Julia Weihnachtsband Band 34

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UNVERGESSLICHES WEIHNACHTSWUNDER FÜR DEN MILLIONÄR von JENNIFER FAYE
Immobilientycoon Graham Toliver weiß: Eigentlich sollte er den in die Jahre gekommenen Apartmentblock abreißen, doch er hat die Rechnung ohne die entschlossene Alina gemacht. Gegen jede Vernunft lässt er sich auf einen verrückten Deal ein, an dessen Ende ein überraschendes Weihnachtswunder wartet …

EIN DADDY ZUM FEST DER LIEBE? von ANNIE O’NEIL
Nie hätte Matthew damit gerechnet, dass er Amanda nach jener verboten sinnlichen Nacht vor drei Jahren noch einmal wiedersieht. Gibt es im sanften Schein der Adventskerzen eine zweite Chance für sie – oder zerbricht ihre Liebe an dem Geheimnis, das Amanda schon viel zu lange vor ihm verbirgt?

WINTERKÜSSE FÜR DIE FALSCHE PRINZESSIN von HEIDI RICE
Ein Rollentausch mit ihrer Zwillingsschwester, bevor diese eine Vernunftehe eingehen muss? Für die abenteuerlustige Juno kein Problem! Auf dem glamourösen Winterball schwebt sie mit dem Verlobten ihrer Schwester über die Tanzfläche – ohne dass Leonardo weiß, dass er die Falsche in seinen Armen hält …

GLAUB AN DEN ZAUBER DER CHRISTNACHT, JAMIE! von KATE HARDY
Weihnachten? Nein, danke! Seit einer Tragödie hasst Jamie den Dezember. Doch seine neue Kollegin Anna will ihn vom Zauber ihrer Lieblingsjahreszeit überzeugen. Darf er sich diesem strahlenden Weihnachtsengel öffnen, oder zerstören seine düsteren Erinnerungen alle Hoffnung auf einen Neuanfang?


  • Erscheinungstag 15.10.2021
  • Bandnummer 34
  • ISBN / Artikelnummer 9783751501354
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Jennifer Faye, Annie O’Neil, Heidi Rice, Kate Hardy

JULIA WEIHNACHTEN BAND 34

JENNIFER FAYE

Unvergessliches Weihnachtswunder für den Millionär

Ausgerechnet kurz vor Heiligabend soll Alina ihr Dach über dem Kopf verlieren? Niemals! Also macht sie dem neuen Hausbesitzer einen Vorschlag: Sie organisiert für Graham Toliver die schönste Weihnachtsparty von New York, und er sorgt dafür, dass alle Mieter eine neue Bleibe finden. Doch dann erfährt sie etwas, das jeglichen Deal unmöglich macht …

ANNIE O’NEIL

Ein Daddy zum Fest der Liebe?

Dieses Jahr kommt bei Amanda einfach keine Festtagsstimmung auf. Sie sucht dringend einen neuen Job – und ihr Mitbewerber ist ausgerechnet Matthew! Auf keinen Fall soll er erfahren, dass jene leidenschaftliche Nacht vor drei Jahren süße Folgen hatte … Oder darf Amandas kleiner Sohn sich vielleicht einen Daddy zu Weihnachten wünschen?

HEIDI RICE

Winterküsse für die falsche Prinzessin

Unter den prächtigen Kronleuchtern auf dem Winterball schlägt Leonardos Herz höher. Er tanzt mit seiner bezaubernden Verlobten, und schon bald verbringen sie Zeit zu zweit auf seinem einsamen Jagdschloss in den tief verschneiten Bergen. Alles könnte perfekt sein – da entdeckt er, dass er die ganze Zeit schmählich betrogen wurde …

KATE HARDY

Glaub an den Zauber der Christnacht, Jamie!

Kinderärztin Anna braucht jemanden, der für ihre kleinen Patienten den Weihnachtsmann spielt – warum nicht ihr neuer Kollege Jamie? Aber der stellt sich als größter Weihnachtsmuffel aller Zeiten heraus! Anna setzt alles daran, ihm den Zauber dieser besonderen Zeit näherzubringen. Doch gelingt es ihr auch, die Mauer um sein Herz einzureißen?

1. KAPITEL

Weihnachten lag in der Luft …

Im Radio spielten sie fröhliche Weihnachtslieder. Die Schaufenster von Manhattan waren üppig mit Lametta und Lichterketten geschmückt. Und auch hier in Holly Lane war die Eingangshalle der Stirling Apartments mit Girlanden und einem mit elektrischen Kerzen und roten Kugeln geschmücktem Weihnachtsbaum herausgeputzt.

Für Alina Martin war es zweifellos die schönste Zeit des Jahres. Sie liebte Weihnachtslieder, liebte es, ihre Wohnung zu dekorieren und fand es wunderbar, wie diese Zeit das Beste in den Menschen zum Vorschein brachte. In diesem Jahr allerdings musste sie auf ein Weihnachtswunder hoffen, das sie davor bewahrte, ihr Zuhause zu verlieren.

Im Moment war sie damit beschäftigt, ihre Schürze zu suchen und ging in Gedanken noch einmal durch, wo und wie sie die letzten vierundzwanzig Stunden verbracht hatte. Im Restaurant hatte sie Frühschicht gehabt, bevor sie dann nachmittags die Aufgaben ihres Zweitjobs als Hausmeisterin erledigt hatte. Irgendwann war sie müde nach Hause gegangen. Das Leben in New York war teuer, und doch würde sie nirgendwo lieber leben als hier.

„Mrrrr …“

Sie sah hinunter und entdeckte ihren rot getigerten Kater, den sie liebevoll Prince nannte.

„Betteln hilft nichts“, meinte Alina, als Prince sich an ihrem Bein rieb. „Du hast Frühstück gehabt.“

Sie dachte wieder an ihre verschwundene Schürze und fand sie schließlich im Trockner.

Sie rollte sie zusammen und stopfte sie in ihre Tasche, schlüpfte in ihre Stiefel, warf sich den roten Wintermantel über, setzte ihre Wollmütze auf und eilte aus der Tür. Der Aufzug war nicht da, also nahm sie die Treppe. Am New Yorker Standard gemessen war der in die Jahre gekommene Apartmentkomplex kein großes Gebäude. Doch auf seinen fünf Etagen wohnten Menschen, die Alina gerne als ihre Adoptivfamilie bezeichnete.

Als sie die Eingangshalle erreichte, entdeckte sie Meg, ihre beste Freundin, die gerade vor den Briefkästen stand. Doch statt wie üblich fröhlich zu lächeln, blickte sie finster drein und wedelte mit einem Brief. „Hast du das schon gelesen?“

„Was ist das?“

„Noch ein Brief über unseren Rausschmiss.“

„Was?“ Alina rannte zu ihrem Briefkasten, zog den Brief heraus und überflog ihn. Der neue Hausbesitzer erklärte sich sogar bereit, den Bewohnern Geld zu zahlen, wenn sie bis Ende des Jahres auszogen.

Sie sah ihre Freundin an. „Mach dir keine Sorgen. Toliver muss neunzig Tage warten, bevor er die Zwangsräumung beantragen kann.“

„Aber das ist dann im Februar. Die Zeit reicht niemals, um eine neue Wohnung zu finden.“

Einer der Mieter, der erst vor Kurzem eingezogen war, eilte vorbei und nickte ihnen zu. Die Haustür schwang auf und ließ einen Schwall kalte Winterluft herein, bevor sie sich hinter ihm schloss.

„Uns wird schon etwas einfallen“, meinte Alina. „Und wenn ich im Büro dieses ekelhaften Kerls so lange protestieren muss, bis er mich empfängt. Ich muss jetzt los, sonst komme ich zu spät zur Arbeit.“

„Ich muss auch los“, erklärte Meg. „Du weißt ja, ich habe dieses einwöchige Seminar in L.A. Und danach bin ich ein paar Wochen bei meinen Eltern in Wyoming. Aber den Besuch kann ich absagen, falls du mich brauchst.“

„Nein. Viel Vergnügen. Immerhin hast du deine Familie ein Jahr lang nicht gesehen.“

Meg sah sie unsicher an. „Bist du sicher?“

„Absolut.“

„Halte mich auf dem Laufenden.“

„Mach ich.“ Alina umarmte sie kurz. „Ich melde mich.“

Sie drehte sich eilig um und rannte prompt in ein solides Hindernis. Als sie aufblickte, stellte sie fest, dass es ein hochgewachsener Mann war. Es waren seine geheimnisvollen braunen Augen, die sofort ihr Interesse weckten. Irgendwie schien sie darin zu versinken.

Je länger sie ihn anstarrte, desto deutlicher erkannte sie die Verärgerung in seinem Blick. Na und? Was stand er hier auch einfach so herum!

„Entschuldigung“, murmelte sie und schob sich an ihm vorbei.

Wenn sie ihre U-Bahn noch erreichen wollte, musste sie jetzt rennen.

So schnell wie sie es bei dem nassen Schnee wagte, machte sie sich auf den Weg. Währenddessen kehrten ihre Gedanken zu dem geheimnisvollen Mann zurück. Wer er wohl war? Und was wollte er in ihrem Haus? Gut, es war nicht ihr Haus, aber es fühlte sich so an. Denn sie war nicht nur die Hausmeisterin, man hatte sie inoffiziell auch damit beauftragt, den Widerstand zu organisieren, der das Stirling davor bewahren sollte, abgerissen und durch ein protziges Hochhaus ersetzt zu werden.

Vielleicht war es wirklich an der Zeit, Mr. Tolivers Büro einen weiteren Besuch abzustatten. Aber immer, wenn sie versuchte, einen Termin auszumachen, war er entweder auf Geschäftsreise oder hatte in naher Zukunft keinen Termin frei. Sie war fest davon überzeugt, dass er die ganze Zeit in seinem Büro saß.

Als sie zusammen mit anderen Bewohnern des Sterling einen friedlichen Protest veranstaltet hatte, war sogar die Polizei gerufen worden. Sie kochte immer noch vor Wut, wenn sie daran dachte, wie dieser Mann ihr aus dem Weg ging und die Wahrheit nicht sehen wollte. Welchen Schaden er nämlich im Leben von anderen Menschen anrichtete. Das nächste Mal würde sie sich nicht so leicht davonjagen lassen.

Graham Toliver knirschte mit den Zähnen.

Unglaublich, wie diese beiden jungen Frauen gerade über ihn hergezogen hatten! Und das auch noch in seiner Gegenwart! Sie mussten doch gehört haben, wie sich die Eingangstür öffnete. Der andere Mann hatte sie ihm aufgehalten.

Aber die beiden hatten einfach weiter getratscht, und das nicht gerade leise.

Schlimm genug, wenn der Vorstand ihm nicht vertraute, aber dass völlig Fremde seine Fähigkeiten als Boss eines Familienunternehmens infrage stellten, war doch die Höhe!

Er sah wieder die junge Frau mit den rosa Strähnen im hellblonden Haar vor sich. Als sie in ihn hineingerannt war, hatten ihre Blicke sich ineinander verhakt. Einen Moment lang war es gewesen, als würde die Zeit stillstehen. Sie war ihm bekannt vorgekommen, aber er war sich sicher, ihr noch nie begegnet zu sein. Diese blauen, von langen, dunklen Wimpern umrahmten Augen hätte er bestimmt nicht vergessen.

Aber ganz gleich, wie hübsch er sie auch finden mochte, über das, was sie gesagt hatte, konnte er nicht einfach hinweggehen. Andererseits durfte er die Worte dieser unhöflichen Person auch nicht zu ernst nehmen. Höchstwahrscheinlich würden sie sich nie wieder über den Weg laufen.

Anstatt an ihre faszinierenden Augen zu denken und daran, dass sein Herz bei ihrem Anblick einen Sprung gemacht hatte, sollte er sich besser auf den Grund seiner Anwesenheit konzentrieren. Sein Gespräch mit dem Hausmeister. Er zog einen Zettel mit einem hastig hingekritzelten Namen aus der Tasche.

Hieß das Al? Er kniff die Augen zusammen, aber er konnte den schwungvollen Schriftzug nicht entziffern. Der Nachname war besser zu lesen. Martin. Alan Martin? Vielleicht.

Als er aufblickte, befand er sich allein in der Eingangshalle. Er war nicht daran gewöhnt, dass Leute an ihm vorübergingen, als wäre er ein Niemand. Im Büro wollte man immer etwas von ihm. Eine Unterschrift, eine Antwort auf eine Frage. Doch hier in den Stirling Apartments erkannte ihn niemand. Interessant.

Er setzte seinen Weg durch das Gebäude fort. Dieser Al oder Alan sollte doch nicht so schwer zu finden sein. Und da stand er auch schon vor einer Tür mit einem schwarzen Schild, auf dem Hausmeister stand.

Graham klopfte. Keine Antwort. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Es war kurz vor acht. Der Kerl musste doch schon bei der Arbeit sein. Seine Angestellten fingen jedenfalls früh an.

Gerade als er erneut klopfen wollte, öffnete sich etwas weiter entfernt auf dem Gang eine Tür. Ein alter Mann trat heraus. Sie nickten einander zu, und Graham richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Tür vor ihm. Dieses Mal klopfte er lauter. Wieder rührte sich drinnen nichts.

Als der alte Mann langsam den Flur entlangkam, räusperte sich Graham. „Entschuldigung, wissen Sie, wo ich …“, er warf einen Blick auf den Zettel, „einen Al oder Alan Martin finden kann?“

Der Mann lächelte unter seinem weißen Schnurrbart. „Versuchen Sie es im Christmas Café.“

Warum? Bevor er fragen konnte, war der Mann im Aufzug verschwunden.

Er hatte noch nicht gefrühstückt. Mal kurz in diesem Christmas Café vorbeizuschauen, war vielleicht gar nicht so schlecht. Er hatte seinem Vorstand versprochen, dass es ihm gelingen würde, die Mieter davon zu überzeugen, mit Beginn des neuen Jahres auszuziehen.

Und so machte er sich auf den Weg zu dem Restaurant. Hatte er diesen Alan erst einmal aufgestöbert, würde er schon dafür sorgen, dass sie zu irgendeinem Ergebnis kamen. Er musste nur herausfinden, welchen Preis der Kerl verlangte.

2. KAPITEL

Alina kam gerade noch rechtzeitig zu ihrer Schicht.

Sie hasste es, zu spät zu kommen. Ihr Vater pflegte zu sagen, dass sie das von ihm hätte. Alina musste ihm glauben, denn als ihre Mutter starb, war sie noch zu jung gewesen, um sich an solche Einzelheiten zu erinnern.

Woran sie sich erinnerte, war das Lächeln ihrer Mutter. Ein strahlendes, warmes Lächeln. Und daran, dass sie freundlich und liebevoll gewesen war. Nach der Wiederheirat ihres Vaters hatte ihre Stiefmutter jedes Erinnerungsstück an Alinas Mutter aus der Wohnung in Manhattan entfernt. So als könnte sie damit auch die Vergangenheit auslöschen.

Alina verdrängte die Gedanken an ihre Kindheit. Wenn sie nicht bald Bestellungen aufnahm und Essen servierte, würde sie kein Trinkgeld bekommen. Und wenn sie kein Trinkgeld bekam, würde sie ihre Miete nicht zahlen können. Und das wäre ein weiterer Grund für den neuen Hausbesitzer, sie in die Wüste zu schicken.

Wie konnte jemand nur so kalt und berechnend sein?

Sie hob den Blick und betrachtete die glitzernde Lichterkette an der Decke. Das vornehme Restaurant übertrieb es etwas mit der Weihnachtsdekoration. Doch das machte auch seinen Charme aus. Die weißen Wände waren mit Weihnachtsmotiven geschmückt, und im ganzen Speisesaal waren blühende Weihnachtssterne verteilt. Und nahe am Empfang stand Santa Claus in seinem roten, mit schneeweißem Pelz abgesetzten, samtenen Gewand, umgeben von Elfen in roten Overalls und spitzen Hüten.

„Beeil ich“, meinte Sally, die Geschäftsführerin, lächelnd. „Heute gibt es viel zu tun. Es wird den ganzen Tag schneien. Nicht viel, aber genug, um die Leute in Weihnachtsstimmung zu versetzen. Sie werden losziehen und Weihnachtseinkäufe machen. Denk an meine Worte.“

„Wahrscheinlich hast du recht.“ Sorgfältig band Alina sich die Schürze um und nahm die ersten Bestellungen auf.

Im Moment war nicht besonders viel los. Alle Frühstücksgäste waren bereits gegangen. Doch jetzt, in der Weihnachtszeit, würden Passanten den ganzen Tag über in das Café kommen, wenn sie eine kurze Kaffeepause brauchten, bei der Suche nach dem richtigen Geschenk für den einen, ganz besonderen Menschen in ihrem Leben.

An dieser Suche würde Alina sich nicht beteiligen, denn ihr Freund hatte nach gerade mal sechs Monaten mit ihr Schluss gemacht, weil sie angeblich zu wenig Zeit für ihn gehabt hatte.

Als der vorige Hausmeister kündigte, um nach Florida zu ziehen, hatte sie seinen Posten übernommen. Zwei Jobs nahmen allerdings viel Zeit in Anspruch. Deshalb hatte sie nie Zeit für eine Verabredung. Sie konnte ihrem Ex wirklich nicht vorwerfen, dass er sie verlassen hatte. Wenn sie nicht im Restaurant arbeitete, war sie jederzeit abrufbereit für die Mieter des Stirling gewesen.

Alina nahm gerade ihr Tablett vom Tresen, als Sally zu ihr trat. „An einem meiner Tische sitzt ein Gast, der dich sprechen möchte. Zumindest glaube ich, dass er dich meint.“

„Du glaubst es nur?“

Sally lachte. „Ich dachte, du möchtest ihn dir vielleicht gerne einmal anschauen. Er ist richtig süß, und er trägt keinen Ring.“

„Lass mich raten. Würde zu Hause nicht so ein Ehemann auf dich warten würde, würdest du ihn gerne für dich behalten?“

Sally grinste. „Wie hast du das erraten? Der Typ fragte nach Alan Martin. Man hätte ihm gesagt, er würde ihn hier finden.“

„Alan? Im Ernst? Okay. Mal sehen, was er will.“

Sally deutete auf einen Tisch nahe den großen Fenstern, durch die man auf die belebten Straßen sehen konnte. Hoffentlich war das hier jetzt nicht ein neues Problem. Inzwischen standen ihr die Probleme bis zum Hals.

Sie ging zu dem Tisch. Der Mann hielt den Kopf gebeugt und studierte die Speisekarte. Das gab ihr Gelegenheit, ihn sich genauer anzusehen. Er hatte dunkle, kurz geschnittene Haare, und jedes einzelne Haar schien akkurat an seinem Platz zu liegen. Der Anzug, den er trug, sah teuer aus.

„Entschuldigung“, sagte sie. „Sie haben nach mir gefragt.“

Als er den Kopf hob, trafen sich ihre Blicke, und ihr Herz setzte fast aus. Diese braunen Augen hätte sie überall wiedererkannt.

Der Fremde runzelte die Stirn. Anscheinend war sie nicht die Einzige, die sich an ihren Zusammenstoß von heute Morgen erinnerte.

„Sie? Sie sind doch die Frau aus dem Stirling?“ Er legte die Speisekarte beiseite.

„Und Sie sind der Mann, der uns belauscht hat.“

„Habe ich nicht. Ich habe höflich darauf gewartet, eine Frage stellen zu können.“

„Wenn Sie meinen. Trotzdem hätten Sie sich räuspern oder etwas sagen können.“ Sie lächelte gezwungen. „Ich muss wieder an die Arbeit.“

„Wo ist denn nun Alan?“

„Es heißt Alina. Und ich stehe genau vor Ihnen, aber nicht mehr lange.“

„Warten Sie.“ Er griff in seine Tasche und zog einen Zettel hervor. „Ich suche einen Al oder Alan Martin. Er ist Hausmeister in den Stirling Apartments in der Holly Lane.“

„Ich bin der Hausmeister.“

Der Mann schien zu überlegen, ob er ihr glauben konnte oder nicht. „Darf ich Sie etwas fragen?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Dürfen Sie. Das heißt aber nicht, dass ich Ihnen auch antworte.“

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und ließ ihn geradezu umwerfend aussehen. Alina stockte der Atem. Für einen kurzen Moment vergaß sie, dass sie sich über ihn ärgerte und nahm sich einen Augenblick Zeit, ihn genauer zu betrachten. Er trug einen dunkelgrauen Anzug mit einem strahlend blauen Hemd. Keine Krawatte. Der oberste Hemdknopf war offen und gab den Blick frei auf eine silberne Halskette. Vielleicht würde es nicht schaden, ihm eine Chance zu geben.

Ihr Blick wanderte über ein glatt rasiertes, energisches Kinn hinauf zu seinen dunklen Augen. Er musterte sie ebenfalls. Warum war er an ihr interessiert?

Was wollte er sie fragen? Dieser Mann wäre eine Zierde auf sämtlichen Titelseiten der Hochglanzmagazine. Auf keinen Fall interessierte sie ihn als Frau. Ihre Erinnerungen an die verletzenden Bemerkungen ihrer Stiefmutter waren noch sehr lebendig.

„Was hat es mit dem Restaurant hier auf sich?“, fragte er.

„Wie bitte?“

„Heißt es wirklich Christmas Café?“

„Ja.“

Er machte große Augen. „Etwa das ganze Jahr über?“

Sie nickte und lächelte. „Hier drinnen ist das ganze Jahr über Weihnachten.“

„Selbst im Sommer? Ganz schön viel Weihnachten.“

„Sie sind wohl kein besonderer Weihnachtsfan?“

„Nein.“ Die Antwort kam ohne zu zögern.

Was, um alles in der Welt, hatte ihn so miesepetrig werden lassen? Aber sie hatte jetzt keine Zeit, das herauszufinden, ganz gleich, wie gerne sie gewusst hätte, wer dieser Mann mit den dunklen, geheimnisvollen Augen war.

„Ich muss jetzt wirklich wieder an meine Arbeit“, sagte sie. „Möchten Sie etwas bestellen?“

„Gleich. Zuerst muss ich mit Ihnen über das Apartmenthaus sprechen.“

„Falls Sie eine Wohnung suchen, ist das die falsche Adresse.“

„Warum?“

„Weil irgendeine Firma versucht, alle Eigentümer und Mieter aus ihren Wohnungen zu vertreiben.“

„Versucht?“

„Sie haben Briefe verschickt, aber der Kampf ist nicht vorbei. Er beginnt gerade.“

„Und was heißt das?“

Sie blickte ihn misstrauisch an. „Warum all die Fragen? Sind Sie etwa ein Reporter?“

Die Idee gefiel ihr. Der Presse ihre Geschichte erzählen! Warum hatte sie nicht schon längst daran gedacht?

„Ich bin kein Reporter.“

„Was sollen dann all die Fragen über das Apartmenthaus?“

„Ich bin der neue Besitzer.“

Wie bitte? Alina starrte ihn entgeistert an. Er schien es zu genießen, sie überrumpelt zu haben. Aber das würde ihr nicht noch einmal passieren.

War es wirklich so eine Überraschung für sie?

Eigentlich hatte er erwartet, dass sie ihn erkennen würde. Vielleicht war es ihm zu gut gelungen, der Presse aus dem Weg zu gehen, seit er CEO war. Anders als sein Vater hatte er nie ein Leben in der Öffentlichkeit führen wollen. Sein Vater hingegen war nur glücklich gewesen, wenn seine Firma die Nummer eins in der Geschäftswelt, sein Sohn der Klassenbeste und seine Familie die Nummer eins in den Schlagzeilen war. Der zweite Platz war nie gut genug.

„Sie können nicht Graham Toliver sein“, meinte Alina. „Der ist viel älter. Ich habe Fotos gesehen.“

„Das war mein Vater, Graham Toliver II. Ich bin Graham Toliver III. Könnten Sie sich vielleicht hinsetzen, damit wir reden können?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich muss arbeiten.“

„Es dauert nicht lange. Ich möchte Ihnen ein Angebot machen.“

Sie öffnete schon den Mund, um abzulehnen. Doch dann presste sie die Lippen aufeinander, als würde sie darüber nachdenken. „Ich höre.“

„Alina.“ Eine Kellnerin trat zu ihr, noch ehe Graham antworten konnte. „Kannst du am Dienstagnachmittag eine Extraschicht übernehmen? Gerade kam eine große Reservierung rein. Wir könnten Hilfe brauchen.“

„Ich kann nicht. Ich habe im Haus zu tun.“

„Bitte, Alina“, meinte die Frau, auf deren Namensschild Sally stand. „Du weißt doch, was diese großen Gruppen für ein Trinkgeld geben. Das würde dir doch helfen, wenn dieser Idiot dich aus deiner Wohnung schmeißt.“

Alina wurde rot. „Lass mich darüber nachdenken. Kann ich dich anrufen?“

„Ich merke dich mal vor. Wenn es nicht klappt, kannst du es mir morgen sagen.“

Graham schluckte. Alina tat ja gerade so, als würde er alle Hausbewohner mit nichts als ihren Habseligkeiten in die Wüste schicken! Er hatte ihnen doch ein faires Angebot gemacht. Und hatte es noch erhöht, falls sie früher auszogen!

Alina wandte sich wieder ihm zu. „Ich muss wieder an die Arbeit.“

„Ich habe Sie gesucht, um mit Ihnen zu einer Einigung zu kommen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Sie verschwenden Ihre Zeit.“

„Ich kann warten, bis Sie wieder Pause haben.“ Es gab zwar etliche Besprechungen an diesem Morgen, aber das hier war wichtiger.“

„Die nächsten vier Stunden werde ich keine Pausen haben. Meine Schicht hat gerade erst angefangen. Und ich kann Sie nicht den ganzen Tag hier sitzen lassen.“

„Dann essen Sie mit mir.“ Die Worte waren heraus, ehe er darüber nachgedacht hatte.

Sie sah ihn mit großen Augen erstaunt an. „Nein.“

„Warten Sie. Das soll kein Date sein. Was ich meinte, war ein geschäftliches Essen.“

Alina schüttelte den Kopf. „Ich halte das für keine gute Idee.“

Er war nicht bereit aufzugeben. „Ich dachte, Sie wollten mit dem Mann sprechen, der Ihr Haus gekauft hat.“

„Will ich auch“, sagte sie schnell.

„Gut.“ Er lächelte zufrieden. „Um sieben Uhr schicke ich Ihnen einen Wagen.“ Er stand auf.

„Was? Nein.“

„Sie wollen also kampflos aufgeben?“

„Natürlich nicht.“

„Also dann haben Sie nachher die Möglichkeit, mich davon zu überzeugen, warum alles beim Alten bleiben soll.“

Sie zögerte. „Gut.“

Bevor er ging, tauschten sie noch ihre Telefonnummern aus.

Wieder auf der Straße, strich Graham über das Gesicht. Die Wahrheit war, dass er eigentlich keine Lust hatte, sich ihre sentimentalen Gründe anzuhören, warum das Gebäude nicht abgerissen werden sollte. Er persönlich hatte solche Gespräche nie geführt, doch er war dabei gewesen, wenn sein Vater sie geführt hatte.

Sein Vater hatte nie viel Geduld besessen. Schon nach dem ersten Satz seiner Gesprächspartner war er ihnen ins Wort gefallen und hatte sie niedergemacht. Aber Graham war nicht sein Vater. Manchmal musste man den Leuten eben das Gefühl geben, ernst genommen zu werden. Er würde sein Wort halten und Alina anhören. Was nicht hieß, dass er seine Meinung ändern würde.

3. KAPITEL

Warum um alles in der Welt, hatte sie bloß zugesagt?

Den Rest des Tages konnte Alina an nichts anderes denken als an ihr bevorstehendes Date … äh, Geschäftsessen mit Graham Toliver. Sie verwechselte zwei Bestellungen und erhielt einen sanften Rüffel von ihrer Chefin. Als sie nach Hause kam, hatte sie eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter, dass Grace Taylors Küchenspüle undicht war. Während Alina sich der Spüle annahm, überlegte sie, was sie für das Dinner anziehen sollte. Statt eine Verbindung zu schließen, drehte sie sie auf, und alles endete damit, dass ein Schwall Wasser in ihrem Gesicht landete.

Kaum war sie mit der Spüle fertig, rannte sie in ihre Wohnung zurück und simste ihrer Freundin Meg, was sie wohl für ein Abendessen mit ihm anziehen sollte. Prompt tauchte Meg in der Tür auf. „Ich kann nicht glauben, dass du mit ihm ausgehst.“

„Das ist kein Date. Das ist alles rein geschäftlich.“

Alina wollte sich nicht eingestehen, dass ihr Herz raste bei dem Gedanken, Graham Toliver gegenüberzusitzen und in seine faszinierenden Augen zu sehen.

„Also, was soll ich anziehen?“ Sie hielt Jeans und einen roten Pullover hoch. „Was ist damit?“

Meg zog die Augenbrauen hoch. „Was hast du gesagt, wohin er mit dir essen gehen will?“

„Steht in meinem Handy. Kein Name, nur eine Adresse.“

Meg tippte die Adresse in ihr Handy ein. „Das ist kein Restaurant. Das ist ein Bürogebäude. Und nicht irgendeins, sondern das berühmte Diamond Building.“

„Somit ist das geklärt.“ Alina schnappte sich die Jeans und den Pullover.

Meg nahm ihr die Kleider weg. „Das kannst du nicht anziehen. Nicht, wenn du diesen Kerl beeindrucken willst.“

„Will ich doch gar nicht.“

„Doch, willst du.“

„Wieso soll ich den Mann beeindrucken wollen, der uns allen das Zuhause wegnimmt?“

„Jetzt hör mir mal zu, Alina. Du brauchst diesen Kerl. Er ist der Einzige, der den Abriss des Hauses verhindern kann.“

„Was soll ich also deiner Meinung nach anziehen?“

„Lass mal sehen.“ Meg durchstöberte Alinas Schrank, und Alina hatte das Gefühl, dass es ein Fehler gewesen war, ihre Freundin mit der Kleiderwahl zu beauftragen.

Genau um sieben war Alina bereit.

Draußen war es schon dunkel, doch der nachtblaue Himmel war klar.

Eine schwarze Limousine hielt vor dem Stirling Gebäude. Der Fahrer stieg aus und öffnete den Schlag für Alina. Als Graham gesagt hatte, er würde ihr einen Wagen schicken, hatte Alina an ein Taxi gedacht, nicht an einen Wagen mit Chauffeur. Nervös stieg sie ein und strich mit der Hand über das weiche Leder des Sitzes. Bei solch einem Luxus war es kein Wunder, dass Mr. Toliver nicht verstehen konnte, wieso anderen Menschen ein altes Gebäude so viel bedeutete.

Sie sah an sich herunter, betrachtete das elegante schwarze Kleid, das sie nicht hatte anziehen wollen. Jetzt war sie Meg für ihre Hartnäckigkeit dankbar. Wenn sie wollte, dass Mr. Toliver sie ernst nahm, waren Jeans und bequemer Pullover nicht das Richtige.

Und vielleicht konnte ihr auch ein wenig Insiderwissen helfen. „Entschuldigen Sie.“

„Ja, Ma’am?“, sagte der Chauffeur.

„Fahren Sie regelmäßig für Mr. Toliver?“

„Ja, Ma’am. Wir sollten in fünf Minuten dort sein.“

„Danke. Aber was ich fragen wollte … wie ist Mr. Toliver denn so?“

„Mr. Toliver ist der beste Boss, den ich je hatte.“

Das verblüffte sie jetzt wirklich. Natürlich hatte sie erwartet, dass der Mann etwas Nettes über seinen Chef sagen würde. Aber so weit zu gehen und zu sagen, er wäre der Beste …

Vielleicht kannte er ihn nicht gut genug. „Wie lange arbeiten Sie schon für ihn?“

„Ich arbeite für ihn und seine Familie seit elf Jahren. Ich habe immer als Chauffeur gearbeitet. Die Tolivers haben mich regelmäßig angefordert und dann irgendwann fest angestellt. Mr. Graham ist ein guter Mann. Wenn man sich ihm gegenüber anständig verhält, verhält er sich einem gegenüber auch anständig.“

Alina war sprachlos. Sie wollte Mr. Toliver unbedingt unsympathisch finden. Schließlich war er im Begriff, sie aus ihrer Wohnung zu werfen. Und dieser Mann hier war mehr als bereit, Toliver über den grünen Klee zu loben.

Der Wagen hielt vor dem Diamond Building. Alina stieg aus und blieb auf dem Bürgersteig stehen. Den Kopf in den Nacken gelegt, sah sie an dem Gebäude empor. Es erhob sich höher und höher, und die oberen Stockwerke verloren sich im dunklen Nachthimmel. Und das alles gehörte diesem Mann? Wow.

Der uniformierte Wachmann an der Rezeption zeigte ihr den Weg zu einem Aufzug, der sie zum obersten Stockwerk brachte. Es wäre gelogen gewesen, wenn sie behauptet hätte, sie wäre nicht aufgeregt. Angefangen von dem schicken Wagen mit Chauffeur bis hin zu dem beeindruckenden Firmengebäude gab es nichts an diesem Abend, was sie nicht von der unglaublichen Macht dieses Mannes überzeugte. Trotzdem würde es sie nicht daran hindern, ihm ihre Meinung zu sagen.

Es ertönte ein dezenter Klingelton, die Lifttür schob sich auf und gab den Blick frei auf eine eindrucksvolle weiße Lobby mit einem Kristalllüster.

Alina ging auf die einzige Tür zu, die zu sehen war. Dahinter führte ein langer Gang in einen großen Raum. Die Wände waren schwarz und der Boden schien wie aus weißem Marmor. Bis auf einen langen Tisch war der Raum leer. Wo war Mr. Toliver?

„Sie sind gekommen.“

Beim Klang der Männerstimme wandte sie sich um. Graham Toliver trug noch immer den dunkelgrauen Anzug und das blaue Hemd und sah aus, als wäre er direkt einem Modemagazin entsprungen. Für den Bruchteil einer Sekunde stellte Alina sich vor, wie es wohl wäre, mit diesem Mann wirklich ein Date zu haben, und ihr Herz schlug schneller. Er würde eine Frau sicher sehr glücklich machen. Aber diese Frau war sie nicht.

„Natürlich bin ich gekommen“, sagte sie. „Es gibt Dinge, über die wir reden müssen.“

Er trat näher. Seine Augen waren dunkel und schwer zu lesen. „Ja, das müssen wir. Kommen Sie bitte hier entlang.“

Sie hätte ihn gerne gefragt, wohin sie gingen, aber sie widerstand der Versuchung. Sicher führte er sie in sein riesiges, ultramodern eingerichtetes Büro, wo er ihr erklären würde, warum seine Pläne unabänderlich waren.

„Treten Sie ein“, sagte er.

„Wo sind wir?“, fragte sie und sah sich überrascht um.

„Ein Konferenzsaal. Die Wände sind beweglich. Für heute Abend habe ich den Raum verkleinern lassen. Ich hoffe, Sie sind damit zufrieden.“

„Es ist sehr hübsch.“ Die bodentiefen Fenster weckten ihr Interesse.

Durch sie hatte man einem Blick über ganz Manhattan, dessen Lichter im Dunkel glitzerten. „Wie können Sie hier arbeiten? Ich würde die ganze Zeit nur aus dem Fenster sehen.“

Er trat neben sie. Um ihn zu berühren, hätte sie nur die Hand ausstrecken müssen. Nicht, dass ihr das in den Sinn kam, doch seine Nähe ließ ihren Puls rasen.

„Die Aussicht ist wirklich erstaunlich.“ Seine Stimme klang tief und voll und sandte einen Schauer über ihren Körper.

„Zu schade, dass Sie den Weihnachtsbaum auf dem Times Square nicht sehen können.“

„Mir ist das egal. Aber wenn ich recht verstehe, mögen Sie so etwas.“

„Sie meinen die Weihnachtsstimmung? Mag die nicht jeder?“

„Nein.“

Sie erinnerte sich an ihr Gespräch im Restaurant. „Ach ja. Sie hassen Weihnachten.“

„Hassen ist zu viel gesagt, aber ich könnte ohne auskommen.“ Er räusperte sich. „Wie auch immer, deswegen sind Sie nicht hier.“

Dass er so gar nicht in Weihnachtsstimmung war, tat ihr leid. Was war passiert, dass er die Freude an Weihnachten verloren hatte?

Unwillkürlich stellte sie sich Graham als kleinen Jungen vor. Sie konnte nicht glauben, dass ein Mann aus einer so reichen Familie am Weihnachtsmorgen keine Geschenke vorgefunden hatte. Da musste mehr dahinterstecken. Aber sie widerstand dem Verlangen, ihn danach zu fragen.

Der Raum war überhaupt nicht weihnachtlich geschmückt.

Kein Baum. Keine Lichterketten. Nichts.

Was war da los? Alina ließ den Blick durch den makellosen, perfekt eingerichteten Raum schweifen. Er wirkte kalt und steril.

Erst jetzt hörte sie die leise Musik. Sie lauschte und erwartete eigentlich etwas Weihnachtliches zu hören. Aber es war eine Big Band. Hübsch, doch nicht das, was sie zurzeit selbst auswählen würde. Bis zum Fest hörte sie nur Weihnachtslieder.

Graham ging zu einem kleinen Tisch, und Alina folgte ihm. Zwei Stühle mit weichen Kissen standen an den gegenüberliegenden Enden des Tisches. Auf dem Tisch brannte eine weiße Kerze und mit teurem Porzellan war für zwei Personen gedeckt. Ein privates Dinner für zwei?

Alinas Herz klopfte schneller. Sahen so die geschäftlichen Verabredungen von Mr. Toliver aus? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er auch sonst in diesem Ambiente einen Deal aushandelte. Warum also unternahm er bei ihr diese Anstrengung?

Unvermittelt fragte sie sich, ob er vielleicht an ihr interessiert war. Und genau so schnell verwarf sie diese dumme Idee. Warum sollte er? Er wollte ihr Haus abreißen, und sie war ihm dabei im Weg.

Hoffte er vielleicht, mit ein bisschen Kerzenschein und gutem Essen würde er sie rumkriegen?

„Mr. Toliver …“

„Bitte, nennen Sie mich Graham.“

„Na gut, Graham. Ich dachte, Sie wollten über Geschäftliches reden.“

„Ich dachte, wir könnten beim Essen reden.“

Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Dinner mit dem Feind. Vielleicht würde er ihr beim Essen etwas sympathischer werden.

„Mr. … äh, Graham, die Angelegenheit wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmen.“

„Dann sollten wir mit dem Essen anfangen“, meinte er und gab dem Kellner auf der anderen Seite des Raums ein Zeichen.

„Bitte, setzen Sie sich doch.“ Er zog ihr einen Stuhl heran.

„Danke.“ Als er wartete, um den Stuhl für sie zurechtzurücken, sagte sie: „Ich kann das allein.“

Einen Moment lang musterte er sie scharf. „Ich habe nicht erwartet, dass Sie es mir leicht machen, aber müssen wir uns jetzt den ganzen Abend wie Gegner benehmen? Sie kennen mich doch noch nicht einmal.“

Das stimmte. Sie wusste nichts über ihn. Außer dem, was sie im Internet recherchiert hatte. Noch nicht einmal ein aktuelles Foto hatte sie gefunden. Nur eines aus seiner Zeit auf dem College, mit langen Haaren und Bart. Jetzt waren die dichten dunklen Haare an den Seiten kurz geschnitten, die Locken oben etwas länger. Und sein sonnengebräuntes Gesicht war glatt rasiert.

Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie sehr sie sich eine abwehrende Haltung zugelegt hatte.

Ihr Ex hatte ihr übel mitgespielt. Jetzt war sie doppelt vorsichtig. Menschen, auf die sie sich verlassen, denen sie vertrauen konnte, waren schwer zu finden. Und diesem Mr. Designeranzug mit seinem Millionen-Dollar-Lächeln traute sie schon gar nicht.

Graham setzte sich ihr gegenüber. Sie musterte sein markantes Kinn, die gerade Nase und diese sehr wachsamen Augen und fragte sich, ob er sie genauso beobachtete wie sie ihn. Als er lächelte, wurde ihr ein wenig flau im Magen. Sie verhinderte gerade noch rechtzeitig, dass sie zurücklächelte.

Oder ärgerte sie sich am meisten über sich selbst? Denn er musste nur lächeln, und schon vergaß sie, dass sie etwas Geschäftliches zu besprechen hatten.

„Also, warum müssen Sie gerade dort bauen, wo das Stirling steht?“

„Sie kommen sofort zur Sache, was?“ Er sah sie an, als wüsste er nicht so recht, was er von ihr halten sollte.

„Ich habe keine Zeit zu verschwenden.“

„Da haben wir etwas gemeinsam.“

„Ich bezweifle, dass wir irgendetwas gemein haben“, sagte sie.

Nach ihren Worten herrschte angespannte Stille. Dann nickte er. „Falls Sie glauben, weil wir uns treffen, würde ich meine Meinung ändern, haben Sie sich getäuscht.“

Sie ließ seinen Satz im Raum stehen, ohne darauf zu antworten. „Warum müssen Sie das Stirling abreißen?“, fragte sie erneut.

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. „Nicht, dass ich Ihnen eine Erklärung schulde, aber meine Firma besitzt bereits einige der anliegenden Grundstücke. Es geht darum, den vollen Wert einer Anlage zu nutzen.“

In dem Moment kehrte der Kellner zurück und servierte eine Kristallschüssel, in der auf fein gehobeltem Eis ein halbes Dutzend Riesengarnelen thronte, mit einer Zitronenscheibe und Cocktailsauce. Erst jetzt merkte Alina, dass sie seit dem Morgen nichts gegessen hatte.

Und dann knurrte noch unüberhörbar ihr Magen. Vor Verlegenheit wurde sie rot und zögerte zuzugreifen, auch wenn ihr beim Anblick der Speisen das Wasser im Mund zusammenlief.

„Na los.“ Graham entfaltete seine weiße Leinenserviette. „Greifen Sie zu.“

Das musste er ihr nicht zweimal sagen. Aber sie legte sich Zurückhaltung auf, schließlich wollte sie bei Graham keinen schlechten Eindruck hinterlassen.

„Warum wollen Sie unbedingt ein altes Gebäude retten?“

„Es ist mehr als ein altes Gebäude. Und das, was Sie vielleicht Mängel nennen, nenne ich Charme.“

„Ich weiß, Sie haben da Ihre Wohnung. Aber das heißt doch nicht, dass Sie sich nicht irgendwo anders eine gemütliche Wohnung einrichten können.“

Sie musste Graham davon überzeugen, dass das Stirling viel mehr war als nur ein Haufen Steine. Aber wie? Und warum glaubte er, dass ein Zuhause so leicht auszutauschen war?

„Das Stirling ist unersetzlich. Die Leute da sind wie eine Familie, wir sind Freunde.“

„Nichts, was man nicht auch woanders finden kann.“

Alina musste innerlich stöhnen. Er hörte ihr nicht zu. Nicht so, wie sie wollte, dass er ihr zuhören sollte. Wenn ihre Worte nicht ausreichten, dann musste sie ihm eben zeigen, was Sterling für sie und seine Bewohner bedeutete.

„Denken Sie auch so von Ihrem eigenen Zuhause?“

Er nahm einen Schluck von seinem Eiswasser. „Mir gefällt es, wo ich lebe. Aber gäbe es einen zwingenden Grund auszuziehen, würde ich das ohne Weiteres tun.“

Sie sah ihn ungläubig an.

„Glauben Sie mir nicht?“

„Nein.“

Ein Muskel zuckte an seiner Wange. „Sie geben vor, mich zu kennen. Aber egal, wie viel Sie über mich gelesen haben, Sie kennen mich nicht.“

So ganz stimmt das nicht. Sie konnte sehen, dass er ein Mann war, der sich einer Herausforderung stellte. Diese Erkenntnis wollte sie zu ihrem Vorteil nutzen.

Der Hauptgang bestand aus Pasta mit feiner Tomatensoße mit frischen Kräutern. Dazu wurde etwas Hühnchen serviert. Es sah köstlich aus und schmeckte noch besser.

Während sie jeden Bissen genoss, überlegte sie, wie sie Graham davon überzeugen konnte, dass das Sterling mehr war als nur ein altes Gebäude.

Als ihr Teller leer war, schob sie ihn beiseite und musterte Graham. Ohne großes Interesse schob er sein Essen auf dem Teller hin und her und schien in Gedanken verloren.

„Danke für das Essen“, sagte sie. „Es war sehr gut.“

„Das war ein Fehler.“ Graham knüllte seine Serviette zusammen und warf sie auf den Tisch.

„Was? Das Essen?“

„Alles. Ich dachte, wir könnten das Geschäftliche bei einem netten Essen abwickeln. Aber offensichtlich war das eine Fehleinschätzung.“ Graham stand auf. „Ich denke, wir sollten unser Gespräch in meinem Büro fortsetzen.“

Alina war es nur recht. So konnten sie diesem intimen Dinner bei Kerzenlicht entfliehen.

Sie faltete ihre Serviette zusammen und legte sie auf den Tisch, während er, ohne auf sie zu warten, mit großen Schritten auf den Ausgang zuging.

Sie begaben sich ein Stockwerk tiefer. Statt weiß und schwarz war das Foyer in erdigen Tönen gehalten mit einem königsblauen Teppich, der die Schritte dämpfte. Dem Aufzug gegenüber befand sich der Empfangsraum. Mit goldenen Buchstaben stand Toliver Investments an der Wand.

Graham ging zu einer Glastür auf der rechten Seite. Er öffnete sie und ließ Alina den Vortritt. Dann führte er sie zu dem Büro am Ende des Flurs. Sie wusste nicht recht, was sie erwartete, als er eine der beiden mächtigen Türflügel öffnete, aber es war ganz bestimmt kein mit Akten beladener Schreibtisch.

„Ich entschuldige mich für das Durcheinander“, meinte er. „Seit ich den Posten übernommen habe, gibt es eine Menge zu überprüfen. Mein Vater war altmodisch und bevorzugte Akten.“

Er ging voraus, nahm einen Schwung Akten und legte sie auf den Tisch. Dann kehrte er zu seinem Schreibtisch zurück. „So ist das besser.“

Alina setzte sich vor seinen Schreibtisch, während er in einem großen schwarzen Ledersessel Platz nahm. Es gefiel ihr nicht, dass sie, im Vergleich zu ihm, niedriger zu sitzen schien, und dass ein großer Schreibtisch zwischen ihnen stand.

Sie wollte, dass dieser Mann sie ernst nahm. Immerhin ging es um eine wichtige Sache, nicht nur für sie, sondern für alle, die im Sterling lebten. Für all die Leute, die ihr Hühnersuppe brachten, wenn sie sich nicht wohl fühlte und mit ihr ihren Geburtstag feierten. Sie hatten sie sozusagen adoptiert, nachdem ihr Vater gestorben war, und Alina würde ihnen für immer dankbar sein.

„Mr. Toliver, hier steht eine Menge auf dem Spiel, und ich möchte, dass Sie mich ernst nehmen.“

„Und das tue ich nicht, wenn Sie mich Graham nennen?“

Warum machte er alles so schwierig? Falls er sie damit verwirren wollte, würde es nicht funktionieren. Während des Essens, als sie ihren Feind ein wenig besser kennenlernte, war ihr eine Idee gekommen.

„Die Sache hier ist für uns beide wichtig. Sie haben ein Gebäude, das Sie bauen wollen. Und ich habe Wohnungen, die ich retten möchte.“

Graham stützte die Ellbogen auf den Tisch und beugte sich vor. „Und wie sollen wir Ihrer Meinung nach dieses Problem lösen?“

„Es ist offensichtlich, dass einer von uns nachgeben muss.“

„Dem stimme ich zu. Wie Sie wissen, biete ich eine großzügige Entschädigung, wenn alle Bewohner einverstanden sind, zu Jahresbeginn auszuziehen. Und damit das geschieht, brauche ich Ihre Einwilligung.“

Alina wurde das Herz schwer. Seinem Plan zuzustimmen würde bedeuten, dass es für sie das letzte Weihnachten in ihrer Wohnung sein würden. „Warum meine?“

„Weil man mir gesagt hat, dass die Leute Ihnen folgen. Und wenn ich daran denke, was ich heute Morgen so mitbekommen habe, würde ich dem zustimmen. Ich weiß auch, dass Sie lange versucht haben, einen Gesprächstermin mit mir zu bekommen …“

„Vergeblich.“

„Ich war in wichtigen Besprechungen.“

Alina ließ sich in den Sessel zurücksinken. Sie hatte eine Idee. Eine Idee, bei der sie alles verlieren, aber auch gewinnen könnte. „Ich schlage Ihnen einen Deal vor.“

Er sah sie überrascht an. „Sie wollen mein großzügiges Angebot neu verhandeln?“

„Ja.“ Hoffentlich klang ihre Stimme sicherer als sie sich fühlte.

Es entstand eine bedeutungsvolle Pause. „Ich höre.“

Alina jubelte innerlich. Sie hatte sein Interesse geweckt. „Sie werden jedem Mieter die Umzugskosten bezahlen.“

„Und warum sollte ich das tun?“

„Um meine Unterstützung zu bekommen. Und die ist nicht billig.“

„Das wird mir gerade klar.“ Es schien, als würde er über das Für und Wider ihres Vorschlags nachdenken. „Sie verhandeln hart. Aber ich willige in den Deal ein.“

„Nicht so schnell. Ich habe noch eine Bedingung.“

Er musterte sie scharf. „Treiben Sie es nicht auf die Spitze.“

Sie straffte die Schultern und hielt seinem Blick stand. „Wollen Sie jetzt meine letzte Bedingung hören oder nicht?“

Sie sah, dass er schwer schluckte. „Und die wäre? Eine Penthouse-Wohnung für Sie?“

„Nein. Obwohl, wo Sie das gerade sagen …“ Sie verkniff sich ein Lachen und beeilte sich, weiterzusprechen. „Ich möchte, dass Sie bis Weihnachten für mich arbeiten.“

Er runzelte verwirrt die Stirn. „Wenn Sie die Sache nicht ernst nehmen …“

„Ich nehme die Sache sehr ernst. Im Café werde ich zusätzliche Schichten einlegen müssen. Deshalb werde ich keine Zeit haben, noch etwas anderes zu tun.“

„Und was soll ich machen?“

„Meinen Hausmeisterjob.“

„Sie meinen, mit Werkzeugkiste, Schraubenschlüssel und all dem?“

Beim Anblick seines entsetzten Gesichts musste sie ein Lachen unterdrücken. „Genau. Hat ein Mieter ein Problem, kümmern Sie sich drum. Ist es eine größere Sache, besorgen Sie einen Fachmann.“

Kopfschüttelnd lehnte er sich zurück. „Ich glaube, Sie verstehen nicht. Ich bin der CEO einer großen Firma. Ich habe keine Zeit, den Hausmeister zu spielen.“

Wenn ihr jetzt nicht schnell etwas einfiel … „Das heißt also, Sie haben kein Talent für diesen Job.“

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Ich wette, Sie wissen noch nicht einmal, wie man mit einem Schraubenschlüssel umgeht.“

Er richtete sich auf. „Ich enttäusche Sie nur ungern, aber ich weiß es.“

Dachte er vielleicht doch über ihre verrückte Idee nach? Und falls er Ja sagte, wären die anderen Mieter damit einverstanden? Sie hoffte es.

„Ich muss ein oder zwei Tage darüber nachdenken.“

Alina zögerte. Sie wollte nicht, dass er ihre Aufregung bemerkte. „Also gut. Ich warte darauf, von Ihnen zu hören. Und jetzt sollte ich gehen.“

Er brachte sie zum Aufzug. Als der Lift aufglitt, wandte sie sich zu ihm um. „Danke für das Dinner. Und für die Aussicht. Sie hat mir sehr gut gefallen.“

Er überraschte sie mit einem Lächeln. Es ließ seine Augen aufleuchten und ihn jünger und noch erotischer aussehen. Falls das überhaupt möglich war. Er senkte den Blick auf ihre Lippen. „Es ist eine atemberaubende Aussicht.“

Plötzlich hatte sie das eindeutige Gefühl, dass sie nicht über die gleiche Sache sprachen. Wollte er sie etwa küssen? Ihr Herz begann zu rasen.

Wenn sie nicht sofort in diesen Aufzug stieg, würde die Situation völlig außer Kontrolle geraten. Bis jetzt war sie gut mit ihm fertiggeworden. Das wollte sie nicht aufs Spiel setzen für … ja, wofür? Einen kurzen Moment des Verlangens? Einen kleinen Flirt?

„G…gute Nacht“, stotterte sie und zwang ihre Füße, sich in Bewegung zu setzen.

„Dann bis bald.“ Seine tiefe Stimme jagte eine Welle der Vorfreude durch ihren Körper.

Die Tür des Aufzugs glitt zu, und Alina drückte auf den Knopf. Was war geschehen? In einem Moment hatten sie über das Geschäftliche verhandelt und im nächsten hatte es ausgesehen, als wollte er sie küssen. Oder hatte sie sich das alles nur eingebildet?

4. KAPITEL

Sein Tag begann noch vor Sonnenaufgang.

Graham hatte sich fast die ganze Nacht schlaflos im Bett gewälzt. Seine Gedanken hatten sich einzig und allein um das Dinner mit dieser faszinierenden Miss Martin gedreht. Der Abend war wirklich nicht so verlaufen, wie er es sich vorgestellt hatte.

Nachdem er den Versuch aufgegeben hatte, doch noch Schlaf zu finden, war er unter die heiße Dusche gegangen. Er lehnte sich an die gekachelte Wand, während das heiße Wasser auf seine schmerzenden Muskeln prasselte. Sein Versuch, Ordnung in das Chaos zu bringen, das sein Vater in der Firma hinterlassen hatte, forderte seinen Zoll. Das Letzte, was er jetzt noch brauchte, war dieser bizarre Deal mit Alina.

Er verließ die Dusche, zog sich an und beschloss, einige E-Mails zu beantworten. Aber es fiel ihm schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Fortwährend schweiften seine Gedanken zu Alinas verführerischer Schönheit ab. Was hatte sie an sich, das ihn so gefangen nahm? Sie war nicht die erste schöne Frau, die seinen Weg kreuzte. Doch es war etwas absolut Einzigartiges an ihr, dass seine Aufmerksamkeit anzog.

Vielleicht war es Alinas Elan. Sie war ganz schön temperamentvoll …

„Guten Morgen.“ Mary Barnes, seine langjährige Sekretärin, betrat lächelnd sein Büro. „Sieht aus, als hätten Sie heute einen Frühstart hingelegt.“

„Morgen.“ Er warf der älteren Frau über den Rand seines Monitors hinweg einen freundlichen Blick zu. „Ich habe heute viel zu tun und wollte früh anfangen.“

Mary schüttelte den Kopf und legte einen Stapel Schriftstücke in den Posteingangskorb. „Sie arbeiten zu hart.“

„Ich muss. Gerade Sie müssten das wissen.“

„Ihr Vater hatte Ihnen gewiss ein ziemliches Chaos hinterlassen, aber müssen Sie alles allein machen?“

„Ich darf nicht das Vertrauen des Vorstands verlieren.“

Sie nickte. „Ich verstehe. Lassen Sie es mich einfach wissen, wenn ich Ihnen helfen kann.“

Die Entscheidung, die er Alina schuldete, lastete schwer auf ihm. Er liebte Herausforderungen. Und es war lange her, dass er eine Frau getroffen hatte, die nicht mit allem, was er sagte, einverstanden war.

„Was würden Sie sagen, wenn ich ein paar Wochen außerhalb des Büros arbeiten würde?“

„Sie machen Urlaub?“

„Wohl kaum.“ Ihm wurde klar, dass er bei dieser Sache ihre Hilfe brauchte. „Ich habe einige schwierige Verhandlungen zu führen.“

„Aber nächste Woche haben Sie doch das Meeting mit den Juristen der Firma.“

Sie hatte recht. Er konnte nicht einfach von jetzt bis Weihnachten nicht im Büro sein. Doch um langfristig die Firma zu erhalten, musste er die Bewohner aus dem Sterling herausbekommen. Je früher, je besser.

Sein Vater hatte immer davon gesprochen, eines Tages an der Stelle des Sterling Komplexes das neue Gebäude von Toliver Investments zu errichten. Er hatte nicht lange genug gelebt, um seinen Traum zu verwirklichen. Aber Graham würde es tun. Toliver Tower würde dort gebaut werden, wo sein Vater geboren und aufgewachsen war.

„Gibt es eine Möglichkeit, das Meeting über Video abzuhalten?“

Sie nickte. „Ich werde mein Bestes tun. Soll ich Ihre persönlichen Besprechungen ebenfalls absagen?“

„Noch nicht. Ich werde Sie es wissen lassen.“

Der Gedanke, nicht mehr täglich ins Büro zu kommen, gefiel ihm nicht. Er war ein Mann, der gerne alles unter Kontrolle hatte.

Wie auch immer, er musste eine Entscheidung treffen. Im Büro bleiben und die kostenaufwändige Verzögerung seiner Baupläne akzeptieren? Oder Alinas Angebot annehmen?

Der Tag war nur sehr schleppend vergangen.

Alina hatte die Zeit damit verbracht, ein Treffen mit den Hausbewohnern zu organisieren, einschließlich ihrer Stiefmutter. Es war das erste Mal, dass ihre Stiefmutter bei irgendetwas auf ihrer Seite war. Als sie hörte, wie hoch die Abfindungssumme war, stimmte sie voll und ganz dafür. Die Sache war nur, wenn sie eine Abfindung erhalten wollten, mussten sie alle früher ausziehen.

Es gab eine heiße Diskussion. Mr. Merryweather, der wie ein Vater für Alina war, und Mr. Jacksons, ein talentierter Musiker, waren am hartnäckigsten dagegen. Aber als Alina verkündete, sie hätte einen Plan, sprachen ihr alle das Vertrauen aus.

Es wurde Donnerstagabend und immer noch kein Wort von Graham.

Alina hatte an diesem Tag die Frühschicht gehabt und sich am Nachmittag auch noch um eine Weihnachtsparty gekümmert. Jetzt war sie zu Hause und ging unruhig auf und ab. Den ganzen Tag über hatte sie immer wieder ihr Telefon gecheckt. Wie es aussah, besaß er noch nicht einmal den Anstand anzurufen und ihren Vorschlag abzulehnen.

Es klopfte.

„Komme.“ Alina holte tief Luft und ging zur Tür. Durch den Spion konnte sie nur den Teil einer Schulter erkennen.

„Wer ist da?“

„Graham.“

Graham? Jetzt noch? Was hatte das zu bedeuten?

Sie öffnete die Tür. „Was machen Sie hier?“

Er sah sie überrascht an. „Nicht gerade der Empfang, den ich mir erhofft habe. Kann ich reinkommen?“

Hätte sie gewusst, dass er kommen würde, hätte sie schnell noch aufgeräumt. So stand noch das Geschirr vom Abendessen in der Spüle, und ihre Notizen mit den Partyplänen fürs Café lagen überall auf der Couch und dem Tisch verstreut. Aber was blieb ihr anderes übrig?

Sie trat zurück und öffnete die Tür ganz. „Natürlich. Kommen Sie herein.“

Sie schloss die Tür, eilte zur Couch und fing hastig an, die Papiere auf einen Stapel zu legen.

„Ich … war gerade am Arbeiten.“ Sie wollte nicht, dass er sie für unordentlich hielt.

„Es tut mir leid, dass ich so hereinplatze. Ich war bei einem Geschäftsessen und merkte, dass ich Ihre Telefonnummer im Büro vergessen hatte.“

„Oh.“ Sie deutete auf zwei Sessel gegenüber der Couch. „Bitte, setzen Sie sich doch.“

Immer noch im Mantel ging er zu dem einen Sessel und ließ sich auf dessen Rand nieder. Offensichtlich hatte er nicht vor, länger zu bleiben.

In dem Moment kam ihr Kater ins Zimmer und marschierte geradewegs auf Graham zu. Prince sprang auf die Armlehne und starrte Graham an. Der starrte zurück.

„Ist er freundlich?“, fragte Graham.

„Oh ja. Prince liebt jeden.“

Graham streckte die Hand aus, um die rote Katze zu streicheln. Prince fauchte und sprang weg.

„Prince“, rief Alina. Der Kater zuckte noch nicht einmal mit den Ohren, während er in Richtung Schlafzimmer verschwand. „Tut mir leid“, meinte Alina. „Das macht er sonst nie.“

Graham räusperte sich. „Ich habe ernsthaft über Ihren Vorschlag nachgedacht.“

Alina hielt den Atem an.

Er sah sie fest an. „Und ich habe beschlossen, auf Ihr Angebot einzugehen.“

„Wirklich? Ich meine, das ist toll.“

„Meine Antwort hat so lange auf sich warten lassen, weil ich die Abmachung noch rechtlich absichern musste.“ Er zog einige Papiere aus der Innentasche seines Jacketts und hielt sie ihr hin. „Sie warten nur noch auf Ihre Unterschrift.“

Alina starrte auf die Papiere. Sie hätte nie geglaubt, dass er ihren Vorschlag so ernst nehmen würde.

Er lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Falls Sie möchten, dass Ihr Anwalt einen Blick darauf wirft, so geht das in Ordnung.“

Alina sah, dass es nur zwei Seiten waren. Auf der zweiten Stand Grahams Unterschrift.

„Alina, alles ist okay …“

Sie brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Dann las sie den Vertrag, Zeile für Zeile. Überrascht stellte sie fest, dass er sehr leicht zu verstehen war. Und er enthielt nichts, was sie nicht besprochen hatten. Er galt vom morgigen Tag bis zum Weihnachtsabend.

Alina griff nach einem Stift, der auf ihrem Tisch lag, unterschrieb und gab Graham den Vertrag zurück. „Dann werden Sie also morgen früh hier sein?“

Er nickte.

„Sie wissen schon, dass Sie auch hier wohnen müssen?“ Als er sie überrascht ansah, wurde sie rot. „Nicht in meiner Wohnung. Ich meine hier, im Sterling.“

„Und wie stellen Sie sich das vor?“

„Alle Wohnungen sind im Moment belegt. Aber da ist noch das Büro des Hausmeisters. Dort gibt es ein Bett und ein kleines Badezimmer.“

Er lehnte sich zurück. „Das ist nicht Ihr Ernst, oder?“

„Sie wohnen zu weit weg, dazu der Straßenverkehr. Falls es einen Rohrbruch gibt oder einen wirklichen Notfall, sollten Sie schon in der Nähe sein.“ Er sollte eine beträchtliche Zeit hier verbringen, damit er die Bewohner kennenlernte, und auch damit ihm bewusst wurde, was für sie das Besondere am Sterling und seinen Bewohnern war.

Gespannt wartete sie, was er als Nächstes sagen würde.

„Gut. Morgen früh bin ich wieder hier.“ Er stand auf.

„Bevor Sie gehen, sollte ich Sie mit allen bekannt machen.“

„Mit allen?“

„Natürlich. Da ist die reizende Mrs. Hanasey in 504 mit ihrem kleinen Hund Louie. Und unten in 306 Mr. Jones. Er bittet immer darum, dass man ihm bei seinem Kreuzworträtsel hilft. Na los. Die wollen Sie alle kennenlernen.“

„Jetzt?“

„Natürlich. Morgen früh haben alle zu tun, machen sich für die Arbeit fertig oder kümmern sich darum, dass die Kinder zur Schule kommen.“

Und so besuchten sie alle fünf Stockwerke und klopften an jeder Tür. Die meisten Leute reagierten etwas zögerlich, aber keiner feindlich. Zum Glück waren ihre Stiefmutter und ihre Stiefschwestern unterwegs.

Als sie vor dem Büro des Hausmeisters standen, drehte Graham sich zu ihr um. „Zeigen Sie mir auch noch mein neues Zuhause?“

Wenn sie ihm das Büro in seinem jetzigen chaotischen Zustand zeigte, würde er bestimmt sofort die Flucht ergreifen. Und sie könnte es ihm noch nicht einmal übelnehmen.

„Ich … ich habe den Schlüssel nicht dabei.“

„Na gut, das kann auch bis morgen warten.“

„Eine gute Idee.“ Sie schenkte ihm ein Lächeln. „Sie sollten jetzt gehen. Immerhin müssen Sie noch einiges packen.“

„Sie haben recht.“ Er stand vor ihr und sah sie an. Einen Moment länger als nötig, und das verursachte bei ihr sofort wieder Herzklopfen. „Gute Nacht.“

Alina schluckte schwer. „Gute Nacht.“

Sie befürchtete, ihre Stimme könnte ihm verraten, wie sehr seine Nähe sinnliches Verlangen in ihr weckte. Nicht, dass sie vorhatte, ihren Gefühlen nachzugeben! Immerhin war er der Feind. Das durfte sie nicht vergessen.

5. KAPITEL

Gegen besseres Wissen hatte er Alinas seltsamer Forderung zugestimmt.

Seinen wichtigsten Mitarbeitern musste er die Wahrheit sagen, na ja, nicht die ganze Wahrheit. Er teilte ihnen mit, er wäre dabei, mit den Mietern über einen vorzeitigen Auszug aus dem Sterling zu verhandeln.

Alle waren beeindruckt davon, dass er diese wichtige Angelegenheit selbst in die Hand nahm und nicht einem Untergebenen übertrug. Hätten sie von seiner Abmachung mit Alina gewusst, währen sie es sicher überhaupt nicht gewesen.

Freitagmorgen, Punkt sieben Uhr, parkte sein Chauffeur den Wagen vor dem Sterling.

Mit Headset, damit er jederzeit Anrufe aus dem Büro empfangen konnte, betrat er das Gebäude und begegnete genau drei misstrauischen Blicken, einem Hallo und einem Sie sind also wirklich gekommen.

Vor dem Büro des Hausmeisters blieb er stehen und drückte auf die Türklinke. Es war abgeschlossen. Zeit, Alina einen Besuch abzustatten.

Mit einem Aktenkoffer und einer kleinen Reisetasche in der Hand stand er kurz darauf vor ihrem Apartment und fragte sich immer noch, ob seine Entscheidung richtig war. Er wollte die Antwort gar nicht wissen und klopfte.

Kurz darauf wurde die Tür geöffnet. Die Überraschung stand Alina ins Gesicht geschrieben. Graham sah an sich herunter. Vielleicht hatte er ja zwei verschiedene Schuhe angezogen. Aber alles war in Ordnung.

Er hob den Blick. „Sie scheinen überrascht zu sein, mich zu sehen. Ich habe mich doch nicht in der Zeit geirrt?“

„Nein. Ich … ich bin nur überrascht, dass Sie das wirklich durchziehen wollen.“

Er runzelte die Stirn. „Haben Sie etwa Ihre Meinung geändert?“

Sie schüttelte den Kopf. „Alles okay. Kommen Sie herein.“ Er trat ein und stellte seine Tasche neben der Tür ab. Die Strahlen der Morgensonne fielen durch die Fenster ihres Wohnzimmers und brachen sich an der Weihnachtsdekoration, angefangen bei einem weiß glitzernden Schneemann mit rotem Schal bis hin zu einer Kristallschale mit glänzend roten Christbaumkugeln auf dem Couchtisch. Je mehr er sich umsah, desto mehr merkte er, dass der ganze Raum weihnachtlich geschmückt war.

„Ich habe ein wenig dekoriert“, meinte sie.

„Ein wenig?“ Wo hätte sie noch mehr schmücken können?

Als könnte sie seine Gedanken lesen, sagte sie: „Der Weihnachtsbaum fehlt noch. Aber bei zwei Jobs hatte ich noch keine Zeit, einen zu besorgen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Lassen Sie mich nur meine Schuhe anziehen, dann zeige ich Ihnen, wo Sie wohnen werden.“

Während sie die Schule anzog, schaute er sich weiter um. Die Möbel waren alt, aber gepflegt. Das bescheidene Wohnzimmer und die Küche wirkten ein wenig vollgestopft, aber ordentlich aufgeräumt. Er fragte sich, ob das wohl immer so war, oder ob sie sich besondere Mühe gegeben hatte, weil sie wusste, dass er auftauchen würde. Sicher nicht. Sie schien sich nicht viel darum zu kümmern, was er von ihr dachte. Vielleicht hatte gerade das sein Interesse geweckt.

„Ich bin fertig.“ Alina ging zur Tür.

Er folgte ihr, und als er neben ihr stand, nahm er einen zarten Duft nach Beeren und Champagner wahr. Bevor er noch einmal diesen berauschenden Duft einatmen konnte, verließ sie die Wohnung, und Graham fühlte sich irgendwie enttäuscht.

Er folgte ihr zum Aufzug.

Sie drückte auf den Knopf und sofort glitt die Tür auf. Graham trat ein und stellte fest, um wie viel kleiner dieser Aufzug war als all die Aufzüge im Diamond Building, wo sich die Büros von Toliver befanden.

Auch wenn das Gerücht umging, das Diamond Building wäre im Besitz von Toliver, es stimmte nicht. Und da alle übrigen Räume des Gebäudes belegt waren, konnte die Firma nicht expandieren. Deswegen musste das neue Firmengebäude so schnell wie möglich gebaut und bezugsfertig werden.

Ihr Schweigen zog sich hin, und Graham fühlte sich immer unbehaglicher. Und so sprach er den ersten Gedanken aus, der ihm in den Sinn kam. „Gibt es überhaupt genug Arbeit hier, um meine ständige Anwesenheit zu rechtfertigen?“

Ein wissendes Lächeln spielte um Alinas Lippen. „Sie werden schon sehen.“

Bevor er antworten konnte, hielt der Aufzug, die Tür öffnete sich quietschend, und Alina eilte schon wieder weiter.

Vor dem Hausmeisterbüro blieb sie stehen, schloss auf und öffnete die Tür.

„Home sweet home.“ Sie trat beiseite und ließ ihn als Ersten eintreten.

Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber das bestimmt nicht. Der Raum besaß keine Fenster. Und nur eine einzige Lampe an der Decke, die kaum für Helligkeit sorgte.

Die grauen Wände waren kahl. Ein alter Metalltisch stand da mit ein paar Schreibutensilien darauf. Wenn er hier arbeiten wollte, musste er auf jeden Fall einiges ändern. Und arbeiten musste er unbedingt, während er hier war.

„Ich weiß, es ist nicht besonders toll“, meinte Alina, „aber ich habe das meiste Zeug in diesen großen, begehbaren Wandschrank geräumt.“

Graham drehte sich um und entdeckte eine Tür hinter sich, durch die er Anna ins Innere folgte. Eine nackte Glühbirne hing von der Decke und beleuchtete zwei Trittleitern, einen Warmwasserspeicher, ein paar Regale, auf denen Werkzeuge, Schrauben und andere Dinge, die ein Heimwerker brauchte, akkurat angeordnet lagen.

„Hier sollten Sie alles finden, was Sie brauchen. Wenn nicht, lassen Sie es mich wissen.“

„Ich denke, ich komme klar.“

„Einen Raum muss ich Ihnen noch zeigen.“ Alina ging zur Rückwand und öffnete eine Tür. „Das ist Ihr Schlafzimmer.“

Er betrat den Raum und sah, dass er wirklich nur mit dem Nötigsten ausgestattet war. Unter dem Fenster stand ein Einzelbett, daneben ein Nachttisch mit einer Lampe.

Seit seiner Kindheit hatte er nicht mehr in einem so kleinen Bett geschlafen. Und um alles noch schlimmer zu machen, gab es eine rosa Steppdecke mit großen weißen Punkten. Das Kopfkissen hatte eine rosa Hülle mit einem Einhorn darauf. Graham kam sich vor, als hätte er gerade ein Mädchenschlafzimmer betreten.

„Ich weiß, es ist nicht das, woran Sie gewöhnt sind. Aber ich versichere Ihnen, alles ist sauber.“

So würde das nicht gehen. Nicht für ein paar Wochen. Noch nicht einmal für ein paar Tage.

Doch er behielt den Gedanken für sich. Er wollte Alina nicht beleidigen, nach all der Mühe, die sie sich gegeben hatte.

Er trat an das schmale Bett und stellte seine Tasche auf das Fußende. Irgendwo klingelte es. Graham drehte sich zu Alina um.

„Das ist das Telefon nebenan“, sagte sie. „Ich kann für Sie rangehen.“

„Das mach ich schon.“

Er ging zurück zu dem Schreibtisch und nahm den Hörer ab. Das Gespräch war kurz, der Anrufer kam gleich zur Sache.

„Ja, Mr. Merryweather. Ich bin gleich da.“ Graham legte auf.

„Was wollte er?“, fragte Alina.

„Da ist anscheinend etwas undicht in seinem Badezimmer.“

Ein Lächeln huschte über Alinas Gesicht und raubte ihm den Atem. Diese Frau hatte wirklich etwas Besonderes an sich.

„Weshalb lächeln Sie?“

„Ach, nichts.“

„Da ist doch was.“

„Ich hätte nie gedacht, dass ein großer Unternehmer wie Sie bereit sein könnte, als Hausmeister einzuspringen. Ich muss gleich zur Arbeit, aber wenn Sie mögen, kann ich Sie noch zu Ihrem Einsatz begleiten.“

„Keine Sorge. Ich schaffe das schon.“

Hoffte er jedenfalls. Und erwähnte nicht, dass seine Sekretärin ihn auf YouTube-Videos hingewiesen hatte. Die gab es für fast jedes Problem. Hoffentlich hatte er sich genug davon angesehen.

„Okay. Wenn Sie sonst nichts mehr brauchen, dann sollte ich jetzt gehen.“ Auf dem Weg zur Tür drehte sie sich noch einmal um. „Oh, habe ich ganz vergessen, das hier werden Sie brauchen.“

Als sie ihm den Schlüssel gab, berührten sich ihre Finger. Ihrer Haut war warm und zart. Ihre Blicke trafen sich. Etwas blitzte in ihren Augen auf, die so blau waren wie Kornblumen auf einem sonnenbeschienenen Feld. Einem Ort, wo man die Zeit vergessen konnte. Er hätte leicht in ihren schönen Augen versinken können. Sie zog die Hand zurück, und der Zauber war gebrochen.

Wie hypnotisiert stand er in der Tür und sah ihr nach, wie sie mit sanft schwingenden Hüften fortging. Erst als sie nicht mehr zu sehen war, erwachte er aus seiner Trance. Graham riss sich zusammen. Er durfte sich nicht ablenken lassen, ganz gleich, wie reizend diese Ablenkung auch war.

6. KAPITEL

Was hatte er sich nur dabei gedacht?

Hausmeister sein war etwas, das jenseits seiner Begabung lag. Dass Alina das alles hinbekam, zusätzlich zu ihrer Arbeit im Café, war wirklich beeindruckend. Zum Glück war seine erste Aufgabe ziemlich einfach gewesen, und er hatte kein YouTube-Video gebraucht. Ein paar Drehungen mit dem Schraubenschlüssel, mehr war nicht nötig gewesen.

Graham trug die rote Werkzeugkiste in den Wohnraum des alten Herrn. „Schaden behoben.“

„Danke“, sagte Mr. Merryweather, der mit einem Buch in der Hand in seinem braunen Lehnstuhl saß, während im Fernsehen eine Sportsendung lief. „Früher konnte ich so etwas selbst machen, jetzt kann ich mich nicht mehr so gut hinknien.“

„Kein Problem.“

Mr. Merryweather sah ihn über den Rand seiner Lesebrille hinweg an. „Sie übernehmen den Job von Alina?“

„Nur vorübergehend. Sie hat so viel mit den Weihnachtsfeiern im Restaurant zu tun.“

Mr. Merryweather nickte. „Freut mich zu hören.“

„Wieso?“

„Sie hat immer Zeit für eine Unterhaltung.“ Und was machte er gerade? „Und sie bringt mir gewöhnlich etwas Süßes mit“, fuhr Mr. Merryweather fort.

„Etwas Süßes?“

Wieder nickte Mr. Merryweather. „Sie macht die besten Kekse.“

Dachte der Mann wirklich, er würde sich auch noch Zeit nehmen, Kekse zu backen? „Tut mir leid, ich backe nicht.“

Mr. Merryweather runzelte die buschigen weißen Brauen. „Weil Sie zu sehr damit beschäftigt sind, Menschen aus ihren Wohnungen zu werfen.“

Das saß. Dieser Mann hielt nicht viel von Zurückhaltung. Hatte Alina deswegen gelächelt, als er ihr sagte, wer am Telefon war?

Egal, er musste zu diesem Mann durchdringen. „Mr. Merryweather, wäre es nicht schön, in eine neue Wohnung zu ziehen? Vielleicht in eine, wo die Rohrleitungen auf dem neuesten Stand sind?“

„Die Rohrleitungen hier sind in Ordnung. Und der Name ist Merryweather.“

„Das habe ich doch gesagt, Mr. Merryweather.“

Der Mann seufzte. „Kein Mister. Einfach nur Merryweather.“

„Okay, Merryweather. Ich bin kein Fachmann, aber selbst ich erkenne, dass in dem Gebäude hier einiges modernisiert werden müsste.“

Genau in dem Moment summte sein Headset und meldete ihm einen Anruf. Doch wer immer es auch war, er musste warten. Dieses Gespräch hier war wichtig.

Merryweather sah ihn stirnrunzelnd an. „Nur weil Sachen alt werden, heißt das nicht, dass sie nichts mehr wert sind.“

Graham fragte sich, wie teuer es ihn kommen würde, diesen Mann mit an Bord zu nehmen, was den Verkauf betraf. Denn langsam begriff er, dass er die Mieter einen nach dem anderen würde überzeugen müssen.

„Sie können sich aussuchen, wohin Sie ziehen wollen. Vielleicht in die Nähe eines Stadions. Dann müssen Sie sich die Spiele nicht im Fernsehen anschauen.“

„Ich mag mein Fernsehen. Da sehe ich die Spiele besser, als wenn ich im Stadion bin.“

Wie es schien, hatte Merryweather es darauf angelegt, sich mit ihm zu streiten. Das Beste war, wenn er seine rote Werkzeugkiste nahm und ging.

„Ich muss los“, sagte Graham.

„Sie kommen nicht mehr, oder?“

„Nicht, bis Sie mich wieder rufen.“

„Nein, ich meine, das nächste Mal wird das doch wieder Alina machen, oder?“

„Ich vertrete Alina bis Weihnachten.“

„Oh.“

Graham trat von einem Fuß auf den anderen. „Wie wäre es, wenn ich das nächste Mal etwas Süßes mitbringe?“

Interesse hellte das Gesicht des alten Mannes auf. „Was denn?“

„Was schlagen Sie vor?“

„Ich weiß nicht. Sie sind doch derjenige, der davon gesprochen hat.“

An allem war nur Alina schuld. Wer hatte je von einem Hausmeister gehört, der den Mietern Kekse mitbrachte? Genügte es nicht, wenn repariert wurde, was kaputt war? Kein Wunder, dass keiner ausziehen wollte.

„Wie wäre es mit irgendwelchen Keksen? Schließlich ist Weihnachten.“

„Nein. Die besten Plätzchen backt Alina. Ingwerkekse.“ Merryweather lächelte. „Meine Mutter machte die auch immer.“

„Ingwerkekse also. Auf Wiedersehen Mr. Merryweather.“

„Sagen Sie Alina, dass ich sie grüße.“

„Werde ich.“

Graham verließ die Wohnung und machte sich auf den Weg zum Aufzug. Dabei fiel ihm ein, dass er dort vielleicht auf einen Mieter treffen könnte, bei dem bestimmt auch etwas repariert werden musste und beschloss, die Treppe zu nehmen.

Doch als er die Feuertür öffnete und in den Gang des ersten Stocks trat, sah er vor der Tür des Hausmeisterbüros eine ältere Frau stehen.

Er hatte jetzt wirklich keine Zeit. Er musste fünf Geschäftsberichte überprüfen und zwei E-Mails absegnen. Wie Alina es schaffte, nebenher noch einen zweiten Job zu haben, überstieg seine Vorstellungskraft. Das hier schien ein Fulltime-Job zu sein.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er.

Die Frau drehte sich zu ihm um. Sie presste die Lippen aufeinander und kniff die Augen hinter ihrer schwarz gerahmten Brille zusammen. „Kenne ich Sie?“

„Nein.“

„Was machen Sie dann in diesem Haus?“ Jetzt fiel ihr Blick auf die Werkzeugkiste in seiner Hand. „Sie haben sich Alinas Werkzeugkiste ausgeliehen?“

„Schlimmer, ich springe für die Hausmeisterin ein.“

„Oh.“ Sie machte große Augen. „Einen Moment lang hatte ich das ganz vergessen.“

„Muss bei Ihnen etwas gemacht werden?“

„Kommen Sie mit.“ Sie winkte ihm mit dem gekrümmten Finger.

Seine Arbeit würde noch etwas warten müssen.

Er war der absolut heißeste Hausmeister der Welt.

Kaum war Alina am nächsten Morgen dieser völlig unpassende Gedanke gekommen, verdrängte sie ihn auch schon wieder.

Er war alles, nur nicht wie die üblichen Männer, die ihr begegneten. Und das nicht nur wegen seines schrecklich guten Aussehens. Er hielt die Schlüssel für ihre Zukunft in Händen. Er entschied, ob sie weiterhin bei ihrer behelfsmäßigen Familie blieb, die sie seit dem Verlust ihrer beiden Eltern umgab oder nicht. Und aus diesem Grund durfte sie nicht den Kopf verlieren.

Geduscht und für die Arbeit angezogen ging sie in ihr Schlafzimmer, wo Prince auf sie wartete. Er sprang vom Bett und strich ihr um die Beine. Alina beugte sich zu dem roten Kater hinunter und hob ihn hoch. Er reckte sich, drückte seine Nase auf ihre, und Alina schwoll das Herz vor lauter Liebe.

Sie trug den schnurrenden Prince in die Küche und setzte ihn auf den Boden. „Okay, ich mache dir Frühstück.“ Sie griff in den Schrank und holte eine Dose Katzenfutter und eine von seinen Schüsseln hervor.

Nachdem sie Prince versorgt hatte, füllte sie die Kaffeemaschine mit Wasser und legte ein Kaffeepad ein. Ein Knopfdruck, und ihr Kaffee wurde zubereitet. Und, bei Gott, an diesem Morgen brauchte sie eine schöne große Tasse!

Prince saß neben ihr und schlang sein Futter hinunter, als wäre er seit Tagen nicht gefüttert worden. Als die Schüssel sauber ausgeleckt war, sah er sie an, und seine Augen flehten um mehr.

„Tut mir leid, Kumpel, aber der Tierarzt sagte, ich müsse aufhören, dich so zu verwöhnen.“ Als sie sich niederbückte, um ihn hinter den Ohren zu kraulen, schoss er beleidigt davon.

Es klopfte.

Alina öffnete die Tür und sah Graham vor sich stehen. „Guten Morgen.“

„Ich brauche mehr Zeit.“

„Zeit? Wofür?“

Sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach.

Er lächelte sie an und deutete auf sein Headset. „Mir ist egal, wie Sie es anstellen. Bevor ich mir nicht noch einmal die Details angeschaut habe, unterzeichne ich nicht. Und ja, ich weiß, dass es Samstag ist. Ich muss jetzt los.“ Er sah sie ein wenig verlegen an. „Entschuldigen Sie, das war das Büro.“

„Kommen Sie herein. Wieso arbeiten Sie am Wochenende?“

„Die Geschäfte warten nicht.“

Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Anscheinend brauchte er eine Pause noch dringender, als sie gedacht hatte. Sie musterte ihn mit einem raschen Blick. Er trug Jeans und einen roten Pullover. Wenigstens etwas anderes als seine Designer-Anzüge und Krawatten. Allerdings … egal was er trug, er sah gut darin aus.

Sie riss sich zusammen. Was hatte er nur an sich, dass sie so durcheinanderbrachte?

„Stimmt etwas nicht?“ Er blickte an sich herunter und sah sie dann verwirrt an.

„Nein, ich … ich dachte nur daran, dass ich mich beeilen muss, einen Christbaum zu besorgen. Sonst sind die schönen alle weg.“ Sie beeilte sich, ihm eine Tasse Kaffee zu machen. „Sie haben bestimmt schon Ihren Baum.“

Er nahm die Tasse. „Ich sagte doch, ich bin kein Weihnachtsfan.“

„Und als Sie noch ein Kind waren?“

Graham zuckte mit den Achseln. „Mein Vater sagte, das wäre nichts als Geschäftemacherei.“

„Wie traurig, denn es ist so viel mehr. Vielleicht ändern Sie ja dieses Jahr Ihre Meinung.“

„Das glaube ich nicht. Ich muss mich um meine Firma kümmern. Das nimmt all meine Zeit in Anspruch.“

„Arbeit allein macht auch nicht glücklich.“

Er nahm einen Schluck Kaffee. „Wollen Sie damit sagen, ich sei langweilig?“

Sie hob abwehrend die Hände und tat ganz unschuldig. „Ich kenne Sie doch gar nicht.“ Sie füllte ihren Thermobecher. „Ich muss jetzt zur Arbeit. Brauchen Sie noch irgendetwas?“

„Ich dachte gerade darüber nach, ob wir zusammen abendessen könnten. Ein Geschäftsessen natürlich. Ich habe noch einige Fragen bezüglich des Hauses“, fügte er rasch hinzu.

„Tut mir leid, aber es wird spät werden. Ich arbeite so viele Stunden, wie sie mir in der Weihnachtszeit geben.“

„Wegen mir?“

Sie suchte Schlüssel und Geldbörse und vermied es, ihn direkt anzusehen. Doch dann entschied sie, dass es sinnlos war, um die Sache drum herumzureden. Sie hob den Kopf. „Ja. Die Mieten in dieser Stadt kosten langsam ein Vermögen. Und selbst wenn ich noch so spare, weiß ich nicht, ob ich es mir leisten kann, woanders zu leben. Dabei geht es mir noch besser als anderen in diesem Haus. Die sind in Rente, ohne die Möglichkeit eines zusätzlichen Einkommens.“

Er runzelte die Stirn. „Ich zahle Prämien.“

„Aber wie lange reichen die? Lassen Sie es sich von mir sagen, die reichen nicht lange.“

Graham rieb sich den Nacken. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

„Ich erwarte nicht, dass Sie überhaupt etwas sagen. Ich will nur, dass Sie die Folgen Ihres Handelns verstehen. Wirklich verstehen.“ Sie schlüpfte in ihren roten Mantel. „Ist Ihr neues Gebäude wirklich so wichtig?“

„Ja.“ Graham klang sehr entschieden.

Das war nicht die Antwort, die sie hatte hören wollen. Sie zog ihre mit weißen Schneeflocken verzierte Mütze aus der Manteltasche. Sie musste Ruhe bewahren. Schließlich war das hier erst der Anfang ihres Schlachtplans …

Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Bis später.“

Graham hielt die noch volle Tasse hoch. „Was dagegen, wenn ich die später zurückbringe?“

„Absolut nicht.“

Graham wollte zur Tür gehen, aber Alina stand ihm im Weg. Als er sich an ihr vorbeidrängte, berührten sie sich, und wieder begann Alinas Herz zu rasen. Das musste sofort aufhören!

„Wir sehen uns“, sagte sie, während sie den Deckel auf ihren Kaffeebecher schraubte.

„Ich werde hier sein.“

Und damit schloss sich die Tür. Jetzt konnte sie wenigstens tief durchatmen. Die kommenden paar Wochen würden sehr lang werden. Wirklich sehr lang.

Ihre Füße schmerzten.

Ihre Knie schmerzten.

Ihre Arme schmerzten.

Okay, eigentlich gab es keinen Teil von Alinas Körper, der nicht schmerzte. Sie hatte eine Zehn-Stunden-Schicht hinter sich. Zehn Stunden lang schwere Tabletts an all die Tische zu tragen war anstrengend.

Nach der arbeitsreichen Woche wollte sie an diesem Freitagabend nur noch die Schuhe abstreifen, und bei Kerzenlicht mit einem spannenden Krimi in ein Schaumbad steigen.

Aber als sie den Hausflur betrat, stieg ihr der wunderbare Duft von Oregano und Knoblauch in die Nase, und prompt begann ihr Magen zu knurren. Vor lauter Arbeit hatte sie keine Zeit gehabt, etwas zu essen.

In diesem Moment tauchte Graham vor ihr auf. „Sie haben mir gerade einen Weg erspart. Ich wollte zu Ihrer Wohnung, um einen Zettel an die Tür zu kleben.“

„Weswegen?“

„Dinner.“ Er erzählte ihr, dass er sich von einem der nobelsten Restaurants in Manhattan ein Dinner hatte liefern lassen.

„Wow. Ich habe noch nie gehört, dass die einen Lieferservice haben.“

„Haben sie auch nicht.“

„Aber Sie …“

„Ich kenne den Besitzer.“

„Sie sollten Ihr Essen nicht kalt werden lassen.“

„Aber ich habe genug für zwei. Oder haben Sie schon gegessen?“

„Dazu war keine Zeit. Es gab zu viel Arbeit.“

„Na gut, dann kommen Sie herein.“ Mit einer Handbewegung lud er sie ein, die Hausmeisterwohnung zu betreten.

Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber es kam ihr vor, als wäre das Apartment komplett renoviert worden. Da standen ein neuer Schreibtisch mit zwei großen Computerbildschirmen und ein schwarzer Ledersessel.

„Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, dass ich ein paar Veränderungen vorgenommen habe.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ganz und gar nicht.“

An der anderen Wand standen zwei bequem aussehende Stühle und ein kleiner Eisschrank, auf dem sich eine Mikrowelle befand.

„Das hier …“, er deutete auf die Wand hinter sich, „ist für alle, die morgens gerne einen Kaffee oder Doughnuts möchten.“

„Offensichtlich verfolgen Sie jetzt im wahrsten Sinne des Wortes die Taktik der offenen Tür.“

„So ungefähr.“

Sie betrachtete den kleinen Tisch nahe der Tür mit der neuen Kaffeemaschine und einer großen weißen Schachtel mit dem Logo einer angesagten Bäckerei. Es waren nur noch ein Donut und ein paar Krümel übrig. Er hatte sich wirklich häuslich eingerichtet. Und es sah aus, als wollte er die Bewohner des Sterling mit Bestechung für sich gewinnen.

„Setzen Sie sich.“ Er deutete auf die Stühle.

„Ich kann Ihnen helfen, das alles anzurichten.“

„Sie sind mein Gast. Ich schaffe das schon.“ Er drehte sich um und begann mit dem Auspacken.

Dieser Mann war wirklich ein Sturkopf. Alina sah zu, wie er Teller und andere Utensilien aus einer Tüte nahm und Essensbehälter aus einer zweiten. Dass er sie bediente, ließ sie sich immer unbehaglicher fühlen. Sie war absolut fähig, das selbst zu machen.

„Das ist nicht nötig“, sagte sie. „Ich kann das machen.“

„Doch, es ist nötig. Sie sehen erschöpft aus.“

„Mir geht’s gut.“ Lügnerin. „Ich kann Ihnen helfen.“

Er hob ungläubig eine Braue und sah sie an, bis sie sich hinsetzte.

Als er ihr einen Teller reichte, lief Alina das Wasser im Mund zusammen.

Graham setzte sich. „Na also, war das jetzt so schwer?“

„Was?“

„Zuzulassen, dass ich etwas für Sie tue?“

Sie stellte den Teller auf ihren Schoß. „Ich weiß nicht, wovon Sie reden.“

„Sie scheuen keine Mühen, anderen zu helfen. Aber Sie weigern sich, Hilfe anzunehmen.“

Ihre Wangen begannen zu glühen. „Wegen mir müssen sich andere keine Mühe geben. Ich komme schon allein zurecht.“

„Wie wär’s, wenn Sie anderen erlaubten, Ihnen etwas Gutes zu tun, weil die das so wollen?“

Hatte sie so viel Zeit in ihrem Leben damit verbracht, sich um andere zu kümmern, dass sie gelernt hatte, ihre eigenen Bedürfnisse zu ignorieren? Sie verdrängte den Gedanken.

Ein paar Minuten lang aßen sie schweigend. Alina unterdrückte ein lustvolles Stöhnen. „Das ist köstlich.“

„Freut mich zu hören. Sehen Sie, es tut nicht weh, wenn Sie jemandem erlauben, etwas für Sie zu tun.“

„Wirklich?“ Sie konnte nicht glauben, was sie da hörte. „Das klingt, als wäre meine Unabhängigkeit ein Fehler.“

Er senkte den Blick auf seinen Teller. „Ich sage nur, dass Sie manchmal an sich denken sollten.“

„Und all die guten Ratschläge kommen von einem Mann, der die Sturheit erfunden hat.“

„Sturheit?“

Sie nickte. „Sie bestehen darauf, alles auf Ihre Art zu tun.“

„Und das von einer Frau, die nicht akzeptieren will, dass dieses Haus abgerissen wird. Anstatt Pläne für die Zukunft zu machen, klammern Sie sich an die Vergangenheit.“

Sie sah ihn aus schmalen Augen an. „Die Vergangenheit ist wichtig. Und nicht nur ich denke so. Haben Sie denn während dieser Woche in diesem Haus gar nichts gelernt?“

„Ich habe gelernt, dass Mrs. Campbell in 203 einen niedlichen kleinen Hund hat, der sehr neugierig ist. Ich habe gelernt, dass Mr. Merryweather es vorzieht, Merryweather genannt zu werden, ohne Mister. Er ist auch eine Naschkatze und vermisst Ihre Besuche. Offensichtlich bin ich als Gesellschaft nicht annähernd so gut wie Sie. Und ich weiß, da gibt es so eine wirklich neugierige Frau im ersten Stock, die sich weigert, die Birne in ihrer Lampe zu wechseln. Sie stellt eine Menge Fragen über Sie.“

Alina hatte einen heimlichen Verdacht, wer das war. „Hat die Frau blondierte Haare? Und trägt sie viel Make-up?“

„Woher wissen Sie das?“

„Weil das meine Stiefmutter ist. Ich dachte, sie wäre im Urlaub.“

„Ihre Stiefmutter? Verstehen Sie beide sich?“

Alina rollte mit den Augen. „Überhaupt nicht.“

„Wow. So schlimm?“ Als sie heftig nickte, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder seinem Teller zu. „Ist sie Ihre ganze Familie?“

„Ja. Mein Vater heiratete sie, nachdem meine Mutter gestorben war. Er war hier der Hausmeister.“

„Von ihm haben Sie also alles gelernt.“

Sie nickte. „Ich bin immer mit ihm mitgegangen. Er zeigte mir, wie man Rohre ersetzt, Wohnungen streicht und das alles.“ Als sie merkte, dass Graham lächelte, fragte sie: „Was ist daran so komisch?“

„Ich stelle Sie mir gerade vor, als kleines Mädchen, in der einen Hand einen Schraubenschlüssel, einen Hammer in der anderen und Fettschmiere auf ihrer niedlichen kleinen Nase.“

Er fand ihre Nase niedlich? Sie fragte sich, was er wohl von dem Rest von ihr hielt.

Sie schluckte schwer. „So war ich. Ein halber Junge. Nach einigen Bemerkungen von einem der Wichtigtuer im Haus erkannte mein Vater, dass ich ein weibliches Vorbild brauchte. Jemanden, der mit beibrachte, mich wie eine junge Lady zu benehmen. Und so heiratete er meine Stiefmutter.“

„Ich wette, Sie waren nicht glücklich darüber.“

„Am Anfang schien sie ganz nett zu sein. Aber als sie erst einmal verheiratet waren, änderte sich alles.“

Unvermittelt musste sie gähnen. Jetzt, wo ihr Magen nicht mehr leer war, wurden ihr die Lider schwer.

„Sie sollten gehen“, sagte er.

„Ich denke, Sie haben recht. Danke für das Dinner. Es war köstlich.“

„Gern geschehen.“

Auf dem Weg zu ihrer Wohnung rief sie sich noch einmal das Gespräch mit Graham ins Gedächtnis. Waren sie von Feinden zu Freunden geworden?

Weil nämlich nur ein Freund für sie Essen bestellen würde und dann auch noch aus einem Sternerestaurant. Und nur ein Freund würde sie bedienen. Und dann war da noch ihr Gespräch. Eine Art von Gespräch, das viel zu persönlich war, um es mit einem Feind zu führen.

Von jetzt an musste sie auf Distanz achten. Sich in Graham zu verlieben wäre der größte Fehler ihres Lebens. Sie musste sich nur anschauen, was er mit seiner provisorischen Wohnung angestellt hatte. Neue Möbel. Neue elektronische Geräte. Und eine neue Kaffeemaschine mit täglicher Donut-Lieferung.

Sein Leben unterschied sich so sehr von ihrem. So sehr, dass er sich gar nicht mit ihr abgeben würde, wäre da nicht ihre Vereinbarung.

7. KAPITEL

Endlich einen Tag frei.

Ausschlafen können, ohne dass der Wecker klingelte.

Während sie faul im Bett lag, beschloss Alina, wie sie diesen Samstag verbringen wollte. Ein vergnügtes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Da sprang Prince aufs Bett und miaute laut.

„Okay, okay. Ich habe verstanden. Du bist hungrig.“

Sie duschte schnell und zog sich an. Sie und Prince frühstückten gemeinsam. Er hatte Fisch in Rahmsauce, sie entschied sich für zwei Tiefkühlwaffeln und Saft. Während sie aß, überdachte sie noch einmal ihren Tagesplan, und ihr kam eine Idee, die Graham hoffentlich ein wenig in Weihnachtsstimmung versetzen würde.

Sie stellte das schmutzige Geschirr in die Spüle, schnappte sich ihre Tasche und ihren Mantel und verließ ihr Apartment.

Vor der Hausmeisterwohnung blieb sie stehen. Sie musste nicht klopfen, denn die Tür stand auf, und ein Schild besagte, dass es hier kostenlos Kaffee und Donuts gab.

Graham sah von seinem Computer auf und strahlte über das ganze Gesicht. „Guten Morgen.“ Er musterte kurz ihr Outfit. „Sie sind nicht für die Arbeit angezogen.“

Ich habe heute frei. Und wir haben Pläne.“

Mit schief gelegtem Kopf sah er sie an. „Ich weiß nicht, ob ich wissen will, was Sie vorhaben.“

„Trauen Sie mir nicht?“

„Ich weiß nicht. Ich sehe da Klempnerarbeit und Schlimmeres auf mich zukommen.“

Sie musste lachen. „Was, wenn ich Ihnen verrate, dass heute keine Reparaturen auf der Tagesordnung stehen?“

„Dann würde ich Sie fragen, ob Sie auch sichergestellt haben, dass alle Bewohner mit Ihrem Plan einverstanden sind.“

Alina konnte nicht aufhören zu lächeln, und daran war nur er schuld. Er hatte etwas an sich, das sie glücklich machte, wenn sie in seiner Nähe war. „Seien Sie nicht so kompliziert. Wenn jemand Sie braucht, kann er eine Nachricht hinterlassen. Und jetzt holen Sie Ihren Mantel.“

„Nicht bevor Sie mir gesagt haben, wohin wir gehen.“

Sie seufzte. „Wenn Sie es denn unbedingt wissen müssen, wir gehen einen Weihnachtsbaum besorgen. Es ist höchste Zeit, ihn aufzustellen.“

„Und warum muss ich mit?“

„Weil Sie ein wenig Weihnachtsstimmung brauchen. Na los.“ Sie ging in Richtung Aufzug und hoffte, dass er ihr folgen würde. Dieser Mann brauchte ein wenig Weihnachten in seinem Herzen. Und sie konnte sich keinen besseren Beginn für seine Verwandlung vorstellen, als mit ihr einen Tannenbaum auszusuchen.

Autor

Jennifer Faye
<p>Die preisgekrönte Autorin Jennifer Faye schreibt unterhaltsame zeitgenössische Liebesromane. Mit mehr als einer Million verkaufter Bücher ist sie eine international erfolgreiche Autorin, deren Romances in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt wurden. Einige ihrer Werke wurden bereits verfilmt. Wenn sie nicht gerade an ihrem nächsten Liebesroman tüftelt, kann man sie...
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Kate Hardy wuchs in einem viktorianischen Haus in Norfolk, England, auf und ist bis heute fest davon überzeugt, dass es darin gespukt hat. Vielleicht ist das der Grund, dass sie am liebsten Liebesromane schreibt, in denen es vor Leidenschaft, Dramatik und Gefahr knistert? Bereits vor ihrem ersten Schultag konnte Kate...
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