Julia Extra Band 487

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HEISSE AFFÄRE MIT DEM BOSS von LOUISE FULLER

Zuckerweiße Strände, türkisblaues Meer und ein sexy Fremder dazu … In der Karibik lässt sich die schüchterne Kitty spontan zu einer leidenschaftlichen Liebesnacht verführen. Was sie nicht ahnt: César ist ihr neuer Boss! Und das bleibt nicht die einzige Überraschung …

STÜRMISCHES VERLANGEN IN GRIECHENLAND von JENNIFER FAYE

Hochzeitsplanerin Popi liebt Herzen, Blumen und Happy Ends, Milliardär Apollo Drakos nur seine Freiheit. Als ein Sturm Popi und ihn zum Bleiben auf einer malerischen griechischen Insel zwingt, kann er ihren sinnlichen Reizen trotzdem nicht widerstehen. Mit ungeahnten Folgen …

ÜBER DEN DÄCHERN VON MONACO von HEIDI RICE

Eine verwöhnte Millionenerbin! Dante Allegris Urteil über die junge Edie steht fest, als er sie am Spieltisch seines Kasinos in Monaco trifft. Wie sehr er sich getäuscht hat, begreift er erst, als es zu spät ist - und das Feuer seiner Lust heißer brennt als die Mittelmeersonne …

MEHR ALS EIN SINNLICHES SPIEL? von NINA SINGH

In einem Luxusresort auf Hawaii flirtet Rita hemmungslos mit Unternehmer Clint Fallon - nur um ihm zu helfen, eine aufdringliche Verehrerin abzuwehren! Denn ein neuer Mann ist das Letzte, was sie nach ihrer Scheidung will. Doch warum knistert es dann so erregend zwischen ihnen?


  • Erscheinungstag 21.07.2020
  • Bandnummer 487
  • ISBN / Artikelnummer 9783733714871
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Louise Fuller, Jennifer Faye, Heidi Rice, Nina Singh

JULIA EXTRA BAND 487

LOUISE FULLER

Heiße Affäre mit dem Boss

Zuckerweiße Strände, türkisblaues Meer und ein sexy Fremder dazu … In der Karibik lässt sich die schüchterne Kitty spontan zu einer leidenschaftlichen Liebesnacht verführen. Was sie nicht ahnt: César ist ihr neuer Boss! Und das bleibt nicht die einzige Überraschung …

JENNIFER FAYE

Stürmisches Verlangen in Griechenland

Hochzeitsplanerin Popi liebt Herzen, Blumen und Happy Ends, Milliardär Apollo Drakos nur seine Freiheit. Als ein Sturm Popi und ihn zum Bleiben auf einer malerischen griechischen Insel zwingt, kann er ihren sinnlichen Reizen trotzdem nicht widerstehen. Mit ungeahnten Folgen …

HEIDI RICE

Über den Dächern von Monaco

Eine verwöhnte Millionenerbin! Dante Allegris Urteil über die junge Edie steht fest, als er sie am Spieltisch seines Kasinos in Monaco trifft. Wie sehr er sich getäuscht hat, begreift er erst, als es zu spät ist – und das Feuer seiner Lust heißer brennt als die Mittelmeersonne …

NINA SINGH

Mehr als ein sinnliches Spiel?

In einem Luxusresort auf Hawaii flirtet Rita hemmungslos mit Unternehmer Clint Fallon – nur um ihm zu helfen, eine aufdringliche Verehrerin abzuwehren! Denn ein neuer Mann ist das Letzte, was sie nach ihrer Scheidung will. Doch warum knistert es dann so erregend zwischen ihnen?

1. KAPITEL

Die karibische See glitzerte wie tausend Diamanten im hellen Sonnenschein, und der blütenweiße, von Palmen gesäumte Strand strahlte beinahe blendend hell.

Kitty Quested ließ mit angehaltenem Atem den Blick über diese Postkartenidylle schweifen. Sie konnte auch jetzt – vier Wochen nach ihrer Ankunft auf Kuba – noch immer kaum glauben, dass dies von nun an ihr Zuhause sein würde.

Zuhause …

Sie fasste ihre langen kupferfarbenen Locken mit einer Hand zusammen, sodass der laue Wind ihren Nacken streicheln konnte. Dabei dachte sie wehmütig an das kleine Küstenörtchen in Südengland, in dem sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatte.

Dort war sie geboren und aufgewachsen. Dort hatte sie ihre Jugendliebe Jimmy kennengelernt, ihn geheiratet – und ihn verloren.

Sie dachte an all die Menschen, die sie zurückgelassen hatte. Ihre Eltern, ihre Schwester Lizzie und deren Freund Bill. Sie dachte an das winzige Cottage mit Blick aufs Meer und nicht zuletzt auch an ihren Job in Bills Unternehmen, wo sie ihr erstes Produkt für die noch junge Destillerie hergestellt hatte: den Blackstrap-Rum.

Kitty wurde von einer heftigen Welle des Heimwehs ergriffen.

Drei Monate war es her, dass Miguel Mendoza, der Produktionsleiter der Destillerie Dos Rios Rum, überraschend mit ihr in Kontakt getreten war. Die Feier zum zweihundertjährigen Bestehen der Marke stand bevor, und man wollte zu diesem Anlass mehrere aufregende neue Geschmacksrichtungen auf den Markt bringen. Mendoza schlug vor, dass Kitty zwei davon kreieren sollte.

Hätte sie sich damals schon hingesetzt und in Ruhe über alles nachgedacht, Kitty hätte den Job vermutlich abgelehnt. Sie wäre geschmeichelt gewesen, sicherlich. Aber im Gegensatz zu ihrer Schwester Lizzie war sie von Natur aus eher zurückhaltend. Und wenn die Vergangenheit sie eines gelehrt hatte, dann, dass es schmerzhaft enden konnte, wenn man ein zu großes Risiko einging.

Doch jetzt, fünf Jahre nach Jimmys Tod, war eine Veränderung genau das gewesen, was Kitty wollte und brauchte. Sie musste dringend ihre Trauer hinter sich lassen und wieder zu leben anfangen. Und so hatte sie keine fünf Minuten nach Mendozas Anruf zurückgerufen und zugesagt.

Sie strich sich das Haar zurück, das sich wie flüssiges Feuer über ihre Schultern und ihren Rücken hinab ergoss. Am Flughafen hatte sie ihrer Schwester noch versprochen, dass sie es in Zukunft offen tragen würde. Vermutlich hoffte Lizzie, dass es ihr helfen würde, auch in anderen Dingen mehr aus sich hinauszugehen.

Doch das war gar nicht so leicht …

Jimmy war ihre erste große Liebe gewesen, und sie konnte sich nicht vorstellen, jemals für einen anderen Mann so zu empfinden wie für ihn. Sie wollte es auch gar nicht. Liebe – wahre Liebe – war zugleich ein Segen und ein Fluch, und sie glaubte nicht daran, dass man so etwas im Leben zweimal erleben konnte. Ihre Freunde und ihre Familie waren anderer Ansicht, doch Kitty wusste einfach, dass dieses Kapitel für sie abgeschlossen war. Daran konnten auch noch so viel Sonne, Meer und Salsa nichts ändern.

Sie blickte nach unten und entdeckte zu ihrem Entzücken einen leuchtend orangefarbenen Seestern, der im flachen Wasser dahintrieb. Was hieß „Seestern“ noch gleich auf Spanisch? Kitty zückte ihr Smartphone und wollte das Wort gerade nachschlagen, als das Telefon in ihrer Hand zu vibrieren begann. Ihre Mundwinkel zuckten, als sie den Namen auf dem Display las.

„Hey, Lizzie.“

„Hallo. Sag mal, du … du bist doch nicht etwa am Strand, oder? Ist das die Brandung, die ich da im Hintergrund höre?“

„Allerdings.“ Kitty grinste. „Ich mag zwar nicht im Büro sein, aber ich arbeite trotzdem gerade. Ich recherchiere.“

„Du recherchierst, soso.“ Lizzie schien einen Fluch zu unterdrücken. „Nun, ich kann nur hoffen, dass du ausreichend Sonnenschutz aufgetragen hast, so empfindlich, wie deine Haut ist.“

Seufzend schaute Kitty an sich hinunter. Sie trug eine langärmelige Bluse und einen langen Rock. „Ich trage so viel Kleidung und Sonnencreme, dass ich vermutlich blasser nach Hause zurückkehren werde, als ich aufgebrochen bin.“

„Wer weiß? Vielleicht kommst du auch gar nicht mehr zurück. Nicht wenn dein unglaublich attraktiver Chef sich entschließt, sich endlich mal bei euch sehen zu lassen. Ich kann es praktisch vor mir sehen, wie eure Blicke sich zum ersten Mal begegnen, über Reihen von Reagenzgläsern hinweg …“

„Ich arbeite im Labor, Lizzie. Ich glaube kaum, dass sich mein unglaublich attraktiver Chef ausgerechnet dorthin verirren wird. Und selbst wenn – er weiß doch sicher nicht mal, wer ich bin.“

Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, schlenderte Kitty weiter den Strand entlang, bis zu dem kleinen Wald, der daran grenzte und in dem es immer ein wenig kühler war als anderswo.

Sie hetzte sich nicht. Die Dinge gingen auf Kuba einen gemächlicheren Gang. Selbst bei der Arbeit hatte jeder seinen eigenen Rhythmus, und auch Kitty hatte sich schließlich – nach einer Woche ihrer typisch englischen Arbeitsroutine – dem kubanischen Zeitgefühl angepasst. Es war zuerst merkwürdig gewesen, aber die Welt war nicht untergegangen, und wie Mr. Mendoza ihr bei ihrem ersten Gespräch gesagt hatte: Sie war ihr eigener Boss.

Das stimmte natürlich nur in gewissem Maße. Fast alles auf dieser so gut wie unberührten Halbinsel – die Bäume, der Strand und vermutlich sogar der Seestern – gehörte zum Anwesen der Finca el Pinar Zayas. Und das wiederum gehörte dem el jefazo – dem großen Boss, wie ihn alle nannten.

César Zayas y Diago.

Sein Name klang wie Musik, und Kitty ließ die fremdartigen Silben genießerisch über ihre Zunge rollen. Ob es wohl möglich war, jemanden heraufzubeschwören, nur indem man an ihn dachte?

Schön wär’s!

Sie mochte sich manchmal vorstellen, wie es wäre, den Boss von Dos Rios zu treffen, aber bisher hatte sie noch nicht einmal mit ihm telefoniert.

Nicht dass sein fehlendes Interesse an ihr Kitty irgendwie bekümmerte. Eigentlich war sie sogar ganz froh. Sie war von einem ruhigen englischen Küstenstädtchen ins pulsierende Herz der Karibik gezogen, aber tief in ihrem Inneren war und blieb sie ein Mädchen vom Lande. Ihren legendären und unzweifelhaft eindrucksvollen Boss kennenzulernen war ein Erlebnis, auf das sie nur zu gern verzichtete.

Umgekehrt ging es ihm vermutlich ganz ähnlich, denn er hatte die Hauptverwaltung schon zweimal besucht, seit Kitty in Havanna eingetroffen war. Beide Male war er schon wieder fort gewesen, ehe sie überhaupt mitbekommen hatte, dass er sich im Land aufhielt.

Allerdings hatte sie auch gar nicht erwartet, ihn je zu treffen. Er mochte ein herrliches Haus im Kolonialstil auf dem Anwesen besitzen, aber geschäftlich war er auf der ganzen Welt unterwegs. Ihren Kollegen zufolge besuchte er Havanna nur in unregelmäßigen Abständen und blieb nie für länger als ein paar Tage am Stück.

Selbstverständlich war Kitty neugierig auf ihren Boss. Das war ja nur natürlich. Immerhin hatte er die bescheidene Rum-Destillerie seiner Familie in eine global operierende Marke verwandelt. Und anders als viele seiner Geschäftskollegen hatte er das geschafft, ohne das falsche Spiel der Medien mitzuspielen.

Sie duckte sich unter einem tief hängenden Ast hindurch und fragte sich, wie César Zayas es geschafft hatte, sein Privatleben trotz des immensen Erfolges auch privat zu halten.

Vielleicht war er einfach nur bescheiden. Seine Biografie auf der Website des Unternehmens, die extrem minimalistisch gehalten war, schien das nahezulegen. Es gab nichts Persönliches, keine Zitate oder Weisheiten, nur ein paar allgemeine Worte eingebettet in die Firmenhistorie.

Selbst das dazugehörige Foto sagte nicht wirklich etwas über den Mann aus, der darauf abgebildet war. Er stand inmitten einer Gruppe Männer auf einer Terrasse. Der Rum in ihren Gläsern besaß dasselbe tiefgoldene Orange wie die Sonne, die hinter ihnen am Horizont versank.

Kitty musste nur an das Bild denken, und in ihrem Bauch fing es heftig zu flattern an.

Der CEO von Dos Rios hatte den Blick darauf halb abgewandt, sodass sein Gesicht im Schatten lag. Man konnte seine hohen Wangenknochen und das markante Kinn unter dem dunklen Bartschatten und dem zerzausten schwarzen Haar nur erahnen.

Es gab keine hilfreiche Bildunterschrift, die den einzelnen Männern einen Namen zuwies, doch das war auch nicht nötig. Die Aura von Überlegenheit und Macht, die César Zayas y Diago ausstrahlte, ließ keinen Zweifel offen, dass die Welt ihm zu Füßen lag. Sein Leben war rasant wie ein Sportwagen. Nur sein Lächeln – das Kitty zwar noch nie gesehen hatte, sich aber problemlos bildlich vorstellen konnte – wäre sicher langsam, beinahe träge und genießerisch, wie ein eiskalter Daiquiri an einem heißen Nachmittag.

Kitty schluckte. Ihr war, als könne sie den Rum und die scharfe Säure der Limone auf der Zunge schmecken. Nur dass sie keine Daiquiris trank. Das waren Cocktails, und sie hatte sich nie selbstbewusst genug gefühlt, einen solchen zu bestellen. Nicht einmal hier auf Kuba.

Ganz besonders nicht hier auf Kuba.

Die Menschen hier waren so schön, von der Sonne geküsst und stets fröhlich. Die Männer hatten dunkle, glutvolle Augen, und die Frauen schafften es, selbst beim Überqueren der Straße Eleganz und Anmut auszustrahlen.

Kitty selbst hatte sich bisher noch nicht nach Einbruch der Dunkelheit nach Havanna gewagt, doch selbst bei hellem Tageslicht war die pulsierende Energie der Stadt deutlich zu spüren gewesen. Es war ein Vibrieren wie das Summen eines Schwarmes Bienen – einlullend und doch gefährlich. Sie war fasziniert gewesen, nicht nur von den Menschen. Die Häuserwände, an denen langsam die Slogans von Revolución para Siempre – immerwährender Revolution – verblassten. Die bonbonfarbenen, auf Hochglanz polierten Máquinas, amerikanische Autos aus den fünfziger Jahren, die die Straßen säumten.

Überall gab es Spuren der Vergangenheit, von den Balkons im Kolonialstil bis zu den geschwungenen Marmortreppen. Es war lebendig und aufregend, und sie war versucht gewesen, das heiße Stuckwerk zu berühren, um etwas von der Wärme in sich aufzusaugen, die die Stadt ausstrahlte.

Sie erreichte eine Weggabelung und blieb stehen. Ihr Orientierungssinn war noch nie besonders gut gewesen, und so blickte sie unentschlossen in beide Richtungen. Ihr Handy brauchte sie gar nicht erst hervorzuholen, so nah am Meer gab es so gut wie keinen Empfang. Durch die hohen Pinien, die dem Anwesen ihren Namen gaben, konnte man auch nicht sehen, wohin die Wege führten.

Seufzend fuhr Kitty sich mit der Hand durchs Haar. Wenn sie sich für den falschen Weg entschied, würde sie ewig unterwegs sein. Ihre Villa befand sich am äußersten Rand des Anwesens. Normalerweise wohnte dort eine der Hausangestellten, die sich zurzeit jedoch auf der anderen Seite der Insel befand, um ihre kranke Mutter zu pflegen.

Andreas, der Sicherheitschef von Dos Rios, hatte Kitty gesagt, dass sie herzlich eingeladen war, das Grundstück auf eigene Faust zu erforschen. Dennoch hatte sie sich vor allem auf den Strand und den Wald in unmittelbarer Nähe des Hauses beschränkt.

Zehn Minuten später trat sie aus dem Schatten der Bäume heraus und wusste plötzlich sofort, wo sie sich befand. Ihre Villa war von hier aus nur ein paar Minuten Fußweg entfernt.

Erleichtert atmete sie auf, zog ihren Sonnenhut ab und fächelte sich damit Luft zu – nur um im nächsten Moment zu erstarren. Im Zwielicht des Unterholzes halb verborgen, hatte sie eine Herde der Wildpferde entdeckt, die sich frei auf dem Anwesen bewegten.

Ihr Herz fing an zu hämmern. Sie wusste von ihren Gesprächen mit Melenne, die dreimal in der Woche kam, um die Cabaña zu putzen, dass die Pferde nicht gefährlich, sondern einfach nur ungezähmt waren. Ihr dunkles Fell schimmerte im grüngoldenen Licht, das durch die Baumkronen fiel. Ein wunderschöner, majestätischer Anblick.

Langsam trat Kitty einen Schritt auf die Herde zu und streckte zögernd die Hand nach dem Tier aus, das ihr am nächsten stand. Sie hielt den Atem an, als die klugen Augen sie forschend musterten. Im nächsten Moment berührte eine samtweiche Nase ihre Finger.

Ein Lächeln umspielte Kittys Mundwinkel. Sie hielt ihre Hand ganz still und hoffte, dass die Pferde sie vielleicht noch näher kommen lassen würden. Doch noch ehe sie den Gedanken zu Ende gebracht hatte, zerriss ein tiefes Grollen die Stille, und die Herde galoppierte davon.

Was zum …?

Sie wandte sich um und schirmte ihre Augen mit der Hand gegen die Sonne ab. Der Lärm schwoll weiter an, und sie sah etwas Metallisches aufblitzen, das sich rasch näherte. Kitty atmete scharf ein, als sie erkannte, dass es sich um ein Motorrad handelte – und es kam geradewegs auf sie zu!

Der Fahrer schien sie erst jetzt zu bemerken. Sie konnte sehen, wie seine Augen sich vor Überraschung weiteten. Er riss den Lenker seiner Maschine herum, um ihr auszuweichen.

Plötzlich schien alles wie in Zeitlupe abzulaufen.

Das Motorrad geriet ins Rutschen, kippte zur Seite und schlitterte über den Schotter, bis es schließlich am Wegesrand liegen blieb.

Vor Schreck war Kitty beinahe das Herz stehen geblieben. War der Fahrer verletzt? War er womöglich …?

Nein, daran wollte sie nicht einmal denken. Kitty riss sich aus ihrer Schockstarre und rannte auf das Motorrad zu.

Zu ihrer grenzenlosen Erleichterung war der Fahrer gerade dabei, sich aufzurappeln. Sie hörte, wie er leise auf Spanisch fluchte – zumindest nahm Kitty an, dass er das tat. In ihren Spanischstunden war es mehr um das Konjugieren von harmlosen Verben gegangen.

Als sie den Unfallort erreichte, blickte sie zurück die Straße hinunter, und ihr Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Von hier aus konnte man deutlich in beide Richtungen sehen. Hätte sie hier gestanden und nicht am Wegesrand, unmittelbar in einer Kurve, dann wäre es nie zu diesem Unfall gekommen.

Ihre Knie zitterten, als ihr klar wurde, dass sie nur ganz knapp mit heiler Haut davongekommen war.

Im Gegensatz zu Kitty schien der Motorradfahrer erstaunlich gelassen.

Bei dem Gedanken, dass auch er hätte verletzt werden können, erschauderte Kitty. Wenn sie genau hier gestanden hätte, nur ein paar Meter weiter …

Aber dann wäre er vermutlich einfach an ihr vorbeigefahren, ohne anzuhalten – dieser Mann.

Es war schon eine ganze Weile her, dass das andere Geschlecht in irgendeiner Form für Kitty relevant gewesen war – dieser Mann aber hatte das Wunder vollbracht. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass sich das Vorderrad des Motorrads noch immer langsam drehte. Der Anblick rief ihr in Erinnerung, was hier beinahe geschehen wäre – und dass sie gerade kein bisschen angemessen darauf reagierte.

„Geht es Ihnen gut?“

Er blickte auf, und für einen Moment vergaß sie zu atmen. Seine dunkelgrünen Augen musterten sie verwirrt, und erst da wurde ihr klar, dass sie ihn auf Englisch angesprochen hatte.

Sie blinzelte. „Entschuldigung, ich meine … se hecho daño?

Langsam schüttelte er den Kopf, und sie sah, dass die Verwirrung in seinem Blick etwas anderem gewichen war: Ärger.

Sie runzelte die Stirn. Die verzweifelte Panik, die von ihr Besitz ergriffen hatte, als die schwere Maschine unter ihm weggerutscht war, machte nun ihrerseits ebenfalls Platz für Wut.

Cómo …? Ich meine, puede …? Oh, verflixt, wie war das Wort noch mal?“ Es fiel ihr schwer genug, in ihrer eigenen Sprache einen klaren Gedanken zu fassen.

„Nun, ich schätze, das hängt davon ab, was Sie sagen wollen.“

Sie starrte ihn an. Er sprach Englisch – fließendes, beinahe akzentfreies Englisch.

Verärgert verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Wie konnten Sie so unvorsichtig sein? Sie tragen ja nicht mal einen Helm! Sie hätten sich verletzen können“, warf sie ihm vor.

„Unwahrscheinlich. So schnell war ich gar nicht unterwegs. Und davon abgesehen …“ Er hielt inne, zog sein rechtes Hosenbein hoch und zeigte ihr eine dünne, helle Narbe, die sich von seinem Knöchel hinaufzog. „Mir ist schon Schlimmeres passiert.“

Schweigend sah Kitty ihn an. Sie war zu verblüfft, um etwas zu entgegnen. Nicht nur weil er scheinbar mühelos zwei Sprachen beherrschte, sondern vor allem, weil ihm seine eigene Sicherheit völlig gleichgültig zu sein schien. Erneut spürte sie, wie Ärger in ihr hochkochte. Dieses Mal wusste sie allerdings selbst nicht so genau, warum.

Er wuchtete das Motorrad hoch, ehe er sich wieder ihr zuwandte. „Was ist mit Ihnen?“

Seine tiefgrünen Augen musterten sie durchdringend, und Kitty spürte ein elektrisierendes Prickeln am ganzen Körper.

„Geht es Ihnen gut?“, hakte er nach, als sie nicht antwortete.

Er klang eher geschäftsmäßig als besorgt, doch sie registrierte seine Worte nur am Rande. Dazu war sie viel zu abgelenkt von seinem Anblick. Sein Gesicht war wirklich außergewöhnlich eindrucksvoll. Die gerade Nase, das scharf geschnittene Kinn, die gebräunte Haut, die im Sonnenschein beinahe golden wirkte.

Golden?

Kitty konnte nicht fassen, was sie da gerade dachte. Zum Glück hatte sie nur gedacht und die Worte nicht laut ausgesprochen!

Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Sie konnte nicht aufhören, seinen Mund anzustarren … und sich vorzustellen, wie es sein mochte, diese Lippen zu küssen.

Sie runzelte die Stirn. Das war definitiv nicht die richtige Reaktion auf einen ihr vollkommen fremden Mann. Einen fremden Mann, der sich weder um seine eigene Sicherheit noch um die anderer auch nur einen Deut zu scheren schien.

Ihr Herz fing an, schneller zu hämmern, und Kitty verspürte den heftigen Impuls, einfach wieder im Unterholz zu verschwinden. Doch ein Teil von ihr wollte herausfinden, was wohl geschehen würde, wenn sie blieb.

„Ich bin in Ordnung“, entgegnete sie. „Wobei es mich wundert, dass Sie das überhaupt kümmert.“

Die Worte sprudelten regelrecht aus ihr hervor. Sie war eigentlich niemand, der die Konfrontation suchte. Doch dieser Mann hatte etwas an sich … Seine ganze Art und Weise ging ihr einfach gegen den Strich.

Er neigte den Kopf zur Seite und hob eine Braue. „Was soll das heißen?“

„Das soll heißen, dass Sie mich fast über den Haufen gefahren hätten.“

Seine Augen blitzten auf. „Ja, weil Sie einfach so auf die Straße gelaufen sind. Es hat mich nur mit der Maschine zu Boden gerissen, weil ich versucht habe, Ihnen auszuweichen.“

Ihre Wangen wurden warm, und sie zögerte. Es stimmte, sie war auf die Straße hinausgetreten. Aber trotzdem! Wie konnte man so arrogant, so überheblich sein?

Sie ballte die Hände zu Fäusten, als Jimmys Bild vor ihrem inneren Auge aufflackerte, wie er in seinem Pyjama auf dem Sofa saß, das Gesicht grau vor Erschöpfung. Ihr Herz fing an zu hämmern – vor Zorn! Jimmy war stets so vorsichtig gewesen, und dieser Mann – dieser arrogante, rücksichtslose Mann – ging einfach unnötige Risiken ein. Er forderte das Schicksal, seine eigene Sterblichkeit, heraus.

„Nun, Sie hätten gar nicht erst ausweichen müssen, wären Sie nicht so schnell unterwegs gewesen“, fauchte sie und deutete auf sein vernarbtes Bein. „Und wie es aussieht, passiert das ja nicht zum ersten Mal.“

„Wie schon gesagt, ich bin nicht schnell gefahren. Das ist ein brandneues Motorrad.“ Er bedachte sie mit einem abschätzenden Blick. „Ich habe es heute erst abgeholt und fahre es gerade ein.“

Wütend funkelte Kitty ihn an. „Sie sollten wirklich einen Helm tragen.“

„Ja, das sollte ich“, entgegnete er sanft.

Die Tatsache, dass er ihr einfach so zustimmte, löste ein merkwürdiges Flattern in ihrem Bauch aus. Sie hielt den Atem an.

Wieso nur hatte er eine so heftige Wirkung auf sie?

In dieser Situation – allein auf einer verlassenen Straße mit einem fremden Mann – sollte sie sich eigentlich unbehaglich fühlen. Doch Kitty hatte keine Angst. Zumindest nicht vor ihm. Erneut schoss ihr die Hitze in die Wangen. Es waren vielmehr ihre eigenen Gedanken – ihre Fantasie –, die sie fürchten musste.

Erneut verschränkte sie die Arme vor der Brust, zwang sich aber, seinem Blick zu begegnen. Ein Beben ging durch ihren Körper, das absolut gar nichts mit Angst zu tun hatte. Etwas an der Art, wie er sie ansah, war unglaublich … intim.

Mühsam räusperte sie sich. „Wie auch immer, ich habe für so etwas keine Zeit. Ich muss nach Hause.“ Vor allem musste sie fort von ihm – und der unerklärlichen Wirkung, die er auf sie ausübte. Aber konnte sie ihn wirklich einfach so hier stehen lassen? „Nun, ich nehme an, ich kann Ihnen noch rasch dabei helfen, Ihr Motorrad von der Straße zu räumen.“

„Das wird nicht nötig sein.“

Ruhig musterte er sie, und die Gelassenheit, die er ausstrahlte, zog Kitty regelrecht in seinen Bann.

Das war absurd – alles an der Situation war vollkommen absurd! Vor allem sie selbst und ihre Reaktion auf diesen Mann. Sie musste unbedingt Abstand zwischen sich und ihn bringen – und zwar rasch. Hastig machte sie einen Schritt zurück.

„Schön, tun Sie, was Sie wollen“, sagte sie und schürzte die Lippen. „Ich vermute, darin haben Sie ohnehin bereits Übung.“

„Wie bitte?“ Er runzelte die Stirn, und Kitty verspürte einen Anflug von Triumph, weil es ihr endlich gelungen war, einen Riss in seiner Fassade zu hinterlassen.

„Sie haben mich schon verstanden“, setzte sie an, doch die Worte blieben ihr im Halse stecken, als sie den roten Fleck sah, der langsam auf seinem Hemdsärmel aufblühte.

Blut.

2. KAPITEL

„Sie bluten ja!“

César Zayas y Diago schaute die Frau an, die vor ihm stand, und für einen Moment war er zu frustriert, um den Schmerz wahrzunehmen. Es kümmerte ihn nicht besonders, dass er sich verletzt hatte. Ganz egal wie heftig ein körperlicher Schmerz auch sein mochte, er war geradlinig und zeitlich begrenzt. Nichts was ihn dazu brachte, infrage zu stellen, wer er war.

„Sie bluten“, wiederholte sie.

Er sah sie an, und einen kurzen Moment lang stockte ihm der Atem. Kein Wunder, dass er ihretwegen einen Unfall gebaut hatte. Sie war wirklich außergewöhnlich schön.

In den ersten Sekunden nach dem Sturz war er zu beschäftigt damit gewesen, sich aufzurappeln und gegen den aufflackernden Schmerz anzukämpfen. Doch jetzt, wo er Gelegenheit hatte, sie genauer zu betrachten, fiel es ihm schwer, sie nicht anzustarren.

Sie war schlank – vielleicht ein wenig zu schlank für seinen Geschmack –, doch unter ihrer Kleidung zeichneten sich weiche, weibliche Rundungen ab. Ihr Haar ergoss sich in flammend roten Wellen über ihren Rücken und reichte bis zu ihren Ellbogen. Sicher bildete er es sich nur ein, doch er glaubte, die Hitze, die es ausstrahlte, regelrecht zu spüren. Der vorwurfsvolle Blick ihrer grauen Augen aber war kühl, und der Kontrast – heiß und kalt – stieg ihm zu Kopf und brachte ihn ganz durcheinander.

Er runzelte die Stirn. Machte sie das etwa absichtlich?

Irgendwie erschien ihm das unwahrscheinlich. Er ließ den Blick forschend über ihr Gesicht wandern. Sie wirkte nervös und unsicher, ganz im Gegensatz zu vorhin.

Aber da hatte sie auch noch unter Schock gestanden.

Er blickte auf seinen rechten Arm hinab, presste seine Hand auf den von Blut durchtränkten Stoff und verzog das Gesicht.

Es kam nicht gerade häufig vor, dass sein prall gefüllter Terminkalender ihm etwas freie Zeit zum Atemholen gewährte. Als er die E-Mail bezüglich des Motorrads erhielt, hatte er kurz entschlossen entschieden, einen Abstecher nach Havanna zu unternehmen.

Noch immer war er nicht sicher, warum er die Maschine überhaupt gekauft hatte. Nach Kuba zu reisen kostete ihn immer große Überwindung und war zudem stets mit einem gewissen Ausmaß an Heimlichkeit verbunden, das ihm gegen den Strich ging. Vielleicht wollte er unterbewusst einfach nur sich selbst beweisen, dass er es nach wie vor konnte.

Und ein Motorrad war ein einfaches Mittel, um seine Adrenalinsucht zu befriedigen. Verdammt noch mal, es hatte sich auch gut angefühlt – nicht einfach nur, weil er spontan alle Verpflichtungen abgeschüttelt hatte, sondern auch die rasante Fahrt an sich. Der Wind in seinem Gesicht, die Geschwindigkeit … Und dann – plötzlich – war sie da gewesen.

Wie bei allen Unfällen war auch dieser zu schnell abgelaufen, als dass er im Nachhinein noch genau sagen konnte, was im Einzelnen wirklich geschehen war. Die Maschine war unter ihm weggerutscht, die Welt war ins Trudeln geraten. Dann das Geräusch von Metall, das über Stein schleifte – und Stille.

Er hatte schon gewusst, dass er sich verletzt hatte, noch bevor er an sich hinabgeblickt und das Blut bemerkt hatte. Doch er konnte inzwischen beurteilen, wann ein Trip zur Notaufnahme notwendig war und wann ein Pflaster ausreichte. Und so war er, nachdem er den ersten Schreck überwunden hatte, mehr besorgt um sie gewesen.

Um sie nicht noch mehr aufzuregen, hatte er das Blut absichtlich vor ihr verborgen, damit sie es nicht gleich sehen konnte. Doch dann hatte sie ihm plötzlich widersprochen, und seine Verletzung war vergessen gewesen. Von da an hatte er einfach nur dieses herablassende Lächeln von ihren Lippen wischen wollen.

Am liebsten mit einem Kuss.

Sein Puls fing an zu hämmern.

Vorsicht, ermahnte er sich selbst. Sie mochte schön sein, aber er hatte sich schon zu oft von Impulsen leiten lassen – und damit meinte er nicht die ungeplante Testfahrt mit dem Motorrad.

In ihren großen Augen war Panik zu erkennen. „Warum haben Sie nichts gesagt?“

„Es ist schon in Ordnung.“ Er hob beschwichtigend die Hand und bereute es im nächsten Moment, als Blut zu Boden tropfte. „Halb so wild.“

„Das kann wirklich nicht Ihr Ernst sein. Das ist doch geradezu ein Wasserfall!“

„Es ist nur ein Kratzer. Nichts gebrochen.“

„Trotzdem sollten Sie einen Arzt draufschauen lassen. Es ist besser, kein Risiko einzugehen.“ Sie sah ihn an. „Ich habe kein Auto, aber ich könnte Ihnen einen Krankenwagen rufen.“

Einen Krankenwagen? Energisch schüttelte er den Kopf. Ihm schauderte bei dem Gedanken, wie viel Zeit und unnötige Komplikationen das mit sich bringen würde. „Ganz sicher nicht. Das kann warten, bis ich zu Hause bin.“

Sie runzelte die Stirn und machte einen Schritt auf ihn zu. „Ich glaube nicht, dass Sie warten sollten. Was wenn Ihnen schwindelig wird oder die Blutung nicht aufhört?“

Sie zögerte, und er konnte deutlich sehen, dass sie mit sich kämpfte. Vor langer Zeit war er ebenso durchschaubar und leicht zu lesen gewesen wie sie. Doch er hatte gelernt, seine Gefühle zu verbergen, oder besser noch, sie komplett zu vermeiden.

„Also schön, meine Villa ist nicht weit von hier. Ich habe ein Erste-Hilfe-Set und weiß, wie man eine Wunde reinigt. Lassen Sie sich wenigstens von mir verarzten, bevor Sie irgendetwas anderes tun.“

Sie wohnte also in der Nähe. Er hatte sich schon gefragt, wo sie wohl untergekommen sein mochte. Er wusste, dass jenseits des Waldes einige Villen lagen, doch die meisten Touristen zogen das pulsierende Stadtzentrum vor. Aber etwas an dieser Frau ließ ihn vermuten, dass sie nicht die Touristenattraktionen – der Malecón, der Gran Teatro oder der Plaza Vieja – angelockt hatten.

Warum war sie also hier?

Es sollte ihn nicht interessieren, doch aus irgendeinem Grund ging ihm die Frage nicht aus dem Kopf. Ehe er eine Chance hatte, sich über das Warum klar zu werden, hörte er sich selbst sagen: „Okay, von mir aus können Sie es sich ansehen. Aber ich will keinen Krankenwagen.“

Der Fußmarsch zu ihrer Villa dauerte keine zehn Minuten.

Drinnen angekommen, deutete sie auf ein bequem aussehendes Sofa. „Setzen Sie sich, ich hole Ihnen ein Glas Wasser.“

Ein heftiges Gefühl eines Déjà-vu überkam ihn. In genau so einer traditionellen kubanischen Cabaña hatten schon seine Großeltern gelebt – nur dass damals mindestens zehn Personen darin untergekommen waren. Nicht dass ihnen das etwas ausgemacht hätte, nein. Für sie – ebenso wie für seine Eltern – war die Familie das Wichtigste gewesen.

Unbehaglich rutschte er auf seinem Platz herum. Mit einem Mal war der Schmerz, der sich in seiner Brust ausbreitete, schärfer als der in seinem Arm. Er wusste, dass seine Eltern stolz darauf waren, wie er das Unternehmen zum Erfolg geführt hatte. Sie waren dankbar für den Komfort und die Sicherheit, die ihnen dieser Erfolg ermöglichte. Doch er hatte ihnen nicht gegeben, was sie wirklich wollten und wofür sie ihr luxuriöses Leben ohne mit der Wimper zu zucken aufgeben würden: ein Enkelkind, das sie lieben und verwöhnen konnten.

Nicht, dass sie das jemals laut aussprachen – zumindest seine Mutter nicht. Doch er sah die Hoffnung in ihren Augen, dass er endlich die Richtige gefunden hätte-jedes Mal, wenn er auch nur beiläufig den Namen einer Frau erwähnte. Nur dass er nach der Sache mit Celia niemals wieder jemanden auf diese Weise in sein Leben lassen würde.

„Hier.“

Sie war zurückgekommen und reichte ihm ein Glas. Dann setzte sie sich mit einer Schale Wasser, einem Handtuch und einem Verbandskoffer neben ihn. Als sie ihm sagte, dass sie eine Erste-Hilfe-Ausrüstung besaß, hatte er angenommen, dass es sich um ein einfaches Reiseset handelte. Das hier schien jedoch mehr dem Standard zu entsprechen, den sie auch in der Destillerie verwendeten.

„Sie sind gut ausgerüstet“, sagte er leise.

Sie spannte die Schultern an. „Das ist nur das Nötigste.“ Vorwurfsvoll blickte sie zu ihm auf. „Sie sollten übrigens auch einen Verbandkasten auf Ihrer Maschine haben.“

Genau genommen hatte er sogar einen, und das hätte er ihr auch gesagt, doch auf einmal war er abgelenkt davon, wie sie konzentriert ihre rotgoldenen Brauen zusammenzog.

„Ich muss sehen, ob die Blutung aufgehört hat.“

„Okay.“ Er nickte und sah ihr geradewegs in die Augen.

Ihre Wangen waren von einem Hauch von Rosa überzogen. „Dafür müssten Sie … Ihr Hemd ausziehen“, sagte sie mit heiserer Stimme.

Kitty schluckte.

Dafür müssten Sie Ihr Hemd ausziehen.

Die Worte hallten in ihrem Kopf wider, während ihr Blick wie von selbst zu der gebräunten Haut wanderte, wo sein Hemdkragen ein Stück offen stand. Hätte sie doch nur seine Proteste ignoriert und einen Krankenwagen gerufen! Draußen auf der Straße, als sie das Blut gesehen hatte, war ihr einziger Gedanke gewesen, dass er Hilfe benötigte. Sie hatte ganz bestimmt nicht darüber fantasiert, dass er sich vor ihr ausziehen würde. Aber wie sonst sollte sie seine Verletzung versorgen?

Angestrengt räusperte sie sich. „Oder ich könnte einfach den Ärmel abschneiden?“

Schweigend starrte er sie an, und auf einmal waren sein Hemd und seine Verletzung vergessen. Niemand hatte sie jemals so unverwandt angesehen. Es war, als wolle er in sie hineinblicken und ihre geheimsten Gedanken lesen.

Hitze breitete sich in ihrem Körper aus.

Nicht einmal ihr Ehemann hatte sie jemals so angeschaut. Es war aufregend, berauschend.

„Nein, ist schon in Ordnung“, erwiderte er schließlich. „Ich ziehe es aus.“

Sie sah zu, wie er versuchte, die Knöpfe zu öffnen, doch seine Finger waren mit Blut befleckt. Einem plötzlichen Impuls folgend, schob sie seine Hände beiseite. „Lassen Sie mich das machen.“

Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie nun selbst begann, sein Hemd aufzuknöpfen. Durch den dünnen Stoff konnte sie deutlich seine Körperwärme spüren, und sosehr sie sich auch bemühte, sie vermochte den Blick nicht von der bronzefarbenen Haut zu wenden, die unter dem Hemd zum Vorschein kam.

Als sie seinen Gürtel erreichte, trat sie zurück. „Von hier an kommen Sie auch allein zurecht.“

Er schüttelte das Hemd von seiner linken Schulter und zog den Stoff vorsichtig von seinem verletzten Arm.

Kitty konnte ihn nur anstarren. Ihr Herz hämmerte. Es war so lange her, dass sie dem Körper eines Mannes auch nur die geringste Beachtung geschenkt hatte.

Er hatte breite Schultern und eine schmale Taille. Alles an ihm war muskulös, aber geschmeidig und schlank. Seine Haut war glatt und golden, doch es waren die beiden Narben, die beinahe parallel über seinen gesamten Oberkörper liefen, die ihren Blick anzogen.

Offensichtlich hatte er nicht übertrieben, als er sagte, dass er schon schlimmere Verletzungen erlitten hatte. Aber warum würde jemand, der so etwas erlebt hatte, weitere Risiken eingehen?

Solche Fragen konnte sie einem Fremden allerdings nicht stellen. Nicht einmal, wenn besagter Fremder mit nacktem Oberkörper auf ihrem Sofa saß.

„Und? Was sagen Sie?“

Sie blinzelte irritiert, so tief war sie in Gedanken versunken gewesen.

„Was sage ich wozu?“, wiederholte sie.

„Zu meinem Arm.“

Sie blickte auf und atmete langsam aus. Er hatte recht gehabt. Die Haut war aufgeschürft und mit Dreck verkrustet, aber trotzdem war es im Grunde nur ein Kratzer.

„Ich denke, es ist nicht so schlimm. Aber das lässt sich besser beurteilen, wenn die Wunde erst einmal gereinigt ist.“ Sie schenkte ihm ein schwaches Lächeln. „Sagen Sie mir, wenn ich Ihnen wehtue.“

Da war eine Menge Blut, aber Kitty war nicht empfindlich … nicht mehr. Nicht nach allem, was sie bei Jimmy gesehen hatte. Überhaupt war es leichter, nicht an das zu denken, was gerade beinahe passiert wäre, solange sie etwas zu tun hatte.

„Werde ich.“

Sie spürte, wie sein Blick über sie glitt, kühl und unergründlich wie ein Bergsee. Ihr Puls raste. Sein Duft stieg ihr in die Nase – eine Mischung aus Sandelholz und einer unwiderstehlich männlichen Note. Ihr Blut schoss wie flüssiges Feuer durch Kittys Adern.

Sie musste sich zwingen, seinen Körper, seine Ausstrahlung zu ignorieren. Stattdessen wusch sie vorsichtig das Blut und den Schmutz aus der Wunde. Nur noch ein kleines bisschen.

Sie biss sich auf die Lippe und stützte sich mit einer Hand auf seinem Schenkel ab. „Entschuldigung“, sagte sie, als sie ihn scharf einatmen hörte. „Habe ich Ihnen wehgetan?“

Sein Oberschenkelmuskel zuckte, und sie zog die Hand rasch wieder weg.

„Nein, nicht besonders“, sagte er und starrte stur geradeaus. „Sind Sie fertig?“

„Beinahe.“ Sie tupfte seine Haut mit einem Tuch ab. „Ich glaube nicht, dass es noch weiter bluten wird, aber ich lege Ihnen trotzdem einen Verband an.“ Sie runzelte die Stirn. „Oh, das habe ich fast vergessen.“ Sie nahm seine Hand und wusch ihm das getrocknete Blut von den Fingern. „So.“

„Haben Sie Kinder?“

„Was?“ Überrascht schaute sie ihn an.

„Ich dachte nur …“ Er schaute ihr in die Augen. „Sie wirken wie jemand, der weiß, wie man sich um andere Menschen kümmert. Und Sie sind so gut auf alles vorbereitet.“

Ihr Herz klopfte heftig. Es ergab natürlich keinen Sinn, aber für einen winzigen Moment spielte sie mit dem Gedanken, ihm die Wahrheit zu sagen. Diesem Mann. Diesem Fremden … nur dass er ihr nicht wie ein Fremder vorkam. Ihr war, als würde sie ihn schon ewig lang kennen.

Kitty spürte einen Kloß im Hals. Sie dachte an all die Monate, die Jimmy und sie versucht hatten, ein Kind zu bekommen. Doch ihr Körper hatte einfach nicht mitgespielt. Als sie schließlich deswegen zum Arzt gegangen waren, hatte Jimmy seine Diagnose erhalten. Und von da an war es einfach nicht mehr von Bedeutung gewesen.

Sie reckte das Kinn und schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe keine Kinder. Ich kann keine bekommen.“

Zu Hause in England hatte es wehgetan, auch nur daran zu denken. Doch irgendwie schmerzte es jetzt, wo sie es ihm gegenüber ausgesprochen hatte, etwas weniger. Wie verrückt war das denn?

Sie atmete tief durch. „Tut mir leid, das interessiert Sie sicher nicht.“

„Entschuldigen Sie sich nicht dafür. Ich habe eine Frage gestellt, und Sie haben sie beantwortet.“

Wie er das sagte, klang es so einfach. Aber war es das nicht auch? Sie hatten keine Geschichte, keine gemeinsame Vergangenheit, keine Zukunft. Nichts verband sie außer einem zufälligen Aufeinandertreffen auf einer staubigen Straße.

Wäre sie auf der Suche nach Liebe oder einem romantischen Abenteuer, dann hätte Kitty sich vielleicht anders gefühlt. Aber für sie würde es nie jemand anderen als Jimmy geben. Was sie für ihn empfunden hatte, war einzigartig gewesen. Doch das war okay. Sie hatte erlebt, wie es war, den Menschen zu verlieren, den man liebte. Sie wollte niemals wieder einen solchen Schmerz erfahren.

Jetzt allerdings … Ihr Puls raste.

Was sie jetzt wollte, war er.

Sie wollte diesen Mann.

Diesen namenlosen Fremden.

Sie sehnte sich nach seinen Berührungen, seinen Küssen.

Seine Finger streiften ihre Hand, und ihr stockte der Atem. Hitze breitete sich in Kitty aus, und sie spürte überdeutlich den Blick seiner tiefgrünen Augen auf sich ruhen.

Er war so nah, und doch nicht nah genug. Sie wollte seine Lippen berühren, das Spiel der Muskeln unter seiner Haut spüren. Sie wollte, dass er sie festhielt, seine starken Arme um sie schloss, sie dicht an sich zog.

„Sie zittern ja.“ Er runzelte die Stirn. „Vermutlich ein verzögerter Schock. Ich hole Ihnen rasch …“

Aus irgendeinem Grund überfiel sie plötzliche Panik bei dem Gedanken, dass er gehen wollte.

„Nein.“ Sie ergriff seine Hand. „Nein, das ist es nicht.“

Ihr Herz schlug plötzlich zu schnell, und ihre Kehle war wie zugeschnürt.

Einen Moment lang starrten sie einander nur an. Er war ihr jetzt so nah, dass sie seine Körperwärme spüren konnte.

Er war so real. Keine Erinnerung. Keine Fantasie.

Er war schön, voller Leben und Energie und Wärme.

Und er war genauso angespannt wie sie – Kitty konnte es deutlich fühlen.

Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal ein so heftiges Verlangen verspürt hatte.

„Nein“, sagte sie erneut. „Das ist es nicht. Es ist …“

Sie brach ab und legte eine Hand auf seine Brust. Seine Haut war glatt und straff, genau wie sie es sich vorgestellt hatte. Unter ihren Fingern konnte sie fühlen, wie sein Herz im selben Rhythmus hämmerte wie ihres.

Er sog scharf die Luft ein und presste die Lippen zusammen. In seinen Augen konnte Kitty sehen, wie Verlangen und Selbstbeherrschung miteinander kämpften. Schließlich hob er die Hand und strich über ihre Wange.

Für einen kurzen Moment war sie wie erstarrt, dann beugte sie sich vor – und küsste ihn.

„Ich kenne nicht mal deinen Namen …“ flüsterte er, ohne die Lippen von ihren zu lösen.

„Mein Name ist nicht wichtig.“

Sie küsste ihn erneut. Dieses Mal zog er sich zurück und musterte sie durchdringend. Vermutlich wollte er ihr eine Gelegenheit geben, es sich noch einmal anders zu überlegen.

Ihr Puls raste. Sollte sie etwas sagen? Ihm sagen, dass sie so etwas normalerweise nicht tat? Dass sie es sich tatsächlich anders überlegt hatte? Aber das konnte sie nicht, denn es wäre eine Lüge gewesen.

Kitty vergrub die Finger in seinem Haar und zog sein Gesicht zu sich heran. Ihre Lippen verschmolzen miteinander, ihre Zungen trafen sich. Gleichzeitig glitten seine Hände unter ihre Bluse und wanderten über ihren Rücken, von ihrer Hüfte zu ihrer Taille bis hin zum Verschluss ihres BHs.

Langsam entkleidete er sie, ehe er sie zu sich auf seinen Schoß zog, sodass sie rittlings auf ihm saß. Dann beugte er sich herab und küsste ihre Brüste, umschloss die Spitzen eine nach der anderen mit den Lippen, bis Kitty praktisch Wachs in seinen Händen war.

Die Intensität ihres Verlangens traf sie wie ein Schock. Zuvor war es für sie immer ein langsamer, stetiger Prozess gewesen, wie das Branden der Wellen am Strand. Das hier war, als hätte man ein Streichholz in eine Benzinlache geworfen – explosiv und überwältigend.

Seine Hände lagen auf ihren Hüften, und sie spürte seine Erregung durch den Stoff seiner Hose. Instinktiv griff sie nach seiner Gürtelschnalle, doch er hielt sie zurück.

„Lass uns ins Schlafzimmer gehen“, stieß er heiser hervor.

„Nein.“ Stattdessen öffnete sie seinen Gürtel, dann den Reißverschluss. Sein ganzer Körper war angespannt wie eine Bogensehne, als sie die Finger um seine heiße Erregung schloss.

Er stöhnte. „Ich habe keine Kondome.“

„Ich auch nicht.“

Fast war sie ein bisschen erschrocken über sich selbst. In der Hitze des Augenblicks hatte sie überhaupt nicht darüber nachgedacht. Doch seine Worte zeigten ihr, dass er ganz offensichtlich ein verantwortungsvoller Liebhaber war. Und die Tatsache, dass er sich zurückhielt, bewies, dass sie ihm vertrauen konnte.

„Ist schon in Ordnung“, flüsterte sie, schlang die Arme um seinen Nacken und küsste ihn verlangend. „Es kann nichts passieren.“

Stöhnend lehnte er sich zurück und zog sie mit sich.

Als sie auf ihm saß und sich verführerisch an ihm rieb, blickte er sie überrascht an, seine Pupillen weit und dunkel. Dann stützte Kitty sich auf seine Schultern und nahm ihn in sich auf.

Er atmete scharf ein.

Sie fing an, sich in einem langsamen Rhythmus zu bewegen, der jedoch an Intensität zuzunehmen begann.

Mírame! Sieh mich an“, keuchte er.

Kitty spürte, wie ihr Höhepunkt sich näherte. Hitze breitete sich in ihr aus, und sie klammerte sich in verzweifeltem Verlangen an ihn. Sie fieberte ihm entgegen, dem süßen Augenblick der Erfüllung, und wünschte zugleich, der Moment würde niemals enden.

Schließlich aber konnte sie es nicht mehr länger aushalten. Ihr Körper bog sich ihm entgegen, und sie bebte und zitterte, während seine Bewegungen immer schneller, drängender wurden, bevor er sich unter ihr aufbäumte und mit einem Stöhnen den Gipfel der Lust erreichte.

3. KAPITEL

Langsam blinzelnd öffnete César die Augen. Einen Moment lang war er orientierungslos. Dann kehrten die Erinnerungen zurück.

Er musste kurz eingeschlafen sein, eingelullt von ihrer weichen Wärme und der plötzlichen Schwere, die sich über seinen Körper gelegt hatte.

Stirnrunzelnd blickte er zur Decke hinauf. Es war lange her, dass er einer Frau so nah gewesen war. Mehr als zehn Jahre, mindestens. Doch der heutige Tag war in mehr als einer Hinsicht außergewöhnlich gewesen.

Er blickte hinab auf ihren nackten Körper, der sich an seinen schmiegte, und sein Puls beschleunigte sich. Er hatte gerade die eine Sache getan, von der er sich geschworen hatte, dass sie nie wieder geschehen würde: Er hatte seiner Libido nachgegeben und die Kontrolle über sein Handeln verloren.

Noch heute lastete das, was vor so vielen Jahren geschehen war, auf seinem Gewissen. Der Schock und die Enttäuschung, die er seinen Eltern bereitet hatte …

Für Celia hatte er sich vollkommen zum Narren gemacht.

Damals hatte er den Entschluss gefasst, niemals wieder eine Frau so nah an sich heranzulassen, dass sie ihm unter die Haut gehen konnte. Und er hatte sich daran gehalten.

Bis heute.

Bis …

Er presste die Lippen zusammen. Maldita sea, er kannte nicht einmal ihren Namen! Die Heftigkeit seines eigenen Verlangens hatte ihn völlig überraschend getroffen. Er hätte sie draußen auf der Straße abfertigen sollen oder sie besser noch gleich seinem Sicherheitschef Andreas überlassen sollen. Immerhin gehörte so etwas zu dessen Job. Doch stattdessen hatte César sich von einem Paar sinnlicher Lippen ablenken lassen.

Er hätte dem Ganzen ein Ende setzen können, als sie sich vorgebeugt und ihn mit eben jenen Lippen geküsst hatte. Doch in dem Moment hatte sein Verstand schlichtweg aufgehört zu arbeiten. Seine Vergangenheit, seine Vorsätze waren vergessen gewesen. Nichts war von Bedeutung gewesen außer ihr. Er war wie besessen von dem Gedanken gewesen, sie zu berühren, zu schmecken, zu besitzen – und selbst jetzt war dieses Verlangen noch immer nicht befriedigt. Selbst jetzt sehnte er sich noch nach mehr.

Doch auch noch so perfekte, sinnliche Lippen konnten lügen. Und César verspürte wirklich nicht das Bedürfnis, die Fehler seiner Vergangenheit zu wiederholen. Er mochte damals noch jung gewesen sein, doch er hatte seine Lektion gelernt.

Er runzelte die Stirn. Was nun?

Die Frau neben ihm fing an, sich zu rühren, und sofort spürte er, wie alles Blut sich wieder in seiner Körpermitte sammelte. César wollte nicht, dass sie merkte, welche Wirkung sie auf ihn hatte, und machte Anstalten, sich aufzusetzen. Doch sie hatte sich bereits von ihm losgemacht und sammelte gekonnt all ihre Kleidungsstücke auf einmal vom Boden auf.

Hatte sie etwa Übung darin?

Ehe der Gedanke sich in seinem Kopf festsetzen konnte, schob er ihn beiseite. Es ging ihn nichts an, und ihm stand kein Urteil über sie zu.

Sie zog sich die Bluse über den Kopf, und er erhaschte einen Blick auf ihre weichen, wohlgeformten Brüste. Das Verlangen, sie zu berühren, wurde beinahe übermächtig. Sie war unglaublich sexy … und er wollte sie.

Er wollte mehr. Wollte ihre seidige Haut spüren, ihren heißen Atem.

Aber war das wirklich so verwunderlich?

Seine letzte „Beziehung“ war vor etwas über sieben Wochen zu Ende gegangen. Seitdem hatte César praktisch jede freie Minute im Büro verbracht und versucht, diesen verdammten Markenstreit beizulegen, sodass für sein Privatleben keine Zeit geblieben war. Oder um es anders auszudrücken: Er hatte schon seit einer ganzen Weile mit keiner Frau mehr geschlafen.

War es da ein Wunder, dass diese schöne, hemmungslose Fremde sein Verlangen geweckt hatte?

Wie auch immer – es war passiert, und es war unglaublich gewesen. Besser als unglaublich. Und er würde sich nicht selbst belügen und so tun, als würde er nicht am liebsten genau dort weitermachen, wo sie aufgehört hatten. Sie war attraktiv, und er fühlte sich zu ihr hingezogen. Aber was immer da auch zwischen ihnen vor sich ging, er würde sich nicht noch einmal von der Stimmung mitreißen lassen.

Es würde andere Frauen geben. Und das nächste Mal würde er sich nicht blindlings in etwas hineinstürzen, das er nicht einschätzen konnte.

Er hob seine eigenen Kleidungsstücke vom Boden auf und fing an, sich anzuziehen. Seiner Erfahrung nach versuchten die meisten Frauen diesen Moment in die Länge zu ziehen. Es war einer der Gründe, warum er nur ungern jemanden mit nach Hause nahm. Besser wenn man sich auf neutralem Boden traf.

Diese Frau jedoch hatte noch nicht einmal nach seinem Namen gefragt. Selbst dass sie Sex miteinander gehabt hatten, schien nicht das Geringste an ihrer Gleichgültigkeit zu ändern.

Für ihn war das etwas völlig Neues, und er wusste, dass er im Grunde genommen froh darüber sein sollte. Doch unerklärlicherweise fühlte er sich fast ein wenig gekränkt durch ihr mangelndes Interesse.

Dabei war die Anonymität zwischen ihnen in gewisser Weise tatsächlich von Vorteil. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Sex mit einer Frau gehabt, die weder wusste noch sich darum scherte, wer er war. Es fühlte sich echt an. Ehrlich. Es war keine sorgsam inszenierte Verführung gewesen, und sie hatte ihm auch nicht irgendwelche Liebesschwüre ins Ohr gesäuselt. Sie hatten beide bekommen, was sie wollten – und nun konnten sie in ihr jeweiliges Leben zurückkehren.

Er schnallte seinen Gürtel zu und streifte sein Hemd über.

„Ist dein Arm in Ordnung?“

Er schaute auf. Eine Strähne ihres herrlichen roten Haares war ihr in die Stirn gefallen, und er musste sich beherrschen, um nicht die Hand auszustrecken und sie zurückzustreichen.

„So gut wie neu.“

Sie hielt seinen Blick fest, ehe sie ihm ein winziges Lächeln schenkte. „Da bin ich froh.“

Einen Moment lang breitete sich Stille aus, dann räusperte sie sich. „Okay, ich weiß nicht, wie man sich in so einer Situation normalerweise verhält, aber … Ich nehme an, du bist ein vielbeschäftigter Mann?“

Mit anderen Worten: Sie wollte, dass er ging.

„Natürlich.“ Langsam fuhr er damit fort, sein Hemd zuzuknöpfen, während er sich im Raum umsah. „Ein hübsches Haus hast du hier“, sagte er. „Wie bist du da nur rangekommen?“

Sie schaute ihn an. „Es ist sozusagen ein Bonus, den ich durch meinen Job bekommen habe.“

Ein seltsames Gefühl machte sich in ihm breit. „Was für ein Job?“

Sie runzelte die Stirn. Ihr war seine plötzliche Anspannung offenbar nicht entgangen.

„Ich arbeite für Dos Rios. Du weißt schon, die Rumbrennerei.“ Fragend sah sie ihn an. „Vielleicht hast du schon mal davon gehört?“

Etwas in seiner Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Dos Rios stellte vorübergehende Unterbringungen für Mitarbeiter aus Übersee zur Verfügung, das wusste er. Seine persönliche Assistentin kannte die Details sicher, aber er selbst war in solche Dinge nicht wirklich involviert. Das Kommen und Gehen von Angestellten spielte sich weit unterhalb seiner Gehaltsstufe ab.

„Das sollte ich wohl“, sagte er. „Schließlich hat meine Familie das Unternehmen gegründet.“ Er hielt inne und beobachtete, wie sie langsam begriff.

„Was soll das heißen?“ Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Verständnislos starrte sie ihn an. „Was …? Ich …“ Sie schüttelte den Kopf.

„Du verstehst nicht?“ Er hob eine Braue. „Dann sollte ich mich vielleicht vorstellen. Mein Name ist César Zayas y Diago.“

Die Stille, die sich im Raum ausbreitete, war allumfassend, doch seine Worte hallten immer noch in Kittys Ohren wider.

„Nein“, sagte sie schließlich und schüttelte den Kopf. „Nein, das kann nicht sein.“

Er konnte es nicht sein. Er durfte es nicht sein. Sie war erst gestern im Labor gewesen, und sicher hätte es jemand erwähnt, wenn der Chef persönlich auf die Insel kommen würde – oder?

Folglich musste es eine Lüge sein.

Doch als sie ihn nun ansah, bemerkte sie zum ersten Mal die teure Qualität seines Hemdes und den exquisiten Schnitt seiner Anzughose.

Die ganze Zeit über schaute er sie unverwandt an.

„Ich versichere dir, ich bin es wirklich“, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen. Seine Stimme klang jetzt deutlich kühler, und in ihr schwang eine stählerne Autorität mit. Kitty wurde klar, dass er die Wahrheit sagte.

Ihr Herz hämmerte wie verrückt, als sie seine Hand ergriff und kurz schüttelte.

Sein Blick wanderte über ihr Gesicht, ehe sich seine Lippen zu einem Lächeln verzogen. Doch es war nicht das Lächeln, das sie in ihrer Fantasie vor sich gesehen hatte, nein. Es war kühl und forschend – das Lächeln eines CEO, der sie taxierte.

Das Lächeln eines Chefs.

Ihres Chefs.

Mit dem sie gerade wilden, spontanen Sex gehabt hatte.

Kitty schwirrte der Kopf.

In den fünf Jahren seit Jimmys Tod hatte sie keinen Mann auch nur angesehen. Und auch heute war sie ganz sicher nicht mit der Absicht vor die Tür gegangen, jemanden kennenzulernen. Doch da draußen auf der staubigen Straße war irgendetwas geschehen. Etwas war in Bewegung gesetzt worden.

Ihr Puls raste.

Wenn er sie in sein Büro gerufen und sich vorgestellt hätte wie ein normaler Boss, dann wäre es niemals so weit gekommen. Aber nein, er hatte ihr ja praktisch mit seinem Motorrad vor die Füße fallen müssen und damit all diese verwirrenden und völlig unerwünschten Gefühle in ihr hervorgerufen …

Hitze stieg ihr in die Wangen, als sie daran dachte, wie es sich angefühlt hatte, ihm so nah zu sein. Mit ihm war sie zu einem anderen Menschen geworden. Seine Hände, sein Mund hatten eine leidenschaftliche Frau in ihr erweckt. Es war einfach unglaublich mit ihm gewesen!

Ebenso unglaublich wie die Tatsache, dass sie es gewesen war, die überhaupt den ersten Schritt gemacht hatte.

Einfach weil sie ihn gewollt hatte.

Keine Liebe, keine Verbindlichkeiten.

Keine gemeinsame Zukunft, keine Seelenverwandtschaft.

Sie wusste, dass kein Mann auf der Welt jemals die Leere in ihrem Herzen ausfüllen konnte. Das würde sie auch niemals zulassen, denn sie kannte nun auch die Kehrseite der Liebe – den Verlust. Kitty glaubte nicht, dass sie je den Mut aufbringen würde, noch einmal diesen Schmerz und die schreckliche Einsamkeit auf sich zu nehmen, die auf das unvermeidliche Ende jeder Liebe folgten.

Jimmy zu verlieren war unerträglich gewesen. Sie hatte sich damals geschworen, dass sie sich niemals wieder jemandem so weit öffnen, sich nie wieder so verletzlich machen würde. Doch sie war nach wie vor eine Frau, und sie hatte sich so unglaublich zu diesem Mann hingezogen gefühlt und sich einfach fallen gelassen.

Erst jetzt wurde ihr wirklich bewusst, dass es vor allem deshalb so leicht gewesen war, weil sie ihn nicht kannte und weil sie ihn niemals wiedersehen würde.

Nun, das hatte sie zumindest angenommen. Und jetzt stellte sich heraus, dass sie für ihn arbeitete!

„Ich wusste nicht, wer du bist.“

Er hob eine Braue. „Offensichtlich nicht. Es sei denn, du versuchst immer, deinen Boss umzubringen, nur um ihn dann zu verführen.“

Ihre Wangen brannten wie Feuer. „Ich habe nicht versucht, dich umzubringen. Du hast mich beinahe überfahren!“

Unverwandt sah er sie an. „Aber du hast mich verführt.“

Kittys Magen zog sich zusammen. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. „Hätte ich gewusst, wer du bist …“

„Du arbeitest also für mich?“

„Für Dos Rios, ja.“

Nach dem, was gerade zwischen ihnen geschehen war, erschien es ihr wichtig, zwischen dem Mann und seiner Firma zu unterscheiden.

Sein feines Lächeln machte deutlich, dass ihm ihre Wortwahl nicht entgangen war. „Was genau ist dein Job?“

„Ich arbeite an der Jubiläums-Rum-Edition“, erklärte sie. „Mein Name ist Kitty Quested.“

Das Händeschütteln hatten sie ja bereits hinter sich gebracht, also lächelte sie nur verkrampft. Ihr Blick fiel auf das Sofa, auf dem sie sich vorhin so leidenschaftlich geliebt hatten, und ihr Herz schlug einen Purzelbaum. Die gezwungene Höflichkeit kam ihr nach all dem furchtbar falsch und künstlich vor.

„Ja“, sagte er. „Ich erinnere mich. Blackstrap.“

Sie schluckte. Ganz sicher würde er sie feuern. „Ich weiß, was du jetzt denkst …“

„Und ich weiß, was du denkst.“ Er hielt ihren Blick fest. „Aber nein, ich werde dich nicht feuern. Und ja, rückblickend war das“, er deutete mit einem Kopfnicken auf das Sofa, „vermutlich eine schlechte Idee. Aber geschehen ist geschehen, und jetzt ist es zu spät, um noch etwas daran zu ändern.“ Er hielt inne, und sie fühlte, wie ihr ganzer Körper unter dem Blick seiner tiefgrünen Augen zu kribbeln begann. „Im Grunde war es schon in dem Moment zu spät, in dem ich dich draußen auf der Straße zum ersten Mal gesehen habe.“

Zittrig atmete sie ein. Ihr Körper reagierte auf ihn – schon wieder. Wie konnte das sein? Ausgerechnet auf ihn, einen Mann, den sie kaum kannte! Wo der Mann, den sie geliebt hatte – den sie noch immer liebte – nicht mehr am Leben war … Es ergab keinen Sinn, und sie würde dem Ganzen jetzt ein Ende setzen.

Es war besser, wenn sie von nun an nur noch auf rein professioneller Basis miteinander umgingen.

„Es wird natürlich nicht wieder vorkommen“, platzte sie heraus. „Es war nur …“ Sie suchte nach den richtigen Worten.

„Nur Sex?“, schlug er vor.

Ihre Wangen brannten, doch sie nickte. „Ja, es war nur Sex. Wir sollten versuchen, es einfach hinter uns zu lassen.“

Eine Weile lang betrachtete er sie nur schweigend. Dann sagte er: „Das wird kein Problem sein. Wir fangen noch mal von vorn an. Und du brauchst … Sie brauchen sich wirklich keine Gedanken über unsere berufliche Beziehung zu machen, Miss Quested. Ich halte mich so gut wie nie in Havanna auf.“ Seine Miene wirkte ausdruckslos, als er hinzufügte: „Ich hoffe, Sie genießen Ihre Zeit bei Dos Rios, und ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihre weitere berufliche Zukunft.“

Er wandte sich ab und durchquerte den Raum. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, atmete sie langsam aus.

Er war fort, und genau das hatte sie gewollt.

Besser noch – es sah ganz so aus, als würden sie sich niemals wiedersehen müssen. Genau wie sie es sich erhofft hatte.

Es war besser so.

Kitty schluckte.

Jetzt musste sie es nur noch schaffen, auch daran zu glauben.

4. KAPITEL

Über ihren Laptop gebeugt, saß Kitty an ihrem Schreibtisch im Labor von Dos Rios und ging noch einmal ihre gesamten Notizen durch. Sie versuchte, die aufsteigende Panik in Zaum zu halten, konnte es aber nicht länger leugnen: Nach Wochen des Herumprobierens und Experimentierens befand sie sich in einer Sackgasse.

Sie richtete sich auf und blinzelte die Tränen fort, die ihr in die Augen stiegen.

Sie weinte so gut wie nie. In Büchern und Filmen vermochten Tränen Wunder zu vollbringen, doch im wahren Leben bekam man nur Kopfschmerzen davon.

Bei Blackstrap war ihr der kreative Prozess so leicht und mühelos erschienen. Jetzt aber arbeitete sie für eine internationale Marke, die schon fast zu einem Synonym für das Wort Rum geworden war, und ihr lief die Zeit davon.

Stirnrunzelnd klappte sie den Laptop zu und steckte ihn in die Tasche. Dann verließ sie das Labor, ging die Treppe hinunter ins Foyer und trat durch die breite Glastür hinaus in den strahlenden Sonnenschein.

Nach der kühlen Luft im Labor fühlte es sich an, als würde sie geradewegs gegen eine Wand laufen, so heiß war es draußen. Rasch flüchtete sie in den klimatisierten Wagen, der sie morgens zur Arbeit und abends wieder zurückbrachte.

Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Ein Grund dafür, dass sie sich so ausgelaugt fühlte, war vermutlich, dass sie schlichtweg erschöpft und müde war. Die Art von Müdigkeit, die die Glieder schwer wie Blei machte und von der Kitty träge und lethargisch wurde.

Seufzend fuhr sie sich durchs Haar. In letzter Zeit schlief sie schlecht und wurde früh wach. Und obwohl sie daran gewöhnt war, allein zu sein, kamen ihr die Tage immer länger und länger vor. Deshalb hatte sie ohne echten Vorsatz angefangen, früh ins Labor zu gehen und bis zuletzt zu bleiben.

Es war offensichtlich, dass sie sich in einer Art Krise befand. Sie musste einfach mal alles um sich herum vergessen, Sonnencreme auftragen und etwas Zeit an der frischen Luft verbringen. Wann war sie das letzte Mal draußen unterwegs gewesen? Wann hatte sie einfach nur einen Spaziergang gemacht?

Ihr stockte der Atem. Oh, sie erinnerte sich sogar sehr gut daran, wann sie das letzte Mal spazieren gewesen war. Kaum möglich, das zu vergessen – oder vielmehr ihn zu vergessen.

Aber das musste sie.

Nicht weil sie bereute, was geschehen war. Das tat sie nicht. Es war unglaublich gewesen, eine Erfahrung, die sie nicht missen wollte. Trotzdem durfte sie nicht zulassen, dass die Dinge noch weiter aus dem Ruder liefen.

Tief atmete Kitty durch und öffnete die Augen, gerade als sie an einem weiten Zuckerrohrfeld vorüberfuhren. Es war definitiv nicht ideal, dass César ihr Boss war, aber zumindest wusste sie, warum sie mit ihm geschlafen hatte.

Nach Jimmys Tod hatte sie sich komplett jeden körperlichen Kontakt verwehrt. Es gab nicht einmal einen Hund oder eine Katze, mit denen sie hätte kuscheln können. Sie war siebenundzwanzig Jahre alt und hatte in den vergangenen fünf Jahren weder jemanden geküsst, noch war sie geküsst worden. Es war vollkommen natürlich, dass sie sich danach gesehnt hatte, in den starken Armen eines Mannes zu liegen, seine warmen Hände auf ihrem Körper zu spüren und seine Lippen auf ihrer Haut.

Als sie die Villa erreichte, nahm sie erst einmal eine ausgiebige kalte Dusche, ehe sie es sich mit einem Buch und einem Glas Mangosaft auf ihrem Bett gemütlich machte. Normalerweise mochte sie keine Fruchtsäfte, aber aus irgendeinem Grund konnte sie im Augenblick gar nicht genug davon bekommen.

Zwanzig Minuten später starrte sie noch immer auf dieselbe Seite, ohne dass sie ein einziges Wort gelesen hatte.

Erneut drohte Panik wegen ihrer kreativen Schwierigkeiten auf der Arbeit in ihr aufzusteigen, als ihr Blick plötzlich auf das Kleid fiel, das auf einem Bügel am Türgriff ihres Kleiderschranks hing.

Es war ein Spontankauf gewesen.

Zwischen ein paar Strickcardigans hatte sie es schließlich entdeckt: knallpink mit einem wilden Blumenmuster und einem kurzen, flatternden Rock, der ihre Beine betonte. Es war bunt und sexy und geradezu unverschämt teuer – kurz gesagt, genau das Gegenteil von dem, was sie normalerweise auch nur in Betracht ziehen würde. Doch in ihrem Kopf war dieses Fantasiebild von Kuba aufgetaucht, mit Nachtclubs und tanzenden Paaren. Auf einmal hatte sie gewusst, was sie tun wollte: Sie wollte in Havanna ausgehen, Mojitos trinken und ausgelassen tanzen.

Sich einfach fallen lassen und alle Sorgen um sich herum für eine Weile vergessen.

Nun, zumindest Letzteres hatte sie geschafft – aber zu welchem Preis?

„Ich bitte um Verzeihung, Señor Zayas, aber die Straße vor uns ist gesperrt, also müssen wir die Strecke durchs Zentrum nehmen.“

César blickte von seinem Laptop auf und zum Fenster des SUV hinaus, vor dem sich bereits eine lange Schlange von Fahrzeugen drängte.

Er runzelte die Stirn. „Ein Unfall?“

„Ich glaube nicht. Eine Baustelle, so wie es aussieht.“

„Schon gut, Rodolfo“, sagte er. „Ich kann warten.“

Aber wenn dem so war, wieso hatte er dann seinen gesamten Terminkalender auf den Kopf gestellt und seinen Piloten Miguel auf dem Rückweg von einem Termin in Freeport angewiesen, den Kurs in Richtung Havanna zu ändern?

Schuld daran war Kitty Quested.

Ein paar Tage hatte er der Versuchung widerstehen können, sich ihre Personalakte anzusehen, ehe er schließlich klein beigab. Er hatte gehofft, dass er auf diese Weise einige seiner Fragen aus der Welt würde schaffen können. Doch das genaue Gegenteil war der Fall.

Sie war um einiges jünger, als er gedacht hatte, und besaß kaum Berufserfahrung. Wie war es ihr dann nur gelungen, einen so außergewöhnlichen Rum zu kreieren?

Ein solch hervorragender Verschnitt war etwas, das man nur mit viel Geduld und einer ordentlichen Portion Hartnäckigkeit hinbekommen konnte. Qualitäten, die in ihrem Alter eher selten waren. Ihm hatten sie definitiv gefehlt, als sein Vater sich damals mit ihm hingesetzt und ihm mitgeteilt hatte, dass es an der Zeit war, die Führung von Dos Rios zu übernehmen.

Er spürte, wie sich etwas in seiner Brust zusammenzog, als er an seine Reaktion damals dachte. Schock und Ungläubigkeit – und dann Panik. Er war noch nicht bereit gewesen – nicht einmal ansatzweise – zu tun, was sein Vater von ihm erwartete.

Allerdings konnte er seinen Eltern schlecht vorwerfen, dass sie an seinem Leben teilhaben wollten. Sie hatten lange Zeit erfolglos versucht, ein Kind zu bekommen, und eine Enttäuschung nach der anderen erlebt. Als César schließlich zur Welt kam, war es zu spät für Geschwister gewesen. Er blieb ein Einzelkind, geliebt und umsorgt.

Natürlich wusste er, dass er sich glücklich schätzen konnte, doch zugleich war seine Rolle als einziger Sohn und Erbe auch kompliziert. Jahrelang hatte er sich nach einem Bruder oder einer Schwester gesehnt. Nicht etwa, weil er einsam gewesen wäre. Noch nicht einmal, weil er gewusst hatte, dass es seine Eltern überglücklich machen würde, nein. Er hatte einfach nicht im Rampenlicht stehen wollen.

Seine Gebete waren nicht erhört worden, doch seine Eltern hatten ihm ein Jahr Auszeit nach dem Uniabschluss zugestanden. Ein Jahr, um sich die Welt anzusehen und seine eigenen Fehler zu machen.

Und genau das hatte er getan.

Am Ende hatte er die Menschen verletzt, die ihn am meisten liebten. Und der einzige Trost war, dass es ihn eine wertvolle Lektion fürs Leben gelehrt hatte: Vertrauen war etwas, das man sich verdienen musste. Es wurde einem nicht einfach auf dem Silbertablett serviert.

Dennoch hatte er – unverständlicherweise – das Gefühl gehabt, Kitty vertrauen zu können.

Aber was an seinen Gefühlen für diese Frau ergab schon irgendeinen Sinn? Sie war ein unergründliches Rätsel, mit ihrem herrlich roten Haar, dem blassen, ernsthaften Gesicht und den ausdrucksvollen grauen Augen.

Im Grunde gab es eine völlig einleuchtende und logische Erklärung. Durch den Unfall waren die Gefühle einfach hochgekocht, und sie hatten sich beide davon mitreißen lassen. Als er die Villa verließ, hatte er eigentlich erwartet, dass ihre Anziehungskraft auf ihn nachlassen würde.

Doch da hatte er sich getäuscht.

Genau deshalb musste er sie unbedingt wiedersehen.

Das letzte Mal war ihm keine andere Wahl geblieben, als zu gehen – oder vielmehr die Flucht zu ergreifen. Nicht nur vor Kitty, sondern vor allem vor der Vergangenheit, die ihn verfolgte. Vor einer Charakterschwäche, der er nur entkommen konnte, indem er sich von jeglicher Versuchung fernhielt.

Und sie war eine Versuchung gewesen.

Mehr als das. Es war wie eine Besessenheit gewesen, und er war schockiert und erschrocken darüber, dass er sich noch immer von derselben Schwäche beherrschen ließ, durch die er seiner Familie schon einmal so viel Schmerz bereitet hatte.

César war nach Florida geflogen, dann nach New York, als Nächstes nach San Francisco. Doch all die vielen Meilen hatten keinen Unterschied gemacht. Es war ihm nicht gelungen, sich Kitty aus dem Kopf zu schlagen, ganz gleich, wie sehr er es auch versucht hatte.

Da war ihm klar geworden, dass er einen Fehler gemacht hatte, indem er so abrupt aufgebrochen war. Sein Körper litt unter Entzugserscheinungen. Er wollte mehr und verweigerte sich selbst, was er so dringend brauchte. Selbstverständlich hatte er nicht aufhören können, an sie zu denken. Wenn er Kitty wiedersah, dann wäre sie kein unerreichbares, perfektes Traumbild mehr, sondern nur noch eine Frau wie jede andere. Dann wäre die Macht, die sie über ihn hatte, gebrochen. Danach konnte er sich eine neue Frau für sein Bett suchen – eine, die weder für ihn arbeitete noch praktisch vor seiner Haustür lebte.

Einigermaßen beruhigt lehnte er sich wieder auf seinem Sitz zurück. Die untergehende Sonne tauchte den Himmel in feuriges Magenta und Orange, und die modernen Hotelbunker wichen offenen, von Palmen gesäumten Plätzen und Häusern im Kolonialstil.

Der SUV wurde langsamer, als sie über die kopfsteingepflasterten Straßen der Habana Vieja fuhren, und César schaute zum Fenster hinaus.

Es war ein typischer Freitagabend in Havanna. Die Straßen waren erfüllt von Lärm und Gelächter, und überall waren Menschen unterwegs. Schöne, lächelnde Menschen. Er ließ seinen Blick über ihre Gesichter schweifen und erinnerte sich daran, wie es sich angefühlt hatte, so sorglos zu sein. So überzeugt vom eigenen Recht auf Glückseligkeit.

Dann, plötzlich, bemerkte er sie.

Zuerst ihr Haar, wie leuchtendes Buchenlaub im schwindenden Licht des Tages. Dann die Art und Weise, wie sie sich bewegte.

Er runzelte die Stirn. Nein, das konnte nicht sein. Nicht in diesem Kleid. Oder diesen Schuhen.

Doch dann drehte sie sich um, und für einen Moment stockte ihm der Atem. Sie war es. In Begleitung einer dunkelhaarigen Frau, ein Lächeln auf den Lippen, das seinen Puls zum Hämmern brachte. Grazil wie eine Tänzerin ging sie die Stufen zu einer Bar hinauf. Sein Gehirn brauchte ein paar Sekunden, um zu verarbeiten, was seine Augen da sahen.

„Halten Sie an.“

„Verzeihung, Sir?“

Er hörte die Überraschung in Rodolfos Stimme, ignorierte sie jedoch. „Fahren Sie einfach rechts ran.“

„Ja, Sir.“

Während der Wagen langsamer wurde, beschleunigte sich sein Herzschlag.

„Ich muss mich mit jemandem unterhalten“, sagte er. „Fahren Sie mit dem Wagen um den Block, und ich rufe Sie dann an, wenn ich abgeholt werden will.“

Ohne die Antwort seines Fahrers abzuwarten, stieß er die Wagentür auf und stieg aus. Die Luft, die ihm entgegenschlug, war warm und feucht, geschwängert vom Rauch der Zigarren. Die Geräusche waren hier draußen noch lauter als im Inneren des Wagens. Gelächter vermischte sich mit den Salsaklängen aus den nahegelegenen Bars. Doch all das bemerkte er nur am Rande. Seine gesamte Aufmerksamkeit war auf die leuchtend gelbe Tür fixiert, durch die Kitty soeben verschwunden war.

Auf dem Schild darüber stand Bar Mango. Er kannte diese spezielle Bar nicht, aber das war auch nicht nötig. Er konnte sich genau vorstellen, was sich hinter der Tür abspielte: die Hitze, die Hormone, die im Rhythmus der Musik pulsierten …

Zielstrebig bewegte César sich durch die Menge, schob sich an einer Gruppe amerikanischer Touristen vorbei, eilte die Treppe empor und öffnete die Tür. Drinnen war die Musik ohrenbetäubend, die Temperatur schwülheiß. Menschen standen dicht an dicht gedrängt, eine Unterhaltung war nur möglich, wenn man sich die Worte laut zurief.

Er ließ seinen Blick über die Menge schweifen, und sein Puls beschleunigte sich, als er sie nicht gleich ausmachen konnte. Sie war doch sicher nicht schon wieder gegangen – oder?

Plötzlich sah er sie, und die Erleichterung, die er verspürte, konnte man in ihrer Intensität nur als absurd bezeichnen. Gleichzeitig fragte er sich, wie er sie hatte übersehen können. Kitty stand direkt an der Bar und unterhielt sich mit derselben dunkelhaarigen Frau, mit der sie vorhin bereits unterwegs gewesen war.

Tief atmete er aus. In einem anderen Leben, mit jeder anderen Frau, hätte er vermutlich gezögert. Doch zu sehen, wie sie sich zum Barkeeper vorbeugte, der sogleich unverhohlen mit ihr flirtete, brachte sein Blut zum Kochen. Ohne lange nachzudenken, drängte er sich durch die tanzende Menge.

Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte – und wie sie reagieren würde. Aber was brachte es, sich darüber den Kopf zu zerbrechen? Als könnte sie seinen Blick auf sich spüren, drehte Kitty sich bereits zu ihm um.

„Señor Zayas?“ Ihre grauen Augen weiteten sich.

„Miss Quested.“

Es klang so formell – das komplette Gegenteil davon, wie er über sie dachte – und plötzlich fehlten ihm die richtigen Worte. Sein einziger Trost war, dass sie noch verblüffter zu sein schien als er.

Ihre Wangen waren gerötet, als sie unsicher zu ihm aufblickte. „Ich wusste nicht, dass Sie zurück sind.“

„Ich bin heute Abend erst angekommen.“ Über ihre Schulter hinweg konnte er drei weitere Frauen sehen, die zu ihnen herüberschauten. „Sind Sie mit Ihren Freundinnen aus?“

„Ja.“ Sie zögerte. „Nun, eigentlich habe ich sie heute zum ersten Mal getroffen. Es gibt eine Onlinegruppe für Auswanderer. Wir haben uns für heute Abend verabredet.“ Sie wirkte – was? Aufsässig? Verängstigt? Angespannt? „Was ist mit Ihnen? Sind Sie auch mit Freunden hier?“

Einen Moment lang überlegte er, ob er ihr die Wahrheit sagen sollte – nämlich dass sie ihm auf eine Art und Weise unter die Haut gegangen war, die er nicht verstand. Dass er ihr einfach nicht widerstehen zu können schien und ihr deshalb gefolgt war, als er sie zufällig am Straßenrand bemerkt hatte.

Stattdessen nickte er. „Sie müssen hier irgendwo sein“, log er. „Ich habe Sie gesehen, als Sie hereinkamen, und dachte, ich sage einfach mal Hallo und … stelle mich einmal richtig vor.“

Die Luft zwischen ihnen schien zu pulsieren – und es lag nicht am Hämmern der Bässe aus den Lautsprechern um sie herum.

„Wegen dieser Sache …“

„Kitty? Wir überlegen, ob wir weiter die Straße hinunter zum Candela gehen sollen. Das ist eine andere Bar, aber nicht so ruhig wie die hier. Ist das okay?“

Als Kitty nickte, zog Carrie sich wieder zurück. Im selben Moment drängte sich eine Gruppe junger Männer an ihnen vorbei, und Kitty wurde gegen César gedrückt. Deutlich konnte er ihre Kurven spüren. Sein Verstand setzte aus, als ihre Hüfte sich gegen seinen Schritt presste, doch er reagierte instinktiv, packte sie am Ellbogen und hielt sie aufrecht.

Er sah, wie ihre Pupillen sich weiteten, und ein Kribbeln wie von einem elektrischen Schlag durchlief ihn. Hastig ließ er sie los und trat einen Schritt zurück.

„Entschuldigung“, murmelte er.

„Das war nicht Ihre Schuld. Hier drin herrscht das reinste Chaos.“ Sie blickte sich um. „Ist das hier wirklich ein ruhiger Club?“

Er lachte. „Für kubanische Verhältnisse schon.“ Er nickte zu dem Orangensaft, den sie in der Hand hielt. „Dir ist schon klar, dass es praktisch ein Verbrechen ist, auf Kuba so etwas zu trinken?“

Sie lächelte. „Ich erhoffe mir von diesem Abend ein paar schöne Erinnerungen und keinen Kater.“ Dann seufzte sie. „Tut mir leid, ich muss wie eine furchtbare Langweilerin klingen, aber … Ich hatte einfach diese Idee, dass ich hier vielleicht Inspiration finden könnte. Für die Jubiläums-Rum-Editionen.“

Ihre Blicke begegneten sich im Spiegel über der Bar. Einen langen Moment sahen sie einander nur an. Schließlich wandte sie sich ihm zu. „Hast du vielleicht Lust, irgendwohin zu gehen, wo es ein bisschen weniger … wild zugeht?“

Sein Herz machte einen Satz.

César sollte Nein sagen, aber er wusste bereits, dass er es nicht tun würde. Sein Magen zog sich zusammen – und zwar nicht ausschließlich ihretwegen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er den ganzen Tag noch keine richtige Mahlzeit zu sich genommen hatte.

Langsam nickte er. „Das würde ich sogar sehr gern. Hast du schon zu Abend gegessen?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Ich auch nicht. Warum leistest du mir nicht bei einem Dinner Gesellschaft?“

„Wie schmeckt es dir?“

Lächelnd legte Kitty ihre Gabel hin. „Es ist wunderbar. Ich mag besonders die hier … wie heißen sie noch mal?“ Sie deutete auf ihren Teller.

„Boniatos“, entgegnete César.

Langsam wiederholte sie das Wort und versuchte konzentriert, das Flattern in ihrem Bauch zu ignorieren, als sie den Blick seiner grünen Augen auffing. „Sie sind köstlich. Alles ist ganz exzellent.“

„Ich hoffe, ich halte dich nicht von deinen Freundinnen fern.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, überhaupt nicht. Um ehrlich zu sein, diese lauten Bars sind nichts für mich. Du hast mich also gerettet – vielen Dank.“ Sie runzelte die Stirn, kaum dass ihr die Worte über die Lippen gekommen waren. Das war kaum der Eindruck, den sie erwecken wollte. „Nicht, dass ich einen Retter brauche. Ich bin schließlich eine gestandene, unabhängige Frau.“

Er hob eine Braue. „Ich sollte dir danken. Immerhin hast du mich davor bewahrt, allein zu Abend essen zu müssen.“

Das Clandestina, das Restaurant, das César ausgesucht hatte, war völlig anders als alles, was sie kannte. Es gab kein Schild über der Eingangstür, nur einen Türsteher im dunklen Anzug. Der hatte ihnen kurz zugenickt und sie dann eintreten lassen. Kurz darauf waren sie auf die Dachterrasse getreten, und ihr hatte der Atem gestockt.

Kubanische Restaurants waren normalerweise eher rustikal gehalten, aber dieses hier war anders. Es war Luxus pur, mit Hochglanzboden, pinkfarbenen Loungesesseln und einem atemberaubenden Blick über die Stadt und das nachtschwarze Meer.

Es war schwindelerregend, wie sehr sich das Ambiente von dem etwas schäbigen Pub unterschied, in dem Jimmy und sie manchmal zu Mittag gegessen hatten. Sie fragte sich, warum César dieses Restaurant ausgesucht hatte. Vielleicht wegen des schon an Dekadenz grenzenden Luxus? Oder vielleicht weil er mit den Besitzern – zwei Brüdern namens Héctor und Frank – befreundet war?

Was auch immer der Grund sein mochte, es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass er sich hier wie zu Hause fühlte. Mit den meisten Kellnern war er per Du und bestellte, ohne auch nur einen Blick auf die handgeschriebene Karte zu werfen.

Das Essen duftete jedenfalls fantastisch. Es gab Pulled Pork, Brathähnchen und Frituras de Malanga, frittierte Tarowurzelplätzchen.

„Woher kennst du Héctor und Frank?“, wollte Kitty wissen.

Durchdringend blickte er sie an. „Als Jugendliche haben wir zusammen viel Zeit am Strand verbracht, und der Kontakt ist auch später nie ganz abgerissen.“

Kitty hob eine Braue. César trug seinen üblichen schwarzen Anzug mit Krawatte, in dem er makellos und professionell aussah.

„Du wirkst überrascht.“

Sie verzog das Gesicht. „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie du am Strand herumtobst. Hast du dir die Krawatte in die Badehose gesteckt?“

Er lächelte, und ihr Herz machte einen Satz. Der Tisch zwischen ihnen wirkte plötzlich viel zu schmal.

„Ich habe nicht immer Anzug und Krawatte getragen“, entgegnete er sanft. „Auch heute tue ich das nur, wenn die Situation es verlangt.“

Jetzt sah Kitty ihn vor ihrem inneren Auge ganz deutlich: mit nassem Haar und glänzenden Wassertropfen, die über seine goldene Haut rannen. Unwillkürlich wallte Hitze in ihr auf, und sie biss sich auf die Lippe – nur, um sich im nächsten Moment zu wünschen, sie hätte es nicht getan. Sein Blick glitt zu ihrem Mund.

„Ich muss allerdings zugeben, dass es mitunter schwierig war, den Sand aus meinem Laptop zu bekommen.“

Seine grünen Augen glitzerten, und ihre Mundwinkel zuckten.

„Hast du keine Angestellten, die so etwas für dich erledigen? Du bist doch immerhin der Boss.“

Die Luft zwischen ihnen knisterte.

„Ich bin nicht immer der Boss. Hin und wieder nehme ich mir auch mal frei.“

Sie atmete scharf ein. „Und …“ Sie räusperte sich. „Was hast du am Strand so gemacht?“

„Vermutlich dasselbe, was du in dem Alter auch getan hast.“

Kitty blinzelte, als die Realität sie einholte. „In dem Alter“ hatte sie versucht, ihre Vorlesungen und Jimmys Krankenhaustermine unter einen Hut zu bekommen. Für einen Besuch am Strand war da keine Zeit gewesen.

„Wie zum Beispiel?“

Er zuckte mit den Achseln. „Wir haben uns als Gruppe getroffen, zusammen getrunken, gegrillt, Musik gemacht und getanzt …“ Er hob eine Braue. „Was?“

„Gar nichts.“

Er verlagerte sein Gewicht, und unter dem Tisch streifte sein Knie das ihre. Kitty musste ein leises Seufzen unterdrücken. Überdeutlich konnte sie seine Körperwärme spüren.

„Weshalb lächelst du?“, fragte er. Seine Stimmung hatte sich aufgehellt, er wirkte jetzt lockerer, entspannter. Es war, als könnte sie einen Blick auf sein jüngeres, weniger zurückhaltendes Ich erhaschen, und sie fragte sich, wodurch er sich wohl so verändert hatte.

„Du kannst tanzen?“

„Ich bin Kubaner – wir haben das Tanzen praktisch erfunden. Also, ja, ich kann tanzen.“

Sein Lächeln war lockend, warm, und Kitty schlug das Herz bis zum Hals. Als er ihr direkt in die Augen sah, war ihr, als würde sie unmittelbar am Rande eines Abgrunds stehen und die Arme ausbreiten.

„Beweis es mir“, flüsterte sie.

5. KAPITEL

Es war kurz vor eins, als sie den Nachtclub erreichten. Der Club el Moré befand sich im zehnten Stock des Hotel Bello und war ganz offensichtlich eines der exklusivsten Etablissements von Havanna.

„Du wirst hier keine Touristen antreffen“, erklärte César, als der Kellner sie zu einem Tisch führte.

Sie lächelte. „Bin ich denn kein Tourist?“

Er schüttelte den Kopf. „Du lebst hier. Das macht dich zu einer Ehren-Habanera.“

Bei diesen Worten schlug Kittys Herz einen Purzelbaum. „Kommst du deshalb her? Weil hier keine Touristen sind?“

Seine Mundwinkel zuckten. „Ja.“

Sie lachte auf. „Tatsächlich?“

Er schüttelte den Kopf, und ein feines Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Nein, nicht wirklich. Aber hier gibt es die beste Livemusik und die besten Cocktails der Stadt.“

Der Kellner trat zu ihnen an den Tisch und stellte zwei üppig dekorierte Cocktailgläser darauf ab. César stieß mit Kitty an und nahm dann einen Schluck von seinem Daiquiri.

„Normalerweise trinke ich so etwas nicht“, sagte er.

„Zu touristisch?“

Seine Augen funkelten. „Ein wenig.“

„Was trinkst du dann?“

„Ich bevorzuge einen Highball mit acht Jahre altem Dos Rios, etwas Wasser und Eis, damit es nicht zu süß schmeckt.“ Nachdenklich drehte er das Glas in der Hand. „Aber heute Abend fühlt sich ein Daiquiri richtig an.“ Er hob sein Glas. „Salud por que la belleza sobra.“ Dann stellte er seinen Drink ab und schob ihn über den Tisch auf sie zu. „Hier, probier mal.“

Kitty nahm das Glas auf und nippte daran. Der Geschmack explodierte förmlich auf ihrer Zunge. Es war himmlisch.

Daran könnte ich mich gewöhnen, dachte sie – und musste sich ein wenig schuldbewusst eingestehen, dass sie nicht nur den Alkohol meinte.

Ihr Herz hämmerte, und langsam blickte sie sich um. Beides, sowohl die Atmosphäre als auch das Dekor, waren meilenweit von der schweißtreibenden Enge der Bar Mango entfernt.

Überall gab es Glanz und Glamour – das galt insbesondere für die Gäste. Die Frauen waren alle umwerfend attraktiv, mit langen Beinen, vollen Lippen und strahlend weißen Zähnen, die mit ihrem Schmuck um die Wette funkelten. Neben ihnen saßen Männer in perfekt geschnittenen Anzügen, gehüllt in den blaugrauen Dunst von Zigarren.

Sie blickte hinüber zur Tanzfläche, die bereits gut gefüllt war, und fragte sich, wie César wohl auf ihre Herausforderung reagieren würde. Kitty selbst hatte ein paar Kurse im heimischen Gemeindezentrum besucht, daher wusste sie, wie man Salsa tanzte. Doch irgendwie glaubte sie nicht, dass sie das in irgendeiner Form darauf vorbereitet hatte, mit César an ihrer Seite aufs Parkett zu treten.

Mit einem Schlag war ihr Mund staubtrocken. Sie räusperte sich und zwang sich, das Gespräch weiterzuführen. „Der Daiquiri schmeckt ganz wunderbar.“

„Das sollte er auch – immerhin stellen sie ihn hier nach ihrem ganz eigenen Rezept her.“

In seinem Blick lag eine Herausforderung, der sie nicht widerstehen konnte. Sie nahm noch einen weiteren Schluck und runzelte die Stirn. „Ich schmecke Grapefruit …“ In ihrem Bauch flatterte es, als er anerkennend nickte. „Das verfeinert den Drink, aber es ist der Rum, der die Magie ausmacht. Wie sollte es auch anders sein, Señor Zayas – immerhin ist es einer von Ihren? Der vier Jahre alte, wenn mich nicht alles täuscht?“

Er lächelte, und das Herz schlug ihr bis zum Hals.

„Bravo, Miss Quested.“ Er hob sein Glas und nickte ihr zu. „Für jemanden, der noch so jung und unerfahren ist, hast du wirklich beeindruckende Fähigkeiten.“

Er bewunderte lediglich ihren Gaumen, doch als sie zu ihm aufblickte, und beinahe in den grünen Untiefen seiner Augen versank, fühlte es sich anders an.

Es war albern, sich davon so beeindrucken zu lassen. Wäre sie seine Buchhalterin, dann hätte er ihr vermutlich ein Kompliment wegen einer Steuerersparnis gemacht. Würde ihr Herz dann genauso flattern? Doch die Atmosphäre des Clubs machte es ihr schwer, auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben und sich nicht im Licht seiner männlichen Aufmerksamkeit zu sonnen.

Es war so lange her. Fünf Jahre, um genau zu sein. Kitty vermisste es. Vermisste ihn. Jimmy.

Er hatte ihr immer das Gefühl gegeben, etwas Besonderes zu sein. Und jetzt war sie allein. Nicht vollkommen, natürlich. Da waren immer noch Lizzie und Bill und ihre Eltern. Aber dass sie Zeit allein mit einem Mann verbracht hatte, war schon so lange her, dass sie sich jetzt fühlte wie bei einer Achterbahnfahrt.

Komplimente änderten allerdings nichts an der Tatsache, dass er noch immer ihr Boss war. Und selbst wenn er es nicht wäre – sie brauchte und wollte keine Wiederholung.

Ihre Wangen brannten.

Okay, das war eine Lüge. Sie wollte ihn. Doch sich auf einen One-Night-Stand mit einem Fremden einzulassen war eine Sache. Doch diesem Verlangen ein zweites Mal nachzugeben wäre verwegen, kompliziert und dumm.

Seine Position als CEO von Dos Rios war noch nicht einmal der wichtigste Grund dafür, dass das zwischen ihnen eine einmalige Sache bleiben musste. Nein, es lag vielmehr an ihr. Kitty wollte keine Intimität, keine Verbindlichkeiten. Daran würde sich nichts ändern, ganz gleich, was die Leute auch sagten. Die Zeit heilte eben nicht alle Wunden.

„Würdest du mit mir tanzen, Kitty?“

Ihr Herz machte einen Satz. Als sie auf die Tanzfläche hinaustraten und er ihre Hand ergriff, knisterte die Luft zwischen ihnen. César war der attraktivste Mann, den sie je gesehen hatte. Alles an ihm war perfekt, angefangen bei den langen, dunklen Wimpern und diesen unglaublich fesselnden grünen Augen.

Und natürlich war er ein hervorragender Tänzer, leichtfüßig und elegant. Er folgte der Musik nicht nur, er war ein Teil davon. Er schien instinktiv zu wissen, wie er Kitty führen musste. Mühelos bewegten sie sich zwischen den anderen Paaren hindurch, und dennoch war er völlig auf sie konzentriert.

Alles woran Kitty denken konnte, war er. Sein Blick, der auf ihrem Gesicht ruhte. Seine Hand, die auf ihrer Taille lag. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich zum letzten Mal so frei, so leicht und so jung gefühlt hatte.

Die Band spielte einen langsameren Song an, und die Tanzfläche um sie herum leerte sich. Sie spürte, wie er sie mit der Hand auf ihrem Rücken näher an sich zog. Seine Körperwärme drang durch den dünnen Stoff ihres Kleides, so nah waren sie sich. Zu nah. Sie konnte seinen muskulösen Körper nur allzu deutlich spüren. Und er roch so gut … ein sauberer, männlicher Geruch, der ihr zu Kopf stieg und sie schwindelig machte.

Doch sie durfte dem Verlangen, das sie verspürte, nicht nachgeben. Schließlich wusste Kitty genau, wohin das führte. Wo es enden würde. Doch aus irgendeinem Grund schien ihr das gerade im Augenblick nicht so bedeutsam.

In ihrem Inneren tobte ein Kampf. Verlangen gegen Furcht, Ungeduld gegen Schuldgefühle – das Bedürfnis, Abstand zu halten gegen den unbändigen Drang, ihn zu küssen.

„Bist du noch da?“

„Was?“ Sie blickte zu ihm auf, erschüttert darüber, wie mühelos er sie lesen konnte.

Um sie herum zuckten weiße, gelbe und pinkfarbene Lichter, die seine Haut in goldenes Licht tauchten. Er sah aus wie ein griechischer Gott, und es kostete Kitty alle Willenskraft, nicht die Hand zu heben und sein Gesicht zu berühren.

„Du verkrampfst. Lass einfach los.“

Er blickte ihr geradewegs in die Augen, und durch den Rum und seine Nähe fühlte Kitty sich geradezu schwerelos. Sie wollte ihn. Sie wollte ihn so sehr.

„Lass einfach alles los“, wiederholte er sanft.

Ihre Hand umfasste seine Schulter fester und ihre Hüften drängten sich wie von selbst seinen entgegen. Harmonisch bewegten sich ihre Körper im Einklang. Kitty schien wie auf Wolken zu schweben, und die Welt um sie herum verblasste.

Es war schon weit nach Mitternacht. Sie waren nun schon seit Stunden zusammen, auch wenn es sich für sie wie Minuten anfühlte. Wieso hatte sie dann das Gefühl, als würde sie ihn schon ewig kennen?

Ihr Herz hämmerte, und plötzlich war sein Gesicht so nah an ihrem, dass sie seinen warmen Atem auf ihrer Wange spüren konnte. Dann sah er ihr geradewegs in die Augen, und Kitty war verloren.

Sie hätte dagegen ankämpfen können – doch das wollte sie nicht. Stattdessen legte sie eine Hand auf seine Wange, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Nicht sanft, sondern leidenschaftlich und mit einem Hunger, wie sie ihn noch nie zuvor für einen Mann verspürt hatte.

Als ihre Lippen aufeinandertrafen, zog César sie zu sich heran. Sie stöhnte leise. Ihre Brüste waren unglaublich sensibel – sie fühlte jede einzelne Kontur seines muskulösen Körpers überdeutlich. Und sie wollte mehr. Sie wollte ihn berühren, mit ihren Händen über seine nackte Haut fahren.

Sie hatte ihn vermisst.

Das Blut in ihren Adern schien zu kochen. Ihre Haut prickelte. Es war, als hätte jemand einen Schalter in ihr umgelegt, und plötzlich war alles zu viel. Die Intimität. Die Nähe. Ihr Puls pochte zu hart und zu schnell. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen.

Sie machte sich von ihm los. Als sie die Augen öffnete, die sie unbewusst geschlossen hatte, waren die Lichter um sie herum zu grell.

„Entschuldige …“

Sie fühlte sich wie benommen. Hastig wandte sie sich ab und flüchtete regelrecht von der Tanzfläche. Ihre Beine bewegten sich wie von selbst.

Autor

Nina Singh

Nina Singh lebt mit ihrem Mann, ihren Kindern und einem sehr temperamentvollen Yorkshire am Rande Bostons, Massachusetts. Nach Jahren in der Unternehmenswelt hat sie sich schließlich entschieden, dem Rat von Freunden und Familie zu folgen, und „dieses Schreiben doch mal zu probieren“. Es war die beste Entscheidung ihres Lebens. Wenn...

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