Julia Extra Band 525

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VERFÜHRT AM FEST DER LIEBE? von ANNIE O’NEIL
Weihnachten in London? Nichts für Audrey! Hier erinnert sie alles an ihre geplatzte Hochzeit. Traurig flieht sie auf eine kleine schottische Insel. Statt der erhofften Einsamkeit erwartet sie dort jedoch ein unwiderstehlich attraktiver Weihnachtsfan, der noch dazu ihr neuer Boss ist …

HEISSE KÜSSE FÜR DIE EISKÖNIGIN von LOUISE FULLER
Auf einer exklusiven Weihnachtsparty in den Schweizer Alpen trifft Louis Albemarle, der Duke of Astbury, die schöne Santa. Dass sie die Eiskönigin mimt, fordert den notorischen Playboy erst recht heraus, sie zu heißen Küssen im Schnee zu verführen. Mit ungeahnten Folgen …

EIN TRAUMPRINZ ZU WEIHNACHTEN? von THERESE BEHARRIE
Überall glitzerndes Lametta, Christbaumkugeln, Weihnachtsgirlanden: Der geheimnisvolle Prinz Charming, der Singlemom Amari in ihrem kleinen Dorfladen aushilft, verbreitet sofort Festtagsstimmung. Gegen jede Vernunft verliebt sie sich in ihn. Noch ahnt sie nicht, was er verbirgt …

DAS SCHÖNSTE GESCHENK BIST DU von CAITLIN CREWS
Timoney glaubt zu träumen, als Milliardär Crete Asgar an Heiligabend überraschend bei ihr auftaucht. Einst brach er ihr das Herz, indem er ihre leidenschaftliche Romanze beendete. Warum will er trotzdem ihre für den nächsten Tag geplante Hochzeit mit einem anderen Mann verhindern?


  • Erscheinungstag 11.10.2022
  • Bandnummer 525
  • ISBN / Artikelnummer 9783751512176
  • Seitenanzahl 450
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Annie O’Neil, Louise Fuller, Therese Beharrie, Caitlin Crews

JULIA EXTRA BAND 525

ANNIE O’NEIL

Verführt am Fest der Liebe?

Weihnachtsfan Cooper hat nach einer Enttäuschung sein Herz verschlossen. Bis ausgerechnet die Einsamkeit suchende Audrey seine Lust auf ein wahres Fest der Liebe weckt. Nur wie kann er sie erobern?

LOUISE FULLER

Küsse für die Eiskönigin

Bei einer Party im Schweizer Winterwunderland trifft die unschuldige junge Eiskunstläuferin Santa den sexy Bad Boy Louis Albemarle. Ehe sie sich versieht, hat er ihr das Herz gestohlen …

THERESE BEHARRIE

Ein Traumprinz zu Weihnachten?

Prinz Kade arbeitet nur als Weihnachtsaushilfe für Amari, um sich von seiner baldigen Krönung abzulenken – nicht, weil er sich zu ihr hingezogen fühlt! Denn er braucht eine standesgemäße Braut …

CAITLIN CREWS

Das schönste Geschenk bist du

Milliardär Crete Asgar erkennt sich selbst nicht wieder. Woher kommt die heiße Wut darüber, dass seine Ex-Geliebte Timoney am Fest der Liebe einen anderen heiraten wird? Er hat sie doch eiskalt abserviert!

1. KAPITEL

Audrey stand an der Reling der Fähre und blickte in den dichten Küstennebel. Mit ausgebreiteten Armen hätte sie vielleicht aussehen können wie die Heldin aus Titanic – abgesehen von ein paar winzigen Unterschieden.

Sie hatte keine roten Locken, sondern kurzes braunes Haar. Anstelle von eleganter Garderobe trug sie eine Wollstrumpfhose und etwa neun weitere Schichten Kleidung. Außerdem konnte sie sich keine Erste-Klasse-Kabine leisten – nicht einmal nach Schottland. Und ein Leo war ebenfalls nicht in Sicht.

Nicht, dass sie sich einen gewünscht hätte. Viel zu gut aussehend. Da wäre die Wahrscheinlichkeit zu groß, dass sie sich würde einwickeln lassen – nur, um gleich wieder fallen gelassen zu werden. An Weihnachten. Oder, besser gesagt, kurz vorher.

Sie fuhr mit dem Daumen über ihren Ringfinger – nichts. Das kam dabei heraus, wenn man den Ring nach seinem nackten Verlobten warf. Und seiner … was? Seiner Weihnachtselfe? Sankt Nikola? Sexy Adventsüberraschung?

Es war nicht genau zu erkennen gewesen; während die splitternackte Blondine weihnachtlich aussehende Klamotten an ihren kurvenreichen Körper gedrückt hatte, war Audrey zu sehr damit beschäftigt gewesen, den Umstand zu verarbeiten, dass eine andere als sie mit dem Mann schlief, den sie Heiligabend heiraten wollte.

Es hatte sich herausgestellt, dass die Zeit tatsächlich stillstehen konnte – und zwar nicht unbedingt dann, wenn man es sich wünschte. Nie würde sie Rafaels Gesichtsausdruck vergessen. Nicht eine Spur von Reue.

Dass es ihm nicht einmal leidtat, hatte ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt – er hatte sie nie wirklich geliebt. Hatte nicht einen seiner Liebesschwüre und kein einziges seiner Versprechen ernst gemeint. Sie hatte geglaubt, ihren Märchenprinzen gefunden zu haben, aber sie hatte sich geirrt …

Das einzig Gute an dem Schlamassel war ihr fester Entschluss, dass ihr so etwas nie wieder passieren würde. Ab sofort wäre sie allein für ihr Glück verantwortlich. Mit einem neuen Job. In einer neuen Umgebung. Es wäre ein ganz neues Leben. Zumindest in den kommenden fünf Wochen. Allerdings machte ihr das alles große Angst.

Sie schluckte die seit drei Tagen tapfer zurückgehaltenen Tränen hinunter, breitete die Arme aus und ließ sich von der winterlichen Meeresluft durchpusten.

„Hey, Kleine! Fall mir bloß nicht ins Wasser!“

Vor Schreck ging Audrey tatsächlich fast über Bord.

Der Mann, der, seiner Uniform nach zu urteilen, zur Crew der Fähre gehörte, packte sie und hielt sie fest, bis sie wieder sicher stand. Audrey setzte ein halbherziges dankbares Lächeln auf, bevor sie zu ihm aufsah. Über seiner Mütze trug er einen Haarreif mit bunt blinkendem Rentiergeweih.

Sie verzog das Gesicht. Merkte der Typ nicht, dass sie den Augenblick genießen wollte? Auch wenn der gerade ziemlich melodramatisch war – aber allemal besser, als in den eigenen Tränen zu versinken – was wahrscheinlich passiert wäre, wenn sie in London geblieben wäre. In dem bescheuerten London mit seiner fröhlichen Weihnachtsbeleuchtung und der Küsserei unter irgendwelchen Mistelzweigen. Wo ihr Ex jetzt war. Sie war froh, nicht dort zu sein.

„Aye, aye“, sagte sie, „verstanden.“

Der Seemann trat einen Schritt zurück. „Na dann … Aber Obacht – wenn wir anlegen, wird es ganz schön rumsen. Da solltest du dich von der Reling fernhalten.“

Als wären ein paar blaue Flecken ein Problem für sie – er sollte mal sehen, wie es in ihrem Herzen aussah! „Und wann legen wir an?“

Er sah mit zusammengekniffenen Augen in die Nebelschwaden und nickte. „In etwa zehn Minuten. Maximal zwölf.“

Das reichte vollkommen aus, um noch einmal das Kate-Winslet-Gefühl zu genießen.

Sie bedachte ihn mit einem Seitenblick, der ihn tatsächlich dazu brachte, sich von dannen zu machen.

Wieder allein schloss sie die Augen, schüttelte den Kopf und beschwor den eisigen Wind, ihre Erinnerungen mitzunehmen. Als sie die Augen wieder öffnete, sah alles aus wie vorher.

Trostlos.

Es war erst zwei Uhr nachmittags, aber hier oben in Schottland wurde es früh dunkel. Noch immer war von der Insel Bourtree, dem Ziel ihrer Reise, nichts zu sehen.

Der Name des Ortes, Bourtree Castle, hatte so vielversprechend nach Windsor Castle geklungen, doch ihre Onlinerecherche hatte ergeben, dass Bourtree Castle nichts für Adelige war. Bei dem Castle handelte es sich um eine Ruine. Und man kam nur mit einer einzigen Fähre auf die Insel. Einer Fähre, die nur dreimal wöchentlich fuhr.

Dass sie eine Vertretungsstelle gefunden hatte, die ausgerechnet im schottischen Nirgendwo lag, passte perfekt dazu, dass gerade alles schiefging. Komplett schief.

Sie ließ die Reling los.

„Du musst die Vertretung für die Krankenpflegerin sein!“

Audrey fuhr herum. Der Typ hatte offenbar nie Titanic gesehen. Außerdem … „Woher weißt du das?“

Der rothaarige Mittzwanziger zuckte mit den Schultern; sein Geweih schwankte im Wind. „Coop meinte, ich solle nach Ihnen Ausschau halten, und man sieht hier selten ein unbekanntes Gesicht. Also … Willkommen auf Bourtree.“ Er nickte in Richtung eines schwachen Leuchtens, das durch den Nebel drang.

„Wer ist Coop?“, fragte Audrey. Der Name war nicht gefallen, als man sie über ihre Entsendung informiert hatte.

„Dr. MacAskill.“

Auch das sagte ihr nichts. „Und das ist wer?“

„Der Arzt, der die Hausbesuche macht. Er war Notarzt in Glasgow, aber er ist zurück nach Bourtree gekommen, um die Hausbesuche für Doc Anstruther, der bald in Rente geht, zu übernehmen, bis ein Nachfolger gefunden ist.“

„Aha.“

Wenn sie sich recht erinnerte, war Dr. Anstruther derjenige, den sie wegen ihrer Unterkunft kontaktieren sollte. Bei ihrem momentanen Glück handelte es dabei sicher um ein undichtes Iglu.

„Die Leute wollen, dass er bleibt, aber drauf setzen tun sie nicht.“

„Wer?“

„Coop. Er kommt von der Insel, aber …“ Der junge Mann hielt inne, als sei er drauf und dran, ein Staatsgeheimnis auszuplaudern. „Auf jeden Fall laufen im Puffin Wetten darum. Also falls du einen Fünfer setzen willst …“

„Was ist der Puffin?“

„Unser Pub. Da spielt sich quasi das gesamte gesellschaftliche Leben der Insel ab. Wenn du lange genug drinsitzt, erfährst du alles, was du wissen musst, über Cooper und alle andern auf der Insel. Und hüte dich davor, irgendetwas Skandalöses zu tun, sonst weiß im Nu ganz Bourtree davon.“

Wenn dieser Coop Hausbesuche machte, würde sie wahrscheinlich ab und zu mit ihm zusammenarbeiten. Eigentlich wollte sie lieber allein arbeiten, um die Zeit zwischen den Patientenbesuchen zu nutzen, um ihre Gedanken zu sortieren. Andererseits war es vielleicht besser, Gesellschaft zu haben, als sich nonstop mit den eigenen Problemen zu beschäftigen.

„Und warum sollte er nicht bleiben? Bourtree ist doch ganz nett, oder?“

Bitte, bitte, sag Ja.

„Doch, es ist schon ganz nett. Aber Coop war fünfzehn Jahre weg. Also ich für meinen Teil glaube, dass er bleibt. Es ist ja nicht mehr wie damals, als …“ Wieder verstummte er mit schuldbewusster Miene.

„Verstehe“, sagte sie, obwohl sie nichts kapierte. Egal – in fünf Wochen wäre sie ohnehin wieder woanders. Es spielte keine Rolle für sie, ob dieser Coop morgen verschwand oder für immer auf der Insel blieb.

Auf alle Fälle fiel es ihr immer schwerer, sich weiter mit dem Fährmann zu unterhalten. Also setzte sie ein höfliches Lächeln auf und sagte: „Frohe Weihnachten, äh …“

„Scottie“, antwortete der Mann und tippte an seine Mütze. Dann wandte er sich zum Gehen und fing an, „Stille Nacht“ zu pfeifen.

Bäh.

Weihnachten.

Andererseits … dass sie in drei Wochen nicht heiratete, hieß nicht, dass alles schlimm war. Sie hatte eine Vertretungsstelle als ambulante Pflegerin bekommen, die ihr ermöglichte, endlich wieder ihrer wahren Berufung nachzugehen. Sie würde so viel damit zu tun haben, sich wieder in die Tätigkeit einzufinden, dass sie gar nicht dazu kommen würde, sich Gedanken über die Zukunft zu machen. Und sie wäre mehrere Hundert Kilometer von der Hochzeit entfernt, die sie nun nicht mehr halten würde.

Wie dumm von ihr, dass sie darauf bestanden hatte, die Feier selbst zu bezahlen! Sie hatte damit beweisen wollen, dass sie Rafael nicht seines Geldes wegen heiratete.

Dass sie obendrein eine Hochzeitsversicherung abgeschlossen hatte, nützte ihr nichts – denn natürlich war der Fall, dass die Hochzeit abgesagt wurde, weil sich der Verlobte als Scheusal erwies, nicht abgesichert.

Komm schon, Audrey. Er spielt keine Rolle mehr. Es ist dein Leben. Dein Schicksal.

Während sie ihr Hirn nach Positivem durchforstete, spürte sie den kuscheligen Kunstpelz ihres dicken weißen Daunenmantels am Hals. Genau! Ihr war warm. Dankbar klopfte sie auf den Mantel. Sie hatte sich für das arktistaugliche Teil ruiniert, aber hier oben im Norden ging es nicht ohne.

Außerdem war ein kleiner Frustkauf dringend nötig gewesen, nachdem sie dank der verlogenen Ratte von einem Ex ein komplett neues Leben hatte anfangen müssen.

Ihr Telefon summte in ihrer Jackentasche. Sie zog es hervor. Die Nachricht kam von einer unbekannten Nummer.

Ich hoffe, Sie können direkt loslegen. Es gibt jede Menge zu tun. Beste Grüße! Dr. Cooper MacAskill.

Den Worten folgte eine Reihe von Weihnachts-Emojis.

Ach, du grüne Neune. Es sah fast aus, als würde sie mit dieser Vertretungsstelle vom Regen in die Traufe kommen.

Aber immerhin gab es etwas zu tun. Und auch wenn sie gerade keine Stimmungskanone war, konnte sie den Menschen immerhin bei der Genesung helfen. Die Patienten erinnerten sie immer daran, welch ein hohes Gut das Leben und die Gesundheit waren.

Diese Tatsache hatte sie auf besonders schmerzhafte Weise erfahren müssen. Ihre Mutter war gestorben, als Audrey noch klein gewesen war, und ihr Vater, der sie großgezogen hatte, war vor zwei Jahren an einem Herzinfarkt gestorben.

Immerhin war es beim Angeln passiert – also hatte er im Moment seines Todes etwas getan, was er liebte. Dieser Umstand hatte sie gelehrt, jeden Augenblick ihres Lebens voll auszukosten – jeden guten, um genau zu sein.

Sie sah in den Nebel hinaus. Nichts als dicke Suppe. Eben hatte sie doch noch ein Licht gesehen. Aber jetzt? Doch! Aber … war das etwa ein Weihnachtsbaum?

Sie wollte keine Weihnachtsbäume mehr sehen. Nicht nach dem, was sie unter ihrem eigenen Weihnachtsbaum gesehen hatte. Ihrem ehemaligen Weihnachtsbaum. Dem Weihnachtsbaum, den sie Rafaels hohen Ansprüchen entsprechend geschmückt hatte. Ansprüche, die sie sich selbst zu eigen hatte machen wollen, bis sie gemerkt hatte, dass er mit zweierlei Maß maß.

Wieder beschlich sie diese ungute Ahnung. Hatte sie nicht gemerkt, dass es mit der „Liebe“ des Chirurgen nicht weit her gewesen war, weil sie sich so sehr von dem schicken Lifestyle ihres Verloben hatte blenden lassen?

Egal.

Es war ja vorbei. Auf Bourtree Castle würde sie sich neu erfinden. Und eine stärkere, weniger verwundbare Audrey werden. Die sich von Männern nichts vormachen ließ.

Sie sah an ihrem weißen Mantel hinunter und grinste. Die Eiskönigin von Bourtree Castle. Perfekt. Sie würde die Vergangenheit hinter sich lassen und ein neues Leben anfangen.

„Schickes Outfit, Coop!“

„Black-Friday-Schnäppchen“, rief er dem Hafenarbeiter zu, der ihm lachend winkte, bevor er den Kai hinunterging, an dem die Fähre jede Minute anlegen sollte.

Das musste er den Insulanern lassen – es war nun eine Woche her, dass seine Großmutter beerdigt worden war, und sie hatten noch nichts getan, was sein schlechtes Gewissen verschlimmert hätte. Es hatte ein paar Nachfragen wegen eines Leichenschmauses gegeben, aber darum würde er sich beizeiten kümmern. Immerhin war er endlich da.

Vielleicht wollten sie ihn dazu bringen, es wiedergutzumachen, indem er Dr. Anstruthers Stelle übernahm. Vielleicht wollten sie ihn aber einfach nur noch eine Weile schmoren lassen – das war die wahrscheinliche Variante.

Egal. Darüber konnte er sich jetzt nicht länger Gedanken machen. Er musste eine Pflegekraft abholen, Hausbesuche machen und gute Stimmung verbreiten. Er würde jedem Patienten und jeder Patientin ein Lächeln entlocken, und wenn es ihn umbrachte.

Er trat mit den Füßen auf der Stelle und rieb sich die behandschuhten Hände. Die Kälte auf der Insel war definitiv eine andere als die auf dem Festland. Er war hier aufgewachsen und hätte eigentlich immun dagegen sein müssen, doch nach fünfzehn Jahren weit weg von Bourtree spürte er den eisigen Wind bis auf die Knochen, obwohl er sich so dick eingepackt hatte.

„Es gibt kein schlechtes Wetter, Coop, es gibt nur ungeeignete Kleidung“, hörte er seine Großmutter sagen. Sie hatte für alles und jeden eine Weisheit parat gehabt – natürlich auch für ihn. „Cooper, du bist so sehr mit der Zukunft beschäftigt, dass du nichts vom Hier und Jetzt mitbekommst. Du musst den Augenblick genießen, Jungchen. Ansonsten hast du am Ende keine schönen Erinnerungen und niemanden, mit dem du sie teilen könntest.“

Tja, und nun stand er hier. Zu gern hätte er sich an irgendetwas Schönes in Verbindung mit Bourtree erinnert – zusammen mit seiner Großmutter.

Er sah die lange Kopfsteinpflasterstraße hinunter, die zu dem von der Burgruine und dem Weihnachtsbaum überragten Platz führte. Der Baum musste über zwanzig Meter hoch sein; er erinnerte Cooper daran, dass das Weihnachtsgefühl etwas mit Zuhause zu tun hatte, und ob er es wollte oder nicht, Bourtree war sein Zuhause. Zumindest in den nächsten Wochen.

Ein massiver Kerl – muskulös, nicht dick – in Rugbyshorts und kurzärmeligem Hemd blieb neben ihm und den anderen, die auf die Fähre aus Glasgow warteten, stehen.

Gute Güte! Shorts und T-Shirt – bei dem Wetter? Der Mann war entweder verrückt oder durch und durch Insulaner. Wie viele andere auf dieser Insel hatte er rotes Haar, Sommersprossen und blaue Augen.

„Coop.“ Der Kerl nickte ihm zu und lächelte.

„Alles gut bei dir?“, antwortete Coop, der keine Ahnung hatte, wer der Mann war.

Er kam ihm bekannt vor. Ein ehemaliger Klassenkamerad vielleicht? Oder hatte er ihn auf der Titelseite der Lokalzeitung gesehen, in Siegerpose beim Rugby …?

Die Nase sah aus, als wäre sie mehrere Male gebrochen gewesen. Das Ringerohr schien recht neu zu sein, genau wie die Narbe über der Augenbraue. Die hatte er sich sicher auf dem Spielfeld geholt.

Diese Art von Toughness lag Cooper fern. Nicht, dass er ein Sportmuffel wäre. Er ging ins Fitnessstudio und lief regelmäßig. Machte Hanteltraining. Aber sich mit einem Haufen Männer zu rangeln, die mit Baumstämmen werfen konnten, als wären es Zahnstocher? Nein, danke. Die komplizierten Brüche behandeln, die sie dabei davontrugen? Schon lieber.

„Du bist in Glasgow ein bisschen verweichlicht, was?“, fragte der Mann mit einem prüfenden Seitenblick.

„Kein Stück“, erwiderte Coop. „Das Leben auf dem Festland ist härter als ein Trainingslager in der Arktis.“

Wer zum Kuckuck war der Typ? Coop kniff die Augen zusammen und dachte sich die Fältchen um die Augen des Mannes weg. Stellte ihn sich ein wenig schmaler vor. Das war es! Der Kerl war früher schmächtig gewesen. „Robbie? Robbie Stuart?“

„Jepp. Hab ich’s doch gewusst, dass du mich erkennen würdest. Ich habe mich ganz schön verändert, was?“ Robbie grinste, schlug sich mit der Faust auf die Brust und Cooper freundschaftlich mit der anderen Hand auf den Rücken. „Schön, dass du wieder hier bist, auch wenn … na ja, wir vermissen sie alle sehr. Deine Oma. Nie bin ich einer Frau mit mehr positiver Energie begegnet. Oder mit mehr Gemeinsinn. Ohne sie wird das Krippenspiel nie mehr sein wie früher. Sie war schon eine echte Insulanerin, unsere Gertie.“

„Ja, das stimmt …“ Zu gern hätte Coop die Lücke gefüllt, die Gertie hinterlassen hatte, aber er hatte nicht vergessen, dass es alles andere als ein Zuckerschlecken gewesen war, auf Bourtree aufzuwachsen. Es war wohl an der Zeit, das Thema zu wechseln. „Was ist das denn eigentlich für ein Aufzug?“, fragte er und deutete auf Robbies Shorts und T-Shirt.

„Das ist sozusagen meine Arbeitskleidung. Ich unterrichte Sport am College und habe gerade einen Anruf von meinem Bruder bekommen, der mich gebeten hat, unsere kleine Schwester abzuholen, weil er Dad im Laden hilft.“

Geschichten von Familienmitgliedern, die einander halfen, sollten eigentlich herzerwärmend sein, doch bei Coop lösten sie genau das Gegenteil aus.

„Erinnerst du dich an Rachel?“, fragte Robbie. „Sie lebt jetzt in Glasgow. Arbeitet als Bibliothekarin an einer Grundschule, kommt aber jeden Monat zweimal nach Hause. Manchmal ist es schwierig mit dem Dienstplan und ihrem Freund und so, aber sie kriegt es immer irgendwie gedeichselt.“

Cooper konnte sich nicht an eine Rachel erinnern. Er selbst war im Gegensatz zu Robbies Schwester ein seltener Gast auf der Fähre gewesen. Seine Zeit auf Bourtree hatte er größtenteils damit verbracht zu überlegen, wie er von der Insel herunterkommen würde, nicht, wie er wieder hinaufkäme. Ihr fernzubleiben war die beste Methode gewesen, dem Gerede über seine Eltern aus dem Weg zu gehen. Die beiden waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen; nicht weiter verwunderlich, wenn man bedachte, wie wenig sie sich darum geschert hatten, dass man nicht betrunken fahren durfte. Jedes Mal, wenn er einen Patienten mit Leberzirrhose betreute, dachte er an seine Eltern und daran, dass sie gut weggekommen waren. Ihnen hätte ein schmerzhafter Tod geblüht.

„Apropos Aufzug“, sagte Robbie und zog an einem Zipfel von Coops Jacke. „Machst du eine Umschulung zum Weihnachtsmann?“

„Nee. Ich hole die neue Pflegekraft ab.“

„Aha. Wirst du die Praxis vom alten Doc übernehmen?“

„Ich helfe nur aus.“

Er musste ausloten, ob die Arbeit hier das schlechte Gewissen lindern würde, das ihn plagte, weil er nicht für seine Großmutter da gewesen war. Seine Verkleidung diente als eine Art Schutz sowohl für ihn als auch für die Patienten, die vielleicht nicht so scharf darauf waren, den bösen Buben der Insel als Arzt im Haus zu haben.

Er hätte Dr. Anstruther schon am Tag seiner Ankunft sagen sollen, dass er die Praxis übernehmen würde. Hätte sofort eine Entscheidung treffen sollen. Er wusste, dass sie im Pub darauf wetteten, ob er bleiben würde oder nicht.

Ihm war klar, dass mehr dahintersteckte. Seine Entscheidung würde bestimmen, was der Name MacAskill bei den Leuten auslöste. War er ein guter Inselbewohner, wie seine Oma es gewesen war? Oder ein Nichtsnutz wie sein Vater? Seine Schwester hatte sich vor Jahren dafür entschieden, nach Neuseeland zu ziehen. Und er hatte sich rar gemacht.

Er wusste, dass es Leute gab, die glaubten, dass dank seiner Großmutter, die ihn und seine Schwester mit strenger, aber gerechter Hand großgezogen hatte, doch noch etwas aus ihm geworden war. Andere waren weniger optimistisch – nachvollziehbar, wenn man bedachte, dass hier stets all das Negative in ihm wieder hochkam.

Wie auch immer. Er hatte gerade auf schmerzhafte Weise erfahren müssen, was passierte, wenn man seine Versprechen nicht einhielt. Darum musste er sich absolut sicher sein, bevor er eine Zusage machte. Aber vorher musste er sehen, ob er die Leute davon überzeugen konnte, dass er ein „guter“ MacAskill war.

„Schön, dich für ein Weilchen hierzuhaben. Und erst recht als Weihnachtsmann.“ Wieder klopfte ihm Robbie auf den Rücken. „Deine Oma wäre begeistert gewesen.“

Tatsächlich hätte Granny das Outfit geliebt. Dicke schwarze Stiefel. Rote Hosen. Eine rote Jacke, die groß genug war, um über über das Thermoshirt, den Fleecepulli und die Weste zu passen. Und als i-Tüpfelchen eine rote Zipfelmütze.

Er sah auf die Uhr. Die Fähre hatte eine halbe Stunde Verspätung.

„Dann ist das also die neue Dienstkleidung.“

„Für Hausbesuche“, antworte Cooper ernst.

„Aha … Na, ich denke, die Leute werden deine Mühe zu schätzen wissen.“

„Das hoffe ich.“

Und wie er das hoffte. Er konnte nichts daran ändern, dass seine Großmutter allein gestorben war. Aber er war fest entschlossen, alles zu geben, um zu verhindern, dass hier irgendwer in der Weihnachtszeit traurig oder einsam wäre. Wenn nötig, würde er jedem und jeder Einzelnen von ihnen einen Tannenbaum schlagen.

Er fing an, auf der Stelle zu laufen.

„Was wird das, Coop?“, fragte Robbie. „Man können meinen, du willst dich ein bisschen für deine Krankenschwester aufwärmen. Sieht sie gut aus?“

„Keine Ahnung.“

Eine Romanze war das Letzte, was ihm gerade in den Sinn käme. Die letzte seiner sporadischen Beziehungen hatte vor ein paar Monaten das Zeitliche gesegnet. Seitdem hatte er keinen Gedanken mehr daran verschwendet – er hatte einfach zu viel zu tun gehabt. Er hatte es nicht einmal geschafft, am Ende ihres Lebens bei seiner Großmutter zu sein, weil er ständig zu viel zu tun gehabt hatte. Nun hatte er ihr an ihrem Grab schwören müssen, was er ihr hätte vor Jahren versprechen sollen – dass er zu einem Menschen werden würde, auf den sie stolz sein könnte.

„Ich hoffe, sie ist fähig. Wir müssen direkt ein paar Hausbesuche machen.“ Er nickte in Richtung Parkplatz, wo der Jeep stand, den ihm der Inselarzt zur Verfügung gestellt hatte.

„Unglaublich – Cooper MacAskill macht Hausbesuche auf Bourtree.“ Robbie lachte, als wäre die Vorstellung völlig abwegig. „Im Puffin hat jemand erzählt, dass du ein paar Tage bei Doc aushilfst, aber ich habe gesagt, dass ich das erst glaube, wenn ich es sehe! Ich hätte gedacht, jemand, der so eine große Nummer in Glasgow ist, wäre sich zu gut dafür.“

„Anstruther hat in der Praxis alle Hände voll zu tun“, antwortete Coop, ohne eine Miene zu verziehen. Es machte ihn fertig, seine Vergangenheit so unter die Nase gerieben zu bekommen. „Also kümmere ich mich um die Hausbesuche und nehme die Pflegerin mit, bis sie sich hier zurechtfindet.“

Wenn er sich dafür entschied, die Praxis zu übernehmen, würde er sich an diese Art von Unterhaltungen gewöhnen müssen. Nicht, dass er als ausgebildeter Notarzt scharf darauf war, Kopfschmerztabletten zu verteilen und verstauchte Knöchel zu bandagieren. Aber er war es Bourtree schuldig. Und vor allem seiner Großmutter. Auch wenn es nichts mehr daran ändern konnte, dass er nicht bei ihr gewesen war, als sie gestorben war.

Es ist nur eine kleine Erkältung.

Er hätte es ahnen müssen. Egal, wie fit seine Oma gewesen war – alte Leute waren anfällig, sich bei einem Atemwegsinfekt eine Lungenentzündung zuzuziehen. Gerade dann, wenn sie mitten im Winter trotz ihrer Erkrankung mit dem Rad auf der nebelverhangenen Insel herumgurkten, um Freundinnen zu besuchen.

Er hätte da sein sollen. Sie herumfahren. Ihr beim ersten Schniefen Hot Toddy, heißen Whisky mit Zitrone, und Tee bringen müssen. Dann wäre er da gewesen, um ihr eine Sauerstoffmaske aufzusetzen, als die Atemnot eingesetzt hatte.

„Das dauert aber“, sagte Robbie und nickte in Richtung der Fähre, die sich im Schneckentempo dem Anleger näherte.

„Inseltempo“, hatte seine Großmutter immer zu dieser Langsamkeit gesagt, die den Notarzt in ihm wahnsinnig machte.

Langsam, Coop. Wegen zehn Minuten geht doch die Welt nicht unter.

Das war es, was sie nicht verstanden hatte. Er tickte einfach anders. Er war darauf gepolt, sofort zu reagieren. Auf Eltern, deren Laune sich schlagartig ändern konnte. Angesichts eines Sohnes, der immer aufmüpfiger wurde. Der es seiner Großmutter rechtmachen wollte, sich und seinen Ruf verteidigen musste …

Wie auch immer. Mit seiner Fähigkeit, umgehend zu reagieren, war er perfekt als Notarzt geeignet. Eine scheinbar harmlose Sache konnte binnen Minuten, ja Sekunden zu einer lebensbedrohlichen Angelegenheit werden. Eine verletzte Arterie. Eine infizierte Wunde.

Die Erkältung einer Großmutter, die zu einer Lungenentzündung wurde, während ihr Enkel wieder einmal alle möglichen Gründe dafür hatte, nicht nach Hause zu kommen, um nach der Frau zu schauen, die ihn großgezogen hatte.

„Und, wann geht’s zurück nach Glasgow?“, fragte Robby, als die Fähre endlich anlegte und die Passagiere sich bereitmachten, an Land zu gehen.

„Gute Frage“, antwortete Cooper und hielt Ausschau nach Ankömmlingen, die nicht schnurstracks auf den Parkplatz oder auf die Wartenden zusteuerten. „Ich weiß es noch nicht.“

„Was?“ Robbie boxte ihn in den Arm. „Ich war sicher, dass du dich sofort wieder vom Acker machen würdest, sobald alles wegen Gertie geregelt ist. Ich habe sogar darauf gewettet.“

Cooper schluckte. Früher hätte er selbst darauf gesetzt. Aber nicht nach dem, was passiert war.

„Coop! MacAskill!“

Er schaute auf; einer der Fährleute zeigte auf eine Frau im knöchellangen schneeweißen Mantel. Cooper stockte der Atem. Aus irgendeinem Grund hatte er eine robuste grauhaarige Frau erwartet. Wahrscheinlich hatte er dabei an Noreen gedacht, die Frau, die vertreten werden musste. Aber das hier …

Sie sah Coop mit ihren schokoladenbraunen Mandelaugen direkt an. Die Sommersprossen auf der Nase ließen sie jünger aussehen, als sie mutmaßlich war. Sie musste wohl in seinem Alter sein. Fünf Jahre jünger vielleicht. Also um die dreißig?

Ihr kurzes Haar war etwas heller als ihre Augen; der Pixie Cut gab ihr etwas von einer überkorrekten Waldfee. Mit ihrem Aussehen würde sie es nicht zum Model bringen, aber sie hatte etwas, das ihn sofort bezauberte.

In dem Daunenmantel wirkte sie etwas aufgedonnert, doch als sie ihren Kragen richtete, bemerkte Coop ihre kurz geschnittenen, sauberen Fingernägel. Sie war eher groß. Aber nicht zu groß, um sie hochzuheben und sie über die Schwelle zu tragen, wenn … Hm. Über so etwas dachte er besser nicht nach.

Sie verzog den Mund zu einem vagen Lächeln; ihre Lippen waren knallrot, wahrscheinlich von der Kälte. Seine eigenen sicher auch.

„Ho, ho, ho“, sagte er. „Willkommen in Bourtree Castle.“

Sie kräuselte die Nase. „Wollten wir nicht direkt loslegen?“, fragte sie und musterte ihn mit skeptischem Blick. „Das hier ziehen Sie aber vorher aus, oder?“

Ihm wurde heiß. Auf keinen Fall würde er das Kostüm ausziehen. Das machte er für Granny. Und einer Pflegekraft sollte eigentlich klar sein, dass es bei Hausbesuchen um mehr ging als ums Fiebermessen und Herzabhören.

„Nein. Genau genommen …“ Er hielt die Plastiktüte hoch, die er in seiner Linken trug, und machte mit der Rechten eine Bewegung, als würde er ihr einen Hauptgewinn präsentieren. „Ich möchte, dass Sie das hier überziehen, bevor wir uns auf den Weg machen.“

„Auf keinen Fall“, antwortete Audrey mit frostiger Miene.

Vielleicht hätte er an ihrem Mantel erkennen müssen, dass sie eher eine Schneekönigin war als eine Weihnachtselfe. Trotzdem hielt er ihr die Tüte noch einmal entgegen. „Sicher nicht? Es ist gut gefüttert.“

2. KAPITEL

„Nein“, wiederholte Audrey. „Auf keinen Fall.“

So hatte sie sich das nicht vorgestellt, als sie diese Stelle angenommen hatte, um ihrem Liebeskummer und Weihnachten zu entkommen.

Ihre Anforderungen waren bescheiden gewesen.

So weit wie möglich von London entfernt – erfüllt.

So wenig Weihnachtsdeko wie möglich – Fehlschlag.

Ein mürrischer alter Arzt – ebenfalls Fehlschlag. Aber so was von.

Cooper MacAskill sah umwerfend gut aus mit seinem dunklen Haar, den strahlend blauen Augen und den vollen Lippen. Und dann diese Verkleidung! Warum musste ausgerechnet jetzt dieser sexy Weihnachtsmann vor ihr stehen und sie bitten, seine Weihnachtselfe zu sein? Wäre es nicht so bitter gewesen, hätte sie darüber gelacht.

Wieso hatte ihr das Schicksal nach alldem ausgerechnet diesen weihnachtsbegeisterten Arzt auftischen müssen, dessen Akzent ihr jetzt schon wohlige Schauer über den Rücken jagte? Das ging ja gar nicht!

„Ich werde das auf keinen Fall anziehen. Eher reise ich direkt wieder ab.“ Um wohin zu fahren? Sie hatte kein Zuhause mehr. Außerdem hatte sie einen Vertrag unterschrieben.

„Wo liegt das Problem?“ MacAskill sah ernsthaft überrascht aus. Er musterte sie von Kopf bis Fuß, was ihr den nächsten Schauer über den Rücken jagte. „Ich denke, es dürfte Ihnen passen.“

Sie atmete geräuschvoll aus. „Ich will es nicht, ganz einfach, Mr. Weihnachtsmann.“

„Für Sie immer noch Dr. Weihnachtsmann.“

Zwar lächelte er, doch es war ihm anzumerken, dass er keinen Widerspruch dulden würde, weil ihm diese Sache mit dem Kostüm offenbar sehr wichtig war.

Warum konnte er nicht irgendeine andere Macke haben?

Zum Beispiel erpicht darauf sein, die Körpertemperatur von Patienten erraten zu können oder den bestsortierten Arztkoffer zu besitzen. Aber nein, sie musste an einen sexy Arzt geraten, der Hausbesuche im Weihnachtsmannkostüm durchführte.

Seltsam für jemanden, bei dem die Leute darum wetteten, ob er die Insel verlassen würde. Dieser weihnachtliche Enthusiasmus passte eher zu jemandem, der für immer bleiben wollte.

Cooper zog das Kostüm hervor; die wie Zuckerstangen geringelten Ärmel flatterten in der Brise.

Zu gern wäre sie schreiend weggerannt. Sie war ganz sicher keine Spaßbremse. Früher hatte sie Weihnachten mindestens ebenso geliebt, wie dieser Kerl es offenbar liebte. Aber dieses Jahr? Nein. Nicht nach diesem Adventsdesaster.

Doch als sie an ihre Patienten dachte, begann ihr Widerstand zu bröckeln. Immerhin hatte sie diesen Beruf ergriffen, um für die Menschen da zu sein. „Okay, ich werde die Mütze aufsetzen. Aber mehr nicht“, antwortete sie.

Cooper schob seine eigene Mütze und den Gürtel zurecht, unter dem sich wohl ein Kissen befand – das konnte nicht sein Bauch sein.

Als sich ihre Blicke wieder trafen, kam es Audrey vor, als würde er ihr zuzwinkern. Nicht neckisch, sondern eher komplizenhaft. Als wolle er ihr damit zu verstehen geben, dass er begriffen hatte, dass mehr hinter ihrem Protest stand als die bloße Weigerung, etwas Albernes anzuziehen. Es war ein sonderbar intimer Moment. Als würde sie als diejenige, die sie wirklich war, ernst- und wahrgenommen werden. Dadurch fühlte sie sich verwundbar und geborgen zugleich.

„Okay. Ein paar Infos vorab“, sagte er, als hätte es diesen eigenartig trauten Moment nie gegeben. „Ich werde Sie etwa eine Woche lang bei den Hausbesuchen begleiten, um Sie den Leuten vorzustellen und Ihnen zu zeigen, wie die Dinge hier laufen.“

„Sicher so wie anderswo auch“, erwiderte Audrey verdrossen. Sie hatte gehofft, ein bisschen Zeit für sich zu haben. Um sich im Auto die Augen zu traurigen Liebesliedern auszuweinen. Oder aufbauende Songs wie „I Will Survive“ zu hören. Dieser viel zu attraktive Arzt ging ihr minütlich mehr auf den Zeiger. Sicher war sein Lieblingssender einer, der Weihnachtslieder in Dauerschleife dudelte.

„Den Inselbewohnern fallen Veränderungen nicht so leicht“, erklärte er.

„Mir auch nicht – aber manchmal muss man sie eben hinnehmen.“ Unwillkürlich fuhr sie mit dem Daumen über ihren nackten Ringfinger. Als sie sah, dass Cooper es bemerkt hatte, versuchte sie, ihn abzulenken. „Laufen Sie das ganze Jahr lang so rum?“

Er lächelte und biss sich auf die Unterlippe, als überdächte er seine Antwort. „Ich bin nicht das ganze Jahr über hier. Und ich trage so was zum ersten Mal“, antwortete er schließlich mit seiner beunruhigend angenehmen Stimme.

„Und warum, wenn man fragen darf?“

Seine Augen glänzten kurz auf, dann verdüsterte sich sein Blick. Noch so ein gemeinsamer Moment, den sie nicht ganz deuten konnte. Sie hatte das Gefühl, als wolle er ihr sagen, dass auch er sein Päckchen zu tragen hatte.

Vielleicht brauchte er Abstand, genau wie sie.

„So“, sagte er, ohne ihre Frage zu beantworten, und griff nach einer ihrer zwei Taschen, die sie vor sich auf den Boden abgestellt hatte. „Die nehme ich.“

Er stutzte und sah die riesige Tasche an, die so gut wie alles enthielt, was Audrey besaß. „Man könnte ja fast meinen, dass da Ihr gesamter Hausstand drin ist.“

Ihre Blicke trafen sich. Na bravo. Er wusste Bescheid. Garantiert hatte er kapiert, dass sie versuchte, ihrem Kummer zu entkommen. Ein sonderbares Gefühl machte sich in ihr breit. Dieser Vertretungsjob würde entweder viel härter werden, als sie erwartet hatte, oder – durch das, was da offenbar zwischen ihnen passierte – heilsam.

Sie zupfte ihren Pelzkragen zurecht und beobachtete Cooper verstohlen dabei, wie er sein Telefon auf neue Nachrichten checkte.

Nicht, dass sie ihn jetzt irgendwie gut fand oder so. Aber sie musste zugeben, dass er schon recht ansehnlich war. Wenn man auf große, blauäugige, schwarzhaarige, als Weihnachtsmann verkleidete Männer stand. Was bei ihr nicht der Fall war.

Außerdem hatte sie die schmerzliche Erfahrung machen müssen, dass etwas, das den Anschein hatte, zu gut zu sein, um wahr zu sein, in der Regel tatsächlich zu gut war, um wahr zu sein.

Warum nur mussten sie dieses Weihnachtszeug anziehen? Konnte man die Leute nicht auch auf altmodische Weise glücklich machen? Mit Freundlichkeit, Gründlichkeit und einer Tasse Tee?

Nicht, dass sie in letzter Zeit viele Hausbesuche gemacht hätte. Rafael hatte sie überredet, in einem Elitekrankenhaus für Kinder anzufangen. Er hatte gesagt, das gebe ihnen als Paar ein „besseres Profil“. Idiotisch, dass sie auf ihn gehört hatte! Die Tätigkeit bei einem Pflegedienst mochte zwar weniger hermachen, war aber genauso wichtig.

„He, Coop!“ Ein Riese mit neonpinker Tasche näherte sich ihnen und schlug Cooper auf den Rücken. „Wen haben wir denn hier?“

Cooper stellte sich hin, als wollte er den Rugbyspieler auf Distanz zu ihr halten. Wenn man bedachte, dass sie sich eben erst kennengelernt hatten, war das eine sonderbar beschützende Geste.

„Robbie Stuart“, sagte Cooper und wandte sich ihr zu, „darf ich dir unsere Vertretungspflegekraft vorstellen, Audrey …“

„Walsh“, ergänzte sie. In dreiundzwanzig Tagen und fünf Stunden hätte sie Audrey de Leon werden sollen, aber das hatte sich ja erledigt. „Einfach nur Audrey Walsh.“

Cooper kniff die Augen zusammen, als würde er jedes Fitzelchen an Informationen über sie abspeichern. Hasst Elfenkostüme. Läuft vor etwas weg. Findet ihren Namen öde.

Sie setzte ein Lächeln auf. „Sollen wir dann mal loslegen?“

„Gute Idee. Robbie …“ Cooper nickte dem Sportler zu.

„Komm heute Abend in den Puffin“, rief Robbie ihnen hinterher. „Ein paar von uns gehen nach den Proben fürs Krippenspiel noch auf einen Drink hin. Die Leute würden sich freuen, dich zu sehen, um dich zu überreden, mitzuhelfen, jetzt, wo … Es tut mir so leid, Coop.“

Audrey sah Cooper fragend an.

„Das Krippenspiel ist den Insulanern äußerst wichtig. Gehen Sie lieber nicht hin, wenn Sie mit Weihnachten nichts am Hut haben. Und was den ‚Drink‘ betrifft: Ganz Bourtree wird im Puffin sein, erst recht, wenn sich rumgesprochen hat, dass Sie jetzt da sind. Neuankömmlinge sind hier immer eine Sensation.“

„Ah. Da ist es auch kein Wunder, dass die Leute darum wetten, ob Sie bleiben oder nicht.“ Kaum, dass sie es gesagt hatte, wusste sie, dass es ein Fehler gewesen war. Sein Blick verdüsterte sich, und sein Lächeln verschwand schlagartig.

Wie hatte sie nur so ins Fettnäpfchen treten können, wo sie gerade angefangen hatten, sich ein bisschen besser zu verstehen? „Es tut mir leid. Ich … es geht mich nichts an.“

„Schon gut“, antwortete Cooper und steuerte auf den alten Jeep zu. „Sie haben schon recht – hier auf der Insel ist jeder zum Abschuss freigegeben.“

Er öffnete den Wagen, schleuderte ihre schwere Tasche auf eine Trage und legte die kleinere, die sie getragen hatte, dazu. Dann warf er die Tür zu und sah Audrey an; seine Augen glänzten. Vielleicht war es irgendein alter Groll, vielleicht lag es nur an den Lichtern des Weihnachtsbaums, die sich in ihnen spiegelten.

Schwer zu sagen. Möglicherweise war es genau wie bei ihr, und sein Leben war nicht so gelaufen, wie er es sich erträumt hatte.

„Manche Leute versuchen, den Problemen der Vergangenheit aus dem Weg zu gehen. Andere gehen sie direkt an. Ich gehöre zu der zweiten Sorte“, erklärte er. „Und nun lassen Sie uns ein paar Hausbesuche machen.“

„Tut mir leid, aber ich muss die Kinder von der Schule abholen und ihnen Abendessen machen“, sagte Mhairi, deren Name Wah-ri ausgesprochen wurde, wie Cooper Audrey eben vor der Tür erklärt hatte. „Ich komme wieder, wenn Deacon von der Arbeit zurück ist, muss dann aber noch einmal los zur Probe für das Krippenspiel“

„Wen spielen Sie denn?“, fragte Audrey.

Die junge Frau lächelte. „Ich bin Frigga. Es ist super.“

Audrey sah Cooper an. Frigga? Was hatte die nordische Göttin in einem Krippenspiel zu suchen?

Er gab ihr mit einem angedeuteten Kopfschütteln zu verstehen, dass er es später erklären würde, wandte sich Mhairi zu und sagte ihr, dass sie nach ihrem Vater sehen und anrufen würden, um sie auf dem Laufenden zu halten.

Mhairi sah sich besorgt um und fuhr sich durch die üppigen Locken. „Es fällt mir schwer, dich ernst zu nehmen, Coop.“

„Warum? Unter diesen Sachen bin ich noch ganz der Alte.“ Er nahm die Weihnachtsmannmütze ab, und sein dichtes, welliges, schulterlanges Haar kam zum Vorschein. Das machte ihn leider noch ein bisschen attraktiver, was Audrey umso mehr verunsicherte. Mhairi ebenfalls, dem zweifelnden Laut nach zu urteilen, den sie von sich gab.

„Ja, schon, aber … na ja, wir haben uns halt an Dr. Anstruther und Noreen gewöhnt. Sie kennen sich mit allem aus. Da mache ich mir weniger Sorgen, wenn ich wegmuss.“

Cooper nickte. Diese Haltung war ihm in der vergangenen Woche schon mehrfach begegnet. Zwar wussten alle, dass er in Glasgow als Notarzt tätig war, aber sie hatten ihn nie in OP-Kleidung gesehen. Hatten nie gesehen, wie er eine Reanimation durchführte. Oder einen Luftröhrenschnitt. Stattdessen hatten sie gesehen, wie er sich auf dem Schulhof geprügelt hatte. Ohne Führerschein Motorrad gefahren war. Geschwänzt hatte. Darum musste er sich ihr Vertrauen mühselig erarbeiten. Das konnte Jahre dauern, und er wusste nicht, ob er die Geduld hätte, das durchzustehen. Aber noch hatte er sie.

„Ich kann verstehen, dass du dir Sorgen machst, aber wir werden uns gut um deinen Vater kümmern. Und wenn wir ihm mit irgendetwas nicht helfen können, bitten wir Dr. Anstruther, nach der Sprechstunde noch einmal vorbeizukommen, ja?“

Mhairi legte den Autoschlüssel beiseite und griff nach ihrem Mantel. „Ich würde gern noch bleiben, aber ich muss wirklich los.“ Sie seufzte. „Glenn ist ganz anders als sonst. Dass er nicht aufstehen wollte, ist neu. Darum habe ich angerufen. Ich komme immer auf eine Tasse Tee vorbei, bevor ich die Kinder abhole, und normalerweise ist er dann längst auf den Beinen. Aber jetzt liegt er im Bett. Er war seit gestern nicht draußen. Er hat noch nicht einmal die Fensterläden geöffnet.“

Cooper half ihr in den Mantel; es wirkte, als habe man ihm von klein auf beigebracht, sich wie ein Gentleman zu verhalten. „Wenn er sich nicht so gut fühlt, ist er im Bett am besten aufgehoben, Mhairi. Wenn wir das Gefühl haben, dass er ins Krankenhaus muss, kümmern wir uns darum.“ Er nannte eines der besten Krankenhäuser Glasgows und sagte, dass er Leute kenne, die dafür sorgen würden, dass Glenn dort im Falle eines Falles bestens versorgt wäre.

Mhairi erstarrte. „Aber das ist auf dem Festland!“

„Ja, aber dort würde man sich rund um die Uhr um ihn kümmern können.“

„Die Vorstellung gefällt mir nicht. Er kennt da niemanden. Und dann über Weihnachten … Es wäre schrecklich für ihn, nicht bei uns und seinen Enkeln zu sein. Wir sind doch alles, was er hat.“ Mhairi schüttelte den Kopf. „Wenn man als alter Mensch ganz auf sich allein gestellt ist, das ist nicht schön.“

Cooper rieb sich das Kinn, sagte aber nichts, doch Audrey bemerkte, dass die Stimmung plötzlich sonderbar gespannt war.

„Tut mir leid, Cooper …“ Mhairi hob beschwichtigend die Hände. „So habe ich das nicht gemeint.“

„Ich weiß.“

Betretenes Schweigen erfüllte den Raum. Cooper griff nach Mhairis Autoschlüssel und reichte ihn ihr.

Audrey hatte das Gefühl, ihm beispringen zu müssen. Was auch immer ihn hatte verstummen lassen – es war etwas, worüber er nicht reden mochte. Sie kannte das Gefühl sehr gut. „Wir sind ja hier, um zu vermeiden, dass Ihr Vater ins Krankenhaus muss. Wir untersuchen ihn jetzt erst einmal gründlich und geben Ihnen dann so schnell wie möglich Bescheid.“

„Wie lange habt ihr Zeit?“, fragte Mhairi.

Das konnte Audrey ihr nicht sagen. Sie wusste, dass sie heute noch weitere Hausbesuche machen musste. In London wäre sie von einem Patienten zum anderen gehetzt und hätte sich dabei gewünscht, dass der Tag mehr Stunden hätte, damit sie länger für jeden einzelnen da sein könnte. Aber vielleicht tickten die Uhren hier ja anders.

„Wenn Anlass zur Sorge bestehen sollte, werden wir deinen Vater auf keinen Fall alleine lassen“, erklärte Cooper.

Audrey wurde es ganz warm ums Herz. Sie musste achtgeben – das konnte gefährlich werden, wenn man nicht aufpasste.

„Versprochen?“

Cooper versprach es so nachdrücklich, als hinge sein Ansehen von dieser Zusicherung ab. Es war ein gewagtes Versprechen – vor allem, wenn man bedachte, dass sie noch zu anderen Kranken mussten. „Du solltest dich jetzt auf den Weg machen. Es ist gleich Schulschluss.“

Mhairi öffnete die Tür und wandte sich noch einmal um. „Ich habe noch einmal überlegt – ich bringe die Kinder einfach mit und parke sie ausnahmsweise zum Abendessen vor dem Fernseher. Dann bin ich früher wieder da und kann selbst für Dad da sein.“

Copper nickte. „Wie du meinst. Wir melden uns!“

Nachdem sie gegangen war, sagte er zu Audrey: „Dann mal los – zeigen Sie mir, was Sie können.“

Nachdem sie die Krankenakte des Achtzigjährigen durchgesehen und ein paar Voruntersuchungen vorgenommen hatten, verstand Cooper Mhairis Beunruhigung. Auch Audrey wirkte besorgt.

Glenn Davidson war in keiner guten Verfassung. Er hatte Fieber, war dehydriert, unkonzentriert und kraftlos. Eine Grippe konnten sie ausschließen, da er keine Atemwegssymptome hatte. Außerdem hatte er ihnen gesagt, dass er im September gegen die Grippe geimpft worden war.

„Zusammen mit deiner Großmutter“, erklärte er und wippte auf der Bettkante sitzend mit dem Oberkörper vor und zurück.

Audrey sah Cooper an; er wich ihrem Blick aus.

Bisher hatte er ihr nichts davon erzählt, dass er seine Großmutter im Stich gelassen hatte. Vielleicht hätte er es tun sollen. Aber es tat so gut, in ihr eine Person zu haben, die ihm gegenüber unvoreingenommen war. Das gab ihm Gelegenheit, zu versuchen, der Mensch zu sein, der er immer hatte sein wollen. Ehrenwert. Zuverlässig. Freundlich.

Es würde lange dauern, bis man ihn hier als diesen Menschen anerkennen würde. Er hatte von der Grippeimpfung seiner Großmutter gewusst und sich keine Sorgen gemacht, aber als alte Frau war sie natürlich anfälliger für Atemwegsinfekte gewesen.

Und einer Lungenentzündung war es egal, ob man gegen Grippe geimpft war oder nicht.

Er hätte es wie Mhairi machen müssen und alles für seine Großmutter tun sollen. Gertie hatte ihn großgezogen und beschützt, und was hatte er getan? Er hatte sich davongemacht.

„Gab es in der Vorgeschichte Anzeichen für Alzheimer?“, fragte Audrey im Flüsterton.

Ah – das war also ein fragender Blick gewesen, kein vorwurfsvoller. Es wurde Zeit, das schlechte Gewissen abzuschalten, damit er sich auf das konzentrieren konnte, worauf es ankam: auf seine Patienten.

Er schüttelte den Kopf und notierte etwas in der Krankenkarte. Wenn sie hier fertig wären, würde er Audrey erzählen, was passiert war. So könnte sie die Andeutungen der Leute besser einordnen. Außerdem war er sicher, dass Audrey selbst ein Päckchen mit sich herumschleppte. Vielleicht würde sie ihn ja verstehen – so hätte er jemanden auf seiner Seite.

Vielleicht. Aber wenig wahrscheinlich.

„Ist das zu eng?“, fragte Audrey, die gerade die Manschette anlegte, um Glenns Blutdruck zu messen, der mutmaßlich sehr niedrig war.

„Nein, es ist in Ordnung“, antwortete der alte Mann und klang dabei sonderbar abwesend. Seitdem sie hier waren, schwankte Glenns Konzentration stark. Seine eigene allerdings auch, musste Cooper sich eingestehen.

Er hatte Audrey machen lassen, um zu sehen, wie sie arbeitete. Doch sie wirkte ziemlich nervös – fast so, als fasste sie seine Entscheidung nicht als Vertrauensvorschuss auf, sondern eher als eine Art Prüfung.

Sie setzte die Hörbügel des Stethoskops in die Ohrmuscheln und wärmte den Kopf des Instruments zwischen den Handflächen auf. Dann pumpte sie die Manschette auf.

Als sie den Stethoskopkopf auf Glenns Arm setzte, sank der alte Mann langsam nach vorn. Cooper eilte zu ihr und half ihr, ihn wieder aufzurichten. „Alles gut, Mr. Davidson. Ich habe Sie.“

Dem armen Kerl fiel es schwer, sich aufrecht zu halten; er murmelte etwas von einem Hund, den man finden müsse und der ihm helfen würde. Soweit Cooper wusste, hatte Glenn seit einigen Jahren keinen Hund mehr. Vielleicht musste man doch Alzheimer in Betracht ziehen?

„Willst du dich wieder legen, Glenn? Ist dir schwindelig, oder bist du eher müde?“

„Beides. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist“, sagte er zum etwa zehnten Mal, seitdem sie mit der Untersuchung begonnen hatten.

„Ist er immer so?“, fragte Audrey im Flüsterton.

Das Gefühl, sich zu verteidigen zu müssen, wurde immer stärker. Woher sollte er die Gewohnheiten jedes einzelnen Bewohners von Bourtree kennen?

Aber hier ging es nicht um ihn. Es ging um Glenn.

Er kniete sich hin, um dem Mann direkt in die Augen sehen zu können. „Glenn. Wir konnten eben nur ganz kurz mit Mhairi sprechen. Kannst du uns deine Beschwerden genauer beschreiben?“

„Es tut weh“, antwortete Glenn und zog die Beine an.

Audrey nahm die Manschette ab. „Essen Sie genug?“

„Nein. Kein Hunger. Ich will nur schlafen.“ Er schloss die Augen.

„Und trinken Sie genug?“

Glenn seufzte und murmelte etwas von einem kleinen Schnaps gegen die Schmerzen.

Cooper verzog das Gesicht. Alkohol war in so einem Fall keine gute Idee. Genau genommen war Alkohol nie eine gute Idee.

Der alte Mann tat ihm leid. Cooper überlegte fieberhaft, was Glenn fehlen mochte, und hoffte inständig, dass es seiner Großmutter nie so schlecht gegangen war. Doktor Anstruther hatte gesagt, sie sei im Schlaf gestorben. Das war ein schwacher Trost gewesen, aber jetzt, wo er sah, wie Glenn litt, war er dankbar dafür, dass das Schicksal ihr gnädiger gewesen war.

Audrey sah Glenn nachdenklich an. Schließlich kratzte sie sich an der Stirn und fragte: „Wie oft waren Sie auf der Toilette, Mr. Davidson?“

„Zigmal! Seit gestern trinke ich schon kein Wasser mehr, weil ich so oft rausmuss.“

Audrey drückte die Hand des alten Mannes. Cooper war angetan von ihrer Herangehensweise. Einen alten Mann dazu zu bringen, über derart intime Dinge zu sprechen, war nicht einfach. Erst recht nicht, wenn es sich um einen schottischen Insulaner handelte.

Im Flüsterton fuhr Glenn fort: „Beim letzten Mal habe ich mich kaum wieder hingelegt, da musste ich schon wieder los.“

Natürlich, ein Harnwegsinfekt! Cooper ließ Audrey gewähren.

„Ich glaube, Sie haben sich eine schlimme Harnwegsinfektion zugezogen“, sagte Audrey und warf Cooper einen kurzen Blick zu; er nickte.

Das hätte er sich eigentlich selbst zusammenreimen müssen. Unwohlsein, Fieber, Zerstreutheit, Schmerzen.

„Es wird Ihnen schnell wieder besser gehen“, versicherte Audrey. „Wir verschreiben Ihnen ein Antibiotikum.“

Sie machte es richtig – dem Patienten sagen, dass alles gut werden würde, und anschließend das weitere Vorgehen erklären.

„Wirkt das sofort?“

„Nein“, antwortete Cooper, als er Audreys Hilfe suchenden Blick bemerkte. „Aber morgen früh wird es dir schon besser gehen. Nun solltest du erst einmal ordentlich trinken. Mhairi wird das Antibiotikum nachher mitbringen. Und in ein paar Tagen bist du wieder ganz der Alte.“

„Müsst ihr mir nicht noch Blut abnehmen oder so?“

„Ja, das werden wir. Aber wie Audrey schon gesagt hat – es deutet alles auf einen Harnwegsinfekt hin. Der kann einen schon wahnsinnig machen. Sei froh, dass du so lange durchgehalten hast, ohne zu halluzinieren!“

Glenn lachte auf. „Als du hier reingekommen bist, habe ich tatsächlich geglaubt, dass ich halluziniere. In dem Aufzug! Ich dachte, der Weihnachtsmann kommt, um mich zu holen.“

„Ich wollte für weihnachtliche Stimmung sorgen“, antwortete Cooper. „Aber offenbar verbreite ich eher Panik.“

„Ich hoffe, ich erlebe Weihnachten noch“, sagte Glenn ein wenig bang.

„Aber sicher“, antwortete Cooper und klopfte dem alten Mann auf die Schulter. „Und Neujahr und Ostern und einiges mehr!“

„Aber wer soll mich untersuchen, wenn ich es bis nach Neujahr schaffe? Dann wirst du nicht mehr hier sein“, sagte Glenn betrübt. „Und Dr. Anstruther ist irgendwo in den Tropen …“

„Dann ist doch Noreen wieder da, Glenn. Sie wird sich gut um dich kümmern, keine Sorge. Außerdem bist du bis dahin ganz sicher wieder fit!“

„Hm.“ Glenn schloss die Augen. „Das wäre schön.“

„So, und nun legen Sie sich wieder hin, und ich decke Sie erst einmal vernünftig zu“, sagte Audrey.

Als Cooper sah, wie Audrey einen bunten Quilt über die Zudecke breitete, zog sich sein Herz zusammen. Er kannte nur eine Person, die eine Decke in diesen Farben angefertigt haben konnte – Gertie MacAskill.

Zum Glück war Audrey so sehr mit dem Zudecken beschäftigt, dass sie ihm den Schreck nicht anmerkte.

„Und jetzt holen wir Ihnen etwas Wasser. Haben Sie ein Lieblingsglas?“

Glenn brummelte etwas Unverständliches hinter ihnen her.

„Das mit dem Harnwegsinfekt haben Sie gut erkannt“, sagte Cooper und stellte den Arztkoffer auf den Küchentisch, um alles wieder an seinen Platz zu packen. „Da waren Sie schneller als ich.“

„So schnell nun auch wieder nicht“, erwiderte Audrey und fügte hinzu: „Ich kenne das noch gut von früher bei älteren Patienten.“

„Von früher?“

„Ich habe vor ein paar Monaten in einem Kinderkrankenhaus angefangen“, antwortete Audrey, während sie im Schrank nach einem Glas suchte. „Es war toll, aber als ambulante Pflegerin zu arbeiten ist irgendwie erfüllender.“

In ihrer Antwort schwang etwas wie ein schlechtes Gewissen oder Reue mit. Vielleicht war etwas bei einem ihrer Hausbesuche vorgefallen, das ihr Anlass gegeben hatte, in ein Krankenhaus zu wechseln. Manchen Leuten waren Hausbesuche zu intim – ihm zum Beispiel. „Na, ich weiß ja nicht. Ich finde die Arbeit in einem Krankenhaus spannender als das Diagnostizieren von Harnwegsinfektionen.“

„Ich mache keinen Unterschied zwischen ambulanten und stationären Patienten“, erwiderte Audrey gereizt, während sie über einem Berg dreckigen Geschirrs das Glas mit Wasser füllte.

„Ich habe nie das Gegenteil behauptet.“

Sie stellte das Glas beiseite und zog die Spülhandschuhe an, die über dem Becken hingen.

„Was haben Sie vor?“

„Wonach sieht es denn aus?“ Audrey drehte den Hahn auf und gab eine Ladung Spüli auf das Geschirr.

„Abspülen gehört aber nicht zu den Aufgaben einer ambulanten Pflegekraft.“

Sie sah ihn an, als hätte er ein Herz aus Stein. „Dem Mann geht es nicht gut. Seine Tochter klingt, als hätte sie noch weniger Zeit als ich. Und außerdem“, sie hielt drei Kaffeetassen hoch, „verraten die uns vielleicht ein wenig über die Gründe dafür, warum es Glenn so schlecht geht. Offenbar hat er nichts außer Kaffee, Whisky und einem Fertigcurry zu sich genommen. Alles nicht besonders förderlich bei einem Harnwegsinfekt. Und es gehört sehr wohl zu den Aufgaben einer ambulanten Krankenpflegerin, ihrem Patienten zu sagen, was ihm guttut und was nicht.“

Womit sie wohl recht hatte.

Cooper rieb sich das Kinn und hoffte, dass sein beschwichtigendes Brummen versöhnlich wirkte.

Er hatte ja erst ein paar Tage Erfahrung mit diesen Hausbesuchen und kannte sich kaum damit aus. Als er auf Bourtree angekommen war, hatte Dr. Anstruther ihn am Hafen abgeholt und zu Gerties Haus gefahren. Ganz nebenbei hatte er fallen gelassen, dass er an Weihnachten in den Ruhestand gehen würde und bis dahin einen Assistenzarzt einsetzen wollte. Eigentlich sollte das derjenige sein, der dann die Praxis übernehmen würde, aber da er noch keinen Nachfolger gefunden habe …

Zuerst hatte Cooper abgelehnt. Doch Dr. Anstruther hatte gesagt, dass es auch spannende Fälle gebe. Die waren Cooper allerdings noch nicht begegnet. Und wenn tatsächlich etwas wirklich Schlimmes passierte, kamen ohnehin Ärzte vom Festland mit dem Rettungshubschrauber. Die waren auch wegen seiner Eltern gekommen – zu spät zwar, aber hatten den Wunsch in ihm ausgelöst, Arzt zu werden. Um da zu sein, wenn dringend Hilfe benötigt wurde. Vertrauen einzuflößen. Und Respekt.

Hier auf Bourtree würde er weder das Vertrauen noch den Respekt der Leute gewinnen.

Er rieb sich den Nacken – langsam reichte es mit der destruktiven Nabelschau! Und zum Glück hatte er die perfekte Ablenkung in Form einer Krankenpflegerin, die London verlassen hatte, um nach Bourtree zu kommen. Vielleicht würde sie ihm erhellen, was diese Art des Praktizierens erfüllender machte als die Arbeit in einem Krankenhaus.

„Warum haben Sie nach der Tätigkeit im Kinderkrankenhaus nicht noch eine andere Fachrichtung ausprobiert, anstatt karrieremäßig einen Schritt zurück zu machen?“, fragte er und schloss seinen Arztkoffer.

Sie starrte ihn entgeistert an. „Wer sagt denn, dass die ambulante Pflege ein Schritt zurück ist?“

Zum Kuckuck. Er ließ wirklich kein Fettnäpfchen aus.

„Tut mir leid, wenn das jetzt geringschätzig klang. So war es nicht gemeint. Es ist eine sehr wichtige Tätigkeit. Aber im Ernst … nachdem Sie die Arbeit im Krankenhaus kennengelernt haben, müssen Sie doch zugeben, dass das …“ Fast hätte er gesagt, dass es der absolute Kick sei, doch er konnte sich gerade noch bremsen. Es hätte geklungen, als würde ihm das Leid anderer einen Adrenalinrausch verschaffen, und das war es nicht, was er meinte. Er wollte einfach nur alles dafür tun, das Leben anderer zu retten, anstatt es zu zerstören. Denn das war es gewesen, was seine Eltern ihm immer wieder vorgeworfen hatten.

„Wäret ihr nicht gewesen, du und deine Schwester …“

Sie hätten ein ganz anderes Leben gelebt.

Er räusperte sich und lenkte das Gespräch in eine Richtung, die ihm weniger aufwühlend erschien. „Es wundert mich nur, dass Sie diese Vertretungsstelle einem Posten in einem Londoner Krankenhaus vorgezogen haben. Über Weihnachten werden massig Leute gebraucht. Die Bezahlung ist besser. Aber Sie kommen hierher. Warum?“

Audreys Miene nach zu urteilen war er vom Fettnäpfchen direkt in den Fettnapf getappt; am liebsten hätte er sie in die Arme genommen, um sie zu trösten.

„Es gibt noch andere Werte als Geld und Ansehen“, antwortete sie aufgebracht, fügte dann aber mit verlegenem Lächeln hinzu: „Tut mir leid. Heikles Thema.“

„Geld oder Ansehen?“

„Weder noch.“

„Ein Freund, dem eins oder beides zu wichtig ist?“, erwiderte er.

Sie kaute auf der Innenseite ihrer Wange herum – schwer zu sagen, ob sie gegen die Tränen ankämpfte oder sich eine bissige Antwort auf seine indiskrete Frage überlegte. Während er sie so ansah, fiel ihm auf, dass sie wunderschöne Lippen hatte. Lippen, die geradezu zum Küssen eingeladen hätten, wenn er gerade auf der Suche nach Lippen zum Küssen gewesen wäre.

„Etwas in der Art“, antwortete sie schließlich. „Sollen wir dann mal aufbrechen?“

In ihrem Ton schwang die Warnung mit, nicht weiter nachzubohren. Verständlich; auch er mochte es nicht, wenn man ihm unangenehme Fragen stellte. Warum er keine Freundin hatte. Warum er nicht verheiratet war. Warum er noch keine Kinder hatte. Fragen, die ihm auf Bourtree keiner stellte, weil jeder die Antwort kannte.

Cooper riss den Blick von ihren Lippen los und nahm ihr das Glas ab, um es Glenn zu bringen. Als sich dabei ihre Hände berührten, knisterte es heftig zwischen ihnen, doch er versuchte, es zu ignorieren. Er brachte Glenn das Wasser und sagte dem alten Mann, dass Mhairi in etwa einer Stunde kommen und das Antibiotikum mitbringen würde. Und dass er anrufen solle, falls er Hilfe benötigte.

3. KAPITEL

Vier Stunden, eine Riesenportion Fish and Chips und sieben Patienten später beendeten Audrey und Cooper ihren Arbeitstag. Es war fast acht Uhr abends, und Audrey wurde es langsam kalt – trotz ihres dicken Mantels, der mittlerweile matschbespritzt und dank einem Kleinkind mit Ketchup bekleckert war. Die Heizung des Jeeps hatte nach dem zweiten Hausbesuch den Geist aufgegeben.

Sie freute sich darauf, in ihre Unterkunft zu kommen und ein heißes Schaumbad zu nehmen, einen Tee zu trinken und ihren ersten Arbeitstag Revue passieren zu lassen. Traumhaft! Andererseits –, sobald sie zur Ruhe käme, würde sie sich wieder mit ihrem Liebeskummer beschäftigen, mit ihrem leer geräumten Konto und der Tatsache, dass sie in fünf Wochen ohne Bleibe und ohne Arbeit sein würde.

Cooper bog auf die Hauptstraße ab – es gab auf der Insel nur eine größere Küstenstraße, von der viele kleine Sträßchen abgingen – um zur Praxis zu fahren. Da sie einer angemessenen Verfassung sein wollte, wenn sie Dr. Anstruther vorgestellt wurde, vertrieb sie die düsteren Gedanken, indem sie innerlich noch einmal alle heutigen Patienten durchging.

Neben ein paar supersüßen Babys – von denen eines einen heiklen Atemwegsinfekt gehabt hatte – waren ihre Patienten ein weiterer älterer Herr gewesen, von Parkinson ans Bett gefesselt, ein Teenager, der sich bei einem Skiunfall komplizierte Brüche an beiden Oberschenkelknochen zugezogen hatte, ein beratungsresistenter IT-Spezialist mit Diabetes und eine junge Mutter, die an metastasierendem Knochenkrebs erkrankt war und sich wünschte, Weihnachten noch am Leben zu sein, um es ihren Kindern nicht „zu verderben“.

Die Selbstlosigkeit dieser Äußerung hatte Audrey Tränen in die Augen getrieben. Cooper war hinausgegangen, um „Papierkram zu erledigen“ – Audrey war sicher, dass das eine Ausrede gewesen war. Immerhin schien der Mann doch ein Herz zu haben.

Obwohl – jetzt tat sie ihm unrecht. Er war ein ausgezeichneter Arzt, der auf seine Patienten einging und sicher auch in der Notaufnahme brillante Arbeit leistete. Und nachdem sie ein wenig mehr Zeit mit ihm verbracht hatte, fand sie ihn auch überhaupt nicht mehr so anziehend. Kein bisschen.

Nein. Sie war nicht versucht gewesen, ihm eine vorwitzige Haarsträhne hinter das Ohr zu streichen oder mit einem Finger über sein Kinn zu fahren, um zu sehen, ob es sich weich oder rau anfühlte. Und sie hatte auch nicht darüber nachgedacht, wie es wäre, ihn zu küssen.

Diese emotional aufgeladene Stimmung zwischen ihnen rührte sicher nur von ihrer momentanen Überempfindlichkeit in Bezug auf alles her.

Wenn doch nur die Hochzeitsversicherung zahlen würde, wenn sich der Bräutigam als Lügner und Betrüger herausstellte! Und wenn die Versicherung einem die Erinnerungen nehmen könnte, sodass man sein Erwachsenenleben noch einmal von vorn anfangen könnte! Zumindest ab dem Punkt, an dem sie sich dazu durchgerungen hatte, das kleine Haus zu verkaufen, in dem sie mit ihrem Vater gelebt hatte. Damals hatte sie sich selbst aus den Augen verloren, als wäre die Person, die zu sein sie geglaubt hatte, fest mit dem Haus und all den damit verbundenen Erinnerungen verknüpft gewesen. Die Person, die sie hatte werden wollen.

Rafael hatte gelacht, als sie ihm den Verkaufspreis genannt hatte. Für sie mit ihrem bescheidenen Pflegerinnengehalt war es viel gewesen. Sie hatte eine Hälfte als Altersvorsorge angelegt und die andere Hälfte idiotischerweise in die Hochzeit gesteckt.

Rafael hatte immer nur das Beste vom Besten gewollt, und sie war froh gewesen, ihm einmal etwas bieten zu können. Nach der Hochzeit hätten sie ohnehin zusammengelegt. Sie hatte ihr Geld gern für diesen besonderen Tag ausgegeben.

Jetzt hätte sie es dringend als Mietsicherheit für eine neue Wohnung gebraucht. Sie war aufgeschmissen. Aber von dieser unwürdige Geschichte durfte niemand hier erfahren. Es war ihr peinlich, wie leicht sie sich von Rafael hatte überzeugen lassen. Den Job zu wechseln. Mit ihm zusammenzuziehen. Und eine ultraschicke und gleichzeitig superdiskrete Hochzeit zu planen …

Sie hatten sich für ein Ferienhaus auf Stelzen auf einer tropischen Insel entschieden. First-Class-Flugtickets. Wellnessbehandlungen. Champagner bei der Ankunft.

Der Gedanke daran, wie sehr sie ihm alles hatte rechtmachen wollen, verursachte ihr körperliche Schmerzen. Sie war ihr ganzes Leben lang ein schüchternes graues Mäuschen gewesen, und er das komplette Gegenteil. Selbstsicher, weltgewandt und überzeugt davon, dass er zur Spitze der Gesellschaft gehörte.

Vielleicht war das der Grund dafür, dass er sie betrogen hatte – sie war ihm zu unbedeutend gewesen.

„Sie haben sich heute gut geschlagen“, sagte Cooper unvermittelt.

Sein Lob tat gut. „Ich mag es, Menschen in ihrer persönlichen Umgebung zu begegnen“, antwortete sie. „Ich weiß, dass Rettungssanitäter und Notärzte oft als die vorderste Front angesehen werden, aber ich glaube, dass eigentlich eher die Ärzte, die die Hausbesuche machen, und die ambulanten Pflegekräfte die Speerspitze des Gesundheitswesens sind.“

„Wieso das?“, fragte er.

Sie errötete, als er ihr mit einem Kopfnicken bedeutete, dass sie fortfahren solle. Bei dem Thema konnte es passieren, dass sie sich ereiferte, aber wenn schon … In fünf Wochen wäre sie nicht mehr hier. „Wenn man bei einem Patienten zu Hause ist, erleichtert einem das die Diagnose gesundheitlicher Probleme.“

„Wie das?“, fragte er. „Mir fällt die Diagnose leichter, desto weniger ich einen Patienten kenne.“

Sie überlegte und schüttelte den Kopf. „Ich sehe es anders. Wenn man den Patienten nicht kennt, fallen einem schwierige Entscheidungen leichter.“

Cooper nickte.

„Ich denke, dass man ein fundierteres Verständnis von seinem Patienten hat, wenn man ihn und seine Lebensumstände kennt. Dadurch ist es leichter, den Kern des Problems auszumachen“, fuhr sie fort.

„Wie das?“, fragte er.

„Nehmen Sie zum Beispiel Jimmy.“ Jimmy war der Patient mit der Diabetes gewesen. Er war in Audreys Alter, und trotz einer potenziellen Amputation seiner Zehen weigerte er sich, einzusehen, dass seine Ernährung eine Rolle spielte – und dass nicht nur seine Gene schuld waren. „Er will offenbar nicht einsehen, wie schlimm seine Diabetes ist.“

„Aber er lässt sich täglich Insulin spritzen.“

„Eben … so bekommt er jeden Tag Besuch.“

„Aha …“

„Er behauptet, er könne es nicht selbst machen, weil er Angst vor Spritzen hat. Aber haben Sie irgendetwas dergleichen bemerkt?“

Cooper dachte kurz nach und verneinte.

„Daraus schließe ich, dass er sich nach Gesellschaft sehnt. Denn er unternimmt keine sichtbaren Versuche, sein Verhalten dahin gehend zu ändern, dass sich sein Zustand verbessert und er kein Insulin mehr braucht.“

„Er hat mir gesagt, dass er sich von Obst, Gemüse und magerem Fleisch ernährt.“

„Haben Sie in seinen Mülleimer geschaut?“

„Nein.“

„Es waren mehrere Tüten von einer Bäckerei darin. Und eine rosafarbene Verpackung, die mir verdächtig nach einer Tortenschachtel aussah. Der Kühlschrank ist bis auf eine Packung Milch und ein Weißbrot leer. Sein Auto ist offenbar seit Wochen nicht bewegt worden. Als ich ihn gefragt habe, wie er an sein Essen kommt, hat er gesagt, dass ein Mitarbeiter des Supermarkts es ihm auf dem Heimweg mitbringt. Und außerdem“, fügte sie triumphierend hinzu, „hat er zugegeben, dass er nur so tut, als hätte er Angst vor Spritzen.“

„Ich hätte Ihnen anstelle der Elfenmütze eine Sherlock-Holmes-Kappe kaufen sollen“, antwortete Cooper mit einem Lächeln, von dem Audrey ganz warm wurde. „Ohne Noreen beleidigen zu wollen – ich verstehe ja, dass jemand Angst vor Spritzen vortäuscht, um jeden Tag Besuch von einer schönen Frau wie Ihnen zu bekommen, aber bei ihr …? Außerdem frage ich mich, warum er es Ihnen verraten hat.“

Audrey errötete tief. In den vergangenen Tagen war sie sich alles andere als schön vorgekommen. Das Kompliment von Cooper fühlte sich an wie etwas Besonderes. Er schien nicht mit Anerkennung um sich zu werfen … Andererseits – er war als Weihnachtsmann verkleidet. „Ich bin bald wieder weg. Manchmal ist es einfacher, sich einem Fremden anzuvertrauen, als seine Schwächen einem Bekannten zu offenbaren.“

Sie hatte niemandem in London davon erzählt, wie ihr Leben in die Brüche gegangen war. Hatte einfach nur ihre Sachen gepackt und war abgehauen. Wenn jeder jeden kannte, wie hier auf der Insel, musste es grauenhaft sein, sich für das zu schämen, wie oder wer man war. „Haben Sie vielleicht eine Idee, warum er das Haus nicht verlassen will?“

Cooper überlegte kurz. „Ich bin mit Jimmy zur Schule gegangen. Er war total schüchtern. Alle haben ihn den dicken Jimmy genannt. Ihn schien das nicht zu stören, aber …“

„Aber was?“

„Na ja, kann schon sein, dass er keinen Anschluss gefunden hat. Mannschaftssport war nicht so seins. Er hat immer nur am Rechner gespielt oder programmiert. Allerdings war er eine Weile in der Theater-AG. Da hat er sich aber auch eher im Hintergrund gehalten.“

„Vielleicht hat er sich nie mit seinem Spitznamen abgefunden und schämt sich, rauszugehen. Können Sie sich vorstellen, wie das ist, Kuchen kaufen zu gehen, wenn man weiß, dass die Leute Vorurteile einem gegenüber haben, weil man dick ist?“

„Es ist immer schlimm, wenn die Leute Vorurteile einem gegenüber haben, egal aus welchem Grund.“

Sein heftiger Ton verblüffte Audrey. Sprach er aus Erfahrung?

„Ich verstehe aber immer noch nicht, was das mit einer besseren Diagnose zu tun hat.“

Audrey seufzte. War das nicht offenkundig? „Na ja, nachdem wir nun schon wissen, dass er keine Angst vor Spritzen hat, müssen wir nur noch rausfinden, wie wir ihn dazu bekommen, das Haus zu verlassen und sich ein bisschen zu bewegen.“

Cooper lachte. „Sie lieben die Herausforderung, was?“

„Wie meinen Sie das?“

„Wollen Sie allen Ernstes eingeschliffene Angewohnheiten Ihrer Patienten ändern? Der Mann hat vielleicht seit Jahren das Haus nicht verlassen!“

„Es gibt zig Gründe, seine Angewohnheiten zu ändern“, erwiderte sie und dachte an den Abend, an dem sie früher als gewöhnlich von dem Treffen mit ihren Freundinnen nach Hause gekommen war, um Rafael zu überraschen.

„Ja, stimmt schon. Aber ich glaube nicht, dass Sie ihn dazu bringen, sein Verhalten zu ändern.“

Sie wandte sich ihm zu. „Was stimmt eigentlich nicht mit Ihnen? Erst sind Sie nett und machen mir Komplimente, um mich mit dem nächsten Satz völlig zu demotivieren?“

„Hallo?“ Cooper fuhr an die Seite. „Ich versuche, Sie kennenzulernen. Rauszukriegen, wie Sie so ticken.“

„Verstehe. Ist das ein Begrüßungsritual hier auf der Insel? Jemanden aufbauen, um ihn dann besser fertigmachen zu können?“

Er verkniff sich seine Antwort. Audrey hatte ein Stückweit recht. Er war schon als Kind recht scharfzüngig gewesen, und auch jetzt nahm er selten ein Blatt vor den Mund. Ihm war natürlich klar, dass es nicht immer klug war, auszusprechen, was man dachte. Aber wenn man aus einem Haushalt kam, in dem die Eltern einem stets unumwunden gesagt hatten, dass sie wünschten, einen nie geboren zu haben …

Doch das war keine Entschuldigung für sein unfreundliches Verhalten. Er brauchte jetzt jeden Verbündeten, den er gewinnen konnte. Audrey war eine reizende, fähige Person, die eindeutig nur das Beste für ihre Patienten wollte. Es war normal, dass sie manche Sachen anders sah als er. Und er hatte sich den ganzen Tag lang total ungeschickt angestellt.

Wenn er ehrlich war, hatte er das Weihnachtsmannkostüm nur als Schutzschild gegen die vorwurfsvollen Blicke der Insulaner angezogen – nicht, um Weihnachtsstimmung zu verbreiten. Zwar hatte ihn niemand direkt kritisiert, und man hatte ihm nur außerhalb Audreys Hörweite kondoliert, aber er war sicher, dass sie die Missbilligung gespürt hatte, die in der Luft lag. Und die er verdient hatte.

Auf alle Fälle durfte er Audrey nicht um ihre Meinung zu ihm fragen, wenn er keine schonungslos ehrliche Antwort hören wollte. Aber davon abgesehen musste er aufhören, sie immer wieder zu reizen. Hinter der ruhigen, professionellen Art, die sie bei der Arbeit an den Tag legte, gärte es. Da war etwas, von dem er ahnte, dass er es verstehen würde, wenn sie offen zueinander wären. Was aber in Anbetracht der Umstände eher unwahrscheinlich war.

Er streckte ihr eine Hand entgegen. „Tut mir leid. Wenn man in der Notaufnahme in der Großstadt arbeitet, gewöhnt man sich einen raueren Ton an. Wie wäre es, wenn wir noch einmal von ganz vorn anfangen?“

„Wenn Sie meinen …“, antwortete Audrey zögerlich.

„Und bitte duzen Sie mich doch. Cooper, oder Coop, wenn Sie mögen.“

„Ich weiß. Okay. Audrey. Also gut …“, sagte sie schließlich und lächelte.

Es fühlte sich gut an, ihr ein Lächeln abgerungen zu haben. Vielleicht musste er einfach mehr Gefühle zulassen. Er versuchte die ganze Zeit, sie zu unterdrücken, obwohl sie es doch waren, die Augenblicke wie diesen so erfüllend machten.

Ein paar Minuten später hielten sie vor der Praxis. „Dann werde ich dich mal in deine Unterkunft bringen“, sagte er.

Audrey stieg aus und reckte sich. „Ah! Jetzt eine heiße Dusche …“

„Ich fürchte, daraus wird nichts“, hörte sie eine Männerstimme sagen und wandte sich um.

„Hallo, Doc“, sagte Cooper zu dem Mann, der ihnen von der Praxis aus entgegenkam.

„Hallo, Coop. Und Sie müssen Audrey sein.“

Bestürzt stellte Cooper fest, dass man Anstruther seine mehr als siebzig Jahre zumindest heute Abend deutlich ansah. „Was ist los? Alles in Ordnung?“

Der grauhaarige Mann klopfte Cooper auf die Schulter und schüttelte Audrey die Hand. „Finlay Anstruther. Freut mich. Tja, was soll ich sagen …“ Er sah zu der Wohnung über der Praxis hinauf, in der Audrey unterkommen sollte. Cooper fuhr ein Schreck in die Glieder. „Was ist los?“

Finlay Anstruther verzog das Gesicht. „Der Boiler … durch den Frost neulich ist wohl eine Leitung geplatzt. Als Emily heute Nachmittag oben war, um ein bisschen klar Schiff zu machen, hat sie das Schlamassel gesehen. Ich wollte es erst selbst reparieren, aber als ich gesehen habe, dass ein Fleck an der Decke meines Sprechzimmers ist …“ Er seufzte und fuhr sich mit der Hand durchs weiße Haar. „Es sieht gar nicht gut aus.“

„Die Wohnung oder die Praxis?“, fragte Cooper.

„Beides.“

„Verstehe …“ Wie unangenehm. „Schon eine Idee, wie wir es heute Nacht machen?“

„Nein, ehrlich gesagt nicht. Audrey, es tut mir so leid. Die Wohnung wird in den nächsten Tagen unbewohnbar sein …“

„Kein Problem“, antwortete Audrey. „Dann bleibe ich für ein paar Nächte in einem Hotel oder in einer Pension.“

Cooper und der altgediente Arzt sahen sich an. „Um diese Jahreszeit hat alles zu“, antwortete Dr. Anstruther und entschuldigte sich erneut. Er würde zusehen, dass sich schleunigst jemand darum kümmern würde, aber bis dahin … Bei ihm könne sie nicht unterkommen, weil er und seine Frau das Haus bereits inseriert und weitestgehend leer geräumt hätten.

Cooper erschrak. Er hatte gewusst, dass Finlay in den Ruhestand gehen würde, aber als ihm klar wurde, dass der alte Mann tatsächlich seine Zelte abbrechen würde, traf ihn das wie eine Ladung eiskaltes Wasser.

Er hätte einen Job fürs Leben, hier auf Bourtree, wenn er es wollte. Wollte er das? Für immer hierbleiben? Wollte er, dass die Insulaner ihn als den Arzt sahen, bei dem sie sich darauf verlassen konnten, dass er blieb?

Er wandte sich wieder dem Hier und Jetzt zu; Finlay ratterte gerade alle möglichen Leute herunter, die vom Festland herübergekommen waren – um Verwandte zu besuchen, Geschenke vorbeizubringen, mit ihren Großmüttern Weihnachtsgebäck zu backen oder mit ihren Großvätern Vogelhäuser bauen … die Liste war endlos.

Cooper beendete den Redeschwall, der wohl erklären sollte, warum nirgendwo Platz für Audrey war, indem er sagte: „Sie kann bei mir wohnen, Finlay.“

Das war zwar mehr Nähe, als ihm lieb war, aber er konnte Audrey nicht hier stehen lassen und hoffen, dass sich irgendjemand finden würde, der sie bei sich aufnehmen würde.

„Äh … ‚sie‘ steht direkt hier“, sagte Audrey in pikiertem Ton, „und ‚sie‘ wird nicht bei dir wohnen. Mr. Anstruther, sind Sie sicher, dass …“

„Es sieht schlecht aus“, antwortete Finlay bedauernd. „Ich würde Coopers Angebot annehmen. Wenn ihr zwei mich jetzt entschuldigen würdet … Emily reißt mir den Kopf ab, wenn ich nicht bald im Gemeindesaal auftauche. Coop, sehen wir uns morgen um die gewohnte Zeit, um zu besprechen, was wir wegen der Praxis unternehmen?“

„Gern. Aber jetzt denk erst mal nicht mehr daran. Es wird sich schon eine Lösung finden.“ Er wandte sich Audrey zu. „Guck nicht so entsetzt. Ich wohne nicht in einer stinkigen Junggesellenbude, sondern …“

„Sondern?“ Sie sah ihn mit skeptisch zusammengekniffenen Augen an, während er überlegte, wie man das Haus seiner Großmutter beschreiben sollte.

„Das siehst du dann schon“, antwortete er mit einem aufmunternden Lächeln.

„Krass. Das ist … wow. Unglaublich!“

Cooper lächelte über Audreys Reaktion auf das Haus seiner Großmutter. Er hätte sie eigentlich warnen müssen – oder ihr eine Sonnenbrille geben, bevor er das Licht angeschaltet hatte.

Wenn er abends die Tür öffnete, überkam ihn jedes Mal eine heftige Schwermut, und es war sonderbar tröstlich, Audrey bei sich zu haben. Die meisten seiner Ex-Freundinnen hätten gegrinst und abfällige Bemerkungen über all die gehäkelten Sachen gemacht. Das war einer der Gründe dafür, dass er nie jemanden nach Bourtree mitgenommen hatte. Er hatte seine Großmutter nicht dem Spott preisgeben wollen.

Aber Audrey war wohl tatsächlich begeistert. Auch wenn ihr offensichtlich die Worte fehlten, schien sie das, was sie da sah, als etwas Besonderes wahrzunehmen. Und das war es ja auch – wie alles, das seine Großmutter geschaffen hatte.

Er zog seinen Mantel aus und beobachtete Audrey dabei, wie sie das, was seine Großmutter aus den Überbleibseln der Wollfabrik fabriziert hatte, in Augenschein nahm. „Je bunter, desto besser“, war Gerties Motto gewesen. „Man braucht jeden Tag ein bisschen Sonne“, hatte sie zu sagen gepflegt, und in Bourtree bekam man die Sonne neun Monate im Jahr nicht zu sehen – zumindest nicht am Himmel.

Audrey ging ins Wohnzimmer und fuhr mit der Hand über eine gestrickte Decke, die auf die Lehne eines Sofas mit Schottenkaro drapiert war. „Hat sie das alles selbst gemacht?“

„Ja, klar!“ Es fühlte sich gut an, stolz auf die Frau zu sein, die ihn großgezogen hatte. Er sah sich ebenfalls im Zimmer um. Seine Großmutter hatte jede einzelne Decke, jeden Kissenbezug und jeden spitzenumhäkelten Bilderrahmen selbst angefertigt. Er war ziemlich sicher, dass jedes Kind auf der Insel früher oder später in einer Babydecke von seiner Oma gesteckt hatte.

„Kein Weihnachtsbaum?“, fragte Audrey.

„Nein“, antwortete Cooper. „Ob du es glaubst oder nicht, ich mache mir nichts aus Weihnachten.“

„Aber es geht doch nicht darum, was du willst, sondern darum, was deine Granny mag …“

„Mochte“, korrigierte er und wurde sich schmerzhaft bewusst, wie falsch es sich anfühlte, von jemandem, der so voller Leben gewesen war wie seine Oma, in der Vergangenheit zu sprechen.

Audrey wandte sich um und legte eine Hand auf seinen Arm. „Oh nein, Cooper, das tut mir so leid. Ich hätte es mir eigentlich denken sollen. Es ist noch nicht lange her, oder? Mein Beileid.“

„Etwas länger als eine Woche“, antwortete er, und seine Kehle schmerzte, als er versuchte, nicht daran zu denken, dass er hätte hier sein sollen. Er hätte hier sein können. Er hätte seine Überstunden abfeiern können. Aber er hatte es nicht getan.

Im Winter war in der Notaufnahme immer viel los, und weil zu Hause niemand auf ihn wartete, hatte er zusätzliche Schichten übernommen. Und seine Großmutter angerufen, um ihr zu sagen, dass sie mehr Zitrone und Honig in ihren Toddy tun sollte – und weniger Whisky. Als wäre es nötig gewesen, sie daran zu erinnern – sie wusste, was zu viel Alkohol aus einem Menschen machen konnte.

„Es ist sicher hart, hier zu sein, mit so vielen Erinnerungen“, sagte sie nachdenklich.

Er sah Audrey an. Interessant – vielleicht war das der Grund für ihr Hiersein! „Du bist also eher jemand, der vor seinen Erinnerungen wegläuft?“

Die vertrauliche Atmosphäre war schlagartig dahin. „Nein“, antwortete sie schnippisch. „Ich ziehe es vor, neue Erinnerungen zu generieren.“

Also hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen.

Er dachte an ihre Angewohnheit, mit dem Daumen über ihren Ringfinger zu streichen. Nicht, dass ihn ihr Familienstand interessiert hätte, aber …

„Es wäre nett, wenn du mir mein Zimmer zeigen könntest, Cooper. Es war ein langer Tag.“

„Natürlich. Entschuldige“, sagte er und machte mit ihr einen kleinen Rundgang durchs Haus. Küche, das ehemalige Zimmer seiner Großmutter, sein Schlafzimmer …

„Das hier sieht eher aus wie ein Strickzimmer“, bemerkte Audrey, als sie im Esszimmer endeten, das einen Zugang zum Garten hatte.

Tatsächlich war es über zehn Jahre her, dass Cooper zum letzten Mal mit seiner Großmutter in diesem Zimmer gegessen hatte. Wenn er sie besucht hatte, was sehr selten vorgekommen war, hatte er sie immer in den Puffin ausgeführt. Ein dürftiger Dank dafür, dass sie so viel geopfert hatte, um einen anständigen Menschen aus ihm zu machen.

Was hätte er jetzt darum gegeben, nur noch ein einziges Mal so mit ihr zu essen, wie sie es früher immer getan hatten, an einem Tisch, der gedeckt war, als würde die Queen höchstpersönlich zum Abendessen kommen.

„Man muss jeden Moment genießen, als wäre es der letzte“, hatte sie gesagt, wenn sie ihm seinen Saft in einem der guten Kristallgläser serviert hatte.

Nun war sie einen vermeidbaren Tod gestorben, und er war derjenige, der es nicht verhindert hatte.

Noch immer in düstere Gedanken versunken, brachte er Audrey in das in Gelb- und Cremetönen gehaltene Zimmer seiner Schwester. Wären die Kindheitsfotos nicht gewesen, hätte man es für ein Zimmer in einer Pension halten können.

„Oh, das ist aber … schlicht“, sagte Audrey.

„Meine Schwester war schon immer sehr angepasst. Sie ist ein paar Jahre älter als ich und lebt schon längere Zeit in Neuseeland.“ Sie waren beide „Unfälle“ gewesen.

„Ist sie zur Beerdigung gekommen?“

Sie war nicht da gewesen. Wie er hatte sie darunter gelitten, als Kind der Inselsäufer aufzuwachsen. Sie hatte jetzt ihre eigene Familie und lebte ein glückliches Leben. Ihm gegenüber war sie ziemlich reserviert, als wäre er Teil ihrer schwierigen Vergangenheit. Sie beide hatten sich für die Flucht nach vorn entschieden – aber leider in unterschiedliche Himmelsrichtungen. „Zu weit.“

„Das ist es wohl“, antwortete Audrey mitfühlend.

Wie viele spitze Bemerkungen hatte er sich bei der Beerdigung anhören müssen! Wir sind wohl nicht gut genug für deine Schwester, was? Eure Großmutter hat alles für euch gegeben. Da wäre es das Mindeste gewesen, dass Shona ihr das letzte Geleit gibt.

Copper hatte betont, dass das größte Gesteck von ihr gekommen war, aber es änderte nichts daran, dass die Leute ihre Abwesenheit als Zeichen mangelnder Treue auffassten.

„Es gibt eine Heizung, aber die wärmt nur mäßig. Mach den an, wenn du magst“, sagte er und wies auf den Kamin.

„Wow, ich hatte noch nie einen Kamin im Zimmer“, antwortete Audrey begeistert.

„Wenn es noch kälter wird – und das wird es wohl –, müssen wir alle Kamine nutzen. Aber keine Sorge, du wirst nicht zum Holzhacken eingeteilt.“

„Warum nicht?“

Weil das Holzhacken das Einzige war, das ihn in den vergangenen Tagen davor bewahrt hatte, komplett durchzudrehen; die körperliche Arbeit beruhigte ihn. „Weil das mein Job ist“, sagte er stattdessen.

„Warum nicht? Weil ich eine Frau bin?“, erwiderte sie gereizt. Wenn Cooper einen auf „ich Tarzan, du Jane“ machen wollte, dann war er an die Falsche geraten. Auch wenn sie keine Ahnung vom Holzhacken hatte – sie würde es schon hinkriegen. Wobei …

„Nie würde ich auf die Idee kommen, so etwas auch nur anzudeuten“, erwiderte er; seine Mundwinkel zuckten.

Wollte er sie ärgern? Dann war es ihm gelungen. Kaum, dass sie sich dazu durchgerungen hatte, ihn nett zu finden, war er gemein zu ihr. Doch das würde sie sich nicht gefallen lassen.

Doch nun sah Cooper sie ernst an. „Ich würde nie auf die Idee kommen, zu behaupten, dass du etwas nicht kannst, weil du eine Frau bist. Schon allein, weil ich es dann mit dem Geist meiner verstorbenen Großmutter zu tun bekommen würde.“

Audrey versuchte, sich vorzustellen, wie der Geist einer Granny erscheinen und Cooper aus dem Haus jagen würde, und lächelte.

„Worüber lachst du?“

„Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie man Holz hackt“, antwortete sie.

„Aha …“ Er sah ein wenig überrascht aus, aber nicht entsetzt oder enttäuscht. Ihr fiel auf, dass sie sich in der Zeit mit Rafael angewöhnt hatte, bang den Atem anzuhalten, wenn sie zugab, etwas nicht zu können. Wie hatte sie sich wünschen können, dass eine Beziehung, in der sie nicht ohne Angst sie selbst sein konnte, ein ganzes Leben lang halten würde?

„Soll ich es dir beibringen?“, fragte Cooper.

Wow. Damit hatte sie so gar nicht gerechnet. „Ja!“

„Willst du es wirklich lernen, oder willst du mir nur etwas beweisen?“

In der Frage klang kein Spott oder Ähnliches mit – es war einfach nur eine Frage.

„Doch, ich würde gern lernen, wie man Holz hackt“, sagte Audrey.

„Dann machen wir das, wenn wir mal im Hellen hier sind“, schlug er vor.

Sie lächelten einander an, was Audrey zuversichtlich stimmte, was das zukünftige Verhältnis zu Cooper betraf. Er mochte etwas merkwürdige Vorstellungen von Arbeitsbekleidung in der Adventszeit haben und wechselte ein bisschen zu schnell zwischen brummig und freundlich hin und her, aber vielleicht würden sie sich nach diesem Gespräch nicht mehr in die Haare kriegen.

In ihrem Bauch machte sich ein Kribbeln breit, das sie sich ungern eingestand und das an Stellen vordrang, von denen sie geglaubt hatte, dass sie für immer unempfänglich geworden waren.

Interessant.

Und ganz schön beunruhigend.

Cooper reichte ihr die Hand. „Abgemacht. Freut mich, dass wir uns die Hausarbeit teilen.“

Ein Prickeln jagte Audrey durch den Arm, als er ihre Hand zögerlicher losließ.

Und sie hatte das Gefühl, dass er es auch gespürt hatte.

Er räusperte sich und rieb sich energisch die Hände. „Also gut. Ich weiß, es ist noch früh, aber ich werde mich langsam hinlegen. Möchtest du noch etwas essen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Die Riesenportion Fish and Chips hat mir gereicht. Ganz köstlich, übrigens.“

„Die besten in ganz Schottland“, sagte er stolz. Ihre Blicke trafen sich kurz, dann schaute er beiseite. „Also dann … darf ich dir noch einen Tee oder eine heiße Schokolade als Schlummertrunk bringen?“

Audrey schüttelte den Kopf; sie wollte ihm nicht noch mehr Umstände bereiten. „Danke. Es reicht mir, wenn ich noch heiß duschen kann, bevor ich schlafen gehe.“

„Perfekt. Also dann gute Nacht!“

Audrey ließ sich auf die Bettkante sinken und bemerkte, dass die Decken handgequiltet waren. Wie gern hätte sie Coopers Großmutter kennengelernt!

Sie selbst hatte eine wundervolle, aber etwas einsame Kindheit gehabt. Ihr Vater hatte sein Bestes gegeben, aber sie hatte die anderen Kinder immer um ihre großen Familien beneidet. Deswegen hatte sie sich auch so sehr darauf gefreut, eine Familie mit Rafael zu gründen.

Was eine interessante Frage aufwarf: Hatte sie vielleicht nicht Rafael gewollt, sondern eigentlich nur eine Familie? Vielleicht hatte sie ihm seine herrische Art verziehen, weil sie es auf etwas ganz anderes abgesehen hatte. Auf Kinder, mit denen sie lachen und spielen könnte. Die Familie, die sie nie gehabt hatte. Wie auch immer, das war vorbei, und sie war weit davon entfernt, an eine Familie zu denken. Sie musste erst einmal herausfinden, was sie eigentlich wollte.

Es gab Schlimmeres im Leben als die Trennung von einem Verlobten, der einen betrogen und belogen hatte. Den Tod einer geliebten Großmutter zum Beispiel. Es rührte Audrey, wie sehr Cooper unter dem Verlust litt. Wenn er auch nur ein kleines bisschen wie seine Granny war, dann verbarg sich hinter der schroffen Art und dem Weihnachtsmannkostüm ganz sicher ein goldenes Herz.

4. KAPITEL

Audrey, Finlay und Cooper sahen zur Zimmerdecke des Untersuchungsraums auf, in der ein großes Loch klaffte. Cooper richtete den Strahl einer starken Taschenlampe darauf. „Das sieht nicht gut aus.“

„Sollen wir alles Nötige von hier nach nebenan bringen?“, fragte Audrey. Sie war froh darüber, dass sie sich um anderer Leute Probleme kümmern konnte – auch wenn dieses spezielle Problem bedeutete, dass sie zunächst bei Cooper würde bleiben müssen. Was vielleicht nicht so optimal war.

Denn erstens hatte sie das Gefühl, dass er eher ein Einzelgänger war, der sich nicht unbedingt über Hausgenossen freute. Und zweitens hatte sie sich gestern Abend leider vorgestellt, wie er sich auszog und ins Bett ging, und dieses mehr als ansprechende Bild war ihr dann nicht wieder aus dem Kopf gegangen. Was natürlich absolut nicht sein durfte.

„Ich glaube, wir sollten alles, was wir brauchen, in ein anderes Gebäude schaffen“, sagte Cooper.

Er hatte wohl recht – es sah tatsächlich aus, als wäre die Decke von einer Abrissbirne getroffen worden.

„Dann mal los“, sagte Cooper. „Ich glaube, ich habe in der Abstellkammer ein paar leere Kartons gesehen. Finlay, könntest du in der Kirche anrufen? Wir schlagen unsere Zelte im Gemeindesaal auf, wie damals bei der Blutspendeaktion.“

„Daran erinnerst du dich?“, fragte Finlay.

„Ja“, antwortete Cooper knapp.

Finlay klopfte Cooper auf die Schulter. „Gutes Gedächtnis, mein Sohn.“

Coopers Züge entspannten sich; es war, als würde es ihm aus irgendeinem Grund guttun, „mein Sohn“ genannt zu werden.

„Magst du uns beim Packen helfen?“, fragte Cooper, der sie dabei erwischt hatte, wie sie ihn nachdenklich ansah.

„Klar“, sagte Audrey und hoffte, dass er nicht bemerkte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss.

Cooper anzuschauen war allzu leicht. Und ein wenig zu angenehm. Er sah so gut aus mit seinem wuscheligen dunklen Haar, seinen strahlend blauen Augen und seinem Dreitagebart …

Eigentlich komisch – sie hatte nicht gedacht, sich je wieder von dem angenehmen Äußeren eines Mannes hinreißen zu lassen, nachdem … Stopp. Sie musste endlich einen Schlussstrich unter dieses entwürdigende Kapitel ziehen. Sie hatte drei Monate ihres Leben an diesen Mann verschwendet. Das reichte.

Während sie die wichtigsten Dinge zusammenpackten, fing Audrey an, sich ungewohnt leicht zu fühlen.

Irgendetwas an diesem Unglück war so … lustig war nicht das richtige Wort, da der Schaden zu groß war, definitiv zur falschen Jahreszeit kam und bedeutete, dass sie den Rest ihrer Zeit auf Bourtree im Haus von Coopers Granny verbringen würde. Aber vor vier Tagen hatte sie gemeint, ihr ganzes Leben sei zusammengebrochen. Sie hatte gesehen, dass alle möglichen Dinge maximal schiefgehen konnten – und dass einen das nicht umbrachte. Das hatte ihr gezeigt, dass sie stärker war, als sie geglaubt hatte.

Autor

Annie Oneil
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