Küsse im Palast der Liebe

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Eines Tages erscheint auf der Plantage von Lornas Großvater ein wahrhaftiger Märchenprinz: der vermögende Razul Kebir Bey. Und er nimmt die zarte Lorna einfach mit in seinen Palast! Ein Traum scheint wahr zu werden. Aber was, wenn die gefährlichen Gerüchte über Razul stimmen?


  • Erscheinungstag 01.08.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733758868
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Es war tagsüber drückend heiß gewesen, und abends kam der Sturm. Er trieb eine schwefelgelbe Sandwolke vor sich her, die die Sonne verdunkelte, und raste die ganze Nacht. Am anderen Morgen waren die Orangen- und Dattelplantagen verwüstet. Die hohen Fensterläden des Herrenhauses hingen zerbrochen in den Angeln, Lampen und Vasen lagen zersplittert am Boden. Der Wasserturm war einfach umgeknickt, und das auslaufende Wasser hatte eine Überschwemmung verursacht.

Lorna stand auf der Galerie, zu einsam und verloren, um weinen zu können. Vielleicht hätten Tränen den Schmerz gelindert, den sie beim Anblick der überfluteten Halle empfand. Nach dem stundenlangen Wüten des Schirokkos war eine fast unheimliche Stille eingetreten, die nur von vereinzelten, immer seltener werdenden Windstößen unterbrochen wurde. Der „gnadenlose Sturm“, wie er genannt wurde, hatte sein Zerstörungswerk vollendet.

Tage mit glühender Hitze und grau verhangenem Himmel, unter dem die Wüste wie eine Geisterlandschaft dalag, waren ihm vorausgegangen. Noch jetzt schien die Glut die Wände des zertrümmerten Hauses zu versengen. Lorna fühlte sie am ganzen Körper. Die Bluse, die sie aus dem Rock gezogen hatte, klebte ihr auf der Haut.

In wütenden Böen war der Sturm über die äußere Veranda hereingebrochen und hatte Sand und Fliegen in die getäfelten Räume getrieben. Jetzt bedeckte er die polierten Flächen der französischen Möbel und hing wie ein Gifthauch in der Luft.

Lornas Mut war dahin, wie hier alles dahin war. Ihr schmerzte die Kehle und die Augen brannten ihr. Kraftlos lehnte sie am Geländer der Galerie, zerschunden wie die Orangenbäume und Dattelpalmen in den Plantagen. Ein losgerissener Fensterladen schlug klappernd hin und her, als bewegte sich etwas langsam auf sie zu. Jeder Laut zerrte an ihren überreizten Nerven, aber sie brachte nicht die Energie auf, den Laden zu schließen.

Wie gelähmt stand sie da und versuchte, nicht an die stumme Gestalt zu denken, die ausgestreckt im großen Schlafzimmer lag. Ein Zittern überlief ihren erhitzten Körper, und in der Erinnerung an die vergangene Nacht trübten sich ihre Augen, deren strahlendes Blau sonst an Kirchenfenster denken ließ.

Zu der Klosterschule, in der sie erzogen worden war, gehörte auch eine Kapelle. Lorna hatte gegen den täglichen Pflichtbesuch aufbegehrt wie gegen alles andere – die übertriebene Disziplin, den Schlafsaal, in dem es keine Privatsphäre gab, und das einfache, fade Essen. Der Körper sollte nach dem Willen der barmherzigen Schwestern abgetötet werden, was bedeutete, dass es in den Klassenzimmern immer kalt war, auch wenn sich ab und zu ein Sonnenstrahl durch die dicht belaubten Bäume im ummauerten Klostergarten stahl.

An ihrem siebzehnten Geburtstag war Lorna überraschend in das Büro der Oberin gerufen worden, wo man ihr mitteilte, dass sie von jetzt an bei ihrem Großvater leben würde. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Lovis Desirée die Existenz seiner Enkelin ignoriert, aber schon bei ihrer Ankunft in „L’Oasis“ spürte Lorna, dass sie ihr neues Heim lieben würde. Das im französischen Kolonialstil erbaute Herrenhaus, das inmitten fruchtbarer Obstplantagen lag, faszinierte sie, und das Wasser, das ständig durch die Bewässerungsgräben rieselte, verbreitete auch in den heißesten Stunden des Tages einen Hauch von Kühle. Nachts lag sie in ihrem Bett und lauschte auf das vertraute Quaken der Frösche.

Auch die Wüste hatte sie von Anfang an fasziniert, und die Ausritte bei Sonnenaufgang oder nachts, beim funkelnden Licht der Sterne, hatten nie ihren Reiz verloren.

Jetzt stand Lorna allein und ängstlich auf der aus breiten Holzdielen gezimmerten Galerie und sah in die überschwemmte Halle hinunter. Alle Hausdiener waren gestern geflohen. Die abergläubischen Fellahin fürchteten nicht nur den herannahenden Schirokko, sondern auch den Tod, der den „Alten Pascha“ geholt hatte.

Sadik war als Letzter gegangen. Er hatte Lorna am Bett seines leblosen Herrn knien sehen und lange mit sich gekämpft, ehe er den anderen gefolgt war. Lorna hatte es kaum bemerkt. Sie trauerte aufrichtig um den Mann, der ihr für zwei Jahre eine neue Heimat geschenkt hatte. Seine hochfahrende Arroganz war ihr ebenso zur Gewohnheit geworden wie die unversöhnliche Haltung gegenüber ihrer Mutter, der er nicht verzeihen konnte, dass sie einen Engländer geheiratet hatte.

Plötzlich drang ein lautes Geräusch durch die hohe Rosenholztür, als wäre im Schlafzimmer etwas zu Boden gefallen und zerbrochen. Lorna hätte vor Schreck fast die Beherrschung verloren. Am liebsten wäre sie zu den Ställen gerannt, hätte sich auf den Rücken ihres Rotfuchses „Rouge Feu“ geschwungen und die Flucht ergriffen, aber wäre es nicht herzlos gewesen, ihren toten Großvater allein in dem vom Sturm verwüsteten Haus zurückzulassen? Auf seine Art hatte er für sie gesorgt, obwohl er sie, daran bestand kein Zweifel, ganz wie einen Jungen und nicht wie ein Mädchen behandelt hatte.

Lorna murmelte eins der Gebete vor sich hin, das die barmherzigen Schwestern morgens und abends mit ihren Schülerinnen angestimmt hatten. Doch auch beim Beten sah sie wieder den gequälten Gesichtsausdruck ihres Großvaters, sah, wie er in sein Zimmer taumelte, und hörte den gequälten Ausruf, mit dem er auf das Bett fiel. Kein Rufen und kein Schütteln hatten ihn wieder zu Bewusstsein gebracht, und am Ende hatte sie sein verzerrtes Gesicht mit dem Betttuch zugedeckt.

Lorna beugte sich über das Geländer, sodass ihr das volle hellblonde Haar ins Gesicht fiel. Das Geräusch rührte nicht von dem abflauenden Sturm her. Das Klappern von Hufen auf Stein, das Knirschen eines Zügels, als wäre einer der Diener zurückgekehrt.

Ein Hoffnungsschimmer stieg in ihr auf, aber gleichzeitig beschlich sie eine unerklärliche Angst, die sie in den Schatten der Wand zurücktrieb. Eine Gestalt war unten aufgetaucht, ein großer Mann in einem dunklen Mantel, der ihm von den Schultern bis zu den Stiefeln reichte.

„Was wollen Sie?“, fragte Lorna gepresst, als er einen Fuß auf die unterste Treppenstufe setzte. „Wie können Sie es wagen, hier einzudringen?“ In ihrer Aufregung sprach sie englisch, obwohl in diesem Land außer Arabisch nur Französisch gesprochen wurde. „Sie haben kein Recht, dieses Haus zu betreten …“

„Sie würden sich wundern, wie weit meine Rechte reichen“, antwortete der Mann. Sein Englisch hatte einen leichten fremdartigen Akzent, und plötzlich wusste Lorna, wer er war. Sie hatte ihn eines Abends gesehen, als er nach einem heftigen Wortwechsel mit ihrem Großvater zornig das Haus verließ. Beim anschließenden Dinner war ihr befohlen worden, keine Fragen nach dem Besucher zu stellen. Die Geschäfte mit Razul al Kebîr Bey gingen sie nichts an, und sie solle ihn einfach vergessen.

„Er wird nicht wiederkommen“, hatte ihr Großvater ihr versichert. „Er ist stolz wie ein König und will sich nicht damit abfinden, dass meine Plantage auf seinem Hoheitsgebiet liegt, wie er es nennt. Dabei habe ich eine schriftliche Genehmigung des alten Kadi. Razul ist nur sein Neffe, der die Macht an sich gerissen hat, als es so weit war …“

„Man erzählt sich in Bar-Soudi, dass Ihr Großvater gestorben ist.“

Seine gebieterische Stimme reizte Lorna, und als Razul Bey langsam und absichtsvoll die Treppe heraufkam, flüchtete sie zum Schlafzimmer, wo der tote Lovis Desirée lag. Sie konnte nur noch daran denken, wie unversöhnlich sich die beiden Männer gegenübergestanden hatten, und im Zimmer ihres Großvaters gab es eine Pistole.

Lorna stieß die hohen Rosenholztüren auf und lief zum Schreibtisch. Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass sie verfolgt wurde. Schon glaubte sie den rostbraunen Mantel wie unheimliche dunkle Flügel über sich zu sehen … Sie riss die Schreibtischschublade auf, griff nach der Waffe und drehte sich um.

Razul Bey stand an der offenen Tür. „Legen Sie die Pistole hin“, befahl er kurz und in leicht belustigtem Ton. „Ich bin nach ‚L’Oasis‘ gekommen, um Ihnen zu helfen.“

„Mir zu helfen?“ Lorna richtete die Waffe direkt auf seine Brust. „Zufällig weiß ich, wie Ihr Verhältnis zu meinem Großvater war. Ich bin auch eine Desirée, und Hass richtet sich in diesem Land auf die ganze Familie.“

„La justice du Bey … ich übe nur Gerechtigkeit.“ Der Bey kam einen Schritt näher. „Ich empfinde nicht unbedingt Wohlwollen für Ihre Familie, aber ich bin nicht ohne Grund hier.“

Lorna sah ihm offen ins Gesicht. „Wollen Sie sich an dem Anblick meines toten Großvaters weiden? Er hat mir erzählt, dass Ihnen ‚L’Oasis‘ schon lange ein Dorn im Auge war, aber es wird Ihnen nicht gelingen, mich von hier zu vertreiben.“

Während ihres zweijährigen Aufenthalts in diesem Land hatte Lorna einiges gelernt. Sie wusste, dass Rachefehden unerbittlich ausgefochten wurden – manchmal über mehrere Generationen.

„Ich habe nicht die Absicht, mit einem halben Kind über die Probleme des Grundbesitzes zu diskutieren“, erklärte Razul Bey und musterte Lorna von Kopf bis Fuß. „Zum letzten Mal. Legen Sie die Waffe hin, sonst muss ich Sie dazu zwingen.“

Seine anmaßende Haltung und der drohende Ton reizten Lorna so sehr, dass sie vorübergehend ihre hilflose und gefährliche Lage vergaß.

„Verschwinden Sie aus dem Haus meines Großvaters!“, herrschte sie den Bey an und hoffte, dass etwas von der hochfahrenden Art des „Alten Paschas“ in ihrer Stimme lag. „Hinaus mit Ihnen … jetzt gleich!“

„Soll ich Ihnen die Wahrheit über Ihren Großvater erzählen, den Sie so verehren und bei dessen Leichnam Sie während des Sandsturms ausgeharrt haben?“, fragte Razul beinahe freundlich.

Lorna wurde unsicher. „Was gibt es da zu erzählen?“

„Vielleicht genug, um Ihre Verehrung in Abscheu zu verwandeln.“

„Das wäre unmöglich.“ Die Hand, mit der Lorna die Pistole hielt, begann zu zittern, was Razul nicht entging. Lorna erkannte es an dem leichten Zusammenziehen der dunklen Brauen, die dem schmalen, sonnengebräunten Gesicht des Beys den besonderen Ausdruck verliehen, ebenso die Kufiyye, die landesübliche Kopfbedeckung, mit der rotgoldenen Kordel, die er trug und die seinen hohen Rang anzeigte. „Ich würde keine Ihrer Lügen glauben.“

„Ich bin kein Lügner“, entgegnete Razul ruhig. „Wenn Lovis Desirée Ihnen weisgemacht hat, dass er Sie aus Liebe und Fürsorge bei sich haben wollte, war er ein Lügner.“

„Er hat mich geliebt.“ Lorna hasste und verachtete den Mann, der so gebieterisch vor ihr stand. „Woher wollen Sie das Gegenteil wissen?“

„Ich weiß es, und Sie sollen es ebenfalls erfahren. Lovis Desirée hing so hartnäckig an dieser Plantage, dass er mir seine jungfräuliche Enkelin zum Tausch anbot, als die vereinbarte Pachtzeit vor zwei Jahren endete. Sie sei noch ein Schulmädchen und würde in der Obhut von Nonnen erzogen, fügte er hinzu. Ein so reines, unberührtes Geschöpf würde auf den verbotenen Märkten in der Wüste, wo Frauen noch immer heimlich verkauft werden, einen Sack voller Gold bringen. Er hätte Sie lieber öffentlich versteigert, als ‚L’Oasis‘ zu verlieren – dieses Haus mit den umliegenden Obstplantagen, die der Sturm jetzt vernichtet hat.“

Lorna hielt den Blick ihrer blauen Augen starr auf den Bey gerichtet, der darauf wartete, dass sie den Sinn seiner Worte begreifen würde. „Wie unglaublich gemein von Ihnen …“

„Ich denke, Sie tun mir Unrecht, Mademoiselle.“ Razul verzog spöttisch die Lippen, sprang plötzlich mit einem pantherartigen Satz auf Lorna zu und entwand ihr die Pistole. Sie fiel klirrend zu Boden, und Razul stieß sie mit dem Fuß außer Reichweite.

Lorna hatte unwillkürlich aufgeschrien. Durch ihre dünne Bluse spürte sie den harten Griff des Beys, der ihr in seinem langen Mantel, aus dem der schwere Duft von Räucherwerk aufstieg, fremd und bedrohlich vorkam.

„Sie brutaler Kerl!“ Lorna wehrte sich nach Kräften, aber einem solchen Gegner war sie nicht gewachsen. „Sie Lügner! Lassen Sie mich sofort los!“

Razul beachtete ihre Worte jedoch nicht, sondern führte sie hinaus auf die Galerie. „Wo liegt Ihr Zimmer? Sie brauchen Stiefel und einen Mantel, und bei Allah … Wenn Sie weiter Widerstand leisten, muss ich Gewalt anwenden.“

„Fassen Sie mich nicht so grob an!“ Lorna hatte sich noch nie in einer ähnlichen Lage befunden, und es war niemand da, der ihr beistehen konnte. Plötzlich schrie sie erneut auf, denn Razul schüttelte sie unsanft an den Schultern.

„Widerspenstige Frauen reizen mich bis aufs Blut“, drohte er. „Kommen Sie endlich zu sich, sonst muss ich handgreiflich werden. ‚L’Oasis‘ wurde gestern Nacht nur von den Ausläufern des Sandsturms getroffen, und die Gefahr ist noch nicht vorüber. Der Sturm kann drehen und verstärkt zurückkommen. Haben Sie noch nicht genug, oder wollen Sie eine zweite derartige Nacht erleben … in einem zerstörten Haus, mit einem Toten darin?“

„Sie würden alles tun, um mich von hier fortzubringen.“ Lorna warf dem Bey einen wütenden Blick zu und erschrak über den Ausdruck in seinen Augen. Es waren bernsteinfarbene, an ein Raubtier erinnernde Augen, über denen die dichten Brauen zwei gleichmäßige Bögen bildeten.

„Welches ist Ihr Zimmer?“, wiederholte er scharf.

Zögernd und widerwillig wies Lorna auf eine Tür am Ende der Galerie. Razul zwang sie, ihm dorthin zu folgen, und blieb dicht bei ihr stehen, während sie ihre Reitstiefel und den Kapuzenmantel anzog, den sie bei ihren Ausritten zu tragen pflegte.

„Bringen Sie mich nach Bar-Soudi?“, erkundigte sie sich.

„Möchten Sie denn dorthin?“

Lorna nickte und entnahm Razuls leichtem Schulterzucken, dass er mit der Wahl des Ziels einverstanden war. Auf dem Tisch lag ihre Reitgerte, dicht neben der Petroleumlampe, die noch leise flackerte. Lorna hatte sie die Nacht über brennen lassen. Der schwache Schein war beim Toben der Elemente wie ein Hoffnungsschimmer für sie gewesen.

Während sie die Reitgerte aufnahm, fiel ihr eine Szene aus einem Buch ein, das sie kürzlich gelesen hatte. Darin hatten zwei junge Soldaten ihrem gefallenen Bruder ein heidnisches Begräbnis bereitet. Sie nahm die Gerte und fegte die Lampe vom Tisch. Sofort zuckten Flammen auf, die durch den eindringenden Wind angefacht wurden und heiß nach ihr leckten.

„Das haben Sie absichtlich getan“, sagte Razul und drängte sie auf die Galerie hinaus.

„Ja.“ Lorna sah ihn hasserfüllt an, ohne auf die hinter ihr lodernden Flammen zu achten. „Meinem Großvater hätte diese Totenfeier gefallen, die ‚L’Oasis‘ in einen Haufen Asche verwandelt. Es fehlt nur der treue Hund zu seinen Füßen, und der müssten Sie sein!“

Für einen Moment trat ein fremder, fast geistesabwesender Ausdruck auf Razuls Gesicht. Dabei hätte Lorna schwören können, dass ihre Bemerkung ihn tief verletzt hatte. Erst als die Flammen die Schlafzimmertür erreichten, kam er zu sich und zog Lorna zur Treppe.

Das Herrenhaus war fast ganz aus Holz errichtet. Es würde bis zum letzten Balken niederbrennen, aber Lorna spürte nicht das leiseste Bedauern über ihre zwanghafte Tat. Sie hatte die Fesseln, die ihr die barmherzigen Schwestern von frühester Kindheit angelegt hatten, mit einem Schlag zerrissen. Nur ein Gedanke beherrschte sie noch. Die unerhörten Lügen, die der Bey geäußert hatte, mussten mit einem Fanal beantwortet werden.

Draußen herrschte trübes Tageslicht, und der Sturm, der wieder zugenommen hatte, bog die Palmen im Hof, als wollte er sie zerbrechen. Lorna zog die Kapuze ihres Mantels über den Kopf und folgte Razul zu einer Gruppe von Männern, die mit dunklen Djellabas bekleidet waren und neben ihren Kamelen kauerten.

Als Lorna klar wurde, dass sie auf einem dieser Tiere reiten sollte, die ihre Nüstern gegen den peitschenden Sand verschließen konnten, blieb sie stehen und rief dem Bey durch den heulenden Sturm zu: „Ich möchte lieber mein Pferd nehmen!“

Razul schüttelte den Kopf. „Die Pferde sind während der Nacht ausgebrochen.“

„,Rouge Feu’ ist fort?“ Tränen traten Lorna bei diesem neuen Verlust in die Augen. „Ist das wieder eine Lüge? Haben Sie die Pferde losgebunden und in Ihre gottverlassene Wüste gejagt? Ich würde es Ihnen zutrauen!“

„In ihrer Angst vor dem Sturm haben sie sich selbst aus den Ställen befreit“, antwortete Razul. „Sie werden nicht weit kommen, ohne einen neuen Herrn zu finden.“

Eine rotgelbe Flamme züngelte aus einem der oberen Fenster, und auf einen kurzen Ruf des Beys hin sprangen seine Männer auf. Wie betäubt ließ sich Lorna zu einem der hellbraunen Reittiere führen, das noch im Sand kniete, sodass sie in den Sattel steigen konnte. Razul saß hinter ihr auf und drückte sie mit dem Gewicht fest gegen den Sattelknopf.

Das Kamel stand auf, und die anderen folgten seinem Beispiel. In einer lang gezogenen Reihe verließen sie den Hof durch das große Eingangstor und ritten an den zerstörten Obstplantagen vorbei in die Wüste hinein.

„Jetzt jagen wir vor dem Sturm her“, sagte Razul dicht an Lornas Ohr. Dann wandte er den Kopf und rief seinen Männern einen Befehl zu, den sie nicht verstand.

Es war Lorna während ihres zweijährigen Aufenthalts in „L’Oasis“ nicht gelungen, die Landessprache zu lernen. Ihr Großvater hatte sie nicht dazu ermutigt, denn für ihn war es die Sprache der Barbaren. Stattdessen hatte er ihr Französisch beigebracht, bis sie es fast so fehlerlos sprach wie er selbst.

„Jetzt sprichst du wie eine echte Französin“, hatte er sie manchmal gelobt. „So wie deine Mutter es tat, ehe sie wegen eines blonden Engländers den Verstand verlor.“

Mit der Zeit hatte Lorna ihm den Hass auf ihren Vater verziehen. Wie Razul al Kebîr, war Lovis ein harter, tyrannischer Mann gewesen, der sich für unbesiegbar hielt und keine Rücksicht auf andere nahm. Solche Männer baten nicht um Mitgefühl und gewährten keins.

Lorna zog die Kapuze ins Gesicht und dachte an ihren Großvater, dessen stolzes Herrenhaus zu seinem Scheiterhaufen geworden war. Sie hätte gern geweint, aber Razuls Nähe verhinderte diese Regung. Der wiegende Gang des Kamels brachte ihre Körper immer wieder in Kontakt, und wenn das geschah, zuckte sie zusammen. Wie hatte er so abscheuliche Dinge über ihren Großvater sagen können? Hoffentlich war es nicht mehr weit bis Bar-Soudi. Wenn sie erst die flachen Häuser aus dem gräulichen Dunst auftauchen sah, war sie gerettet und Razul Bey für immer los.

Wahrscheinlich würde er sie im Hotel „Ramis“ unterbringen. Sie hatte zwar kein Bargeld bei sich, aber Lovis unterhielt ein Konto bei der örtlichen Bank. Als seiner Alleinerbin würde man ihr sicherlich Zugang zu dem Konto gewähren, und die europäischen Touristen im Hotel würden ihr ein neues Heimatgefühl geben.

Bei diesem Gedanken atmete Lorna auf, denn die Reiter, die sie umgaben, waren ihr so fremd und rätselhaft wie die Wüste selbst. Der Bey, der so dicht hinter ihr saß, war ihr am fremdesten, aber im Moment befand sie sich noch in seiner Gewalt. Erst in Bar-Soudi würde sie ihn los sein. Bis dahin musste sie sich gedulden.

2. KAPITEL

Lorna erwachte wie aus tiefer Bewusstlosigkeit. Sie hatte starke seelische Erschütterungen erlebt und war durch den schaukelnden Gang des Kamels in Schlaf gewiegt worden. Wie lange sie geschlafen hatte, wusste sie nicht. Vielleicht wenige Augenblicke … vielleicht auch mehrere Stunden.

Gütiger Himmel! Wo befand sie sich?

Der Mann, der ihr Kamel lenkte und schützend einen Arm um sie gelegt hatte, musste die stumme Frage verstanden haben, denn er sagte: „Dies ist El Karah. Wir reiten gerade in den Hof meines Palastes …“

„Ihres … was?“, schrie Lorna auf. „Das kann nicht wahr sein.“

„Ich gebe zu, dass sich der Palast bei klarem, sonnenhellem Wetter vorteilhafter ausnimmt.“ Razul sagte das völlig ausdruckslos, als wäre er ein Reiseführer und Lorna eine Touristin. „Im Moment sind seine Umrisse kaum zu erkennen, aber meiner Meinung nach gehört El Karah zu den architektonischen Perlen dieses Landes. Ein Vorfahre von mir ließ den Palast auf den Ruinen einer alten Burg errichten, die über Jahrhunderte Zankapfel rivalisierender Stämme war. Es gibt noch unterirdische Gewölbe, in denen Gefangene schmachteten, bis sie bereit waren, sich dem Sieger anzuschließen oder zu sterben …“

„Mich interessiert nicht, was in, über und unter Ihrem Palast ist“, unterbrach Lorna den Bey. „Ich möchte nach Bar-Soudi ins Hotel ‚Ramis‘ gebracht werden. Ich verlange es!“

„Sie verlangen es?“ Razul lächelte kalt. „Da spricht das Blut des alten Lovis Desirée. Er verlangte auch alles für sich.“

„Halten Sie den Mund, und reiten Sie zurück!“, befahl Lorna hitzig.

Razul senkte die Lider, aber Lorna sah noch das Feuer in seinen bernsteinfarbenen Augen aufblitzen. Dieser Mann war so gefährlich wie der Schirokko, der eine Bahn der Zerstörung hinter sich zurückließ. Eine Frau bedeutete ihm wenig. Sie war ihm gleichgültiger als der Jagdfalke auf seiner Faust oder der dressierte Hengst in seinem Stall.

„Es gibt noch andere historische Besonderheiten in El Karah“, sagte Razul langsam und mit Betonung. „Hier wurde über lange Zeit Sklavenmarkt gehalten. Die Sklaven standen auf einer Plattform aus unbehauenem Stein und wurden von den Männern der Umgegend begutachtet. Die höchsten Preise erzielten kräftige Jünglinge und unschuldige Mädchen.“

Er schwieg, und Lorna hörte den Sturm über den Hof und um das durchbrochene Mauerwerk heulen. Sie wusste, dass die Zeit in der Wüste nicht zählte und dass die Menschen jahrhundertealten Gesetzen folgten. Ein Blick in Razuls Tigeraugen genügte als Beweis dafür.

War er wirklich nach „L’Oasis“ gekommen, um ihr zu helfen? Hätte er sie sicher nach Bar-Soudi gebracht, wenn sie ihn anders empfangen hätte?

„Man wird sich in Bar-Soudi fragen, was aus mir geworden ist.“ Lorna bemühte sich um einen freundlicheren Ton. „Falls Sie mich gegen meinen Willen hier festhalten, wird man Sie wegen Entführung verklagen.“

„Man wird viel eher annehmen, dass Sie mit Ihrem toten Großvater in den Flammen umgekommen sind.“ Deutlicher Spott klang aus Razuls Stimme. „Sie haben das Feuer selbst gelegt, aber jeder wird glauben, dass ein Windstoß die Petroleumlampe umgeworfen hat.“

„Ihre Männer wissen, dass Sie mich hierher gebracht haben“, wandte Lorna mit wachsender Angst ein.

„Meine Männer sind mir in einem Ausmaß ergeben, das Sie nicht einmal ahnen.“ Razul lächelte kalt. „Sie stammen aus der Wüste, wo alles Kismet ist.“

Lornas Angst nahm zu, als der Bey das Zeichen zum Absitzen gab. Das Kamel sank erst vorn und dann hinten in die Knie, wobei die Glöckchen am Zaumzeug leise klingelten. Razul glitt aus dem Sattel und griff nach Lorna, aber sie hielt sich am Sattelknopf fest, als gelte es ihr Leben. Darüber lachte er, und seine Männer, die ebenfalls abgestiegen waren, lachten mit.

„Das genügt, Razul Bey“, erklärte sie mit unsicherer Stimme. „Sie haben es mir heimgezahlt und Ihren kleinen Spaß gehabt.“

„Glauben Sie“, sagte er und hob sie mühelos aus dem Sattel. „Niemand darf mich einen Hund nennen, ohne seine Strafe zu bekommen. Niemand bezichtigt mich der Lüge, ohne dafür zu büßen, und kein Einwohner von El Karah fragt danach, ob ich eine Frau in meinen Serail bringe … mag ihr Haar auch aus Gold gesponnen sein.“

Etwas Unheimliches lag plötzlich in der Luft, düster und schicksalsschwer, wie ein Verhängnis, dem niemand entrinnen konnte. War das Kismet, das Gesetz der Wüste … eingegraben in den Sand mit der furchtbaren Gewalt des Schirokkos? Fragte sich Lorna.

„Sie vertreten hier das Gesetz“, sagte sie betont ruhig. „Wie können Sie da so willkürlich handeln? Mich hierher zu bringen und gegen meinen Willen festzuhalten, ist ein Verbrechen … das wissen Sie genau. Es wird nicht unentdeckt bleiben.“

Razul zuckte gleichgültig die Schultern. „Möglicherweise nicht, aber ehe man es entdeckt, werden Sie einige Dinge gelernt haben, die Ihr Großvater Ihnen nicht beigebracht hat. Offenbar störte es ihn nicht, dass Sie wie ein Stallknecht reden, obwohl er Sie gleichzeitig als die reine Unschuld darstellte. Wir werden herausfinden, welches die wahre Seite ist. Ihren Eigensinn haben Sie bereits bewiesen, und Ihre Reinheit könnte wie ein Stück Glas sein, das zwar funkelt, aber nicht den Wert des Diamanten besitzt.“

Lorna geriet bei diesen Worten in so heftige Wut, dass sie alle Vorsicht vergaß. „Gemeiner Schuft!“, schrie sie den Bey an. „Sie verhalten sich wie ein ganz gewöhnlicher Wegelagerer! Sie wollen der Herr der Wüste sein? Die Zeichen Ihrer angeblichen Macht sind nur Schwindel!“

Wieder zuckte Razul die Schultern, als hätten Lornas Worte keinerlei Bedeutung für ihn. „Sagt man nicht, dass wir uns immer nach den Menschen richten, mit denen wir zusammen sind? Warum soll ich zu einer Frau höflich sein, die mich beschimpft und Häuser in Brand steckt?“

„Also damit wollen Sie Ihre Handlungsweise entschuldigen? Es zählt nicht für Sie, dass ich eine qualvolle Nacht hinter mir habe. Sie wollen die Qualen noch erhöhen!“

„Ich will nichts, als einem Mitglied der Familie Desirée klarmachen, dass ich hier der Herr bin. Wie die meisten westlichen Frauen träumen Sie von einer Welt, in der die Geschlechter gleichgestellt sind. Sie müssen lernen, dass es bedeutende Unterschiede zwischen Mann und Frau gibt.“

„Und Sie halten sich für den richtigen Lehrmeister?“ Lorna zitterte am ganzen Körper vor Empörung. Warum hielt sie ihre Reitgerte nicht griffbereit? Sie hätte dem Bey gern damit ins Gesicht geschlagen. Mit Argumenten zu kämpfen lohnte sich nicht. Er wusste auf alles eine Antwort. Dass sie um ihren Großvater trauerte, kümmerte ihn nicht. Er war froh, dass er sein kostbares Land wiederhatte.

„Brutales Scheusal!“, fuhr sie ihn an. „Sie haben jetzt Ihr Land. Warum können Sie mich nicht in Ruhe lassen?“

„Fürchten Sie sich vor dem, was ich mit Ihnen vorhabe?“ Razul lächelte, aber sein Blick war der eines lauernden Raubtiers.

Autor

Violet Winspear

Violet Winspear wurde am 28.04.1928 in England geboren. 1961 veröffentliche sie ihren ersten Roman „Lucifer`s Angel“ bei Mills & Boon. Sie beschreibt ihre Helden so: Sie sind hager und muskulös, Außenseiter, bitter und hartherzig, wild, zynisch und Single. Natürlich sind sie auch reich. Aber vor allem haben sie eine große...

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