehr viele Gäste – ganz bestimmt nicht für Haydens alte, feierfreudige Freunde aus den finsteren Zeiten, bevor sie ihre Ehe gerettet und ihre Kinder bekommen hatten.

„Außerdem Mr. und Mrs. Hewlitt, obwohl ich nicht sicher bin, ob er sich gerade zu Weihnachten von seinen Pflichten befreien lassen kann.“

„Das wäre schade. Sie haben sich schließlich auf Barton verlobt.“

„Ja, war es nicht wunderschön? Ich habe auch ihre Schwester, Miss Rose Parker, eingeladen. Du erinnerst dich sicher an sie.“

„Natürlich. Eine sehr vernünftige, fröhliche Dame. Das Beethoven-Stück, das sie uns auf dem Klavier vorgespielt hat, war wirklich beeindruckend.“

„Sie hat die letzten Jahre als Gesellschafterin für Sylvia Pemberton gearbeitet.“

„Ach, das arme Mädchen!“, rief Hayden. „Wird der alte Drachen denn seine Gefangene über Weihnachten freigeben?“

„Ich fürchte, ich habe zu einer kleinen List Zuflucht gesucht, da ich weiß, wie stolz Rose ist und wie sehr ihre Familie finanziell gelitten hat. Ich gab vor, wir bräuchten eine Gouvernante für die Kinder, während Miss Essex zu Hause sein wird, und dass Eleanor musikalisch sehr begabt ist. Was natürlich auch der Wahrheit entspricht.“

„Jane! Du willst sie also überreden, statt für ein Monster gleich für vier zu arbeiten.“

Jane lachte. „Hayden! Unsere Kinder sind sehr wohlerzogen. Das sagen alle.“

„Wenn Fremde dabei sind, vielleicht“, meinte er neckend, aber man hörte ihm an, wie stolz er auf seine Kinder war.

„Die Kindermädchen werden ja noch hier sein. Und ich musste Rose irgendwie herlocken, sonst verlässt sie Tante Sylvia nicht und verbringt ein erbärmliches Weihnachtsfest.“ Und sie würde die Gelegenheit verpassen, junge Männer kennenzulernen.

„Ganz richtig. Wen hast du außerdem noch eingeladen?“

Einen Moment zögerte Jane. „Die Brüder St George von Hilltop.“

„Ist das klug? Harry ist noch nicht sehr lange wieder zurück, und er hat bisher keine Gäste empfangen. Vielleicht hat er sich noch nicht ganz … erholt.“

„Als Dr. Heath vergangene Woche vorbeikam, sagte er mir, dass Captain St Georges Gesundheit sich sehr gebessert habe seit dem letzten Mal, da er ihn auf Hilltop gesehen hat. Wenn er natürlich auch noch nicht vollkommen wiederhergestellt ist. Eine Weihnachtsfeier könnte genau das Richtige sein, um ihn aufzumuntern! Schließlich hat er so viel durchmachen müssen: zuerst seine Verwundung, dann der Verlust von Miss Layton …“

„Du meinst Lady Fallon?“, warf Hayden leise ein.

„Jetzt verwitwete Lady Fallon. Nicht dass das von Bedeutung wäre“, sagte Jane. Jene plötzliche Heirat, nachdem Captain St George nach Sizilien abgereist war, hatte alle überrascht. Doch wenn Jane etwas im Leben gelernt hatte, dann, dass jeder Mensch Geheimnisse hatte, die er tief in sich versteckte. Und jeder verdiente eine zweite Chance. „Wenn dem Captain noch nicht nach Gesellschaft zumute ist, kann er ja absagen. Ich werde ihn jedoch einladen, ebenso wie seinen Bruder Charles, der vom Kontinent zurück sein soll, wie ich höre.“ Charles war immer ein so lustiger Mensch gewesen. Vielleicht konnte Rose ein wenig Vergnügen in ihrem Leben gebrauchen.

„Du musst tun, was du für richtig hältst, mein Liebling. Aber jetzt ist es wirklich Zeit, ins Bett zu kommen. Es wird viel zu spät.“

„Und viel zu kalt, weil du viel zu weit von mir entfernt bist“, stimmte sie ihm mit einem Lachen zu und dachte, was für ein Glück sie doch gehabt hatten, ihre zweite Chance zu bekommen – ein Leben zusammen.

Sie versiegelte die letzte Einladung, die nach Hilltop Grange gehen würde, blies die Kerzen aus und eilte in die warme Umarmung ihres liebevollen Mannes.

2. KAPITEL

Ja, wirklich schade. Hilltop Grange war einmal so prachtvoll. Und jetzt seht es euch an. Fällt regelrecht auseinander.“

„Leute, die alles haben, haben nicht immer genug Verstand, es zu schätzen zu wissen. Verprassen einfach alles. Eine Schande.“

„Ach, ihr zwei“, schalt das Schankmädchen die zwei alten Männer und stellte abrupt zwei frische Humpen Ale auf den klebrigen, verschrammten Tisch. „Ständig schimpft ihr über etwas, tut aber nichts dagegen. Jetzt, da der Captain wieder da ist …“

„Wird er sich besser anstellen als sein Bruder? Oder der Vater?“, brummte einer der beiden alten Männer. „War schließlich jahrelang weg, oder?“

„Aber es muss ihm doch etwas ausmachen, nicht wahr? Hilltop ist jetzt sein Gut“, meinte das Mädchen und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab, während sie sich schon abwandte. Die zwei Alten kehrten zum Wetter zurück und zum Schnee, der deutlich in der Luft lag.

Keiner von ihnen schien Harry bemerkt zu haben, der ruhig in der dunkelsten Ecke des Pubs saß. Der neue Besitzer von Hilltop Grange trank langsam sein Ale und überlegte, was er als Nächstes tun sollte.

Er nahm einen tiefen Schluck, aber selbst das wärmte ihn nicht auf. Einige wenige Schneeflocken schwebten an den schmierigen Fensterscheiben vorbei und landeten leicht auf dem Kopfsteinpflaster des Dorfes. Menschen eilten vorbei, kamen aus den mit Tannenzapfen behangenen Geschäften, die Arme beladen mit Weihnachtspaketen, und lachten miteinander, während sie sich den Schnee von Mänteln und Hüten klopften.

Es war nicht der graue Winterhimmel, der ihn mit Kälte erfüllte, oder die Freude der Menschen am bevorstehenden Weihnachtsfest, eine Freude, die er sich nicht erinnerte, jemals selbst empfunden zu haben. Vielmehr war da eine seltsame Taubheit in ihm, die wahrscheinlich schon immer dort gewesen war – seit Waterloo, als er die wahre Abscheulichkeit des Lebens kennengelernt hatte.

Nein, dachte er plötzlich, selbst ganz erstaunt. Es war nicht immer so gewesen. Denn einen Moment lang, vor einer Ewigkeit, wie ihm schien, war ein winziger Lichtschimmer in die Finsternis seines Lebens gedrungen. Als er eine junge Frau mit grün-braunen Augen für einen Tanz in den Armen gehalten hatte. Und sie hatte mit ihm gelacht, ihre schönen Augen hatten gestrahlt vor Vergnügen an der Musik und an allem, was sie umgab. Einen winzigen Moment – mit ihr – hatte er die Schönheit des Lebens entdeckt, für die er wirklich kämpfte.

Miss Rose Parker. So hieß sie. Und sie hatte auch wie eine Rose ausgesehen mit der zarten Röte auf ihren blassen Wangen. Gewiss war sie inzwischen eine Mrs. Rose Welcher-Nachname-auch-immer und hielt ein Baby in den Armen. Wer er auch war, ihr Mann, er konnte sich wirklich glücklich schätzen. Harry hoffte nur, dass der Bursche sie zu schätzen wusste.

Unwillkürlich berührte er die schwarze Klappe über seinem blinden Auge und spürte die raue Haut darunter, die Narbe, die sich bis zu seinem Kinn herunterschlängelte. Was würde Rose Parker sagen, wenn sie ihn jetzt sehen könnte? Würde ihr Lächeln sich in Erstaunen und schließlich in Abscheu verwandeln? Würde sie hastig den Blick abwenden, so wie alle anderen auch? So wie Helen es getan hatte?

Nein, das stimmte nicht. Helen hatte ihn lange vor seiner Verwundung verlassen. Sie war gegangen, als jemand ihr mehr zu bieten gehabt hatte, sogar einen Titel. Nicht, dass Harry es ihr übel nahm. Ganz und gar nicht. Die Frau eines Soldaten zu sein, wäre nichts für Helen gewesen, obwohl sie immer das Gegenteil beteuert hatte, obwohl ihre Familien es sich so gewünscht hatten. Und jetzt, da Hilltop in diesem Zustand war …

Harry leerte seinen Humpen und schob den Stuhl zurück. Er musste zurück nach Hilltop. Schon viel zu lange hatte er im Dorf herumgelungert, nachdem er seinen Anwalt Mr. Wall besucht hatte. Er würde das Dach und die Fenster von Hilltop nicht reparieren können, indem er in Wirtshäusern herumsaß. Das Problem war nur, er wusste nicht genau, wie er vorgehen sollte. Sein Zuhause war die Armee gewesen, und er musste erst noch lernen, wie man der Besitzer eines heruntergekommenen Guts wurde.

Das Schankmädchen erschien an seiner Seite und sah ihn ein wenig mitleidig an, wandte sich aber nicht ab. „Noch einen Humpen, Captain?“, fragte sie. „Oder vielleicht etwas Wein?“

Harry schenkte ihr ein Lächeln. „Nicht heute, Nell, aber nächstes Mal. Und ich bin jetzt ein schlichter Mister, kein Captain.“

Er verließ das Wirtshaus ohne ein weiteres Wort, vorbei an den brummigen alten Männern und hinaus in die Kälte. Nach dem Halbdunkel im Wirtshaus war sein Auge einen Moment geblendet vom Licht. Er zog die Krempe seines Huts tiefer und schlug den Kragen seines Mantels hoch, um die kühle Brise abzuwehren. Noch immer musste er sich daran gewöhnen, wie verzerrt der Horizont ihm erschien, jetzt da er nur ein gutes Auge hatte.

Das Dorf war nicht sehr groß, aber es war um diese Zeit gut bevölkert, da viele Leute ihre letzten Einkäufe erledigten, bevor sie zu den warmen Kaminfeuern ihrer Häuser zurückeilten. Harry kannte jedes Geschäft noch aus seiner Kindheit – den Schlachter, in dessen Schaufenster man bereits Weihnachtsgänse sehen konnte, die Schneiderin, bei der seine Mutter sich viele Kleider hatte nähen lassen, den Konditor, bei dem er und Charles früher immer Zitronendrops stibitzt hatten.

Alle Türen waren jetzt bereits weihnachtlich dekoriert, alle Schaufenster festlich geschmückt. Die Weihnachtsatmosphäre seines Heimatdorfs war ihm so vertraut und gleichzeitig doch so fremd. Wie eine Traumwelt.

Harry machte sich auf den Weg zum Mietstall, wo er sein Pferd zurückgelassen hatte. An der Ecke verkaufte ein alter Mann Bündel mit Mistelzweigen und Stechpalmen, zusammengebunden mit einem roten Band. Aus einem Impuls heraus kaufte Harry eins. Er war zwar nicht sicher, was er damit tun würde, aber einen Moment lang heiterte das Rot seine Stimmung auf.

Kurz darauf kam er an dem Buchladen vorbei, der einst dem alten Mr. Lorne gehört hatte, jetzt aber von Emma Bancroft betrieben wurde oder vielmehr Lady Marton. Er hielt inne, um das Schaufenster zu betrachten: ledergebundene Bücher mit goldgeprägter Schrift, Schachteln mit teurem Briefpapier. Früher war seine Mutter jeden Monat hergekommen, um die neuesten Romane aus London zu erstehen.

Ein Glöckchen läutete, als die Tür zum Geschäft geöffnet wurde. Emma Marton kam eilig heraus und wäre fast gegen ihn gelaufen. Das junge Mädchen hinter ihr, wahrscheinlich ihre Stieftochter, die junge Beatrice Marton, fing sie auf, als sie stolperte, und lachte. Emma hatte sich überhaupt nicht verändert während seiner Abwesenheit, ihre blonden Locken schimmerten wie immer und ein Grübchen erschien wie früher in ihrer Wange. Wie das ganze Dorf schien auch sie sich nicht verändert zu haben, während Harry sich fühlte, als wäre er Jahrhunderte gealtert.

Doch nicht alles war gleich geblieben. Unter den Falten ihres grünen Samtumhangs konnte Harry sehen, dass sie ein Kind erwartete.

Er musste daran denken, wie heruntergekommen auch Barton einst gewesen war, und doch war es den beiden Bancroft-Schwestern gelungen, es zu neuem Leben zu erwecken. Der Gedanke erfüllte ihn mit einem winzigen Hauch von Hoffnung.

„Oh, Harry!“, rief Emma jetzt. Ihr Blick glitt schnell über sein vernarbtes Gesicht, und dann sah sie hastig wieder fort. „Wie wunderbar, dich wiederzusehen. Wir alle machten uns Sorgen um deine Gesundheit, als … nun, als wir hörten, was geschehen war und …“ Sie brach ab und errötete heftig unter ihrem mit Federn geschmückten Hut.

Er lächelte. „Ich habe ein wenig von mir auf dem Schlachtfeld zurücklassen müssen, aber jetzt geht es mir gut, danke, Emma. Und wie ich sehe, geht es dir sogar sehr gut. Du strahlst regelrecht.“

Emma lachte und errötete noch heftiger. „Oh, ja. In einigen Monaten wird Bea hier wieder zur Schwester werden. Du erinnerst dich an Miss Beatrice Marton, meine Stieftochter?“

Das Mädchen machte einen schüchternen Knicks, und Harry verbeugte sich. Es war ein hübsches kleines Ding mit dunklem Haar und schönen Augen. Eines Tages würde sie gewiss einige Herzen brechen. „Natürlich. Wie geht es Ihnen, Miss Marton?“

„Sehr gut, vielen Dank, Captain St George.“

„Ohne Beas Hilfe zu Hause und im Geschäft hier würde ich nicht zurechtkommen“, sagte Emma stolz und nahm Beatrices Hand. „Ganz besonders so kurz vor Weihnachten. Ich hoffe doch sehr, ich werde dich auf Barton sehen.“

„Ich fürchte, es gibt auf Hilltop noch zu viel zu tun“, erwiderte er. Zu Weihnachten wollten die Menschen mit ihrer Familie zusammenkommen und Freude haben, nicht verwundete Soldaten anstarren. Er wollte nicht das Gespenst an der Tafel sein.

„Oh, aber Sie müssen kommen“, drängte Beatrice warmherzig. „Es gibt nichts Fröhlicheres als ein Weihnachtsfest – mit Spielen und Schlittenfahrten und Plumpudding …“

„Oh, Bea, ich bin sicher, Captain St George weiß, wie er sein Weihnachtsfest verbringen möchte“, warf Emma ein und drückte ihrer Stieftochter die Hand. „Aber du weißt hoffentlich, dass du immer sehr willkommen bist, Harry.“

„Vielen Dank, Emma. Das bedeutet mir sehr viel.“ Aus einem Impuls heraus reichte er ihr das Bündel Mistelzweige, das er gerade gekauft hatte. „Frohe Weihnachten.“

Und damit wandte er sich ab, doch als er einen letzten Blick zurückwarf, sah er, dass Emma nachdenklich die Stirn runzelte. Schnell lächelte sie wieder und winkte ihm mit den Mistelzweigen nach. Das rote Band verlieh dem grauen Tag ein wenig Farbe.

Im Gegensatz zum Dorf herrschte auf Hilltop keine ausgelassene Weihnachtsstimmung und nichts war geschmückt. Die Fenster waren dunkel, als Harry in der zunehmenden Dämmerung über den überwucherten Weg ritt, und kein Rauch stieg aus den Schornsteinen auf. Allerdings lagen Dachplatten vor der Eingangstür und in den verwahrlosten Blumenbeeten, ganz offensichtlich erst kürzlich vom Dach gefallen.

Als Harry sich aus dem Sattel schwang, musterte er das Haus und einen kurzen Moment lang erinnerte er sich daran, wie es zu Zeiten seiner Mutter gewesen war – mit den blühenden Blumen vor den hellgrauen Mauern und den eleganten Vorhängen an jedem Fenster. Er konnte sich eine Frau wie Rose Parker in dem Haus von damals vorstellen, aber nicht in diesem.

Dann verdrängte er das Bild einer Frau, die ihn lächelnd willkommen hieß, und stellte sich wieder der Wirklichkeit.

Er überließ sein Pferd dem jungen Stallburschen, einem der wenigen Diener, die gemeinsam mit ihrem uralten Butler Jenkins noch auf Hilltop geblieben waren, und eilte die Stufen hinauf und ins dunkle Haus. Die Türen zum Salon und Musikzimmer waren fest geschlossen, die wenigen Möbel in der Halle mit Schonbezügen abgedeckt. Doch es war nicht ganz so still, wie er erwartet hatte. Die Tür zur Bibliothek stand halb offen, ein schwacher Lichtschimmer drang in die Halle, und dann ertönte das Geräusch von Kristall gegen Kristall, als würde sich jemand etwas zu trinken einschenken.

Neugierig und nicht wenig verärgert, dass jemand ungeladen seine Einsamkeit störte, warf Harry Hut und Handschuhe auf den nächsten Tisch und schritt auf die Bibliothek zu.

Sie war, wie er sie zurückgelassen hatte, halb ausgeräumt und wenig einladend, die meisten Bücher verkauft oder in Kisten gepackt. Doch jetzt saß sein Bruder Charles hinter dem Schreibtisch ihres Vaters. Sein dunkelblondes Haar war zu lang und zerzaust, der hellbraune Reisemantel staubig. Vor Charles auf dem Tisch stand eine halb leere Flasche Brandy.

Er sah auf, und Harry fiel auf, dass seine blauen Augen rot gerändert waren. Als Harry seinen Bruder das letzte Mal gesehen hatte, wollte der auf den Kontinent reisen. Um zu malen, wie er behauptet hatte, aber wohl wahrscheinlicher, um vor ihrem Vater zu fliehen. „Mein Bruder! Der heimgekehrte Held!“, rief Charles und hob sein fast leeres Glas. „Lass mich dir etwas einschenken. Wahrscheinlich wirst du es nötig haben, nachdem du den alten Mr. Wall getroffen hast. Jedenfalls sagte Jenkins mir, du seist zu ihm gegangen.“

Harry setzte sich ihm gegenüber und streckte die langen Beine aus. Er hatte schon früh gelernt, sich nicht über Charles’ Kommen und Gehen zu wundern. „Ich komme gerade aus dem Wirtshaus. Wie es aussieht, hast du bereits angefangen zu feiern.“

„In der Tat“, meinte Charles und betrachtete sein Glas. „Immerhin soll Weihnachten doch fröhlich sein, oder?“

„Wird mir jedenfalls von allen gesagt. Wo warst du, Charlie?“

„Oh, hier und da. Vorwiegend in Italien. Dann in ein paar Kurorten in Deutschland. Bis ich hörte, dass du wieder zu Hause bist.“

„Du beschäftigst dich also nicht mit deiner Kunst?“, fragte Harry. Charles war ein Maler, der nach Harrys Meinung von seiner Kunst hätte leben können. Doch ihr Vater hatte ihn immer deswegen verhöhnt.

Charles runzelte die Stirn. „Nein, eigentlich nicht. Zu sehr in andere Dinge vertieft.“

Worauf Harry nur nickte, ohne etwas zu sagen. Er wollte gar nicht wissen, worum es sich bei diesen „anderen Dingen“ handelte.

Charles schenkte auch Harry ein Glas ein und füllte seins gleich noch einmal auf. „Was hat Wall gesagt?“

Harry nahm einen tiefen Schluck. Es war der letzte Rest vom Bestand ihres Vaters und gar nicht so schlecht. „Ungefähr das, was man erwarten konnte. Mutters Geld ist schon vor Langem verbraucht worden, und das Gut ist mit Schulden belastet.

Ein Seufzen entfuhr Charles’ Kehle. „Dann gibt es wohl nur eine Lösung, lieber Bruder.“

Harry lachte. „Hilltop verkaufen und zur Armee zurückkehren? Die wollen keinen einäugigen Captain. Vielleicht könntest du dir Arbeit in der Stadt suchen?“

Charles erschauderte. „Lieber Himmel, nein. Was für ein haarsträubender Gedanke. Ich könnte niemals arbeiten, und ich will gewiss nicht, dass mein Bruder sich wieder abschlachten lässt.“

„Freut mich, dass ich dir wichtig bin.“ Harry dachte daran, wie sie als Kinder über die Hügel und Felder gelaufen und in den Teich gesprungen waren. Und wie weit sie sich jetzt voneinander entfernt hatten.

„Natürlich bist du mir wichtig. Du bist der einzige Bruder, den ich habe. Und ich glaube, wir können Hilltop gar nicht verkaufen.“

„In der Tat. Selbst wenn es nicht Fideikommiss wäre und in der Familie bleiben müsste, würde es niemand haben wollen.“

„Genau. Scheußliches altes Gemäuer.“

„Wie sieht also dann deine Lösung aus?“

„Sehr einfach. Du musst eine Erbin heiraten“, sagte Charles.

Harry lachte noch lauter. „Du hattest schon immer Sinn für Humor, Charlie.“

„Ich meine es vollkommen ernst“, sagte Charles finster. „Eine Dame mit Stil und einer beachtlichen Mitgift würde das Problem im Handumdrehen lösen.“

Harry schüttelte den Kopf. Schon vor seiner Verwundung waren seine Fähigkeiten, eine Frau zu umwerben, nicht der Rede wert gewesen. Die Vorstellung, es darauf anzulegen, eine schöne, reiche Frau zu gewinnen … Er musste wieder lachen. „Und wen würdest du vorschlagen? Steht womöglich eine blinde Erbin zur Verfügung, die bereit wäre, einen mit Narben übersäten alten Soldaten zu ertragen?“

„Du hast immer viel attraktiver ausgesehen, als du zugeben mochtest, Harry. Und jetzt bist du ein verwundeter Kämpfer. Die Damen lieben das.“ Charles hielt inne und starrte einen Moment in sein Glas. „Helen Layton ist kürzlich verwitwet, weißt du. Man sagt, ihr Mann habe ihr nicht wenig hinterlassen.“

Harrys Lächeln erlosch, und er leerte hastig sein Glas. „Du weißt, dass das schon seit einer Ewigkeit vorüber ist. Ich denke, du bist derjenige, der eine Erbin finden muss, Charlie. Du hast es sowieso viel mehr als ich genossen, in Gesellschaft zu sein. Und du könntest wieder zu malen anfangen. Oder du könntest dich auf dem Kontinent auf die Suche machen. In den Kurorten zum Beispiel.“

„Wir müssen gar nicht so weit gehen, denke ich. Das kam, während du unterwegs warst.“ Charles warf einen Brief auf den Schreibtisch.

Harry blickte nur flüchtig darauf. „Was ist es? Noch eine Mahnung?“

„Selbstverständlich nicht. Es ist eine Einladung zur Weihnachtsfeier auf Barton Park. Jane sagt, es werden mehrere Damen anwesend sein, alte und neue Freunde.“

„Aha.“ Harry schob sein Glas beiseite. Spiele und Schlittenfahrten und Plumpudding. „Das meinte sie also.“

„Wer?“

„Ich bin Emma Marton im Dorf begegnet. Sie sagte etwas davon, ich könnte Weihnachten nach Barton kommen. Meinte, es könnte eine gute Abwechslung sein.“ Und vielleicht stimmte das sogar. Er legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den zerbröckelnden Putz an der Decke. Alles wäre besser, als sich länger in diesem Raum aufhalten zu müssen.

„Nun, ich nehme an, irgendwie werden wir versuchen müssen, Hilltop zu retten“, sagte Charles. „Ich weiß, ich war schon immer ein nutzloser Taugenichts, aber …“

„Nein“, fiel Harry ihm entschlossen ins Wort. „Ich bin der Ältere. Wir müssen das Haus unserer Ahnen retten und mit ihm jeden, der davon abhängig ist. Aber ich bin es, der eine Lösung finden wird.“ Komme, was wolle.

3. KAPITEL

Wir feiern Weihnachten in einer rein familiären, fröhlichen Weise hier auf Barton Park, und wir hoffen, all unsere alten Freunde wiederzusehen. Wir sind uns nicht mehr begegnet, seit Lord Fitzwalter Lord Fallons Beerdigung besuchte, und wir hoffen sehr, dass deine Trauer uns nicht deiner Gesellschaft berauben wird.

Ihre Trauer. Helen, die Dowager Countess of Fallon, lachte und ließ Jane Ramsays Brief neben ihrer Badewanne auf den Boden fallen. Dann sank sie noch ein wenig tiefer in das nach Rosen duftende Wasser und sah zur bemalten Decke im Badezimmer ihres Londoner Stadthauses hinauf. Jeder hatte es so extravagant von ihr gefunden, als sie es gleich neben ihrem Ankleidezimmer hatte bauen lassen. Aber es war ihr Lieblingsort, eine kleine, gemütliche Ecke im riesigen Haus, wo sie niemand störte.

Früher hatte sie einmal geglaubt, es würde großartig sein, die Frau eines Earls zu werden und ein Leben voller Luxus zu führen, mit so vielen schönen Kleidern, wie sie sich nur wünschen konnte. Ihre Familie hatte leider nur den Anschein von Wohlstand besessen, hinter dem sie den Mangel an Annehmlichkeiten zu verbergen suchten. Und so hatte Helen den schönen, galanten Harry St George aufgegeben, um einen Mann zu heiraten, der dreißig Jahre älter war als sie. Doch Lady Fallon zu sein, war anders, als sie erwartet hatte.

Es war ihr Opfer nicht wert gewesen.

Helen setzte sich in der Wanne auf und erhaschte in dem vergoldeten Spiegel einen Blick von sich. Ihre goldblonden Locken kräuselten sich in der feuchten Luft, ihre Haut war leicht gerötet. Sie war noch immer jung und schön. Und jetzt hatte sie auch das Geld des alten Lord Fallon. Es war doch sicher noch nicht zu spät für sie, oder?

Sie griff nach dem Brief. Alte Freunde. Hieß das, auch Harry St George würde da sein? Er war wieder in England, hatte sie gehört, heldenhafter denn je.

Vielleicht war Weihnachten auf dem Lande genau die Abwechslung, die sie brauchte.

Charles St George schwenkte den Rest Brandy in seinem Glas und blickte in die Nacht hinaus. Wolken hatten sich vor die Sterne und den Mond geschoben, aber das war nur gut so. Im Dunkeln sah man nicht den verwahrlosten Garten, den ihre Mutter einst so geliebt und den er so oft gemalt hatte. Nur Finsternis war zu sehen, wie überall sonst auch.

Es war ruhig, genauso wie er sich innerlich fühlte. Charles schenkte sich nach. Als würde er die Welt aus großer Entfernung betrachten, ohne sich besonders darum zu scheren, was geschah.

Das war der wahre Grund, weswegen er sich so lange auf dem Kontinent hatte treiben lassen. Ihr Vater hatte ihn so oft für nutzlos erklärt, da konnte er ihm ruhig beweisen, wie recht er hatte. Harry war allem entkommen, indem er zur Armee gegangen war. Charles hatte es mit der Kunst versucht, die er liebte, ohne wirkliche Erfüllung zu finden. Und dann war er von Kurort zu Kurort gezogen.

Doch zurück auf Hilltop, wieder mit seinem Bruder vereint, wurde ihm klar, dass es ihm doch nicht egal war, was passieren würde. Und es nagte an ihm. Harry hatte so viel gegeben. Er verdiente Besseres als einen Tunichtgut von einem Bruder und ein zerfallenes Haus. Charles wünschte nur, er wüsste, was getan werden musste.

Vielleicht würde die Weihnachtsfeier auf Barton Park ihnen guttun. Ein wenig Spaß in der Gesellschaft anderer Leute, anderer Familien, und weit fort von der ständigen Leere.

„Falalalala“, murmelte er und leerte sein Glas.

Autor

Bronwyn Scott
Bronwyn Scott ist der Künstlername von Nikki Poppen. Sie lebt an der Pazifikküste im Nordwesten der USA, wo sie Kommunikationstrainerin an einem kleinen College ist. Sie spielt gern Klavier und verbringt viel Zeit mit ihren drei Kindern. Kochen und waschen gehören absolut nicht zu ihren Leidenschaften, darum überlässt sie den...
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