Liebe lieber italienisch (3-teilige Serie)

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HEIRATE NIE EINEN ITALIENER

Lorenzo Martelli? Nein! Niemals heiratet sie einen Italiener! Das hat Helen sich geschworen. Viel lieber lässt sie sich vom Charme des attraktiven Fremden verführen, den sie auf einer Party in New York tritt. Bis sie erfährt, wem sie da erlaubt hat, sie zu küssen ...

TRAUMTAGE AUF CAPRI

Auf Capri verlebt Payton wahre Traumtage: Goldene Sonne, blauer Himmel und eine Villa am Meer, mit einem Mann, der ihr jeden Wunsch erfüllt: ausgerechnet ihr Exmann Marco d'Angelo, der sie während ihrer Ehe kaum beachtet hat! Warum kümmert er sich jetzt so liebevoll um sie?

SIZILIANISCHE NÄCHTE

Komm mit mir nach Sizilien! Ein Blick in Giovanni Gardellas schwarze Augen genügt, und Terrie haucht ihr Ja. Die dunklen Schatten, die auf Giovannis Vergangenheit lasten, will Terrie in Taormina vergessen machen. Ihre große Liebe hat diese Chance verdient ...


  • Erscheinungstag 15.10.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783751504195
  • Seitenanzahl 404
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Lucy Gordon, Jane Porter, Kate Walker

Liebe lieber italienisch (3-teilige Serie)

Lucy Gordon

Heirate nie einen Italiener

IMPRESSUM

Heirate nie einen Italiener erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

© 2001 by Lucy Gordon
Originaltitel: "Bride by Choice"
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe MIRA Taschenbücher
erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH
Übersetzung: Fanny Gabor

Umschlagsmotive: conrado / Shutterstock

Veröffentlicht im ePub Format in 10/20 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751504096

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

 

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PROLOG

“Dein Flug wird gleich aufgerufen”, sagte Heather Miller, als ihr Blick auf die Anzeigetafel im Flughafen von Palermo fiel.

“Wenn es nach mir ginge, wären wir schon in der Luft”, erwiderte Lorenzo voller Vorfreude. “Ich kann es kaum erwarten, nach New York zu kommen.”

“Denk daran, dass du nicht zu deinem Vergnügen in die USA fliegst”, mischte sich Renato mahnend ein. Als Oberhaupt der Familie Martelli und Chef der gleichnamigen Firma hielt er es für ratsam, seinen jüngeren Bruder an dessen Aufgaben zu erinnern. “Zweck deiner Reise ist es, Geld zu verdienen, indem du neue Kunden für unser Obst und Gemüse gewinnst, und nicht, es auf den Kopf zu hauen, indem du dich mit jungen Amerikanerinnen amüsierst.”

“Um das zu verhindern, müsstest du schon mitfliegen”, wandte Heather ein. Es fiel ihr wirklich nicht leicht, sich diesen gut aussehenden, athletischen jungen Mann mit dem lockigen braunen Haar und den blauen Augen als seriösen Geschäftsmann vorzustellen.

Doch so attraktiv und sympathisch ihr Schwager auch war, erschien es Heather unvorstellbar, dass sie diesen jugendlichen Draufgänger noch vor wenigen Monaten geliebt hatte – oder geglaubt hatte, ihn zu lieben. Nach Sizilien war sie jedenfalls gekommen, um ihn zu heiraten.

Glücklicherweise hatte sie rechtzeitig gemerkt, dass ihre wahre Liebe Renato galt. Zugegeben, er war ein verschlossener und nachdenklicher Mann, dem kaum ein Lächeln zu entlocken war, während Lorenzo die Herzen der Frauen im Sturm eroberte.

Heather hatte an dem scheinbar so schroffen und abweisenden Renato jedoch Facetten entdeckt, die ihr Herz für ihn eingenommen hatten. Seit acht Monaten waren sie nun verheiratet, und schon bald würden sie eine richtige Familie sein, denn Heather erwartete ein Kind.

“Im Elroy ist ein Zimmer für dich reserviert”, teilte Renato seinem Bruder mit. “Ruf mich an, sobald du angekommen bist. Und vergiss nicht …”

“Ich weiß selbst, was ich zu tun habe”, fiel Lorenzo ihm ins Wort. “Und wenn ich auch nur die Hälfte der Leute besuche, deren Adressen mir Mamma mitgegeben hat, komme ich ohnehin zu nichts anderem. Erst gestern hat sie ohne mein Wissen die Angolinis angerufen und mich für Donnerstag zum Abendessen angekündigt. Kannst du mir vielleicht sagen, was ich da soll?”

“Du musst Mamma verstehen”, erwiderte Renato. “Unser Großvater und Marco Angolini waren die besten Freunde, bis Marco mit seiner Frau und seinem Sohn in die USA ausgewandert ist.”

“Das weiß ich selbst”, wandte Lorenzo ein, “aber das ist Jahrzehnte her. Marco und seine Frau sind längst tot, und selbst sein Sohn und dessen Frau sind inzwischen alte Leute. Mich beschleicht ein ganz anderer Verdacht. Die beiden haben nämlich nicht nur drei Söhne, sondern auch vier ledige Töchter – alle im heiratsfähigen Alter.”

“Seit wann jagen dir ledige Frauen im heiratsfähigen Alter Angst ein?”, fragte Renato schalkhaft.

“Mit den Töchtern werde ich schon fertig”, widersprach Lorenzo. “Weniger mit der Aussicht, dass ich verkuppelt werden soll.”

“Warum sträubst du dich eigentlich so gegen dein Glück?” Es bereitete Renato sichtlich Vergnügen, Öl ins Feuer zu gießen. “Die Angolinis besitzen eine Schlachterei, und selbst du musst zugeben, dass die Verbindung zwischen einer Fleischertochter und dem Sohn eines Gemüsebauern geradezu ideal wäre.”

“Vergiss es, Brüderchen”, wies Lorenzo Renato zurecht, und doch konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Ehe Renato etwas erwidern konnte, ertönte aus den Lautsprechern der dringende Aufruf an alle Passagiere nach New York, sich am Flugsteig einzufinden. “Mach uns keine Schande”, gab er seinem Bruder gespielt drohend noch mit auf den Weg.

Nachdem er sich von seiner Schwägerin verabschiedet hatte, drehte sich Lorenzo um. Renato und seine Frau sahen ihm nach, bis er hinter dem Abfertigungsschalter verschwand. “Man könnte ihn fast bemitleiden”, sagte Renato nachdenklich. “Es scheint sein Schicksal zu sein, dass keine Frau ihm widerstehen kann.”

“Ausnahmen bestätigen die Regel”, widersprach Heather, und sein liebevolles Lächeln bewies, dass er ihre Anspielung verstanden hatte. “Mach dir keine Sorgen”, sagte sie beruhigend. “Lorenzo weiß genau, was seine Position in der Firma von ihm verlangt.”

“Das schon”, antwortete Renato. “Ich hoffe nur, dass er es während des Fluges nicht vergisst.” Dann legte er den Arm um Heather und führte sie aus dem Flughafengebäude.

1. KAPITEL

New York war tief verschneit, und ein eisiger Wind pfiff durch die Straßen. Doch selbst ein solch trüber Februarabend konnte der Faszination dieser Metropole keinen Abbruch tun – schon gar nicht, wenn man im Begriff war, das Elroy in der Park Avenue zu betreten, das beste und teuerste Hotel der Stadt.

Am Personaleingang stand ein Wachmann, der Helen nicht erkannte, sodass sie ihm ihren Firmenausweis zeigen musste. “Helen Angolini. Trainee im Management”, las er halblaut und nickte anerkennend, bevor er sie endlich passieren ließ.

“Kann sich dieses Ding nicht etwas schneller bewegen?”, schimpfte sie vor sich hin, als sie endlich im Aufzug stand, der sie in die achte Etage bringen sollte. “Ich komme auch so schon zu spät.”

“Mich wundert, dass du überhaupt kommst”, drang ihr plötzlich eine vertraute Stimme ans Ohr. Als Helen sich umsah, blickte sie direkt ins Gesicht ihrer Freundin Dily, die die ganze Zeit unbemerkt hinter ihr gestanden hatte.

Die beiden hatten sich vor drei Jahren gleichzeitig für die Managementschulung des Elroy beworben und waren unter Hunderten ausgewählt worden. Schnell hatten sie sich angefreundet, und seit geraumer Zeit teilten sie sich eine kleine Wohnung. Nun standen sie kurz vor dem Abschluss der Ausbildung und hofften beide auf eine Festanstellung.

“Kommst du etwa direkt vom Flughafen?”, erkundigte sich Dily mit Blick auf Helens Gepäck.

“Richtig geraten”, bestätigte Helen. “Eigentlich wollte ich längst bei meinen Eltern sein. Doch kaum saß ich im Taxi, klingelte mein Handy. Mr. Dacre hat mir befohlen, auf direktem Weg ins Hotel zu kommen.”

Endlich hielt der Fahrstuhl, und kaum hatten sich die Türen geöffnet, nahm Dily Helens Arm und zog sie zur Damentoilette. “Bevor du Mr. Dacre unter die Augen trittst, würde ich mich an deiner Stelle umziehen.”

Helen war eine große, attraktive junge Frau mit schulterlangem pechschwarzen Haar und dunklen, ausdrucksvollen Augen. Nicht wenige, darunter Dily, waren der Ansicht, dass sich ihre wahre Schönheit erst richtig zu entfalten begonnen hatte, seit sie ihr fünfundzwanzigstes Lebensjahr erreicht hatte. Sosehr Helen sich dadurch auch geschmeichelt fühlte, fürchtete sie bisweilen, dass ihr die sizilianische Abstammung allzu deutlich anzusehen war. Manchmal beneidete sie ihre Freundin, die nicht nur zierlicher war, sondern vor allem blondes Haar, blaue Augen und einen hellen Teint hatte.

Doch selbst wenn Helen mit ihrem Aussehen nicht rundherum zufrieden war, verstand sie sich darauf, sich so zu kleiden, dass ihr das unmöglich anzumerken war. Weil sie wusste, dass zu ihrem dunklen Teint am besten kräftige und warme Töne passten, öffnete sie einen Koffer und zog ein dunkelrotes Seidenkleid heraus.

“Du siehst hinreißend aus”, gratulierte Dily ihr, nachdem Helen sich umgezogen und das Haar ausgiebig gebürstet hatte, bis es ihr seidig über die Schultern fiel. “Die Männer werden dir zu Füßen liegen.”

“Kannst du eigentlich an nichts anderes denken?”, fragte Helen belustigt und steckte sich das Namensschild an, das sie als Mitarbeiterin des Elroy auswies. “Vergiss nicht, dass wir nicht zu unserem Vergnügen hier sind, sondern um zu arbeiten.”

“Ach so?” Dily zuckte gleichgültig die Schultern. “So genau nehme ich es mit der Trennung von Privatem und Dienstlichem nicht. Und jetzt komm endlich. Mal sehen, ob unter den Typen einer ist, der eine kleine Sünde rechtfertigt.”

Lächelnd folgte Helen ihr in den frisch renovierten Kaisersaal, der einen Großteil des achten Stocks einnahm. Der riesige Raum erstrahlte in neuem Glanz, und auf dem Parkett stand ein Dutzend runder Tische, die unter der Last des kalten Büfetts zusammenzubrechen drohten.

Im Saal herrschte eine fast bedrohliche Enge, aus der sich unvermittelt ein Mann löste und direkt vor Helen stehen blieb.

“Ich denke, du bist in Boston, mein Schatz”, begrüßte Erik sie eine Spur zu überschwänglich.

“Da war ich bis vor wenigen Stunden auch”, erklärte sie ihrem Kollegen, der zum Management des Elroy gehörte. Ab und zu trafen sie sich nach Feierabend, um gemeinsam essen oder ins Theater zu gehen, und einmal hatte Helen ihn sogar zu ihren Eltern mitgenommen. Trotzdem war ihre Beziehung rein freundschaftlicher Natur, und nichts lag Helen ferner, als eine Beziehung mit ihm anzufangen – was die Kollegen im Hotel nicht daran hinderte, ihnen eine leidenschaftliche Affäre anzudichten.

“Entschuldige mich bitte, Erik”, sagte sie und sah sich im Raum um, “aber wenn ich nicht bald unseren Chef finde, ist es mit meiner Karriere vorbei, ehe sie richtig begonnen hat.”

Ohne eine weitere Erklärung ließ sie ihn stehen und begab sich auf die Suche nach ihrem unmittelbaren Vorgesetzten.

“Da sind Sie ja endlich.” Jack Dacre hatte Helen erspäht und sich zu ihr durchgekämpft.

“Mein Flugzeug hatte Verspätung”, entschuldigte sie sich. “Es tut mir leid, dass ich nicht eher …”

“Schon gut”, fiel er ihr ins Wort. “Das hat Zeit bis morgen. Jetzt interessiert mich einzig, was Sie über diese Veranstaltung wissen.”

“So gut wie nichts”, musste Helen zugeben. “Bis zum Tag meiner Abreise war nie die Rede davon.”

“Das ist richtig. Wir haben uns in der Tat sehr kurzfristig dazu entschlossen, hier oben ein italienisches Restaurant einzurichten. Zur Eröffnung haben wir ausschließlich Stammkunden und Lieferanten eingeladen. Mischen Sie sich unter die Gäste und halten Sie sie bei Laune.”

Kaum hatte er seinen Satz beendet, verschwand er in der Menge und ließ Helen allein zurück. Nach kurzem Zögern kämpfte sie sich zu Braden Fairley durch, den sie am anderen Ende des Saales entdeckt hatte.

Erst als sie ihn beinahe erreicht hatte, bemerkte sie, dass er sich mit einem gut aussehenden Mann mit lockigem braunen Haar unterhielt. Dessen Körperhaltung verriet, dass ihn die Gesellschaft des Direktors des Elroy eher langweilte, auch wenn er sich alle Mühe gab, es sich nicht anmerken zu lassen.

Als Braden Fairley einen Schritt zur Seite trat, weil ein anderer Gast ihn angesprochen hatte, hob der Fremde unvermittelt den Kopf. Fasziniert betrachtete Helen seine blauen Augen und sein fröhliches, fast jungenhaftes Lächeln, das sich auf seinem Gesicht ausbreitete, als sich ihre Blicke begegneten.

Als hätte er in ihr eine heimliche Verbündete gefunden, warf er einen kurzen Blick zu Braden Fairley, bevor er mit mitleiderregender Miene wieder Helen ansah, die alle Mühe hatte, nicht laut aufzulachen. Doch kaum hatte der Fremde sich mit einem Augenzwinkern für ihr Mitgefühl bedankt, nahm Braden Fairley ihn wieder in Beschlag, und Helen blieb keine andere Wahl, als ihn seinem Schicksal zu überlassen.

Zumal sie, wie sie sich plötzlich erinnerte, nicht zu ihrem Vergnügen hier war, sondern um zu arbeiten. Deshalb mischte sie sich unter die Gäste, ohne der Versuchung widerstehen zu können, den Fremden heimlich zu beobachten.

Er mochte einen Meter neunzig groß und maximal dreißig Jahre alt sein. Seine Figur war überaus sportlich, und mit einer Baumwollhose und einem Seidenhemd war er vergleichsweise leger gekleidet.

Doch das Beeindruckendste an ihm war zweifellos sein Lächeln – erst recht als es eindeutig ihr, Helen, galt. Offensichtlich hatte er bemerkt, dass sie ihn beobachtete, und als sich ihre Blicke begegneten, versuchte sie vergeblich, sich ihre Verlegenheit nicht anmerken zu lassen. Zu ihrem Schrecken erwiderte sie sein Lächeln sogar, obwohl sie ahnte, welche Gefahr sie damit heraufbeschwor.

Unter Aufbietung all ihrer Kräfte gelang es ihr, sich von dem faszinierenden Fremden loszureißen und in der Menge unterzutauchen.

Nachdem sie eine Stunde lang gelächelt, Hände geschüttelt und belanglose Gespräche geführt hatte, brauchte sie dringend eine Verschnaufpause. In der Hoffnung, in den Fensternischen eine Sitzgelegenheit zu finden, zog sie sich dorthin zurück.

“So ein Empfang kann einen ziemlich schaffen, nicht wahr?” Kaum hatte Helen auf einem Sofa Platz genommen, drang ihr eine fast jugendlich klingende Stimme ans Ohr. Als sie aufsah, blickte sie direkt in das Gesicht des faszinierenden Fremden.

“Erst recht, wenn man meinem Chef in die Finger gerät”, erwiderte sie mit einem Lachen, in das der Mann augenblicklich einstimmte.

Seine Attraktivität nahm dadurch geradezu bedrohliche Ausmaße an, wie Helen erschrocken und fasziniert zugleich feststellen musste. Plötzlich war sie froh, dass sie auf Dilys Rat gehört und sich umgezogen hatte. Sie wusste um die Wirkung des dunkelroten Seidenkleids, und wenn die anerkennenden Blicke ihres Gegenübers sie nicht täuschten, hatte sie die richtige Wahl getroffen.

“Ihr Chef ist ein reizender Mensch”, antwortete er endlich. “Leider hat er die Angewohnheit, nicht mehr aufzuhören zu reden, wenn er erst einmal in Fahrt gekommen ist.”

Er sah sich kurz um, als fürchtete er, dass Braden Fairley hinter ihm stand und bereits darauf lauerte, die einseitige Unterhaltung fortzusetzen. “Darf ich mich zu Ihnen setzen?”, fragte er schließlich und sah Helen schalkhaft an. “Sonst verwickelt er mich gleich wieder in ein Gespräch.”

Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er neben ihr Platz. Seine unvermittelte Nähe drohte Helen endgültig aus der Fassung zu bringen, und es dauerte eine ganze Weile, bis sie die Sprache wiedergefunden hatte. “Sind Sie zum ersten Mal in New York?”, erkundigte sie sich, weil sie dem Akzent des Fremden entnehmen konnte, dass er kein Amerikaner war.

“Leider ja”, gestand er. “Ich bin zwar erst seit zwei Tagen hier, aber ich bedauere schon jetzt, dass ich nicht viel früher hergekommen bin. New York ist einfach umwerfend.”

“Es freut mich, dass Ihnen meine Heimatstadt gefällt.”

“Sind Sie wirklich hier geboren?”, fragte er ungläubig. “Dann kennen Sie doch sicherlich jeden Winkel und jeden Straßenstrich.”

Erst als Helen laut auflachte, merkte er, dass er sich aus Unkenntnis in der Wortwahl vergriffen hatte. “Verzeihen Sie bitte”, entschuldigte er sich händeringend. “Ich wollte Ihnen wirklich nichts Derartiges unterstellen.”

“Schon gut”, antwortete Helen versöhnlich, “ich nehme es nicht persönlich.”

“Das Ganze ist mir entsetzlich peinlich, Miss …” Er beugte sich vor, um das Namensschild an Helens Kleid besser entziffern zu können. Irgendetwas schien ihn daran zu amüsieren, denn unvermittelt änderte sich sein Gesichtsausdruck. “Ihr Name klingt aber gar nicht amerikanisch.”

“Fangen Sie nicht auch noch damit an”, erwiderte Helen erbost. “Schlimm genug, dass meine Vorgesetzten mich für eine Italienerin halten. Dabei bin ich durch und durch Amerikanerin.”

“Warum tragen Sie dann einen italienischen Namen?”

“Weil mein Großvater aus Italien stammte. Er ist vor Jahrzehnten in die USA eingewandert. Mein Vater war damals noch ein kleines Kind. Doch obwohl er und meine Mutter amerikanische Pässe haben, fühlen sie sich heute noch als Italiener.”

“Was sich von Ihnen offensichtlich nicht behaupten lässt.”

“Ich bin hier in Manhattan geboren und aufgewachsen, und in Italien bin ich noch nie in meinem Leben gewesen. Wie soll ich mich da als Italienerin fühlen?”

“Und wie denken Ihre Eltern darüber?”

“Wie Italiener”, musste Helen einräumen. “Ich habe meine Arbeit und eine eigene Wohnung. Doch anstatt sich darüber zu freuen, dass ich auf eigenen Füßen stehe, bedrängt mich meine Mutter seit Jahren damit, dass ich doch endlich heiraten und eine Familie gründen soll. Wobei als Schwiegersohn selbstverständlich nur ein Italiener infrage kommt.”

“Ist das denn so abwegig?”, fragte ihr Gegenüber.

“Allerdings”, erwiderte Helen bestimmt. “Sollte ich je heiraten, dann garantiert keinen Italiener. Eher gehe ich ins Kloster!”

Es schien den Mann zu faszinieren, dass sie sich so aufregte, aus welchem Grund auch immer. Seine nächste Frage klang in ihren Ohren jedenfalls wie reine Provokation. “Woher stammt Ihre Familie denn?”

“Von Sizilien”, antwortete Helen, und sie stieß den Namen der Insel wie einen Fluch aus. “Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum ich nie einen Mann aus der Heimat meiner Vorfahren heiraten werde. Eine Tradition, die davon ausgeht, dass sich eine Frau ihrem Ehemann unterwirft, kann mir gestohlen bleiben.”

“Das glaube ich Ihnen gern”, erwiderte er verständnisvoll. “Andererseits kann man es den Männern nicht verübeln, wenn sie ihre Privilegien nicht kampflos aufgeben”, setzte er provozierend hinzu.

“An mir würden sie sich die Zähne ausbeißen”, entgegnete Helen trotzig.

“Darauf gehe ich jede Wette ein. Und wenn ich nicht so ein Feigling wäre, würde ich Ihnen auch sagen, was mich so sicher sein lässt.”

“Nur Mut”, erwiderte Helen, ohne zu merken, dass sie im Begriff war, auf den Köder anzubeißen, den der Fremde ausgelegt hatte. “Wie Sie gemerkt haben, bin ich nicht nachtragend.”

“Also schön”, sagte der Mann, und doch zögerte er einen Moment, bevor er weitersprach. “Man merkt Ihnen Ihre Herkunft bei jedem Wort an.”

“Wie bitte?”, fragte Helen entgeistert.

“Ihr südländisches Temperament lässt sich nicht verbergen. Wenn man Sie reden hört, fühlt man sich förmlich nach Sizilien versetzt. Nur würde ich es nie wagen, Ihnen das ins Gesicht zu sagen”, setzte er rasch hinzu, als er sah, dass Helens Miene sich verfinsterte.

“Ihr Glück”, entgegnete sie streng, doch ihr Gesichtsausdruck sprach ihrem Tonfall Hohn. “Wir sollten lieber das Thema wechseln. Ich habe Ihre Geduld lange genug strapaziert. Schließlich haben Sie die weite Reise nicht angetreten, um sich meine Lebensgeschichte anzuhören.”

“Wer weiß?”, entgegnete der Fremde und schenkte Helen erneut dieses unwiderstehliche Lächeln. “Im Moment fällt mir jedenfalls kein anderer Grund ein. Darum schlage ich vor, dass wir unsere Unterhaltung bei einem Drink fortsetzen, sobald Sie hier abkömmlich sind.”

“Das wird leider nicht gehen”, erwiderte Helen gerührt. “Der Abend ist schon anderweitig verplant.”

“Darf man erfahren, womit?”

“Es ist zwar noch geheim, aber ich muss noch jemanden umbringen.”

“Wer ist denn der Glückliche?”

“Ein gewisser Lorenzo Martelli.” Helens Lachen erstarb im selben Moment, in dem sie trotz seines dunklen Teints erkennen konnte, dass der Fremde aschfahl geworden war.

“Habe ich etwas Falsches gesagt?”, erkundigte sie sich besorgt.

“Nein, nein”, entgegnete er rasch. “Ich frage mich nur, warum Sie diesen Mann umbringen wollen. Wie war doch gleich sein Name?”

“Lorenzo Martelli”, antwortete Helen. “Umbringen will ich ihn, damit ich ihn nicht heiraten muss.”

“W…wie bitte?”

“Ihre Einladung zum Drink kommt deshalb ungelegen, weil ich gleich zu meinen Eltern muss”, erklärte sie. “Sie geben ein Essen zu Ehren dieses Signore Martelli. Sie dürfen dreimal raten, woher er kommt. Richtig geraten”, fuhr sie fort, ohne eine Antwort abzuwarten. “Aus Sizilien. Er ist geschäftlich in New York, und weil unsere Großväter eng befreundet waren, glaubt er, uns unbedingt besuchen zu müssen.”

“Und was macht Sie so sicher, dass er Sie heiraten will?”

“Ob er das will, kann ich Ihnen nicht sagen”, erwiderte Helen zur Verblüffung des Fremden. “Meine Eltern wollen es, und damit ist es beschlossene Sache.”

“Aber Sie haben ihn doch noch nie in Ihrem Leben gesehen!”

“Ich habe Ihnen doch gesagt, wie sie sind. Sie haben sogar daran gedacht, die Verabredung für heute Abend zu treffen, während ich beruflich in Boston zu tun hatte. Von dem Mann, den sie für mich ausgesucht haben, weiß ich nur, dass er eine gute Partie ist und sehnsüchtig nach einer Sizilianerin Ausschau hält, die seine Frau werden will.”

“Wenn er so vermögend ist, wie Sie sagen, sollte es ihm doch ein Leichtes sein, auf Sizilien eine Braut zu finden”, wandte der Fremde ein.

“Wahrscheinlich ist er so dick und unansehnlich, dass er zu Hause nicht fündig geworden ist.”

Der Mann nickte zustimmend. “Langsam beginne ich zu begreifen, warum Sie ihn umbringen wollen. Obwohl ihn eigentlich keine Schuld trifft. Schließlich haben sich Ihre Eltern das ausgedacht.”

“Mitgehangen, mitgefangen”, entgegnete Helen kompromisslos.

“Urteilen Sie nicht vorschnell?”, wandte der Fremde vorsichtig ein. “Wenn Sie ihn erst kennen, sind Sie vielleicht froh und glücklich, ihn heiraten zu dürfen.”

Helens Blick glich einem Donnerwetter. “Ausgeschlossen. Bevor das geschieht, sterbe ich lieber. Da ich aber nicht die geringste Lust dazu habe, wird er wohl dran glauben müssen.”

“Nur weil er Italiener ist?”

Nur ist gut”, entgegnete Helen trotzig. “Zufällig weiß ich aus eigener Anschauung, dass Italiener altmodisch, herrschsüchtig, unzuverlässig und untreu sind. Vor allem untreu. Wissen Sie, wie man italienische Ehemänner bei uns nennt? Verheiratete Junggesellen. Von ihnen wird geradezu erwartet, dass sie fremdgehen, und wer es nicht tut, macht sich zum Gespött seiner Landsleute – der männlichen, selbstverständlich.”

“Und die anderen Eigenschaften, die Sie aufgezählt haben? Könnten Sie sich mit denen notfalls anfreunden?”

“Dafür weiß ich zu gut, was diesem Martelli in dieser Sekunde durch den Kopf geht.”

“Das glaube ich kaum”, widersprach der Mann, und Helen sah ihn skeptisch an. “Was geht ihm denn durch den Kopf?”, korrigierte er sich rasch.

“Wir sind vier Schwestern”, antwortete Helen, ohne auf seine Bemerkung einzugehen. “Patrizia, Olivia, Carlotta und ich – vier ledige junge Frauen. Dieser Martelli wird das Haus meiner Eltern in dem festen Glauben betreten, dass wir uns nebeneinander vor ihm aufstellen, damit er uns in aller Ruhe begutachten und sich eine von uns aussuchen kann. Wahrscheinlich rechnet er sogar damit, dass wir uns gegenseitig die Augen auskratzen.”

“Trauen Sie ihm das wirklich zu?”

“Und ob!”, erwiderte Helen bestimmt und stand auf. “Der Kerl soll sich bloß vorsehen. Ich bin jetzt genau in der richtigen Stimmung, um ihm gegenüberzutreten. Es war wirklich sehr freundlich von Ihnen, dass … Haben Sie eigentlich schon gegessen?”, fragte sie unvermittelt, weil sie plötzlich wusste, wie der Abend zu retten wäre.

“Nein, aber ich verstehe nicht …”

“Dann kommen Sie doch einfach mit zu meinen Eltern”, schlug sie begeistert vor.

“Was versprechen Sie sich davon?”, fragte der Mann skeptisch.

“Nichts weiter”, wiegelte Helen ab. “Ich dachte nur, wenn ich in Ihrer Begleitung komme und wir so tun, als würden wir uns schon länger …”

“Dieser Martelli soll denken, dass Sie bereits in festen Händen sind, oder?”

“So ungefähr”, gestand Helen. “Tun Sie mir doch den Gefallen. Ich verspreche Ihnen auch, dass ich Sie nicht tiefer in die Sache mit hineinziehen werde als nötig.”

Wenn du wüsstest, dachte der Mann, weil ihm, anders als ihr, klar war, wie tief er jetzt schon in der Sache drinsteckte. Und was passieren würde, wenn Helen Angolini erfuhr, mit wem sie es zu tun hatte, wollte er sich lieber nicht ausmalen. Doch was immer geschehen mochte, den erstaunten Blick ihrer faszinierenden Augen wollte er sich um keinen Preis entgehen lassen.

“Einverstanden”, erwiderte er entschlossen. “Der Kerl hat einen Denkzettel verdient, und wenn ich es bin, der Ihnen dabei helfen kann – umso besser.”

“Sie hat der Himmel geschickt, Mr. … Apropos, ich weiß Ihren Namen gar nicht.”

“Ich hole nur rasch meinen Mantel”, wich er einer Antwort aus. “Wir treffen uns dann unten in der Halle.”

Helen hielt nach Dily Ausschau, um sie zu bitten, sich um das Gepäck zu kümmern. Anschließend ging sie zu ihrem Chef, um sich von ihm zu verabschieden. Fast befürchtete sie, sich einen Rüffel einzuhandeln, weil sie sich mit einem einzelnen Gast länger unterhalten hatte, als es sich mit ihrer Aufgabe vertrug.

Doch Mr. Dacre reagierte völlig anders, als sie es erwartet hatte. “Gut gemacht, Helen”, lobte er sie. “Ich wusste ja, dass ich mich auf Sie verlassen kann.”

Bevor sie fragen konnte, wie sie zu der Ehre kam, wandte sich ihr Chef ab, um sich seinem Gesprächspartner zu widmen. Als sie an die Rezeption kam, erwartete sie der Mann bereits, der ihr inzwischen gar nicht mehr so fremd war. Er hatte sich einen dicken Wintermantel angezogen und trug eine schwarze Ledertasche bei sich.

Auf der Straße winkte er ein Taxi heran. Doch als er sich zu Helen umdrehte, stand sie noch am Hoteleingang und sprach mit einem gut aussehenden jungen Mann. Die beiden schienen sich gut zu kennen, denn bevor der Mann in der Lobby des Elroy verschwand, küsste er Helen auf die Wange.

“War das Ihr Freund?”, fragte der Fremde, als sie im Taxi saßen.

“Das war Erik”, erwiderte sie. “Ihn habe ich übrigens auch einmal mit zu meinen Eltern genommen. Doch das passiert mir kein zweites Mal. Sie haben sich alle erdenkliche Mühe gegeben, eine mögliche Beziehung zwischen ihm und mir bereits im Keim zu ersticken. Und wissen Sie auch, warum? Weil seine Vorfahren nicht Italiener waren, sondern Wikinger.”

“Das hindert Sie aber nicht daran, sich weiterhin mit ihm zu treffen, oder?”

“Wir gehen dann und wann zusammen aus”, antwortete Helen betont vage, bevor sie dem Fahrer die Mulberry Street als Ziel nannte.

Nur wenige Meilen trennten die Park Avenue von Little Italy, trotzdem war es, als käme man in eine andere Welt. Und obwohl Helen alles tat, um sich ihre Herkunft nicht anmerken zu lassen, musste sie jedes Mal, wenn sie in das Viertel kam, einsehen, dass ihr das rege Treiben in und vor den kleinen Bars und Geschäften unendlich viel lieber war als das vornehme und luxuriöse Flair der Gegend, in der sie arbeitete. Hier war und blieb ihr Zuhause, was immer sie sich selbst und anderen mitunter auch einzureden versuchte.

Doch als sie nun auf ihr Elternhaus zufuhren, musste sie feststellen, dass hinter jedem Fenster des dreistöckigen Gebäudes ein neugieriges Augenpaar ihre Ankunft erwartete. Die älteste Tochter einer italienischen Familie hatte es wahrlich nicht leicht – jedenfalls nicht, solange sie noch ledig war.

Nachdem Helen das Taxi verlassen hatte, schlug sie den Kragen ihres Mantels hoch, denn nach wie vor wehte ein eisiger Wind, und die Luft roch förmlich nach Schnee.

Erst als ihr Begleiter das Taxi bezahlt und sich zu Helen umgedreht hatte, bemerkte er, dass sie beobachtet wurden. Instinktiv wusste er, was er zu tun hatte, und der Strafe, die unausweichlich folgen würde, sah er gelassen entgegen. Wenn sein Plan auch nur annähernd aufging, wäre er reichlich entschädigt.

“Wir werden beobachtet”, sagte er. “Wie wäre es, wenn wir Ihrer Familie etwas bieten?”

“Und was, wenn ich fragen darf?”

“Ich dachte an das hier”, erwiderte er und zog sie an sich. Ehe sie sich’s versah, hatte er sich zu ihr hinuntergebeugt, sodass sich ihre Lippen beinahe berührten.

“Was machen Sie?” Der Anschlag auf ihre Sinne war so plötzlich gekommen, dass Helen nicht sagen konnte, ob es sich bei dem Gefühl, das die unvermittelte Nähe in ihr auslöste, um Empörung oder Erregung handelte.

“Ich tue so, als ob wir uns schon länger kennen würden”, erwiderte er betont sachlich. “Darum hatten Sie mich doch gebeten. Oder haben Sie es sich inzwischen anders überlegt und wollen einen dicken, unansehnlichen Italiener heiraten?”

Helen war außerstande, einen klaren Gedanken zu fassen. Natürlich hatte sie es sich nicht anders überlegt, doch ob sie das gemeint hatte, als sie den Fremden um Hilfe gebeten hatte, wagte sie zu bezweifeln. Andererseits hatte er sicherlich recht, und je überzeugender ihre Vorstellung geriet, umso eher würden ihre Eltern einsehen, dass sie die Rechnung ohne den Wirt gemacht hatten. Nur, wie sollte sie sich in diesem Wirrwarr von Fragen, Vermutungen und Hoffnungen zurechtfinden, wenn die Nähe dieses faszinierenden Mannes sie in einem Maß erregte, das ihr geradezu unheimlich war?

“Normalerweise küsse ich keine Männer, die ich gerade erst kennengelernt habe”, erklärte sie verunsichert.

“Niemand dort drinnen weiß, wie lange wir uns kennen – oder wie kurz.”

Sein Einwand war nicht von der Hand zu weisen. Doch etwas in Helen sträubte sich immer noch, sich auf das Spiel mit dem Feuer einzulassen. “Ich weiß doch noch nicht einmal, wie Sie hei…”

Der sanfte Druck seiner Lippen erstickte das letzte Wort. Im selben Moment wurde der Griff um ihre Taille kaum merklich fester, als wollte ihr der Fremde wortlos zu verstehen geben, dass es Teil ihrer Verabredung sei und nichts mit irgendwelchen Gefühlen zu tun habe.

Dafür sprach auch, dass die Berührung seiner Lippen verriet, wie viele Frauen er vor ihr geküsst haben musste. Diesen Lippen war nichts fremd, erst recht nicht die Kunst, eine junge Frau im Handstreich zu erobern.

“Es würde überzeugender wirken, wenn du meinen Kuss erwiderst”, flüsterte er unvermittelt, als hätte er Helens Zwiespalt erraten.

Ihr Verstand warnte sie nachdrücklich, doch ihre Hände hatten den Weg zum Nacken des Fremden schon gefunden. Im nächsten Moment öffnete sie die Lippen, um ihm zu signalisieren, wie sehnsüchtig sie seinen Kuss erwartete. Sie erwiderte ihn mit einer Leidenschaft, die ihr in aller Deutlichkeit klarmachte, dass es längst nicht mehr darum ging, überzeugend zu wirken. Was sie tat, tat sie einzig und allein deshalb, weil sie es nicht anders wollte.

Endlich konnte sie sich dazu durchringen, ihn sanft von sich zu drücken. “Das sollte reichen”, sagte sie verlegen, um leise hinzuzufügen: “Fürs Erste jedenfalls.”

“Wir haben doch noch nicht einmal angefangen”, widersprach der Mann scheinbar ungerührt. Doch Helen meinte in seiner Stimme eine Unsicherheit bemerkt zu haben, und seine Augen schimmerten dunkler als ohnehin. Offensichtlich waren die Innigkeit und Heftigkeit ihres Kusses auch für ihn überraschend gekommen.

“Lass mich bitte los”, forderte sie ihn auf, weil sie wusste, dass es um sie geschehen wäre, wenn sie sich nicht augenblicklich von diesem faszinierenden Mann losriss. “Sonst zückt Lorenzo Martelli noch sein Messer”, setzte sie deutlich freundlicher hinzu.

“Er soll ruhig kommen”, erwiderte der Fremde gelassen. “Heute nehme ich es mit jedem auf.”

Im selben Moment wurde die Haustür aufgerissen, und ein Stimmengewirr erklang. Sekunden später stand ihre Mutter an ihrer Seite, und zu Helens Erstaunen lag in ihrem Blick nicht etwa Empörung, sondern vielmehr Bewunderung und ein Ausdruck reinen Glücks.

“Ich habe immer gewusst, dass du eines Tages zur Besinnung kommst”, begrüßte Mrs. Angolini ihre älteste Tochter überschwänglich und drückte sie an sich.

“Mamma”, sagte Helen verunsichert, “ich habe einen Gast mitgebracht. Ich hoffe, es macht dir …”

“Das ist mir nicht entgangen”, fiel ihre Mutter ihr ins Wort und schenkte ihr ein anerkennendes Lächeln. “Als dein Vater mir gesagt hat, um wen es sich handelt, habe ich sofort den Champagner aus dem Kühlschrank geholt.”

“Kennt Poppa ihn denn?”, fragte Helen entgeistert.

“Er hat ihn doch vor zwei Tagen vom Flughafen abgeholt und ins Elroy gebracht. Dort hast du ihn sicherlich kennengelernt. Haben wir dir nicht einen wunderbaren Ehemann ausgesucht?”

Helen fühlte sich plötzlich benommen. Ein dichter Schleier legte sich um sie und trübte ihre Sinne – doch leider nicht genug, um die grausame Wahrheit von ihr fernzuhalten, die ihr ebenso deutlich vor Augen stand wie jener Mann, dem ihr Vater freudig die Hand schüttelte. “Herzlich willkommen, Lorenzo”, hörte sie ihn noch sagen, bevor ihre Schwestern ihn beiseitedrängten, um den Besucher ins Haus zu führen.

Kurz bevor sie den Eingang erreichten, drehte Lorenzo Martelli sich noch einmal zu Helen um. Ihren wütenden Blick erwiderte er mit einer stummen Geste, in der sich Schuldbewusstsein, Hilflosigkeit und Schalk die Waage hielten.

2. KAPITEL

“Wenn du wüsstest, wie glücklich du mich machst”, sagte Helens Mutter gerührt. “Ich kann es kaum erwarten, Tante Lucia anzurufen und …”

“Bitte, Mamma”, unterbrach Helen sie. Der Gedanke, dass sich die Episode wie ein Lauffeuer verbreiten würde, war ihr ausgesprochen peinlich. “Vielleicht wartest du damit lieber noch.”

“Du hast völlig recht”, zeigte sich ihre Mutter einsichtig, “wir überraschen sie lieber mit der Einladung zu eurer Hochzeit.”

“Ich habe nicht vor, ihn zu heiraten”, widersprach Helen bestimmt.

“Wie bitte?” Signora Angolini war wie vor den Kopf geschlagen. “Ich höre wohl nicht richtig? Ein anständiges Mädchen wie du würde es doch nie wagen, einen Mann in aller Öffentlichkeit zu küssen, wenn sie ihn nicht heiraten will.”

Helen war versucht zu gestehen, dass sie zu diesem Zeitpunkt nicht einmal den Namen des Mannes gekannt hatte. Doch diese Schmach wollte sie ihrer Mutter nicht auch noch antun.

“Lass uns ins Haus gehen”, schlug sie vor, auch wenn sie nicht die geringste Lust verspürte, demjenigen unter die Augen zu treten, der sie in die Sackgasse manövriert hatte, in der sie sich befand. Doch noch weniger Wert legte sie darauf, sich weiterhin den neugierigen Blicken der Nachbarn auszusetzen, die hinter den Gardinen standen und gespannt auf die Fortsetzung der anrührenden Liebesszene zu warten schienen.

Die Wohnung der Familie befand sich direkt über der Fleischerei, die Nicolo Angolinis ganzer Stolz war. Für ein Ehepaar mit vier Töchtern war sie gerade groß genug, doch nun herrschte eine bedrohliche Enge, weil sich zur Feier des Tages außer den drei Söhnen mitsamt ihren Familien auch ein erheblicher Teil der Verwandtschaft eingefunden hatte, in deren Mitte ein lächelnder Lorenzo Martelli stand.

Als Helen die Wohnung betrat, wusste sie auch, was in der großen Ledertasche gewesen war. Lorenzo hatte seinen Gastgebern sizilianische Delikatessen mitgebracht, bei deren Anblick Signora Angolini in Tränen ausbrach, so sehr überwältigte sie die Erinnerung an ihre Heimat, die sie zuletzt als kleines Kind gesehen hatte.

Als sie sah, wie glücklich er ihre Mutter gemacht hatte, war Helen versucht, Lorenzo alles andere zu verzeihen. Glücklicherweise blieb es ihr erspart, weil ihre Schwestern sie jäh in die Wirklichkeit zurückholten.

“Er sieht einfach umwerfend aus”, flüsterte Patrizia, und Olivia und Carlotta nickten zustimmend. “Du bist ein Glückskind, Elena.”

“Erstens heiße ich Helen, und zweitens will ich kein Wort mehr hören”, schimpfte sie. “Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?”

“Versprichst du mir, dass ich deine Brautjungfer sein darf?” Carlotta war erst fünfzehn, und vor lauter Aufregung hatte sie vergessen, wie aufbrausend ihre große Schwester sein konnte.

“Wenn du nicht sofort still bist, verspreche ich dir eine Tracht Prügel!”

Die drei Mädchen tauschten vielsagende Blicke aus, als hätten sie vollstes Verständnis dafür, dass Elena momentan besonders empfindlich war.

Helen ließ ihre Schwestern einfach stehen und bahnte sich einen Weg zu Lorenzo. “Wir haben noch ein Hühnchen miteinander zu rupfen”, flüsterte sie lächelnd, damit keiner der Umstehenden Verdacht schöpfte.

“Es tut mir aufrichtig leid …”

“Das wird es, wenn ich erst mit dir fertig bin”, fiel Helen ihm drohend ins Wort, um ihm unter den Augen der gesamten Familie die Hände um den Nacken zu legen. “Weißt du, was du bist?”, fragte sie leise. “Ein hinterhältiges Miststück.”

“Von wem kam denn der Vorschlag, dass wir uns wie zwei alte Freunde benehmen?”, protestierte Lorenzo und erinnerte Helen unsanft daran, dass sie selbst nicht ganz unschuldig an der Situation war.

“Hast du das etwa irgendjemandem erzählt?”, fragte sie ängstlich.

“Natürlich nicht.”

“Dein Glück. Und wenn du Interesse daran hast, den morgigen Tag zu erleben, solltest du es dabei belassen.” Kaum hatte sie die Drohung ausgesprochen, wandte sie sich um und tauchte in der Menge unter.

Lorenzo sah ihr mit einem mulmigen Gefühl nach, weil er Helen durchaus zutraute, dass sie im Falle eines Falles ihren Worten Taten folgen lassen würde.

Er wurde durch Nicolo Angolini aus seinen Gedanken aufgeschreckt, der die Gäste zu Tisch bat.

Über die Frage, wer neben Lorenzo sitzen durfte, entbrannte ein Streit, aus dem sich Helen tunlichst heraushielt. Sie hatte das dringende Bedürfnis, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen, und die unmittelbare Nähe desjenigen, der für das Chaos in ihrem Kopf verantwortlich war, wäre ihr keine Hilfe dabei.

Nachträglich war es ihr unerklärlich, wie sie ihm hatte erzählen können, dass ihre Eltern sie mit einem gewissen Lorenzo Martelli verheiraten wollten. Doch anstatt sich zu erkennen zu geben, hatte er sich angeboten, ihr beizustehen.

Damit nicht genug, hatte er sie in aller Öffentlichkeit geküsst, und, was das Schlimmste war, sie, Helen, dazu gebracht, den Kuss zu erwidern. Wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass dieser Punkt sie am meisten beschäftigte, was nicht zuletzt die Tatsache bewies, dass sie errötete.

In der bösen Ahnung, dass Lorenzo, der ihr gegenübersaß, es sehen und völlig falsche Schlüsse daraus ziehen würde, sah sie auf. Wie befürchtet, hatte er sie beobachtet, doch sein Lächeln war nicht triumphierend, sondern vielmehr aufmunternd, sodass Helen versucht war, es zu erwidern.

Fall nicht schon wieder auf ihn herein!, rief sie sich im letzten Moment zur Besinnung. Er hatte sie tief gedemütigt, und nun versuchte er mit unlauteren Mitteln, sie dazu zu bringen, ihm zu verzeihen. Doch so leicht würde sie es ihm nicht machen!

Auf Nachfrage eines ihrer Brüder begann Lorenzo, von seiner Familie zu erzählen. So erfuhr Helen, dass seine Mutter seit vielen Jahren Witwe war. Lorenzo schien sich große Sorgen um sie zu machen, weil sie mit zunehmendem Alter immer gebrechlicher wurde. Nur ihr Wille war seinen Worten nach eisern und ungebrochen.

“Haben Sie auch Geschwister?”, erkundigte sich Carlotta.

“Zwei ältere Brüder”, erwiderte Lorenzo, “Renato, der Älteste, hat vor Kurzem eine Engländerin geheiratet. Sie heißt Heather. Und da sie ein Kind erwartet, werde ich bald Onkel.”

“Mir scheint etwas entgangen zu sein”, wandte Helens Vater ein. “Bisher wusste ich nur von zwei Söhnen.”

“Es sind aber drei”, widersprach Lorenzo bestimmt, ohne eine Erklärung hinzuzufügen. Sein Lächeln war überzeugend wie zuvor, und doch meinte Helen zu bemerken, dass ihr Vater einen wunden Punkt angesprochen hatte. Doch gleich darauf hatte Lorenzo sich wieder gefangen und das Gespräch geschickt auf ein anderes Thema gelenkt.

Es schien ihm nicht das Geringste auszumachen, von ihrer Verwandtschaft ausgefragt zu werden. Mit derselben Souveränität, mit der er die Fragen ihres Vaters und seiner Söhne beantwortete, machte er ihrer Mutter Komplimente und brachte ihre Schwestern zum Lachen.

Hilflos musste Helen zur Kenntnis nehmen, dass er im Handumdrehen ihre ganze Familie für sich eingenommen hatte. Ihren Eltern war deutlich anzusehen, dass die Wahl, die ihre älteste Tochter getroffen hatte, ihre uneingeschränkte Zustimmung fand – zumal es sich dabei um denselben Mann handelte, den sie ausgesucht hatten. Noch hatte Helen nicht die geringste Ahnung, wie, doch irgendwann würde sie ihren Eltern erklären müssen, dass es sich bei diesem Mann um einen hinterhältigen Lügner handelte, der auf die Folterbank gehörte, bis er hoch und heilig versprechen würde, sich nie wieder einer Frau zu nähern.

Lorenzo war nicht entgangen, was Helen beschäftigte, doch vorsichtshalber unterließ er es, sich die Vergeltung, die ihn erwartete, in allen Details auszumalen.

Fairerweise musste er allerdings zugeben, dass er ihre strikte Weigerung, je einen Italiener zu heiraten, allmählich verstehen konnte. Denn so freundlich er auch behandelt wurde, waren die Männer der Familie Angolini in der Tat doch ein abschreckendes Beispiel. Hier wurden Traditionen aufrechterhalten, die selbst auf Sizilien längst überholt waren. In diesem Haushalt hatten die Frauen nichts zu bestellen, und nur die jüngeren, deren beruflicher Werdegang sie aus Little Italy hinaus in die Welt geführt hatte, wagten es, sich dagegen aufzulehnen. Die Männer lebten hingegen in dem festen Glauben, dass sich in den letzten fünfzig Jahren nichts verändert hatte.

Was sich spätestens zeigte, als Lorenzo der Dame des Hauses ein Kompliment für das ausgezeichnete Essen machte. Noch bevor Signora Angolini sich bedanken konnte, wandte ihr Mann ein, dass weniger ihre Kochkunst als vielmehr sein Fleisch so außergewöhnlich sei und das Kompliment deshalb ihm gebühre.

Daraufhin stand Helens Mutter wortlos auf und begann, den Tisch abzuräumen. Schließlich waren sämtliche Frauen in der Küche beschäftigt, während die Männer es sich gemütlich machten und sich den Kaffee schmecken ließen, den Olivia ihnen gekocht hatte.

Als Nicolo Angolini laut zu gähnen begann, war dies das unmissverständliche Zeichen zum Aufbruch. Nach und nach machte sich die gesamte Verwandtschaft auf den Heimweg – was für manchen bedeutete, nur die Straßenseite zu wechseln.

“Ich werde jetzt auch gehen”, sagte Lorenzo zu seiner Gastgeberin, nicht ohne sich für den reizenden Abend zu bedanken.

“Wollen Sie nicht noch ein bisschen bleiben?”, bat Signora Angolini. “Mein Mann und ich gehen schlafen, und die kleinen Mädchen liegen auch schon im Bett, aber Elena leistet Ihnen sicherlich gern noch ein wenig Gesellschaft.”

“Mit dem größten Vergnügen”, sagte Helen und hakte sich bei Lorenzo unter – vor allem, um zu verhindern, dass er Reißaus nahm. “Schließlich haben wir noch einiges zu besprechen.”

Lorenzo wirkte alles andere als begeistert, trotzdem willigte er ein. Nachdem Helens Eltern sich zurückgezogen hatten, setzte ein beredtes Schweigen ein, das Helen dazu nutzte, ihr Gegenüber ausgiebig zu mustern.

“Du bist also Lorenzo Martelli”, sagte sie endlich.

Er nickte lediglich.

“Ich nehme an, das warst du schon, als wir uns vorhin im Hotel unterhalten haben.”

“Wenn ich mich richtig erinnere, ja.”

“Und auch, als du mich geküsst hast.”

“Ich kann es kaum abstreiten.”

“Du hast es also getan, obwohl du genau wusstest, wie sehr ich dich verachte?”

“Ich wusste, dass du einen dicken, unansehnlichen Mann verachtest, der zufällig den Namen Lorenzo Martelli trägt”, wandte Lorenzo ein. “Mich konntest du damit kaum meinen.”

“Und ob ich dich meinte!”, platzte Helen heraus. “Ich habe diesen Lorenzo Martelli schon verachtet, als ich ihn noch gar nicht kannte. Jetzt, da ich ihn kenne, verachte ich ihn erst recht.”

“Ich weiß ja, dass ich mich danebenbenommen habe”, gestand er reumütig ein, “aber ich habe mich von deiner Anmut und Schönheit hinreißen …”

“Das Süßholzraspeln kannst du dir sparen”, fiel Helen ihm ins Wort. “Ich bin dafür nicht empfänglich.”

“Also schön”, lenkte Lorenzo ein, weil er merkte, dass seine Verteidigungsstrategie ins Leere lief. “Ich habe mich nicht gerade wie ein Kavalier benommen. Doch wenn du ehrlich bist, musst du zugeben, dass du den Kuss erwidert hast – und zwar aus freien Stücken.”

“Das musst du dir einbilden”, protestierte Helen vehement. “Wie käme ich dazu, diesen Lorenzo Martelli zu küssen?”

“Kannst du nicht endlich aufhören, von mir wie von einem Fremden zu sprechen? Und dass du meinen Kuss erwidert hast, steht so fest wie das Amen in der Kirche.”

“Vielen Dank, dass du mich daran erinnerst, was du mir durch deine Unbeherrschtheit alles eingebrockt hast”, sagte Helen sarkastisch.

“Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst.” Die Veränderung in Helens Ton traf Lorenzo völlig unvorbereitet, und sicherheitshalber suchte er Schutz hinter einem Stuhl.

“Dann werde ich es dir erklären”, erwiderte Helen mit einer Bitterkeit, die Lorenzo darin bestätigte, dass seine Vorsicht angebracht war. “Anders, als du anzunehmen scheinst, ist das nicht nur eine Angelegenheit zwischen uns beiden. Dummerweise hast du mich auf offener Straße geküsst, sodass meine gesamte Verwandtschaft und alle Nachbarn es sehen konnten. Und ein solcher Kuss kommt einem Jawort gleich – jedenfalls für die Tochter einer sizilianischen Familie. Ich kann förmlich spüren, wie sich die Schlinge um meinen Hals zusammenzieht.”

“Es wundert mich zwar, dass du den Gang zum Altar mit dem zum Galgen vergleichst, trotzdem brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Das bekomme ich schon hin.”

“Und wie willst du das anstellen?”

“Indem ich gar nicht erst um deine Hand anhalte”, lautete Lorenzos entwaffnende Antwort. “Ich werde deinen Eltern einfach erklären, dass wir nicht zueinander passen. Und wenn sie fragen, warum, werde ich sagen, dass du hundsmiserabel küsst – tu das nicht, Helen!”

Nur seiner Geistesgegenwart war es zu verdanken, dass ihn das Buch, das sie nach ihm geworfen hatte, nicht mit voller Wucht am Kopf traf, sondern hinter ihm an die Wand klatschte.

“Raus hier!”, forderte Helen ihn empört auf.

“Sollen wir nicht vorher besprechen, wann ich mit deinen Eltern …?”

“Raus, habe ich gesagt!”

Lorenzo war schon an der Tür, als er sich noch einmal zu Helen umwandte. “Bleibst du heute Nacht hier?”

“Es geht dich zwar nichts an, aber eigentlich hatte ich vor, noch zu meiner Wohnung zu fahren”, erwiderte sie barsch.

“Dann sollten wir lieber gleichzeitig aufbrechen.”

“Signore Martelli”, sagte Helen betont distanziert, “wenn Sie auch nur halbwegs zugehört hätten, wüssten Sie, dass ich es kaum ertrage, gleichzeitig mit Ihnen in New York zu sein, geschweige denn in einem Taxi.”

“Ich kann mir auch Angenehmeres vorstellen, aber wenn du die Gerüchteküche nicht anheizen willst, wäre es ratsam, wenn wir das Haus gemeinsam verließen.”

“Und wem sollte es deiner Meinung nach um diese Uhrzeit auffallen, wenn wir es nicht täten?”

“Allen, die um diese Uhrzeit am Fenster stehen, weil es sie brennend interessiert, ob Elena Angolini und der junge Mann, den sie vorhin so innig geküsst hat, das Haus gemeinsam oder getrennt verlassen.”

“Was so ziemlich sämtliche Bewohner der Straße sein dürften”, gab Helen sich die ernüchternde Antwort selbst. “Warte einen Moment, ich rufe uns ein Taxi.”

Lorenzo hatte natürlich recht. Sie mussten das Haus gemeinsam verlassen, um zu verhindern, dass noch mehr Gerüchte entstanden. Davon gab es wahrlich schon genug.

Nachdem das Taxi vorgefahren war, gingen sie schweigend die Treppe hinab. Vor der Haustür reichte Lorenzo Helen den Arm, um sie über den rutschigen Gehweg zu führen. Widerstandslos ließ sie ihn gewähren und wartete geduldig, bis er die Wagentür geöffnet hatte und sie endlich einsteigen konnte. Denn obwohl sie nicht ein einziges Mal aufgeblickt hatte, war sie felsenfest davon überzeugt, dass Dutzende Augenpaare jede ihrer Bewegungen gebannt verfolgten.

Kaum hatte das Taxi die Mulberry Street verlassen, stieß Helens Mutter hinter der Gardine ihres Schlafzimmers einen zufriedenen Seufzer aus. “Ist dir aufgefallen, dass er ihr sogar die Wagentür aufgehalten hat?”

“Schon”, brummelte ihr Mann, der verschlafen neben ihr stand. “Aber was mag der Lärm zu bedeuten haben, den sie eben gemacht haben?”

“Gar nichts”, erklärte ihm seine Frau. “Ein kleiner Streit zwischen frisch Verliebten ist völlig normal.”

“Sollten wir nicht noch irgendwo auf einen Drink einkehren?”, schlug Lorenzo vor, kaum dass das Taxi die Mulberry Street verlassen hatte.

“Du kannst ja in die Hotelbar gehen, wenn ich dich am Elroy abgesetzt habe”, erwiderte Helen abweisend.

“Das saß.” Lorenzo verzog das Gesicht und hielt sich die Wange, als hätte Helen ihm eine schallende Ohrfeige verpasst.

“Sei froh, dass ich nicht wirklich zugeschlagen habe.”

Kaum hatte sie es ausgesprochen, wusste sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Sie kannte Lorenzo zwar erst wenige Stunden, doch gut genug, um zu wissen, dass er sich die Chance, sie in Verlegenheit zu bringen, nicht entgehen lassen würde.

“Tu dir keinen Zwang an”, erwiderte er prompt.

“Hör auf, Lorenzo”, bat sie ihn und musste wider Willen lächeln, weil ihn der Schalk, der ihm aus den Augen sah, unwiderstehlich machte.

“Schlag ruhig zu”, forderte er sie auf. “Vielleicht fühlst du dich dann besser.”

Die Versuchung war zu groß. Helen hob den Arm und deutete eine Ohrfeige an, die zu einem fast zärtlichen Streicheln geriet, als die Hand schließlich Lorenzos Wange erreichte.

Dass dies nicht nur ein weiterer Fehler, sondern ein ungleich größerer war, wurde ihr spätestens klar, als Lorenzo blitzartig ihre Hand nahm und küsste.

Schlagartig stellte sich die Erinnerung an jenen Kuss ein, den sie vor ihrem Elternhaus ausgetauscht hatten, an das Gefühl seiner Lippen, die sich sanft und energisch zugleich auf ihre gedrückt hatten. Und obwohl Lorenzo eine Armeslänge von ihr entfernt saß, meinte sie diese erregende Nähe auch jetzt zu spüren.

Es wird höchste Zeit, ihm endgültig Einhalt zu gebieten, sagte sich Helen, doch den Vorsatz auch in die Tat umzusetzen war sie nicht imstande. Dafür genoss sie das Prickeln auf der Haut viel zu sehr, das die zärtliche Berührung seiner Lippen auslöste.

Als die knisternde Spannung sie zu überwältigen drohte, hob Lorenzo unvermittelt den Kopf und ließ ihre Hand los. Grenzenlose Scham und Enttäuschung ließen Helen rasch wieder zur Besinnung kommen. Sie zog ihren Arm zurück und rückte sicherheitshalber ganz nah an die Tür, um in den wenigen Minuten, welche die Fahrt noch dauern konnte, jede noch so flüchtige Berührung zu vermeiden.

“Wir sind da”, sagte sie erleichtert, als vor ihnen endlich das Elroy auftauchte.

“Dann sollten wir rasch überlegen, wann ich mit deinen Eltern spreche”, schlug Lorenzo vor.

“Das übernehme ich selbst”, entgegnete Helen betont abweisend. “Ich rufe sie morgen an und sage ihnen, dass du und ich uns nicht wiedersehen und folglich auch nicht heiraten werden.”

“Und wie willst du ihnen den kleinen Vorfall vor ihrer Haustür erklären?”

“Ich werde einfach sagen, dass ich mich habe hinreißen lassen”, erwiderte Helen. “Sie werden das verstehen”, setzte sie hinzu, wenn auch wenig überzeugend. “Schließlich waren sie auch einmal jung.”

“Wenn das so ist, spricht eigentlich nichts dagegen, dass du dich erneut hinreißen lässt”, sagte Lorenzo, und selbst im Halbdunkel meinte Helen sein schalkhaftes Lächeln erkennen zu können. “Zumal sie es dieses Mal nicht sehen würden.”

“Dafür aber mein Arbeitgeber”, konterte Helen, weil das Taxi in diesem Moment vor dem Hoteleingang hielt. “Gute Nacht, Mr. Martelli”, verabschiedete sie sich förmlich. “Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen. Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Aufenthalt in New York.”

“Tu nicht so scheinheilig”, wandte Lorenzo ein. “In Wirklichkeit wünschst du mir die Pest an den Hals.”

“Das kann ich weder bestätigen noch dementieren.”

“Was so gut wie ein Geständnis ist.” Lorenzo sah ein, dass nicht die geringste Aussicht bestand, Helen noch umzustimmen. “Dann danke ich Ihnen für den wunderbaren Abend, Miss Angolini. Ich hoffe, unsere Wege kreuzen sich eines nicht so fernen Tages erneut.”

Helen erwiderte sein Lächeln betont freundlich, bevor sie ihn in aller Deutlichkeit wissen ließ, wie sie darüber dachte. “Der Himmel möge uns davor bewahren”, gab sie ihm mit auf den Weg. “Leben Sie wohl, Mr. Martelli.”

Sie sah ihm nach, bis er in der Lobby des Hotels war. Das wäre geschafft, dachte sie erleichtert. Mit ein wenig Glück und Geschick sollte es ihr gelingen, ihm in den wenigen Tagen, die er noch in der Stadt war, aus dem Weg zu gehen.

Am nächsten Morgen ließ Jack Dacre Helen in sein Büro rufen.

“Ich habe einen etwas ungewöhnlichen Auftrag zu vergeben”, erklärte ihr Chef umständlich, “und da ich gesehen habe, wie blendend Sie sich mit Mr. Martelli verstehen, möchte ich Sie damit betrauen.”

“Worum geht es denn?”, fragte Helen so emotionslos wie möglich.

“Ich möchte Sie bitten, sich ein wenig um ihn zu kümmern”, erwiderte ihr Chef. “Sein Englisch scheint schlechter zu sein, als ich angenommen habe. Erst heute früh hat er mir gestanden, wie sehr er darunter leidet, dass er sich kaum verständlich machen kann. Und da Sie seine Muttersprache beherrschen, schlage ich vor, dass Sie ab sofort als seine Dolmetscherin fungieren. Ganz nebenbei erfahren wir so vielleicht etwas über die Konditionen, die unsere Konkurrenz aushandelt. Verstehen Sie jetzt, warum ich ihm seine Bitte nicht abschlagen konnte und wollte?”

Helen verstand zunächst nur, dass sie die Hartnäckigkeit eines gewissen Lorenzo Martelli sträflich unterschätzt hatte. Und so klopfte sie mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch an seine Zimmertür, die sich wie von Geisterhand öffnete.

Doch sobald er seine Nase aus der Tür streckte, war Helens Wut schon wieder verflogen. “Würdest du bitte mit dem Unfug aufhören?”, rief sie ihn zur Vernunft, doch ihr Lächeln wollte nicht so recht zu ihrem strengen Tonfall passen.

“Wer hätte gedacht, dass wir uns so bald wiedersehen”, begrüßte er Helen, nachdem er die Tür hinter ihr geschlossen hatte.

“Ich konnte ja nicht ahnen, dass du sogar meinen Chef einspannst – auch wenn ich mich frage, wie er auf deinen miesen Trick hereinfallen konnte.”

“Nix Trick”, erwiderte Lorenzo radebrechend, “ich wirklich nix spreche Englisch.”

“Gib dir keine Mühe”, verbat sich Helen sein Theater, ohne verbergen zu können, wie sehr ihr der jungenhafte Schalk in seinen Augen gefiel. “Zufällig weiß ich, dass dein Englisch nahezu perfekt ist – von dem einen Ausrutscher gestern mal abgesehen. Und da du keine Dolmetscherin brauchst, frage ich mich, was ich hier eigentlich soll.”

“Du könntest mir beispielsweise die Sehenswürdigkeiten von New York zeigen.”

“Mein Auftrag lautet zwar, mich um Sie zu kümmern, Mr. Martelli, doch damit war wohl kaum gemeint, dass ich Ihnen in Ihrer Freizeit Gesellschaft leiste.”

“Es war ja nur ein Versuch”, erwiderte Lorenzo beschwichtigend. “Ich habe hier eine Liste mit Kunden, die ich heute besuchen muss. Ich schlage vor, du begleitest mich.”

“Sind auch Hotels darunter?”, erkundigte sich Helen so unverfänglich wie möglich, während sie einen Blick auf die Liste warf.

“Nur Restaurants.”

“Und warum ist kein einziger Italiener darunter?”

“Weil die die Qualität unserer Ware längst kennen”, erklärte Lorenzo selbstbewusst. “Sinn meiner Reise ist es, die anderen Nationalitäten davon zu überzeugen, dass sie unbedingt bei uns kaufen müssen.”

“Ganz schön eingebildet, der Herr.”

“Findest du? Als Sizilianerin wirst du nicht bestreiten …”

“Lorenzo!”

“Entschuldige bitte. Ich wollte dir nicht zu nahetreten. Und jetzt lass uns mit der Arbeit anfangen.”

In den folgenden Stunden begleitete Helen Lorenzo in zahlreiche Restaurants, und so schwer es ihr fiel, kam sie nicht umhin, ihn für sein Verhandlungsgeschick zu bewundern. Er verstand es meisterhaft, seinen Charme spielen zu lassen, bis aus potenziellen Kunden zahlungskräftige Käufer geworden waren.

Am späten Nachmittag war sein Auftragsbuch prall gefüllt, und er beschloss, Feierabend zu machen. “Ich brauche dringend eine Stärkung”, sagte er erschöpft. “Da vorn ist ein Restaurant, lass uns dort etwas essen.”

Das Restaurant hieß Five und erwies sich als Volltreffer, denn es bot einen fantastischen Ausblick auf den Hudson. Die letzten Lichtstrahlen brachen sich auf der Wasseroberfläche des Flusses und verwandelten ihn in ein glitzerndes Sternenmeer.

Obwohl Helen oft am Ufer spazieren ging und Sonnenuntergänge wie diesen häufiger erlebt hatte, erschien er ihr dieses Mal besonders schön. Was sicherlich daran lag, dass er einen nicht weniger schönen Tag krönte, den sie in Begleitung eines Mannes verbracht hatte, der sich zu ihrer Überraschung als überaus angenehmer Gesprächspartner erwiesen hatte. Sie hatte jedenfalls lange nicht mehr so viel und herzlich gelacht wie in den vergangenen Stunden.

“Ich fühle mich, als hätte ich heute das Pensum einer ganzen Woche erledigt”, klagte Lorenzo, nachdem der Ober die Speisekarte gebracht hatte.

“Da bist du nicht der Einzige”, erwiderte Helen spitz.

“Ich hoffe, ich habe nichts Unmögliches von dir verlangt”, sagte er verlegen.

“Das nicht gerade. Allerdings auch nicht das, was eigentlich meine Aufgabe war. Denn übersetzt habe ich kein einziges Wort. Stattdessen durfte ich mich als deine Privatsekretärin betätigen: Notiere das bitte, Helen! Kannst du das schnell mitschreiben, Helen?”

“War ich wirklich so schlimm?” Lorenzo war deutlich anzusehen, wie unangenehm es ihm war, dass er Helen herumkommandiert hatte, ohne es zu merken.

“Wie man’s nimmt”, antwortete sie ausweichend, bevor sie sich einen Ruck gab. “Manchmal hat mich dein Ton sehr an meinen Vater erinnert: Tu dies, Mamma, tu das, Mamma.”

“Das kannst du doch nicht miteinander vergleichen!”, protestierte Lorenzo. “Dein Vater ist ein altmodischer Patriarch.”

“Und was bist du?”

“Ein Geschäftsmann, der sich Sentimentalitäten nicht leisten kann. Jedenfalls nicht wenn er im Dienst ist.”

Es ist aussichtslos, dachte Helen enttäuscht, und doch ertappte sie sich dabei, wie sie die Leichtigkeit, mit der Lorenzo ein unliebsames Thema vom Tisch wischte, amüsierte.

Nachdem sie ihr Essen bestellt hatten, unterhielten sie sich eine ganze Weile über unverfängliche Dinge. Doch kaum hatte der Ober die Vorspeise serviert, kam Lorenzo zu Helens Verwunderung auf ihre Bemerkung zurück.

“Allmählich verstehe ich, was du eben gemeint hast”, sagte er nachdenklich. “Deinem Vater sind Traditionen sehr wichtig, um es positiv auszudrücken, oder?”

Helen nickte. “Im Grunde ist er ein wundervoller Mensch, der für jeden ein Lächeln übrig hat, immer guter Dinge ist und sehr hart arbeitet, damit es seiner Familie an nichts fehlt. Doch meiner Mutter gegenüber ist er ein unerträglicher Tyrann. Er kann sein sizilianisches Temperament eben nicht verleugnen – so wenig wie du”, setzte sie übermütig hinzu.

Lorenzos Protest ließ nicht lange auf sich warten. “Nicht alle Sizilianer sind Tyrannen”, wandte er vehement ein. “Mein Vater ist gestorben, als ich noch ein Kind war, trotzdem erinnere ich mich noch sehr gut an ihn. Er ist nie so mit seiner Frau umgesprungen, wie dein Vater es tut. Und ich würde meine Frau auch nie so behandeln.”

“Glücklicherweise werde ich nicht in die Situation kommen, dich je daran erinnern zu müssen.”

“Erklär das deinem Vater”, erwiderte er triumphierend. “Ich bin sicher, dass er die Hochzeit inzwischen schon bis ins letzte Detail geplant hat.”

“Das überlasse ich dir”, widersprach Helen. “Schließlich bist du der Mann.”

“Dann heirate ich dich lieber”, sagte Lorenzo spontan. “Das ist ungefährlicher.”

3. KAPITEL

“Soll das ein Heiratsantrag sein?”

Erst Helens Verblüffung ließ Lorenzo merken, was er sich mit seiner Unachtsamkeit eingebrockt hatte. Doch die Versuchung zu erfahren, wie sie auf die entsprechende Frage reagieren würde, war zu groß.

“Was würdest du denn sagen, wenn ich dich bitten würde, meine Frau zu werden?”, fragte er betont vorsichtig.

“Ich würde sagen, dass du den Verstand verloren hast”, lautete die ernüchternde Antwort. “Oder hast du schon vergessen, dass ich geschworen habe, dich eher umzubringen, als dich zu heiraten?”

“Das hatte ich völlig verdrängt”, erwiderte Lorenzo. “Vielen Dank, dass du mich daran erinnert hast.”

Helens Lächeln sprach der Heftigkeit ihrer Worte Hohn. “Könnte es sein, dass deine Mordgelüste weniger mit meiner Herkunft als mit einem anderen Mann zu tun haben?”, erkundigte sich Lorenzo deshalb. “Zum Beispiel mit Erik?”

“Fängst du jetzt auch schon damit an?”, empörte sich Helen. “Wenn eine Frau den einen Mann nicht liebt, muss das nicht automatisch heißen, dass sie einen anderen liebt. Warum begreift ihr Männer das nicht endlich?”

“Weil wir immer vom Nächstliegenden ausgehen”, antwortete Lorenzo triumphierend. “Und was liegt näher, als dass ein Mann und eine Frau sich lieben? Schließlich hängt nichts Geringeres davon ab als der Fortbestand der Menschheit.”

“Ehrlich gesagt liegt mir mehr daran, eine gute Hotelmanagerin zu werden, als den Fortbestand der Menschheit zu garantieren.”

“Lässt sich das eine mit dem anderen nicht vereinbaren?”

“Nicht wenn ich einen Sizilianer heirate.”

Das Lachen, in das beide gleichzeitig ausbrachen, hätte nicht herzlicher sein können. Doch als sich unwillkürlich ihre Hände berührten und dann umfassten, endete es ebenso schlagartig, wie es eingesetzt hatte.

Aus dem Augenwinkel konnte Lorenzo erkennen, dass die übrigen Gäste auf sie aufmerksam geworden waren und sie wohlwollend beobachteten. Auch Helen schien es nicht entgangen zu sein. “Weißt du, was sie denken?”, fragte sie und entzog ihm behutsam ihre Hand.

“Dass wir frisch verliebt sind”, erwiderte Lorenzo. “Oder fällt dir ein anderer Grund ein, warum ein Mann und eine Frau Hand in Hand in einem Restaurant sitzen, sich anlächeln und darüber völlig vergessen, dass sie in der Absicht hergekommen waren, etwas zu essen. Wo der Ober nur bleibt?”

Helen war Lorenzo sehr dankbar, dass er ihr ersparte, etwas erwidern zu müssen. Denn ihr fiel tatsächlich kein anderer Grund ein. Wahrscheinlich, weil es keinen anderen gab.

Um sich nicht länger als nötig mit den Konsequenzen zu beschäftigen, schnitt sie rasch ein anderes Thema an. “Du hast gestern so gereizt reagiert, als sich mein Vater nach deinen Geschwistern erkundigt hat. Wie viele Brüder hast du denn nun, einen oder zwei?”

“Anderthalb”, erwiderte Lorenzo lächelnd, und auf Helens verwunderten Gesichtsausdruck hin setzte er hinzu: “Bernardo ist mein Halbbruder.”

“War ein Elternteil von dir denn vorher schon einmal verheiratet?”

“Nicht wirklich”, antwortete Lorenzo ausweichend. “Da ich weiß, wie du über die sizilianischen Männer denkst, sollte ich es dir lieber nicht erzählen, aber die Wahrheit ist, dass mein Vater über viele Jahre hinweg eine Geliebte hatte. Aus dieser Beziehung stammt Bernardo.”

“Wusste deine Mutter von der anderen Frau?”

“Mein Vater hat ihr gegenüber nie einen Hehl daraus gemacht”, bestätigte Lorenzo. “Er hat ihr sogar das Versprechen abgenommen, sich um Marta und ihren Sohn zu kümmern, falls ihm etwas zustoßen sollte.”

Helen schien ihm kein Wort zu glauben. “Hat sie sich etwa an ihr Versprechen gehalten, als dein Vater gestorben ist?”, fragte sie verständnislos.

“Und ob!”, erwiderte Lorenzo bestimmt. “Jedenfalls, soweit es noch möglich war. “Mein Vater ist bei einem Autounfall tödlich verunglückt und mit ihm seine Geliebte. Noch am selben Tag hat meine Mutter Bernardo zu sich geholt und ihn fortan wie einen eigenen Sohn behandelt.”

Helen konnte immer noch nicht glauben, dass eine Frau so selbstlos und großherzig sein konnte. “Das hätte ich nicht für möglich gehalten”, gestand sie. “Und das nach allem, was ihr Mann ihr angetan hat.”

“Es mag komisch klingen, aber sie hat meinem Vater nie Vorwürfe gemacht.”

“Ihr blieb doch keine andere Wahl, als sich zu arrangieren”, warf Helen empört ein. “Ich habe dir doch erzählt, wie man verheiratete Italiener bei uns nennt. Und was ich von solchen Allüren halte, weißt du auch. Wahrscheinlich hast du deshalb meinem Vater nicht geantwortet.”

“Wie du darüber denkst, spielte in dem Moment nicht die geringste Rolle”, widersprach Lorenzo bestimmt.

Erst seine Antwort machte Helen klar, dass er die Wahrheit verschwiegen hatte, um kein schlechtes Licht auf seinen Vater fallen zu lassen. “Die Familienehre bedeutet dir sehr viel, nicht wahr?”, fragte sie bewegt.

“Ich bin Sizilianer, ob ich will oder nicht”, erwiderte er. “Du müsstest doch am besten wissen, was das bedeutet.”

“Wenn du willst, dass ich meine Morddrohung doch noch wahr mache, brauchst du es nur zu sagen”, sagte Helen drohend, woraufhin Lorenzo die Arme hob und wie ein Boxer in Deckung ging.

Dabei hätte er beinahe dem Ober die Teller aus der Hand geschlagen, der in diesem Moment ihr Hauptgericht servierte. “Erzähl mir mehr über deinen Halbbruder”, forderte Helen Lorenzo auf, als sie wieder allein waren. “Gehört er richtig zur Familie?”

“Von uns aus, ja”, antwortete er. “Doch aus Gründen, die ich nicht kenne, lehnt er uns ab. Er wohnt weder bei uns, noch nimmt er unseren Familiennamen an, sondern er lebt unter dem Namen seiner Mutter in seinem Geburtsort Montedoro, einem kleinen Dorf in den Bergen. Er könnte ein reicher Mann sein, aber nicht einmal das Erbteil, das ihm nach dem Tod unseres Vaters zustand, wollte er annehmen. Geld und Besitz scheint er regelrecht zu verachten. Vor nicht allzu langer Zeit verliebte er sich in eine Engländerin. Und da Angie seine Gefühle erwiderte, rechneten wir täglich damit, dass sie sich verloben. Doch dann hat Bernardo zufällig erfahren, dass Angie eine reiche Frau ist, und seitdem weigert er sich, sie auch nur zu sehen.”

“Und wie geht sie damit um?”, erkundigte sich Helen.

“Anders, als Bernardo gedacht hat.” Aus Lorenzos Stimme klang großer Respekt. “Sie ist Ärztin, und da sie über die finanziellen Mittel verfügt, hat sie kurzerhand eine Praxis in Montedoro übernommen. Bernardo kocht vor Wut, aber Angie lässt sich nicht umstimmen. Und einem Mann nur deshalb zu gehorchen, weil er ein Mann ist, kommt für sie genauso wenig infrage wie für dich.”

“Das macht sie mir auf Anhieb sympathisch”, gestand Helen. “Wie haben sich die beiden kennengelernt?”

“Über Heather.”

Lorenzos Antwort fiel denkbar kurz aus, und Helen spürte sehr wohl die Verlegenheit, in die ihn ihre schlichte Frage gebracht hatte. “Ist sie nicht die Frau deines ältesten Bruders?”, erkundigte sie sich gleichwohl.

“Stimmt.” Mehr war ihm offensichtlich nicht zu entlocken, denn ehe Helen erneut nachfragen konnte, wechselte Lorenzo unvermittelt das Thema. “Ich glaube, ich sollte mal mit dem Geschäftsführer reden. Das Essen schmeckt nicht schlecht, aber mit unserer Ware wäre es um Klassen besser.”

Kaum war die Sprache auf das Geschäft gekommen, war Lorenzo wieder in seinem Element. Er sprühte vor Ideen und erzählte Helen voller Begeisterung von den ehrgeizigen Plänen der Firma Martelli. “Nirgendwo auf der Welt gibt es einen auch nur annähernd so fruchtbaren Boden wie auf Sizilien. Alles wächst dort, und zwar in einer konkurrenzlosen Qualität.”

Die Begeisterung, mit der Lorenzo von seiner Heimat erzählte, verwandelte ihn regelrecht, denn nicht nur seine Stimme, auch sein Gesichtsausdruck war völlig verändert.

“Hast du schon große Sehnsucht nach zu Hause?”, fragte sie so behutsam wie möglich, um ihm nicht zu nahezutreten.

Einen Moment lang schien Lorenzo von der Frage überrascht, doch dann huschte ein zustimmendes Lächeln über sein Gesicht. “Ein bisschen schon”, gestand er freimütig. “Ich bin beruflich viel auf Reisen, aber jedes Mal, wenn ich zurückkomme, weiß ich, was ich vermisst habe. Daran wird sich wohl auch nichts mehr ändern. Vielleicht ist es wirklich so, dass ein Mensch früher oder später zu seinen Wurzeln zurückkehren muss – und ein Sizilianer erst recht.”

Helen lächelte verständnisvoll. Doch insgeheim musste sie mit sich ringen, um sich nicht angesprochen zu fühlen. Lorenzo liebte seine Heimat, und er wäre niemals bereit, sie länger als für einige Wochen zu verlassen. Sie hingegen war entschlossen, als Hotelmanagerin Karriere zu machen. Umso mehr Grund hatte sie, sich vor diesem faszinierenden Mann in Acht zu nehmen. Lorenzo konnte das Herz einer Frau im Sturm erobern. Weshalb sie gut daran getan hatte, ihm ihres zu verschließen.

“Wie lange bleibst du eigentlich in New York?”, erkundigte sie sich und hoffte, dass ihre Stimme sich weniger besorgt anhörte, als ihr zumute war.

“Noch einige Tage”, erwiderte Lorenzo. “Dann muss ich nach Detroit und Chicago, bevor Renato mich zum Rapport erwartet.”

“Das klingt ja fast, als wäre dein Bruder ein Sklaventreiber.”

“So schlimm ist es auch wieder nicht”, widersprach Lorenzo lächelnd. “Allerdings ist ihm die Rolle des Familienoberhauptes, die ihm nach dem Tod unseres Vaters zugefallen ist, ein wenig zu Kopf gestiegen. Ich wehre mich nach Kräften dagegen, aber das ändert nichts daran, dass ich ihn jeden Abend anrufen und Bericht erstatten muss.”

Nachdem Lorenzo die Rechnung beglichen hatte, ließ er den Geschäftsführer an den Tisch rufen. Es dauerte nicht lange, und Helen musste wieder als seine Privatsekretärin einspringen, denn die Unterredung der beiden Männer endete damit, dass das Five ab sofort zu den Kunden der Firma Martelli gehörte.

“Renato hat allen Grund, stolz auf dich zu sein”, sagte Helen anerkennend, als sie vor dem Restaurant in der Kälte standen und auf ein Taxi warteten. “Und was machen wir nun? Möchtest du noch ins New Yorker Nachtleben eintauchen?”

“Auf keinen Fall”, lehnte Lorenzo strikt ab. “Wenn ich nicht bald bei Renato anrufe, reißt er mir den Kopf ab.”

Autor

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