Liebe meines Lebens Band 34

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

NIE MEHR OHNE DICH von MARIN THOMAS

Ein Kuss wie ein Erdbeben! Heather und Royce sind seit Jahren gute Freunde – aber als sich an einem Abend auf seiner Ranch ihre Lippen berühren, wird aus Freundschaft etwas unglaublich Verführerisches. Heather weiß: Nie mehr möchte sie diesen Mann loslassen! Doch am nächsten Tag ist er verschwunden. Wird sie ihn je wiedersehen?

EINE ZWEITE CHANCE FÜR DAS GLÜCK von LILIAN DARCY

Soll sie, oder soll sie nicht? Schließlich entscheidet sich die schöne Ärztin Maggie dafür, Will Braggett in ihrer Praxis mitarbeiten zu lassen. Schon immer hat es zwischen ihnen heiß geknistert, jetzt möchte Maggie dem Glück eine Chance geben. Noch weiß sie nicht, wie schwer der Weg zu Wills Herzen ist, der vor ihr liegt …


  • Erscheinungstag 26.07.2025
  • Bandnummer 34
  • ISBN / Artikelnummer 9783751532471
  • Seitenanzahl 288
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Marin Thomas, Lilian Darcy

LIEBE MEINES LEBENS BAND 34

Marin Thomas

PROLOG

Rauch stieg aus dem niedergebrannten Trailer auf. Es war Ende Mai. Der Abendhimmel über Texas färbte sich leuchtend rosarot und bildete einen schroffen Kontrast zu den verkohlten Überresten des Wohnwagens. In der Luft hing der Gestank von geschmolzenem Gummi und verbranntem Holz.

„Der Sheriff meint, es war ein Unfall.“

Royce McKinnon blickte von dem mit gelbem Plastikband abgesperrten Trümmerhaufen auf und sah seinen Vorarbeiter Luke an. „Wahrscheinlich hat er recht.“

„Ich wette mein bestes Schnitzmesser, dass er sich bis zum Umfallen betrunken hat und dann mit einer Zigarette in der Hand eingeschlafen ist.“

„Es wäre nicht das erste Mal.“ Royce rieb sich die Stirn. Seit einer Stunde plagte ihn ein dumpfer Kopfschmerz. „Sobald die Feuerwehr die Stelle freigibt, lasse ich die Überreste auf die Müllhalde bringen.“ Der Wohnwagenbrand war das erste nennenswerte Unglück, das sich in Nowhere ereignet hatte, seit Royce vor zwei Jahren hier Bürgermeister geworden war.

Luke schob sich ein Stück Kautabak in den Mund. „Rufst du sie heute Abend an?“

„Nein.“ Sie – damit war Heather Henderson gemeint, die Tochter des Mannes, der im Feuer umgekommen war. Melvin Henderson hatte nicht zu den beliebtesten Bewohnern von Nowhere gezählt. Über die Jahre hatte Royce sehr oft mit ihm zu tun gehabt. Aber nicht eine einzige dieser Begegnungen hatte eine angenehme Erinnerung hinterlassen.

Er fragte sich, wie Heather die Nachricht vom Tod ihres Vaters aufnehmen würde. Eines stand fest: Melvin war kein guter Vater gewesen. Heathers Mutter hatte ihn bereits vor Jahren verlassen – und Heather, damals gerade dreizehn Jahre alt, war fortan auf Gedeih und Verderb diesem niederträchtigen Trunkenbold ausgeliefert gewesen. Am Ende hatte sie niemanden gehabt, der sich um sie gekümmert hätte.

Außer Royce.

Er selbst war neunzehn gewesen, als er Heather weinend auf der Laderampe hinter dem Futtermittelladen ihres Vaters vorgefunden hatte. Ihr verlorener Blick und ihre unendliche Verzweiflung darüber, dass die Mutter einfach ohne sie weggelaufen war, hatten Royce im tiefsten Innern berührt, auch wenn er es damals nicht zugegeben hätte.

An jenem Nachmittag hatte er Heathers Kummer so intensiv empfunden, als wäre er selbst betroffen. Das Gefühl des Verlassenseins kannte er nur zu gut.

Nachdem er schon als kleiner Junge seine Eltern bei einem Schiffsunglück verloren hatte, war er bei einem Onkel und einer Tante aufgewachsen, die selbst kinderlos geblieben waren. Doch sie hatten ihn nicht viel besser behandelt als ihre Hütehunde: Zwar hatte er zu essen und einen Platz zum Schlafen bekommen. Aber als Gegenleistung musste er hart arbeiten. Im Schnellverfahren lernte er alles über die Aufzucht von Rindern und die anderen Tätigkeiten, die auf einer Ranch anfielen. Keine leichte Aufgabe für einen Jungen aus Südkalifornien, der sein Leben bis dahin am Meer verbracht hatte.

Sicher, eine behütete, unbeschwerte Kindheit voller Liebe und Zuneigung hatte er nicht erlebt. Aber er hatte zumindest ein Zuhause gehabt – und das war mehr, als manch anderer von sich behaupten konnte. Dass seine Tante und sein Onkel ihm die Ranch schließlich vererbten, hatte Royce mit seinem Schicksal ausgesöhnt. Er hatte ihnen verziehen, dass sie nicht die liebevollen Eltern gewesen waren, die er sich gewünscht hatte.

Vor zwölf Jahren, in dem Moment, als er den Kummer in Heathers Augen gesehen hatte, war etwas in ihm geschehen. Er hatte sich geschworen, dass es wenigstens einen besonderen Menschen im Leben dieses jungen Mädchens geben sollte: Heather sollte wissen, dass sie ihm, Royce McKinnon, etwas bedeutete. Doch die Freundschaft, die er sich vorgestellt hatte, kam nie zustande. Heather hatte sich zu einem wahren Teufelsbraten entwickelt. Aufsässig hatte sie gegen seinen Zuspruch rebelliert, sämtliche seiner Hilfsangebote schroff abgewiesen.

Es wurde zu einer echten Vollzeitbeschäftigung, ihr die Grenzen aufzuzeigen und aufzupassen, dass sie nicht auf die schiefe Bahn geriet. Wie oft hatte er alles hinwerfen und sie sich selbst überlassen wollen! Doch irgendetwas in ihm hatte darauf bestanden, dieses Mädchen nicht einfach aufzugeben. Sein eigener Wunsch nach Zuneigung und Liebe hatte sich in das Bedürfnis verwandelt, sich um andere zu kümmern – er brauchte keinen Psychiater, um das einzusehen.

Royce blickte zu Luke hinüber. „Ich fahre morgen nach College Station.“ Vielleicht würde ihm auf der fünfstündigen Fahrt dorthin auch einfallen, wie er es Heather sagen sollte.

„Wo wohnt sie jetzt eigentlich?“

„Ich glaube, in einem Haus in der Nähe vom Campus.“ Heather war mehrmals umgezogen, seit sie sich vor sieben Jahren an der Universität von Texas eingeschrieben hatte. „Die genaue Adresse kann ich auf ihrer letzten Weihnachtskarte nachsehen.“ Royce hatte sämtliche Postkarten von Heather in einem Schuhkarton gesammelt, den er in seinem Schlafzimmer aufbewahrte.

„Mir hat sie geschrieben, dass sie als Tagesmutter arbeitet.“

Als Tagesmutter? Warum hatte sie ihm diese Neuigkeit nicht mitgeteilt? Wahrscheinlich, weil er ihr bei seinem letzten Besuch Vorhaltungen gemacht hatte, dass sie schon wieder das Hauptfach gewechselt hatte, anstatt ihr Studium zu beenden. Wenn man mehr als ein Mal das Fach wechselte und nebenbei noch arbeitete, war ein Studienabschluss nach vier Jahren nahezu ausgeschlossen.

Er erinnerte sich an diesen letzten Besuch, als wäre es gestern gewesen. Mit ihren zweiundzwanzig Jahren hatte Heather keine Ähnlichkeit mehr mit dem schlaksigen Teenager, den er zu bändigen versucht hatte. Nie würde er ihren Anblick vergessen in den engen Shorts und dem sexy Top, das ihre vollen Brüste umhüllte. Sie war zu einer begehrenswerte Frau herangewachsen, die die Blicke jedes Mannes auf dem Campus auf sich gezogen hatte. Und zum ersten Mal in seinem Leben konnte man seine Gefühle für sie keineswegs mehr brüderlich nennen. Ihre ganze Erscheinung erregte ihn – und das machte ihm gleichzeitig Angst.

Vielleicht wäre er mit seinen Gefühlen besser fertig geworden, wenn nur er auf diese Weise empfunden hätte. Aber in Heathers Augen bemerkte er ein aufgeregtes Funkeln, als sie ihn an ihrer Wohnungstür begrüßte. Noch nachdem er längst eingetreten war, starrte er sie wie gebannt an. Verwirrt von seinen heftigen körperlichen Reaktionen fing er schließlich an, ihr Vorwürfe zu machen, weil sie ihr Studium immer noch nicht beendet hatte.

Und dann tat sie etwas Erstaunliches: Sie küsste ihn einfach. Noch heute meinte er, ihre weichen Lippen auf seinem Mund spüren zu können.

Damals hatte es einen Moment gedauert, bis er den ersten Schock überwunden hatte. Aber dann hatte er ihren Kuss erwidert. Wild und leidenschaftlich hatten sie sich geküsst. Wieder und wieder. Doch schließlich war er zu Verstand gekommen – gerade noch rechtzeitig, bevor sie im Schlafzimmer gelandet wären.

Nach jenem Besuch hatte er Heather eigentlich nach Nowhere einladen wollen, damit sie den Sommer mit ihm auf der Ranch verbrachte. Er war überzeugt gewesen, dass mehr zwischen ihnen gewesen war als pure Lust. Doch das Schicksal hatte andere Pläne gehabt – offenbar hatte es eine Zukunft mit ihr nicht für ihn vorgesehen. Am eigenen Leib hatte er erfahren müssen, welche schmutzigen Tricks das Leben manchmal bereithielt.

Letztendlich hatte Heather den Sommer nicht in Nowhere verbracht. Seitdem hatte er versucht, sie zu vergessen. Hals über Kopf hatte er sich in die Arbeit gestürzt und sich sogar zum Bürgermeister wählen lassen, um nicht ständig darüber nachzugrübeln, was sich unter anderen Umständen zwischen ihnen entwickelt hätte. Und sein Plan hatte weitgehend funktioniert.

Bis zu diesem Moment.

Das Feuer im Wohnwagen war ein weiterer dieser hässlichen Streiche, die das Leben so spielte. Ob er wollte oder nicht – er musste Heather die Nachricht vom Tod ihres Vater persönlich überbringen.

Wenn man diesem Brandunglück überhaupt etwas Gutes abgewinnen konnte, dann höchstens den Umstand, dass Melvin Hendersons Tochter keinen Grund mehr hatte, jemals nach Nowhere zurückzukommen, sobald der Nachlass ihres Vaters geregelt war.

Dann wäre Heather Henderson für immer aus seinem Leben verschwunden.

1. KAPITEL

„Auf die Plätze. Fertig. Los!“ Das war das Kommando für Heather, so schnell wie möglich auf allen vieren zum vorher ausgemachten sicheren Punkt über den blauen Teppichboden zu krabbeln – und damit begann jedes Mal die wilde Jagd. Die Vorschüler im Hort waren ganz versessen auf dieses Spiel. Noch bevor Heather ihr Ziel erreichen konnte, tobten die Kinder hinter ihr her, um sie zu fangen. So auch heute: Quietschend vor Vergnügen warfen sich die Kleinen auf sie.

„Entschuldigung, Heather.“

Sie lugte aus dem Knäuel von Kinderarmen und -beinen hervor und erkannte die Schuhe ihrer Chefin, nur Zentimeter von ihrer Nase entfernt. „Ja, Mrs. Richards?“

„Da ist jemand für Sie. Kommt, Kinder. Es gibt etwas zu essen.“

Eines nach dem anderen lösten sich die Kinder von Heather und verließen den Raum. Seufzend blieb sie erschöpft einen Augenblick auf dem Boden liegen. Als sie den Kopf zur Seite drehte, fiel ihr Blick erneut auf ein Paar Schuhe. Doch jetzt waren es abgewetzte Cowboystiefel.

Ganz langsam ließ sie ihren Blick aufwärts wandern, über die muskulösen Oberschenkel, die silberne Gürtelschnalle und das hellblaue Westernhemd. Und dann sah sie ihm in die Augen – und mit einem Mal durchströmten sie die Erinnerungen.

„Heather.“

Als Antwort brachte Heather lediglich ein Lächeln zustande.

Tief hatte er den abgetragenen schwarzen Stetson ins Gesicht gezogen. Sein Blick wirkte ernst und undurchdringlich, als er sie unverwandt ansah.

Wollte er etwa so tun, als hätten sie sich nie geküsst? Nun, wenn er Spielchen spielen wollte – das konnte sie ebenso gut wie er. „Hallo Royce“, gab sie betont kühl zurück.

Ihr stockte der Atem, als sie bemerkte, dass sein Blick auf ihrem nackten Bauch ruhte. Royce schien wie gebannt von dem silbernen Schmetterlingsstecker, der ihren gepiercten Bauchnabel schmückte. Sie holte tief Luft und schloss die Augen, doch selbst sie bemerkte, wie ihre Lider flatterten. Angestrengt versuchte sie, ihre Gedanken zu sortieren. Vor drei Jahren hatte dieser Mann ihre ganze Welt auf den Kopf gestellt. Ihre plötzliche Nervosität war ein sicheres Zeichen dafür, dass sie es nicht geschafft hatte, die Vergangenheit – oder vielmehr diesen Mann – hinter sich zu lassen.

Mit einem Seufzer erhob sie sich, zupfte zuerst ihr T-Shirt und dann ihren Pferdeschwanz zurecht. Der hochgewachsene und breitschultrige Bürgermeister von Nowhere bot einen merkwürdigen Anblick im Spielzimmer ihrer Vorschulgruppe. „Hätte ich gewusst, dass du kommst, hätte ich mir freigenommen.“ Großartig, nun musste er glauben, sie hätte all die Jahre nur darauf gewartet, ihn wiederzusehen.

Er zog eine Augenbraue hoch. „Manche Dinge ändern sich nie.“

„Was willst du damit sagen?“

„Ich hatte dir eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen.“

Machte dieser arrogante Sturkopf ihr etwa Vorwürfe, weil sie ihren Anrufbeantworter nicht abgehört hatte? Sie verdrehte die Augen. „Wie ich sehe, hast du dich nicht verändert. Der gute alte Royce hält mal wieder Volksreden.“

„Das müsste ich nicht, wenn du dich entschließen würdest, erwachsen zu werden.“

Zum Küssen war ich aber anscheinend vor drei Jahren schon erwachsen genug, schoss es ihr durch den Kopf. „Nur zu deiner Information: Die Arbeit hier in der Kinderbetreuung ist kein Job, für den ich Geld bekomme. Er gehört zu meinem Studium.“

Heather wartete auf eine Antwort, doch sie erhielt keine. Stattdessen bemerkte sie, wie er einem der Jungen nachblickte, der etwas aus dem Raum geholt hatte. Seine tieftraurige Miene erschreckte sie so sehr, dass sie ihn am Ärmel zupfte.

Im selben Moment musste sie daran denken, wie Royce sie weinend hinter dem Laden ihres Vaters entdeckt hatte. Damals hatte er ihr seinen Ärmel angeboten, damit sie sich die Tränen daran abwischen konnte. Seit diesem Augenblick war Royce ihr Held gewesen.

Später, als er dann begonnen hatte, sich in alles einzumischen, hatte sie mit allen Mitteln versucht, ihn loszuwerden. Glücklicherweise ohne Erfolg, wie sie sich heute eingestehen musste. Eines stand fest: Hätte Royce nicht eingegriffen und sie vor den größten Dummheiten bewahrt, hätte sie ihr Leben für immer zerstört. Allein deswegen zügelte sie ihre allmählich wachsende Ungeduld. „Hör mal, wenn du mir Vorhaltungen machen willst, weil ich nächste Woche nicht mit allen anderen die Abschlussprüfung ablege …“

„Du machst jetzt keine Prüfung?“

Als ob er das nicht gewusst hätte! „Das ist doch ziemlich offensichtlich. Oder hast du von mir eine Einladung zur Abschlussfeier bekommen?“

Er rieb sich den Nasenrücken. „Ich habe angenommen, du hättest mich einfach nicht eingeladen.“

Dachte er wirklich so schlecht von ihr? Dass sich aus der innigen Vertrautheit an jenem Nachmittag vor drei Jahren nichts zwischen ihnen entwickelt hatte, war doch kein Grund, ihn nicht zu ihrer Abschlussfeier einzuladen. Schließlich hatte sie ihm während ihrer rebellischen Jugend so viel zugemutet, dass er es ganz einfach verdient hatte, dabei zu sein, wenn sie ihre Urkunde in Empfang nahm. „Wenn alles nach Plan verläuft, mache ich im Spätsommer mein Examen.“

„Darf man fragen, in welchem Fach?“

„Psychologie.“

„Wie bitte?“, fragte er ungläubig.

„Psychologie mit dem Schwerpunkt auf Familien- und Kindertherapie.“

Er schwieg. Anscheinend hatte ihm diese Neuigkeit die Sprache verschlagen.

„Was ist los mit dir?“, wollte sie wissen. „Du scheinst zu glauben, ich könnte nicht mit Kindern umgehen.“

„Heather, du bist doch selber noch ein großes Kind.“

„Menschen ändern sich. Sicher war ich früher nicht gerade das Musterbeispiel eines braven Mädchens. Aber meine Erfahrungen können mir bei der Arbeit mit Kindern nur nützlich sein.“ Sie machte eine Pause. „Außerdem liebe ich Kinder.“

Seufzend nahm er den Hut ab und fuhr sich durch das kastanienbraune Haar, das sich an den Schläfen allmählich grau färbte.

„Du hast graue Haare bekommen“, bemerkte sie erstaunt.

Royce lächelte amüsiert. „Und jedes einzelne davon verdanke ich dir.“

Je länger sie ihn betrachtete, desto mehr gelang es ihr, hinter die Fassade zu schauen. Die strengen Linien um seinen Mund deuteten eher auf Erschöpfung als auf Zorn hin. Sie vermutete, dass Kopfschmerzen – und nicht etwa Gefühle der Enttäuschung – für die tiefe Falte auf seiner Stirn verantwortlich waren. Und sicher deuteten die dunklen Ringe unter den Augen nicht auf Verzweiflung, sondern auf schlichte Müdigkeit hin.

Statt unnahbar und energisch wie früher wirkte er heute erschöpft und besorgt. Wie war das möglich? Royce McKinnon war immer unerschütterlich gewesen. Wie ein Fels in der Brandung.

Er sah auf seine Uhr. „Können wir irgendwo ungestört reden?“

„Ich habe in einer Viertelstunde Feierabend.“

„Ich warte draußen auf dich.“

Einen Augenblick lang schaute sie ihm beunruhigt nach. Dann beeilte sie sich, Mrs. Richards beim Aufräumen zu helfen.

Kurze Zeit später saß sie auf dem Beifahrersitz des großen Trucks, den Royce durch die schmalen Straßen des Universitätsviertels lenkte.

Seit sie losgefahren waren, hatte er nicht ein einziges Wort mit ihr gewechselt. Er war nie besonders gesprächig gewesen, was sie sonst auch nie gestört hatte. Aber diesmal hätte sie nur zu gern gewusst, was gerade in seinem Kopf vorging.

Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Der Duft seines Aftershaves umhüllte sie beinahe wie eine zärtliche Umarmung und ließ Erinnerungen in ihr wach werden. Erinnerungen an einen Kuss …

Als er in die Conner Avenue bog, in der vor allem Studenten wohnten, zeigte sie auf eins der Häuser. „Das gelbe da vorn ist es.“

Royce hielt am Straßenrand vor dem Haus. „Was machen die beiden denn auf deinem Grundstück?“ Mit einer Kopfbewegung deutete er auf zwei junge Männer, die auf der Veranda im Schaukelstuhl saßen und Bier tranken.

„Das sind meine Mitbewohner.“

„Mitbewohner?“, fragte er knapp und biss die Zähne zusammen.

Ohne seiner Reaktion weitere Beachtung zu schenken, stieg Heather aus und ging voran. Auf der Veranda machte sie die drei Männer miteinander bekannt. „Seth, Joe, das ist Royce McKinnon. Er ist der Bürgermeister von Nowhere in Texas.“

„Cool“, sagten die beiden Studenten wie aus einem Munde. Da sie keine Anstalten machten, Royce die Hand zu geben, steuerte Heather eilig auf den Eingang zu.

Royce folgte ihr.

„Das Haus hatte ursprünglich nur zwei Schlafzimmer. Aber ich habe das Wohnzimmer zum dritten Schlafraum umfunktioniert, den ich selber benutze.“ Mit diesen Worten schritt sie hinein und stellte ihre Handtasche auf einen Stuhl in der Ecke.

Für einen kurzen Moment blieb Royce in der Tür stehen und räusperte sich. „Darf ich?“ Ohne die Antwort abzuwarten, trat er ein und schloss die Tür hinter sich. Er schob die Hände in die Hosentaschen und ließ seinen Blick in aller Ruhe über die pfirsichfarbene Tapete und den mintgrünen Baldachin über dem Bett schweifen.

„Du hast ein schönes Zimmer, Heather.“

Ein Kompliment von Royce? Welch ein seltenes Ereignis! „Alles ist besser als die armselige Hütte, in der ich aufgewachsen bin.“

„Wenn ich gewusst hätte, dass dir so etwas wichtig ist, hätte ich dir Geld gegeben. Dann hättest du den Wohnwagen ein bisschen aufmöbeln können.“

Wie gern hätte sie das getan! Doch als sie damals damit begonnen hatte, die Küche cremefarben zu streichen, war ihr alter Herr betrunken gegen die frisch gestrichene Wand gestoßen, hatte sie wüst beschimpft und ihr vorgeworfen, sie hätte seine Kleidung mit voller Absicht ruiniert. Nach mehreren Versuchen in dieser Art hatte sie eingesehen, dass sie mit dem Renovieren nur Zeit und Energie verschwendete.

Nachdem sie auf der Bettkante Platz genommen hatte, wies sie auf den Stuhl am Schreibtisch vorm Fenster. „Setz dich doch.“

Als er das Zimmer durchquerte, fiel ihr einmal mehr auf, wie sich sein Hemd über den breiten Schultern spannte. Dieser Cowboy war eine Klasse für sich. Die harte körperliche Arbeit als Rancher hatte Royce stahlharte Muskeln verliehen, aber kaum ein Rancher, den sie kannte, war so gut gebaut wie er. Nur ein einziges Mal hatte sie die Gelegenheit gehabt, diesen eindrucksvollen Körper unter ihren Händen zu fühlen …. Wie schaffte er es heutzutage nur, so großartig in Form zu bleiben? Ein Fitnesscenter gab es in der Gegend von Nowhere weit und breit nicht.

Überhaupt hatte Nowhere kaum etwas zu bieten.

Irgendein Einfaltspinsel namens Sapple hatte in den 1920-er Jahren ein Sägewerk an dem Ort eröffnet. Fünf Jahre später hatte das Werk wie so viele andere im östlichen Texas wieder schließen müssen. Sapple und die meisten der Arbeiter waren mit ihren Familien weitergezogen. Nur wenige Menschen waren geblieben. Als dann die Fernstraße fünfundzwanzig Meilen entfernt gebaut worden war, hatte das Städtchen den treffenden Namen Nowhere – Nirgendwo – erhalten. Bis auf einen Friseur, eine Bank und einige kleine Geschäfte hatte es dort nie viel gegeben.

Royce setzte sich an den Schreibtisch. Tief seufzend schob er die Hände zwischen die Knie und starrte auf den Boden.

Allmählich bekam sie ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. „Was ist denn so wichtig, dass du es mir nicht am Telefon sagen konntest?“

Er hob den Kopf und sah sie an. „So etwas kann man nur persönlich mitteilen.“

Was konnte noch schlimmer sein als das, was er ihr vor langer Zeit schlicht am Telefon gesagt hatte? „Noch vor drei Jahren hattest du kein Problem damit, mir telefonisch zu erklären, dass ich dich in Ruhe lassen und nie mehr nach Nowhere zurückkommen soll“, platzte es aus ihr heraus.

Er zuckte zusammen. Dann räusperte er sich und schaute sie an. Diesmal hielt sie seinem Blick, in dem sich Verlegenheit und Bedauern spiegelten, nicht stand.

„Wie sieht es finanziell bei dir aus?“

Es mussten wirklich schlechte Nachrichten sein, wenn Royce vom Thema ablenkte. „Wenn ich den Job in der Bibliothek bekomme, bin ich bis zum Herbst abgesichert.“ Sie gab es nicht gern zu, aber ohne seine großzügigen Geldgeschenke zu Weihnachten und zum Geburtstag hätte sie ihr Studium längst aufgeben müssen.

Wortlos zog er das Scheckheft aus der Gesäßtasche seiner Jeans. Mit dem einzigen Stift auf ihrem Schreibtisch, einem neonpinken Kugelschreiber, den eine knallig gelbe Feder schmückte, füllte er einen Scheck aus.

„Ich brauche dein Geld nicht, Royce“, erklärte sie und errötete bei dieser Notlüge.

Er ließ die Zahlungsanweisung auf ihrem Schreibtisch liegen. „Für jemanden, der zum Studium erst gezwungen werden musste, hast du ziemlich lange durchgehalten.“

Sein Lob bedeutete ihr eine Menge. „Ehrlich gesagt bin ich selbst erstaunt, dass ich nicht gleich im ersten Jahr das Handtuch geworfen habe“, erwiderte sie verlegen lächelnd.

„Überleg doch mal: Wenn sie dich nicht mit diesen Gaunern auf der Tankstelle festgenommen hätten, dann hättest du vielleicht nie studiert.“

Heather stöhnte auf. „Bitte, erinnere mich nicht daran.“ Damals war sie mit einer Jugendgang unterwegs gewesen, hatte allerdings nichts von dem geplanten Tankstellenüberfall gewusst. Royce hatte den Richter nur von ihrer Unschuld überzeugen können, weil sie zur Tatzeit auf der Toilette und nicht im Laden gewesen war. Aber man hatte ihren Freispruch an die Bedingung geknüpft, dass sie ein Studium aufnahm.

„Dein Gesicht, als der Richter das Urteil verkündete, werde ich nie vergessen.“ Er lachte auf, wurde aber sofort wieder ernst. „Was hast du nach dem Examen vor?“

„Ich will mit Kindern arbeiten. Mit sozial benachteiligten Kindern.“ Sein stilles Nicken verstand Heather als Kritik. Deshalb fügte sie hinzu: „Du glaubst, ich könnte diesen Kindern kein Vorbild sein, oder?“

Royce zuckte die Achseln. „Seit ich dich kenne, hast du immer nur die Hilfe von anderen in Anspruch genommen, aber nie selber geholfen.“

Das tat weh – auch wenn er möglicherweise recht hatte. Verletzt wechselte sie das Thema. „Genug davon. Warum dieser unverhoffte Besuch?“

„Ich wünschte, es wäre leichter, es dir zu sagen.“ Er fuhr sich über das Gesicht.

„Jetzt sag schon!“, forderte sie ihn ungeduldig auf.

„Dein Vater ist gestorben.“

Sie wollte etwas sagen, doch es kam kein Laut über ihre Lippen. Erst nach einigen Sekunden konnte sie wieder atmen.

„Es tut mir leid, Heather.“ Royce beugte sich vor und drückte ihre Hand.

Heather war wie betäubt. „Wie …?“ Unwillkürlich stiegen ihr Tränen in die Augen. Nie hätte sie damit gerechnet, dass sie nach der schweren Zeit mit ihrem Vater und all diesen Jahren, die mittlerweile verstrichen waren, überhaupt noch Gefühle für den alten Mann hegte.

„Der Wohnwagen ist abgebrannt. Die Feuerwehr meint, es war ein Unfall.“

„Der Wohnwagen.“ Sie nickte nur. Weitere Einzelheiten brauchte sie nicht. Oft, wenn sie als Kind in der Nacht zum Badezimmer gegangen war, hatte sie ihren Vater auf der Couch liegen sehen. Mit einer brennenden Zigarette zwischen den Fingern.

„Ein Tourist hat das Feuer zufällig bemerkt und sofort Hilfe gerufen.“ Royce schüttelte den Kopf. „Aber es war bereits zu spät.“

„Wann ist es passiert?“

„Gestern am späten Nachmittag.“

Ihr Vater war tot. Jetzt war sie ganz allein auf der Welt. Aber wenn sie so richtig darüber nachdachte, war sie schon allein gewesen, als ihr Vater noch gelebt hatte. Der Einzige, auf den sie immer zählen konnte, war Royce.

Und Royce war auch jetzt hier.

Er erhob sich. „Ich warte im Truck, bis du gepackt hast.“

Verwirrt sah sie ihn an. „Wozu soll ich packen?“

„Für die Beerdigung.“

„Beerdigung?“ Benommen rieb sie sich die Schläfen. Nichts schien mehr einen Sinn zu ergeben.

„Normalerweise findet eine Beerdigung statt, wenn jemand gestorben ist.“

„Aber warum? Es kommt doch sowieso keiner.“ Niemand in Nowhere hatte ihren Vater gemocht. Er war Alkoholiker und Kettenraucher gewesen – und Spieler noch dazu.

„Die Leute werden dir ihr Beileid aussprechen wollen“, sagte er und ging zur Tür. „Wir halten eine möglichst schlichte Trauerfeier ab.“

„Schlicht!“ Heather lachte zynisch auf. „Es sieht ganz danach aus, als hätte mein alter Dad seine Einäscherung schon selbst besorgt.“

Royce zog die Augenbrauen hoch. „Ich weiß, dass du keine gute Beziehung zu deinem Vater hattest. Aber es gibt Fälle, da muss man sich an die Regeln halten. Das hier ist so einer.“

Wütend sprang sie vom Bett auf. „Seit meine Mutter weggelaufen ist, machst du mir Vorschriften und nörgelst an mir herum. Ich habe genug davon! Such dir einen anderen hoffnungslosen Fall!“

Wie nach einer Ohrfeige verzog er das Gesicht. Doch dann erklärte er kalt: „Pack deine Tasche, Heather. Du kommst mit nach Hause.“

Nach Hause? Sie hatte diese Bruchbude von einem Wohnwagen nie als ihr Zuhause angesehen. Dank ihres Vaters war nun nicht einmal davon mehr etwas übrig.

Und warum sollten die braven Bürger von Nowhere ausgerechnet ihr Mitgefühl entgegenbringen? Schließlich hatte sie in ihrer rebellischen Jugend allen nur Kummer bereitet. „Es gibt keine Beerdigung. Ich komme nicht mit dir zurück.“

Als Royce sich sichtlich erschöpft durchs Haar fuhr, regte sich ihr Gewissen. Er hatte zweifellos einen harten Tag hinter sich. Nach getaner Arbeit auf der Ranch und als Bürgermeister hatte er sich ins Auto gesetzt und war die dreihundert Meilen nach College Station gefahren.

„Ich kümmere mich um die Beerdigung. Du brauchst nichts weiter zu tun, als daran teilzunehmen.“ Royce klang unnachgiebig.

Trotzdem schüttelte sie widerwillig den Kopf. Als sie plötzlich einen Kloß im Hals spürte, biss sie die Zähne zusammen. Verdammt! Sie würde nicht um ihren Vater weinen. Er hatte nicht eine einzige Träne verdient.

Langsam schien er ungeduldig zu werden. „Du hältst dich vielleicht für erwachsen. Aber dann solltest du dich endlich so benehmen.“

Obwohl sie sich im Grunde dafür schämte, dass die ganze Arbeit an Royce hängen blieb, wiederholte Heather stur: „Ich komme nicht mit dir zurück.“

„Was ist mit dem Geschäft?“, fragte er und hob das Kinn ein wenig.

Mochte das Gebäude doch verfallen und vermodern! Sie würde nie wieder einen Fuß hineinsetzen. „Ich will das Geschäft nicht. Verkauf es.“

„Du musst dich nicht sofort entscheiden.“

„Doch, ich meine es ernst: Versuch, den Laden loszuwerden.“

„Denk noch mal in Ruhe darüber nach. Ich werde inzwischen einen Grundstücksmakler kontaktieren.“

Als er zur Tür ging, schien ihr Herz für einen Schlag auszusetzen. Einerseits wollte sie, dass er sie allein ließ, damit sie ihre Gefühle und Gedanken ordnen konnte. Aber andererseits sehnte sie sich danach, dass er sie tröstete. Verdammt noch mal! Sie hatte ihn nicht gut behandelt. Und auch jetzt fiel ihr nicht ein, wie sie es wiedergutmachen sollte.

„Royce.“

Ohne sich zu ihr umzudrehen, blieb er in der Tür stehen.

„Danke. Danke, dass du den langen Weg hierher auf dich genommen hast.“

Ein kurzes Nicken. Dann war er verschwunden.

Einfach weg. Eigentlich hätte sie sich darüber freuen sollen – schließlich blieben ihr so seine Standpauken erspart. Warum wünschte sie dennoch, dass er geblieben wäre?

Weil er ihr immer noch etwas bedeutete.

Sie warf sich aufs Bett, vergrub ihr Gesicht in den Kissen und kämpfte mit den Tränen. Zum Teufel! Es war die richtige Entscheidung gewesen, nicht mit ihm zu fahren. Das Sommersemester stand doch vor der Tür. Außerdem würde sie in den nächsten Tagen erfahren, ob sie den Job in der Gerichtsbibliothek bekommen hatte.

Mit einem Mal tauchte ein Bild vor ihrem inneren Auge auf: Royce, müde am Steuer seines Trucks. Sie stand vom Bett auf und ging zum Schreibtisch. Der Scheck, den Royce zurückgelassen hatte, belief sich auf tausend Dollar! Dann erblickte sie erst die Bemerkung am Rand: Herzlichen Glückwunsch zum 25. Geburtstag, Heather.

Er hatte tatsächlich daran gedacht, dass sie morgen Geburtstag hatte!

Sie warf sich wieder aufs Bett und weinte hemmungslos.

2. KAPITEL

Eine Woche später hörte Heather ihr Handy im Schlafzimmer klingeln, während sie unter der Dusche stand. „Lass mich in Ruhe“, murmelte sie. Jetzt war nun wirklich keine Zeit für lange Gespräche: Sie konnte es schon jetzt nicht mehr pünktlich zur vorgezogenen Abschlussparty ihrer Freundinnen schaffen. Da sie bereits am nächsten Tag ihren neuen Job in der Bücherei antreten musste, würde sie selbst an der offiziellen Zeremonie am Samstagvormittag nicht teilnehmen können. Am heutigen Abend hatte sie somit die letzte Gelegenheit, sich von ihren Freunden zu verabschieden und ihnen alles Gute zu wünschen.

Es klingelte erneut, als sie gerade ihre Haare eingeschäumt hatte. Dieses Mal stellte sie das Wasser ab. Vielleicht war es jemand aus der Bibliothek, der ihr mitteilen wollte, dass sich der Zeitplan geändert hatte. Hastig nahm Heather ein Handtuch vom Haken, wickelte es sich um und lief ins Schlafzimmer.

„Hallo?“, meldete sie sich.

„Ich bin’s.“

Royce McKinnon. Seine tiefe, raue Stimme brachte sie so aus der Fassung, dass ihr der Hörer aus der nassen Hand glitt. Sie bückte sich, um den Hörer aufzuheben, und auch das Handtuch fiel zu Boden. Der Schaum tropfte aus ihren Haaren. Mit einem Mal schoss ihr eine tiefe Röte ins Gesicht, als sie sich nun im Spiegel erblickte. Großer Gott! Er konnte sie doch gar nicht sehen – also konnte er auch nicht wissen, dass sie nackt war. Sie presste den Hörer wieder ans Ohr. „Hallo?“

„Ist alles in Ordnung, Heather?“

„Ja. Einen ganz kleinen Moment, bitte.“ Sie legte den Hörer beiseite und schlang eilig das Badetuch um ihren Körper. „So, da bin ich wieder.“

„Störe ich dich bei irgendetwas?“

„Nein, ich stand nur gerade unter der Dusche.“

Schweigen am anderen Ende. Dann ein Räuspern. „Ich rufe später wieder an.“

„Nein, nein. Ich war eigentlich schon fertig“, schwindelte sie und lenkte dann das Gespräch in eine andere Richtung. „Die Beerdigung … Ist alles gut verlaufen?“

„Es ist alles erledigt.“

Natürlich war Heather davon ausgegangen, dass er sich wie versprochen um die Bestattung ihres Vaters kümmern würde. Dennoch hatte sie gehofft, er würde sie anrufen und sie über seine Pläne und den genauen Ablauf informieren. Offenbar war er jedoch nicht der Meinung, dass sie so viel Aufmerksamkeit verdiente. Natürlich machte sie ihm deswegen keine Vorwürfe, denn schließlich hatte sie die ganze Verantwortung auf ihn abgewälzt. „Danke, dass du dich darum gekümmert hast.“ Sie hielt kurz inne, doch wartete sie vergebens auf eine Reaktion seinerseits – wenn man sein kaum hörbares Seufzen, das ein wenig müde klang, nicht zählte.

„Ich rufe wegen des Ladens an“, fuhr er fort.

Ein Gefühl der Enttäuschung durchströmte sie. Insgeheim hatte sie gehofft, dass er sie aus persönlicheren Gründen angerufen hätte – vielleicht, weil er sich um sie sorgte. Wollte er denn gar nicht wissen, wie sie mit dem Tod ihres Vaters zurechtkam? „Was ist denn mit dem Laden?“, fragte sie abweisend.

„Es gibt ein Angebot.“

„Was? So schnell?“

„Ja, ich war auch überrascht. F & F, eine Kette für Landwirtschaftsbedarf aus Arkansas, interessiert sich dafür. Der Besitzer will deinen Laden kaufen. Der schlechte Zustand des Hauses scheint ihn nicht zu stören. Geld spielt für ihn keine Rolle.“

„Wenn er so reich ist, warum baut er dann nicht neu?“

„Keine Sorge. Ich habe den Mann überprüfen lassen. Es ist alles in Ordnung mit seinem Angebot. Er sucht offenbar ein Abschreibungsobjekt für die Steuer.“

„Aber …“

„Nach dem Verkauf bleibt dir genug Geld, um die Zeit zwischen Examen und neuem Job zu überbrücken.“

Sie bemühte sich um etwas Begeisterung. „Großartig.“

„Du klingst aber nicht überzeugt. Was ist los?“

„Ich bin nur erstaunt, dass überhaupt jemand das Geschäft kaufen will.“ Was war wirklich mit ihr los? Der Laden war ihre letzte Verbindung zu Nowhere – außer Royce natürlich. Eigentlich sollte sie vor Freude in die Luft springen, dass jemand diese Bruchbude haben wollte. Wenn sie jetzt verkaufte, gab es keinen Grund mehr, je in ihren Heimatort zurückzukehren. Umso besser. Dort wartete nichts mehr auf sie.

Verrückt, dass sie der Gedanke, ihren Geburtsort nie wiederzusehen, traurig machte. Nachdem ihre Mutter sie verlassen hatte, war Nowhere nicht mehr ihre Heimat, sondern nur ein Ort gewesen, an dem sie überlebt hatte.

„Der Interessent bietet einhundertfünfzigtausend Dollar.“

„Mehr nicht?“

„Heather, dein Vater hat das Geschäft vollkommen heruntergewirtschaftet. Unter diesen Umständen ist das Angebot verdammt großzügig. Damit könntest du die Bank und die Gläubiger ausbezahlen und außerdem die Steuerschuld begleichen. Nach Abzug aller Kosten würden dir fünftausend Dollar bleiben.“

„Oh.“ Sie sank auf die Bettkante.

„Heather …“

Bei dem ahnungsvollen Unterton in seiner Stimme schrillten in ihrem Kopf sämtliche Alarmglocken. Konnte er ihre Gedanken lesen?

„Denkst du etwa darüber nach, nun doch nicht zu verkaufen?“, fragte er.

„Vielleicht.“ Wenn Royce sie letzte Woche nicht besucht hätte – sie hätte das Angebot ohne Zögern akzeptiert.

Aber Royce hatte es getan und ihre Welt wieder einmal auf den Kopf gestellt. Und seitdem war kein Tag vergangen, an dem sie nicht über die Vergangenheit nachgedacht hatte. Über jenen Samstagnachmittag im April vor drei Jahren, als sie sich geküsst hatten. Über den Abend einen Monat später, als sie Royce angerufen hatte, um ihm zu sagen, dass sie seine Einladung annehmen wollte, den Sommer auf seiner Ranch zu verbringen. Und über seine grobe Zurückweisung, als er behauptet hatte, der Kuss wäre ein großer Fehler gewesen.

Bis zu seinem Besuch letzte Woche wäre sie nie auf die Idee gekommen, dass er damals gelogen haben könnte. Aber nun sahen die Dinge anders aus. Im Kinderhort hatte sie denselben sehnsüchtigen Ausdruck in seinen Augen entdeckt wie damals, als er sie zum ersten Mal geküsst hatte. Heather war davon überzeugt, dass Royce etwas für sie empfand. Warum er seine Gefühle dennoch leugnete, war ein Rätsel, das sie unbedingt lösen wollte.

Der Tod ihres Vater hatte Royce erneut in ihr Leben gebracht. Diesmal würde sie sich nicht einfach abwimmeln lassen, ohne den Grund dafür herauszufinden, weshalb er sie zurückgewiesen hatte. Das Geschäft bot ihr den perfekten Vorwand, um nach Hause zu fahren und ein wenig in der Vergangenheit zu graben.

„Du kannst den Laden höchstens retten, wenn du einen Lastwagen voll Geld mitbringst.“

„Bitte, Royce, vertrau mir einfach.“ Wie alle Bewohner von Nowhere hielt auch er sie für einen Hitzkopf.

„Du bist nicht gerade ein Musterbeispiel für Zuverlässigkeit und Pflichtgefühl.“

„Ich habe mich verändert, seit ich studiere.“

„Anscheinend nicht so sehr. Du willst den Laden doch nicht wirklich führen.“

Sie rümpfte die Nase, als sie sich vorstellte, Säcke mit Futtermais abladen zu müssen. Aber eine bessere Ausrede, den Sommer zu Hause zu verbringen, fiel ihr nicht ein. Wenn die Dozenten ihr erlaubten, das letzte Semester als Fernstudium zu absolvieren, konnte sie trotzdem im Herbst ihren Abschluss machen. „Ich kann den Laden wenigstens so lange führen, bis ich ein besseres Angebot bekomme.“

„Ein besseres Angebot? Das soll wohl ein Witz sein!“ Seine Stimme überschlug sich und klang fast verzweifelt, was sie darin bestätigte, dass er etwas vor ihr verbarg. „Heather … sag, dass es ein Scherz ist.“

„Ich bin nicht bereit zu verkaufen.“

„So ein Geschäft ist aber kein Spielzeug, das man in die Ecke wirft, wenn man genug davon hat.“

„Das ist mir bewusst.“

„Bitte, Heather.“

„Ich will nicht, dass du das Angebot annimmst.“ Kaum hatte sie diesen Satz ausgesprochen, kamen ihr Zweifel an diesem Entschluss. Es gab keine Garantie, dass sie die Antwort auf ihre Fragen bekam. Und falls doch – wie würde sie damit umgehen?

„Habe ich nicht immer das Beste für dich gewollt?“

„Ob es dir gefällt oder nicht, Royce, ich komme nach Hause.“

„Heather, bleib in College Station.“

„Auf Wiedersehen, Royce.“

„Ich warne dich, Heather …“

Ohne ihn ausreden zu lassen, legte sie einfach auf. Dann lief sie ins Bad, spülte sich den Schaum aus den Haaren und trocknete sich ab. Doch auch beim Anziehen konnte sie an nichts anderes als an ihre neuen Aufgaben denken. Allmählich mischten sich Bedenken und Angst in ihre erste Aufregung. Trotzdem: In diesem Sommer würde sie endlich mit der Vergangenheit ins Reine kommen und über ihre Zukunft entscheiden – ob mit oder ohne Royce.

Gleich am Montag würde sie mit ihren Professoren sprechen. Wenn sie ihnen erklärte, dass ihr Vater gestorben war und sie nach Hause musste, um seinen Nachlass zu regeln, würden sie ihr bestimmt erlauben, das Studium als Fernkurs zu beenden. Danach musste sie den Job in der Bibliothek absagen und einen Nachmieter für das Haus suchen. Wenn alles gut lief, würde sie bereits in der ersten Juniwoche nach Nowhere zurückkehren.

Jetzt musste sie nur noch eine Möglichkeit finden, um das Geschäft ihres Vaters zu retten. Und sie hatte da auch schon verschiedene Ideen. Heute Abend, wenn sie von der Party zurückkam, würde sie sich an den Schreibtisch setzen und einen Plan erstellen.

„Du lieber Himmel! Was macht so ein gut aussehender Kerl in dieser Einöde?“, hörte Heather eine Frau ein paar Reihen hinter sich sagen.

Heather schaute aus dem Fenster, als der Bus am Kirchplatz in Nowhere hielt. Heiliger Strohsack! Sie starrte den Mann an, der sich gegen einen schwarzen Dodge lehnte. Der Pick-up war groß, auffallend und vertraut wie der Mann selbst.

Acht Tage waren vergangen, seit sie Royce über ihre Rückkehr nach Nowhere informiert hatte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er sie mitten am Tag vom Bus abholen würde – immerhin hatte sie ihm ihre genaue Ankunftszeit gar nicht mitgeteilt. Sie unterdrückte ein Seufzen. Manche Dinge änderten sich eben nie: Auch heute noch schien Royce jeden ihrer Schritte zu kennen, noch bevor sie ihn getan hatte.

Stattlich, breitschultrig, mit schwarzem Hemd und Jeans, den Stetson tief ins Gesicht gezogen, ähnelte er mehr einem Banditen als einem Rancher.

Unglaublich, dieser Mann sah einfach klasse aus. Der Fahrer lenkte den Bus im großen Bogen über den Platz, bis er mit der Front wieder zur Straße stand. Keine Sekunde ließ Heather Royce aus den Augen. Allein seine Körpergröße verlieh ihm Autorität. Seine gerade Haltung und der stolz erhobene Kopf untermauerten diesen Eindruck.

Als der Bus hielt, schob sie die Handtasche über die Schulter und nahm ihren Rucksack. Sie war der einzige Reisende, der in Nowhere ausstieg.

Die Frau hinter ihr ließ ihre Kaugummiblase platzen. „Hol ihn dir, Darling.“

Plötzlich pochte Heathers Herz heftig. Warum war sie so versessen auf diesen Mann? Eine leise Stimme in ihr mahnte sie, dass es noch nicht zu spät war: Sie könnte im Bus sitzen bleiben und in die nächste Stadt fahren. Doch Heather entschied sich, diese Stimme einfach zu ignorieren.

Auch wenn sie Angst vor dem hatte, was sie herausfinden würde: Sie musste diese Chance nutzen. Nur so würde sie endlich erfahren, warum Royce ihre Beziehung beendet hatte, noch bevor sie richtig zueinandergefunden hatten.

Und während sie in der Vergangenheit kramte, konnte sie den Bewohnern von Nowhere beweisen, dass Heather Henderson sich zum Besseren gewandelt hatte.

Das ist der Kampf meines Lebens, dachte sie, als sie mit zitternden Knien aus dem Bus ausstieg. Der Fahrer lud ihre beiden Koffer und zwei Kartons mit ihren Studienunterlagen aus.

Sie legte eine Hand über die Augen und blickte zu Royce hinüber. Von seiner entspannten Haltung ließ sie sich nicht irreführen. Er war sauer. Auf einen warmherzigen Empfang brauchte sie nicht zu hoffen.

Der Busfahrer stieg wieder ein und nickte ihr zu. „Einen schönen Aufenthalt, Ma’am.“

Sie murmelte ein kurzes Dankeschön. Sekunden später war sie mit Royce allein. Sie standen sich in der Junihitze gegenüber. Zwar trug er eine Sonnenbrille mit Spiegelgläsern, doch ein sechster Sinn sagte ihr, dass er ihr direkt in die Augen schaute.

Mit einer schnellen Bewegung nahm er die Brille ab. „Heather.“

Oh, Mann. Er war wirklich sauer. Beim Sprechen hatte er kaum die Lippen bewegt. Sie hob das Kinn. „Royce.“

„Ich hatte dir doch gesagt, du sollst in College Station bleiben.“

Entrüstet gab sie zurück: „Du solltest inzwischen bemerkt haben, dass ich meinen eigenen Kopf habe.“

Als er sich verzweifelt die Stirn rieb, bekam sie fast Mitleid mit ihm.

„Du willst also wirklich das Geschäft übernehmen?“

„Ja.“

„Bis du ein besseres Angebot bekommst?“

„Ja.“ Das sollte er ruhig glauben. Vermutlich würde er ihr doch nur aus dem Weg gehen, wenn er den wahren Grund ihres Kommens kennen würde.

Argwöhnisch musterte er sie. „Wo willst du wohnen?“, erkundigte er sich vorsichtig. Anscheinend fürchtete er, sie könnte bei ihm einziehen wollen.

„Ich hatte vor, im Laden zu wohnen.“ Wenigstens brauchte sie dann keine Miete zu zahlen. Außerdem konnte etwas Distanz zwischen ihnen nicht schaden. Zumindest bis er sich an den Gedanken gewöhnt hatte, dass sie wieder in Nowhere lebte.

„Der Laden ist völlig verdreckt und verwahrlost. Dort kannst du nicht bleiben. Außerdem, wo willst du denn schlafen?“

„Ich kann doch in dem kleinen Raum hinter dem Lager ein Feldbett aufstellen.“

Er nickte. „Und wo willst du duschen?“

„Eine alte Dusche gibt es da auch.“ Im Stillen hoffte sie inständig, dass sie noch funktionierte.

Royce machte ein Gesicht, als wollte er sie über die Schulter werfen und nach College Station zurückschleppen. „Gut. Wir bringen deine Sachen in den Laden und fahren danach zur Ranch. Ich habe noch ein altes Bett auf dem Dachboden und einen Kühlschrank im Schuppen.“

Keine weiteren Diskussionen? Erstaunlich. „Danke. Und wenn es dir recht ist, hätte ich gern mein Auto, damit ich hier mobil bin.“

„Der Laster deines Vaters ist beim Brand nicht beschädigt worden. Er steht hinter dem Laden. Deinen Mustang habe ich auf der Ranch untergestellt.“

Sie half Royce, das Gepäck einzuladen, und stieg auf der Beifahrerseite ein. „Den Laster benutze ich für das Geschäft und meinen Mustang zum Vergnügen.“ Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.

Stirnrunzelnd startete er den Motor. „Du bist dir deiner Sache wirklich sicher?“

„Absolut.“

„Ich hoffe nur, du weißt, was du tust, Heather.“

Das hoffe ich auch, Royce, dachte sie.

3. KAPITEL

Royce hielt das Lenkrad so fest umklammert, dass seine Arme schmerzten. Nach fünf Minuten mit Heather fühlte er sich, als hätte er barfuß gegen einen Zaunpfahl getreten.

Ohne sich anzustrengen, brachte sie sein sonst so ausgeglichenes Gemüt zum Überkochen. Deshalb hatte er auch einen Entschluss gefasst, während er auf den Bus gewartet hatte: Um diesen Sommer zu überstehen, wollte er Heather aus dem Weg gehen.

Schließlich erwartete ihn jede Menge Arbeit auf der Ranch, während sie Geschäftsfrau spielte. Er musste seine Angusrinder versorgen, diverse Reparaturen durchführen und, wenn dann noch Zeit übrig war, endlich das Haus streichen. Dazu kamen noch die Verpflichtungen als Bürgermeister. Wahrscheinlich würde er Heather den ganzen Sommer nur ein- oder zweimal zu Gesicht bekommen. Wenn sie überhaupt so lange blieb.

Jetzt konnte er sich nicht länger beherrschen: Er musste sie einfach anschauen. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, ihr nur ins Gesicht zu sehen. Doch unwillkürlich betrachtete er ihren ganzen Körper. Tief sitzende Hüftjeans und ein enges Top boten einen ungehinderten Blick auf das gefürchtete Bauchnabelpiercing. Als Heather seufzte, schob sich der silberne Schmetterling unter den Hosenbund, um gleich darauf mit flatternden Flügeln wieder hervorzuschnellen. 

„Royce!“

Autor

Lilian Darcy
Die Australierin Lilian Darcy hat einen abwechslungsreichen Weg hinter sich. Sie studierte Russisch, Französisch und Sprachwissenschaften und ging nach ihrem Abschluss als Kindermädchen in die französischen Alpen. Es folgten diverse Engagements am Theater, sowohl auf der Bühne als auch als Drehbuchautorin. Später hat Lilian Darcy als Lehrerin für Französisch und...
Mehr erfahren

Kontakt zum Herausgeber für weitere Informationen zur Barrierefreiheit Weitere Informationen zur Barrierefreiheit unserer Produkte erhalten Sie unter info@cora.de.

Navigation Dieses E-Book enthält ein Inhaltsverzeichnis mit Hyperlinks, um die Navigation zu allen Abschnitten und Kapiteln innerhalb dieses E-Books zu erleichtern.

Gefahren Dieses Produkt enthält keine bekannten Gefahren.