Männer und der ganz normale Wahnsinn

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Seit dem Fiasko mit der Hochzeit - ihr Verlobter Greg hat einfach gekniffen! - geht bei Ginger Petrocelli alles schief: erst stirbt ihr Chef, dann wird das Designerbüro geschlossen, und schließlich bekommt sie es auch noch mit einem Hund zu tun, der vor lauter Kummer nicht fressen will. Gemeinsam mit ihrer Freundin Terry (schwarz, zweimal geschieden, zynisch) und ihrer Cousine Shelby (Jüdin, ultimativ verheiratet, quirlig) beschließt sie, ihr Leben neu in die Hand zu nehmen. Dabei wird sie tatkräftig unterstützt von Nick, netter Nachbar und Retter in der Not.


  • Erscheinungstag 10.12.2012
  • ISBN / Artikelnummer 9783955762834
  • Seitenanzahl 192
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Karen Templeton

Männer und der ganz normale Wahnsinn

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Katja Henkel

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Cora Verlag GmbH & Co. KG,

Valentinskamp 24, 20350 Hamburg

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Loose Screws

Copyright © 2002 by Karen Templeton

erschienen bei: Red Dress Ink, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Claudia Wuttke

Titelabbildung: © Virginie JACQUIOT

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Satz: D.I.E Grafikpartner GmbH, Köln

ISBN 978-3-95576-283-4

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. KAPITEL

Lassen Sie mich zunächst nur für die Akten festhalten, dass ich mich nicht etwa deshalb in Greg Munson verliebt habe, weil er ein erfolgreicher oder gut aussehender Mann ist – auch wenn ich absolut nichts gegen die neidischen Wiehast-du-den-nur-bekommen-Blicke anderer Frauen habe – und auch nicht, weil ich meine Mutter ärgern wollte. Ich schwöre, die Tatsache, dass er der Sohn eines republikanischen Kongressabgeordneten ist, war nur ein glücklicher Zufall.

Nein. Ich habe mich in den Typen verliebt, weil er mir einfach den Eindruck vermittelte, er sei normal. Und nachdem die Chancen, in dieser Stadt ein solches Wesen zu finden, eins zu einer Million stehen, habe ich seinen Antrag sofort angenommen. Darauf bin ich vielleicht nicht sonderlich stolz, aber bitte! Irgendwie muss unsere Spezies doch überleben.

Ich bin überzeugt davon, dass wir ein sehr angenehmes gemeinsames Leben hätten führen können, wenn er sich die Mühe gemacht hätte, zur Hochzeit zu erscheinen.

Zugegeben, es ist erst vier Stunden her, seit ich fünfundzwanzig Meter Tüll in ein Taxi gequetscht habe und zurück zu meiner Wohnung gefahren bin – ich hatte also bisher noch nicht viel Zeit, das Ganze zu verarbeiten. Nicht, dass ich das überhaupt erwarte.

Erstens bin ich nicht blind vor Liebe, dazu neige ich grundsätzlich nicht. Ich bin einunddreißig, habe mein ganzes Leben in Manhattan verbracht und eine Kindheit hinter mir, die mich befähigt, Vollidioten gleich auf den ersten Blick zu erkennen. Greg und ich sind erst zwei Monate, nachdem ich verschiedenste Teppich- und Tapetenmuster in sein neues Haus in Scarsdale geschleppt hatte, miteinander ausgegangen, und danach dauerte es noch einen weiteren Monat, bis wir miteinander geschlafen haben. Ich war vorsichtig. Ich habe nicht geklammert. Niemals von Hochzeit gesprochen. Nie mehr von seiner Zeit gefordert, als er mir freiwillig gab. Wenn überhaupt, dann war er derjenige, der dem Ganzen unbedingt einen offiziellen Anstrich verleihen wollte.

Also nichts. Kein Hinweis auf die Gründe. Nicht der geringste.

Wir hatten mit der Zeremonie so lange gewartet, wie es nur ging. Aber als meine Mutter und Großmutter sich wie zwei Bodyguards neben mich und meine beiden Brautjungfern stellten (meine Cousine Shelby – Jüdin, unheilbar verheiratet, temperamentvoll, und meine beste Freundin Terrie – schwarz, zweimal geschieden und zynisch), um Wache zu stehen, wusste ich bereits, dass alles vorbei war. Und trotzdem, optimistisch wie immer, habe ich auch noch versucht, Gregs Hintern zu retten. Von meinem eigenen mal ganz abgesehen.

„Der Verkehr auf der Parkway ist um diese Tageszeit bestimmt ganz schrecklich“, sagte ich betont fröhlich, und das nur zehn Minuten bevor die aus Eis geschnitzten Schwäne in der späten Maihitze zu schmelzen begannen, ganz zu schweigen von den etwas älteren Gästen. Als Terrie mich daran erinnerte, dass Gregs Handy an ihm genauso festgewachsen war wie seine vier Gliedmaßen – oder in seinem Fall fünf, behauptete ich ohne einen Anflug von Ironie, dass vielleicht sein Akku leer sei. Ganz bestimmt, dachte ich, das muss der Grund sein, denn schließlich hat er mir doch dabei geholfen, diese blöden Blumen auszusuchen, ganz zu schweigen vom Kuchen und den Einladungskarten. Warum also sollte er zu seiner eigenen verdammten Hochzeit nicht auftauchen?

„Vielleicht ist er tot?“

Wir alle schauten meiner Großmutter dabei zu, wie sie seelenruhig an ihrem Unterrock unter dem neuen lilafarbenen Kleid zerrte. Weil sie im Grunde taub wie ein Pfosten ist, hatte sie so laut gesprochen, dass man ihre Worte auch noch in der Bronx hätte verstehen können.

Ich warf meiner Mutter, deren Klamotten aussahen, als stammten sie direkt aus dem Bühnen-Fundus von König der Löwen, einen Sag’s-nicht-Blick zu. Als die Gäste sich dann langsam und verlegen schweigend entfernten und der Standesbeamte – begleitet von Phyllis und Bob Munson, Gregs Eltern – sein Beileid murmelte, starrte ich in den reichlich dekorierten, aber völlig leeren Ballsaal und setzte im Geiste den Tagesordnungspunkt ‚Bring diesen Bastard um‘ an die erste Stelle meiner Prioritätenliste.

„,Deine Mutter braucht nicht für die Kosten der Hochzeit aufzukommen‘“, hatte Greg gesagt. „,Mal ehrlich, das können wir doch nun wirklich selbst bezahlen, oder?‘“

Wenn man bedenkt, womit wir gerade beschäftigt waren, als er mich mit seinem Heiratsantrag überfiel – das beschreibt übrigens ziemlich gut, was er zu dem Zeitpunkt auch mit mir tat –, hätte er wahrscheinlich so ziemlich alles vorschlagen können, ich hätte zugestimmt. Aber auch als ich wieder angekleidet und bei Sinnen war, dachte ich immer noch: nun, ist doch klar. Wir beide hatten Erfolg im Beruf – Greg war noch vor seinem dreißigsten Geburtstag Partner in einer Anwaltskanzlei geworden, und dank meines wachsenden Kundenkreises musste ich schon seit Jahren nicht mehr verstohlen die Regale mit den Sonderangeboten durchwühlen. Gregs Vorschlag, halbe-halbe zu machen, bedeutete aber trotzdem, dass ich mein Erspartes angreifen musste. Okay, nicht angreifen, vielmehr völlig aufbrauchen. Schließlich ging es hier nicht um eine einfache Hochzeit im Rathaus mit Feier in einer gewöhnlichen Kneipe. Aber mir war’s egal, schließlich war Greg Munson der goldene Pokal, über den ich nach langer Suche endlich gestolpert war. Das konnte man sich doch was kosten lassen, oder nicht?

Haben Sie auch nur die geringste Ahnung, wie viel ein Hochzeitskleid von „Vera Wang“ kostet?

Als ich mein bezauberndes Spiegelbild anstarrte und zögernd behauptete, dass mir der elfenbeinfarbene Seidenanzug von „Ellen Tracy“, den ich drei Tage zuvor anprobiert hatte, genauso gut gefiel, rief Shelby entsetzt: „Hast du auch nur die geringste Ahnung, wie Leid es dir eines Tages tun wird, wenn du dir die einmalige Gelegenheit durch die Lappen gehen lässt, wie eine Prinzessin auszusehen?“

„Hast du auch nur die geringste Ahnung“, hatte meine Mutter nicht weniger entsetzt gefragt, als ich sie und Nonna in die Boutique in der Madison Avenue schob, um ihnen das herrliche Kleid vorzuführen (Shelbys Prinzessinnen-Kommentar hatte all meine Zweifel weggewischt), „wie viele Obdachlose man mit dem Geld durchfüttern könnte, das du dafür rausgeworfen hast, und zwar für ein Kleid, das du nur ein einziges Mal tragen wirst?“

„Verdammt, Mädchen“, hatte Terrie gesagt, die Hände auf ihre runden Hüften gestemmt, die sich schon in zwei Ehen und einer ganzen Reihe von Liebschaften bewährt haben, „in dem Kleid sieht es doch tatsächlich so aus, als ob du einen anständigen Busen hättest.“

Könnte mir vielleicht irgendjemand mal ein Taschentuch reichen?

Meine Mutter versuchte mich davon zu überzeugen, mit ihr und Großmutter zurückzufahren und die Nacht in ihrem Haus zu verbringen. Da ich mir aber lieber die rechte Hand abgehackt hätte, lehnte ich dankend ab. Was vielleicht allen, die nicht gerade Nedra Cohen Petrocelli zur Mutter haben, etwas respektlos vorkommen mag.

Gut, ich bin vielleicht ein klitzekleines bisschen unfair. Aber Nedra saugt auch noch den letzten Rest Leben aus jedem heraus, der das Pech hat, zufällig in der näheren Umgebung ihres Wohnblocks zu leben.

Wenn ich mir manchmal ein Bild von meiner Mutter ansehe, als sie noch jünger und schlanker war, dann kommt es mir so vor, als ob ich mein eigenes Spiegelbild betrachte. Das gleiche schwarze, wippende Haar, die gleichen dunklen Augen, hohen Wangenknochen, langen Gliedmaßen und eine große Klappe, die uns oft in Verlegenheit bringt. Wenn es aber um unseren Charakter geht … nun, ich will es so ausdrücken: Die Gene haben uns da einen Streich gespielt. Während Nedra im wahrsten Sinne des Wortes geradezu in sich zusammenfällt, wenn sie mal länger als zwei Stunden ohne menschliche Gesellschaft ist, brauche ich die Einsamkeit, um wieder Energie zu tanken. Sie reagiert auf Tragödien oder Stress, indem sie ein Dutzend Freunde zum Abendessen einlädt. Ich hingegen drücke die Demütigung – und, in diesem Fall eine Flasche sehr teuren Champagner – gegen meinen kleinen flachen Busen (auch hier haben mir die Gene einen bösen Streich gespielt) und ziehe mich in mein Schneckenhaus zurück.

Ein Schneckenhaus, das ich Gott sei Dank nicht gekündigt habe, auch wenn es winzig und ohne Klimaanlage ist. Letzte Woche habe ich allerdings bereits einen Großteil meiner Klamotten und anderer Besitztümer in das Haus in Scarsdale gebracht (mentale Notiz: neue Kleider kaufen???). Also. Hier sitze ich in einem Berg aus Spitze mitten auf meinem pseudo-türkischen Teppich und schütte den Schampus wie Cola light in mich hinein, während ich mir einen Spaß daraus mache mitzuzählen, wie oft mein Anrufbeantworter piept. Da ich überzeugt davon bin, dass mindestens die Hälfte der Anrufe von meiner (schrecklich stereotypen) Mutter sind, interessiert es mich überhaupt nicht herauszufinden, was für Nachrichten ich bekomme. Nicht einmal, wenn eine von Greg dabei wäre.

Vor allem nicht, wenn eine von Greg dabei ist.

Ich sollte wirklich langsam mal das Kleid ausziehen. Schon alleine weil es teuflisch kratzt. Aber ich kann einfach nicht. Noch nicht. Ich weiß, wie dumm das ist. Ich hoffe ja nicht etwa darauf, dass Greg plötzlich auftaucht, mich strahlend anlächelt und übertriebene Entschuldigungen abgibt, woraufhin wir einfach zurück in das Hotel fahren und heiraten, als ob nichts geschehen wäre. Was wir ja auch gar nicht könnten, schließlich sind die Gäste schon lange gegangen, der Partyservice hat längst das ganze Essen wieder eingepackt, und der Standesbeamte ist gerade bei einer anderen Hochzeit. Außerdem wäre ich niemals in der Lage, mein Haar so hochzustecken, wie Alphonse es getan hat …

Wissen Sie, was mich wirklich total aufregt? Bevor ich Greg kennen gelernt habe, war ich absolut glücklich und zufrieden. Ich hatte nicht das Gefühl, dass mir irgendetwas fehlt, verstehen Sie? Ja, klar, natürlich bin ich davon ausgegangen, dass ich eines Tages heiraten würde, wie es die meisten Menschen tun, vor allem wenn sie Kinder wollen. Was ich will. Ich meine, Himmel, sogar meine Mutter hat geheiratet – praktischerweise meinen Vater –, und hierbei handelt es sich um eine Frau, die den Ausdruck „Freie Radikale“ ganz neu definiert. Doch bin ich nicht durch die Gegend gelaufen und habe verzweifelt nach meiner „zweiten Hälfte“ gesucht oder leise in meinen Café Latte geweint, weil ich ihn im reifen Alter von dreißig Jahren noch nicht gefunden hatte. Wenn ich mit Männern ausgegangen bin, habe ich nie ein bestimmtes Ziel verfolgt. Ich schwöre es. Ich ging gelegentlich aus, hatte noch gelegentlicher Sex, aber wissen Sie, es hat schon etwas für sich, wenn man jedes verdammte Video, das einem gerade in den Sinn kommt, ausleihen kann, es ansehen kann, wann man will, anziehen und essen kann, ohne dass sich irgendjemand im Zimmer Gedanken darüber macht. Und auch die Tatsache, dass ich nicht gerade der Typ Frau bin, nach dem sich die Männer verzehren, stört mich nicht sonderlich. Karrieremäßig läuft es gut, seit fünf Jahren bin ich inoffizielle Untermieterin dieses sagenhaften Studio-Apartments, und mein Friseur hat beim Anblick meiner Haare nicht erschrocken nach Luft geschnappt.

Also war im Grunde alles in Ordnung. Bevor Greg auftauchte, meine ich. Und dann plötzlich tut er mir so was an, und ich fühle mich völlig wertlos.

Aber warum fühle ich mich so? Bin ich jetzt vielleicht eine andere als heute kurz vor vier Uhr? Ist mein Selbstwertgefühl nur dadurch geschrumpft, dass irgendein Idiot gewagt hat, mein Leben für die nächstliegende Zukunft zu zerstören? Ist deshalb mein Haar widerspenstiger, meine Nase größer, mein Busen kleiner?

Ich blicke an mir herab, um das zu überprüfen. Beruhigt nehme ich noch einen Schluck Champagner direkt aus der Flasche. Einfach und praktisch, und außerdem kribbelt einem die Kohlensäure so nicht in der Nase.

Hm. Irgendwie scheine ich kein Gefühl mehr in den Beinen zu haben.

Oh verdammt … in dem Fliegengitter muss ein Loch sein, denn hier fliegt ein völlig genervter Moskito herum … nein, Moment mal. Meine Gegensprechanlage summt. Was entweder bedeutet, dass ich beim Chinesen was zu essen bestellt habe, ohne mich daran zu erinnern, was ich für ziemlich wahrscheinlich halte, oder irgendjemand – wahrscheinlich meine Mutter, was ein deprimierender Gedanke ist – will Zeuge meines Schmerzes werden.

Mühsam rapple ich mich hoch, zwinge wieder etwas Gefühl in meine Füße und schwebe dann mit meinem Kleid zur Gegensprechanlage. Nach nur drei oder vier Versuchen gelingt es mir, den kleinen Drücker zu treffen und „Hau ab“ zu knurren.

Aber Moment mal. Der Buzzer summt noch immer. Ich leere den letzten Rest Champagner in der blödsinnigen Hoffnung, so wieder einen klaren Gedanken fassen zu können – wobei ich jetzt das Gefühl habe erwähnen zu müssen, dass ich keine Alkoholikerin bin. Es handelt sich heute sogar um meinen ersten ernsthaften Alkoholausfall seit der Hochzeit meiner Cousine Shelby im Jahr 1996, und das ist vermutlich auch der Grund, warum ich im Augenblick alles doppelt und dreifach sehe. Das mit dem klaren Gedanken hat nicht geklappt. Aber immerhin erkenne ich noch, dass der genervte Moskito nicht in meiner Gegensprechanlage gefangen ist, sondern vor meiner Wohnungstür herumschwirrt.

Ich rülpse herzhaft, raffe so viel von meinem Rock zusammen, wie ich nur kann, und steure im Zickzackkurs in die Richtung, in der ich zuletzt die Tür gesehen habe. Ich bin doch tatsächlich so daneben, dass ich versuche, durchs Schlüsselloch zu blicken. „ Wer’s n’da?“

„Ginger Petrocelli?“

Gelegentlich nehme ich mir so wie jetzt die Zeit, mich darüber zu wundern, warum, um Himmels willen, meine Eltern mich Ginger genannt haben. Danach knalle ich mit meiner Stirn gegen die Tür und schiele durch den Spion, durch den ich ein vage bekanntes, ausgeprägtes Kinn sehe, blaue Augen und eine sehr männliche Hand mit sorgfältig manikürten Nägeln, die einen ziemlich offiziell aussehenden Dienstausweis in die Höhe hält. Der Typ nennt seinen eigenen Namen, glaube ich zumindest, doch ein Feuerwehrauto hat genau diesen Augenblick gewählt, um acht Stockwerke unter meinem Fenster die Sirene einzuschalten, deshalb verstehe ich kein Wort. Außerdem mache ich mir fast in die Hose, was, wenn man mal die Menge an Champagner bedenkt, katastrophal werden könnte.

Also versuche ich, den Dienstausweis zu entziffern. Aber es gelingt mir nicht, den Blick entsprechend scharf zu stellen, um den Namen zu erkennen, geschweige denn das Gesicht dahinter. Es ist aber nicht zu übersehen, dass es etwas mit dem New York Police Department zu tun hat.

Mein Magen krampft sich zusammen. Aber da ich immer das Gute im Leben sehe, tröstet mich der Gedanke, dass es sich hier zumindest nicht um den Besuch meiner Mutter handelt.

Oh mein Gott. Meine Mutter.

Vor meinem inneren Auge tauchen Bilder von einer zuknallenden Taxitür und ihrem Lion-King-Kleid auf, das dabei eingeklemmt wird, woraufhin sie zehn Blöcke weit durch Midtown geschleift wird, und das bewegt mich dazu, an dem ersten der drei Schlösser herumzufummeln …

Mooooooment mal.

„Wie soll ich wissen …“ Ich stütze mich mit einer Hand an der Wand ab. Als der Schwindel endlich abklingt, sage ich: „Woher soll ich wissen, dass Sie wirklich von der Polizei sind?“

Als Antwort höre ich etwas, das wie ein sehr geduldiges Seufzen klingt. „Verdammt, Ginger … hast du mal durch den Spion geschaut? Ich bin’s, Nick Wojowodski. Mach auf.“

Aufatmend entriegle ich die restlichen Schlösser und reiße die Tür auf. Eine Hand schießt nach vorne, um mich aufzufangen, als ich in den Flur und über etwas in Folie Eingepacktes stolpere. Mit einem Mal werde ich ins Jahr 1992 zurückgeschleudert. Der 16. Juni …

„Heilige Scheiße“, rufe ich atemlos und starre gebannt in ein Paar blaue Augen von der Farbe des New Yorker Himmels an dem einen Tag im Oktober, an dem er tatsächlich blau ist.

Nick versucht tapfer, meine Fahne zu ignorieren, während ich von Erinnerungen übermannt werde.

Die Hochzeit von Paula, der Tochter der Cousine meines Vaters, mit Nickys älterem Bruder Frank. Ich war eine der zwölf Brautjungfern. Unsere Kleider waren scheußlich, und ich befand mich in ernsthaft rachsüchtiger Laune. Der gute alte Nicky hier war der Trauzeuge des Bräutigams. Und so sicher wie das Amen in der Kirche der tollste Mann, den ich bis zu diesem Zeitpunkt jemals gesehen hatte. Ich hatte gegen diese umwerfenden Blicke und den ganzen Champagner, den ich in mich hineingeschüttet hatte (an was erinnert uns das?), keine Chance, als beim Tanzen achtzig Kilogramm solide, unkomplizierte Männlichkeit mit einer ebenso soliden und unkomplizierten Erektion gegen meinen Körper gepresst wurden. Vor allem wenn man bedenkt, dass mein Freund … Jesus, wie war noch gleich sein Name? Egal, das habe ich jetzt vergessen, ich weiß nur noch, dass er mich wegen einer Walküre vom Hunter College mit ernsthaftem Hang zu Videospielen und einem noch ernsthafteren Hang zur Eigenverstümmelung verlassen hatte. Ich fühlte mich einsam und liebestoll und unattraktiv, und Nicky war gerne bereit, alles zu tun, um mein Selbstwertgefühl wieder aufzurichten. Ganz zu schweigen davon, dass er mich von meinem Jungfernhäutchen befreite, das an den Rändern allmählich sowieso schon langsam etwas ausfranste.

Und das tat er in einem Abstellraum etwa zwanzig Schritte hinter dem Altar.

„Ich ruf dich an“, sagte er danach. Was er nie tat.

Paula habe ich seitdem nicht öfter als zwei oder drei Mal gesehen. Wir waren sowieso nicht sonderlich eng befreundet. Sie hatte mich nur gebeten, ihre Brautjungfer zu werden, damit sie ein volles Dutzend hatte. Außerdem wohnt sie in Brooklyn. Aber gelegentlich treten wir in Kontakt, bei Familienkrisen etwa, schließlich waren ihr Großvater und mein Großvater Brüder. Deswegen weiß ich auch, dass Nicky in der dritten Etage des Greenpoint-Hauses, das seine Großmutter ihm und seinem Bruder Frank vor ein paar Jahren hinterlassen hat, wohnt, und dass er zur Polizei gegangen ist. Was ich nicht wusste, ist, dass er für den 19. Distrikt zuständig ist. Und das ist meiner.

Ich versuche, mich so richtig in Wut zu bringen, während ich beobachte, wie Nicky sich bückt, um das in Folie verpackte Was-auch-immer aufzuheben, wobei ich vermute, dass es sich um irgendwas Selbstgebackenes meiner Nachbarn Ted und Randall handelt. Es ist mit einer schwarzen Schleife zugebunden.

Nicky richtet sich wieder auf und betrachtet einen Moment lang stirnrunzelnd die Schleife, bevor er mir das Päckchen reicht. Ich klemme die leere Flasche, die ich einfach nicht loslassen will, unter die Achsel, um es entgegenzunehmen. Ein tröstlicher Zitronenduft steigt mir in die Nase. Wow. Ted muss sofort, nachdem er die Hochzeit verlassen hat, in seine Küche gestürmt sein.

„Hallo Ginger“, sagt Nicky mit seiner schroff-freundlichen Stimme, und meine Wut löst sich mit einem „Puff“ in Nichts auf, genauso wie meine Befürchtung, dass Körperteile meiner Mutter über die komplette siebenundfünfzigste Straße verstreut sein könnten. Ich meine, wieso sollte ich mich über etwas aufregen, das vor zehn Jahren geschehen ist, wenn ich gerade einen viel heftigeren Angriff auf meinen Stolz verarbeiten muss?

Ich kneife die Augen zusammen. „Was willst du hier, Nicky?“

Er stemmt die Arme in die Hüften – sind Ihnen schon mal die besonders interessanten Stellen aufgefallen, an denen die Jeans von Männern dazu neigen, auszubleichen? –, seine Augen brennen wie blaue Flammen, sein dichtes dunkelblondes Haar schimmert, seine Mundwinkel sind ein klein wenig nach unten gezogen, und ich frage mich, ob das nur an mir liegt oder ob die Situation tatsächlich merkwürdig ist? Dass ich hier in meinem Hochzeitskleid, das mein Gatte heute Nacht nicht von meinem Körper reißen wird, stehe, tröstlich warmes Gebäck von meinen schwulen Nachbarn umklammere, während ich mich in Erinnerungen an einen Quickie von vor zehn Jahren ergehe? Dass ich auf das kantige Kinn des Mannes starre, der vor zehn Jahren einen brandneuen, zwanzig Dollar teuren BH kaputt gemacht hat, was ich ihm offen gestanden wahrscheinlich auch heute noch erlauben würde? Zumindest für den Fall, dass ich gerade mal nicht der Meinung bin, dass alle Männer erschossen werden sollten.

„Also“, sagt der Entjungferer, „das hier ist eher … inoffiziell. Ich bin sogar eigentlich nicht einmal im Dienst, aber …“ Er schneidet eine Grimasse. „Könnte ich vielleicht reinkommen?“

Ich stolpere zur Seite und lasse ihn vorbei.

Die abgestandene Luft im Apartment ist vom Ventilator ein Mal umgewälzt worden. Nicky scheint das aber nicht zu registrieren, wahrscheinlich ist er zu sehr damit beschäftigt, mein erschreckendes Aussehen mit dem zerzausten Haar zu verarbeiten, genauso wie mein leichtes Schwanken zu einer Musik, die offenbar nur ich hören kann. Er verschränkt die Arme vor der Brust und setzt einen beunruhigten Gesichtsausdruck auf, den er bestimmt abends vor dem Spiegel übt. Ich beschließe, dass wir beide so tun sollten, als ob vor zehn Jahren nichts geschehen wäre.

„Tut mir wirklich Leid“, sagt er, „aber ich muss dich das fragen … wann hast du den Typ, den du heiraten wolltest, zum letzten Mal gesehen?“

Ich umarme die Flasche, während sich Tränen in meinen Wimpern sammeln. Oh Gott nein. Ich will keine rührselige Betrunkene sein. „Do… Donnerstagabend.“

„Bist du dir sicher?“

„Ich bin b-betrunken“, antworte ich entrüstet, noch immer schwankend und noch immer die leere Flasche an meinen Bauch pressend. „Und nicht gehirnamputiert. Natürlich bin ich mir sicher.“

Nicky entwindet die Flasche aus meiner Umarmung, als ob es sich um eine geladene Pistole handelt, und schaut sie böse an. „Himmel. Hast du die ganz alleine leer getrunken?“

„Jeden verdammten T-Tropfen.“ Plötzlich neigt er sich zu mir, packt mich an den Schultern, dreht mich herum und dirigiert mich Richtung Sofa.

„Setz dich“, sagt er, als wir angekommen sind.

Darum hätte er mich nicht bitten müssen. Ich plumpse darauf wie ein Stein, das Kleid bauscht sich zu beiden Seiten in die Höhe. Am liebsten würde ich loskichern, was aber wahrscheinlich eine unangebrachte Reaktion ist, schließlich fragt mich gerade ein Polizist, wo mein Verlobter abgeblieben ist. Ich blicke hoch und sehe, dass Nicky und sein Zwilling schon wieder so düster blicken, während er seine – ihre – Arme verschränkt. Ich setze einen irgendwie nüchternen Gesichtsausdruck auf.

„Scheint so, dass seitdem auch sonst niemand Munson mehr gesehen hat“, sagt er. „Seine Eltern haben ihn als vermisst gemeldet.“

Ich spüre, dass meine Augenbrauen versuchen, in die Höhe zu schießen. „Jetzt schon?“

„Ich weiß, das ist ein wenig verfrüht. Und wahrscheinlich eine riesige Zeitvergeudung, denn mein Instinkt sagt mir – entschuldige, dass ich so offen spreche –, dass diesem Kerl nichts passiert ist. Er hat einfach kalte Füße gekriegt. Aber Leute wie Bob Munson sind gut darin, immer große Wellen zu schlagen.“ Nicky schaut sich in meinem Studio-Apartment um, wofür er etwa drei Sekunden braucht. „Ganz bestimmt wollte dein künftiger Mann nicht zu dir in diesen Hamsterkäfig ziehen?“

Ich ignoriere den Spott in seiner Stimme. Na gut, das Zimmer mit all meinen Büchern, Pflanzen, dem riesigen Zeichentisch, meinem Computer nebst üblichem Zubehör, dem Fernseher, der Stereoanlage, dem Bettsofa, den beiden Sesseln, meinem Trimmrad, dem Couchtisch, den Bistrostühlen und den fünf zusammenpassenden Gepäckstücken von Land’s End mag für das ungeübte Auge ein wenig voll gestopft wirken.

„Ich hatte beschlossen, das Apartment zu behalten, für den Fall, dass ich gelegentlich in der Stadt übernachten muss. Der Großteil meiner Kleider ist aber schon in unserem neuen Haus …“ Meine Kinnlade fällt herunter. „Willst du vielleicht sagen, dass ich etwas mit Gregs Verschwinden zu tun haben soll?“

Normalerweise bin ich etwas schneller von Begriff. Ich schwör’s.

Als ich das sage, lässt sich Nicky auf einer Ecke meines Couchtischchens nieder und blickt mir direkt in die Augen. „Es spielt keine Rolle, was ich denke. Der Himmel weiß, dass ich mir diese lächerliche Theorie bestimmt nicht ausgedacht habe. Und mehr ist es auch nicht, glaub mir. Aber auf jeden Fall …“, er durchforstet seine Tasche nach einem schmalen Notizblock und einem Bic-Kugelschreiber, „… beschuldigt dich hier niemand, okay? Es ist nur so, nachdem er dich hat sitzen lassen, hättest du ein Motiv. Ich meine für den Fall, dass …“

Ich umklammere die Lehne meines Sofas (von Pottery Barn, preiselbeerfarbener Samt, drei Jahre alt) und konzentriere mich so lange auf Nicky, bis es nur noch einen von ihm gibt. „Hey. Ich bin dort fast durchgedreht“, sage ich und deute ungefähr in Richtung Midtown, „das war nicht vorgespielt. Ich kann überhaupt nichts vorspielen“, füge ich hinzu, was mit einem kurzen Hochziehen der Augenbrauen belohnt wird. „Davon abgesehen weiß sogar ich, dass es keinen Mord gibt ohne eine Lei…“, ich rülpse, „…che.“

Ich hoffe, das hat nicht so blasiert geklungen, wie ich befürchte.

Nicky sieht mich mit zweifelndem Blick an. Aber dann sagt er: „Niemand hat etwas von einem Mord gesagt, Ginger. Ich versuche nur, das Puzzle zusammenzusetzen. Wir wollen nichts anderes, als den Typ finden und seinen nervigen Vater loswerden.“

„Nun, und warum verdächtigt ihr mich?“ Wenn ich nüchtern bin, kann ich ziemlich überzeugend so tun, als ob ich böse bin. Aber jetzt, wo definitiv die Möglichkeit besteht, dass meine Sprache etwas verwaschen klingt, kommt das vermutlich nicht so überzeugend rüber, wie ich es gehofft habe. Nickys lange, seidige Wimpern lenken mich einen Moment ab, dann fahre ich fort: „Natürlich … jetzt habe ich ein Motiv. Nachdem er mich hat sitzen lassen. Aber davor hatte ich keines. Ich meine, hör mal … warum sollte ich den Mann um die Ecke bringen, der mir meinen ersten multiplen Orgasmus beschert hat?“

Ich versuche noch, meinen Mund mit der Hand zu bedecken, doch leider verfehle ich die richtige Stelle und schlage mir aufs Kinn.

Nicky legt Block und Stift beiseite. In seinen kristallklaren Augen erblicke ich … Ehrfurcht. Respekt. Und fast kommt es mir so vor, als fühle er sich ein klein wenig herausgefordert. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass dieser Mann wie schokoladenüberzogenes Testosteron ist, woraufhin ich mir wirklich Leid tue, denn was hätte wohl alles passieren können, wenn er mich vor all den Jahren tatsächlich angerufen hätte. Erst dann fällt mir ein, dass Nicky a) Polizist ist und seine Familie b) noch verrückter als meine – was etwas heißen will – und dass ich noch mehr Wahnsinn in meinem Leben nicht ertragen könnte. Oh, und dass laut Paula ihr Schwager offenbar eine Vorliebe für kichernde Zwanzigjährige hat.

Und dass ich, wenn alles planmäßig verlaufen wäre – ich blicke auf meine Uhr – in weniger als fünfzehn Stunden in den Mile High Club eingeführt worden wäre.

Darauf hatte ich mich wirklich sehr gefreut.

Und auf Venedig.

„Also“, murmelt Nicky ganz geschäftsmäßig. „Hast du ein Alibi für die Zeit, nachdem du Munson zum letzten Mal gesehen hast?“

Ich denke nach, was ich normalerweise nicht so anstrengend finde wie jetzt. „Ich war die meiste Zeit hier. Alleine. Hab gepackt und so.“

„Hat dich jemand gesehen, wie du rein- und rausgegangen bist?“

Schon wieder, denke ich. Wieder habe ich eine Niete gezogen. „Ich glaube nicht. Tut mir Leid.“

Dann erst springt mich der Gedanke an und schreit: Was, wenn Greg tot ist?

Ich werfe Nicky einen Blick zu, meine Haut fühlt sich ganz klamm an. Mein Magen rebelliert. Vermutlich werde ich grün oder so, denn mit einer geschickten Bewegung packt er mich und schiebt mich ins Bad, wo ich den ganzen Champagner in die Toilette erbreche. Was mir doch als recht symbolhaft erscheint. Irgendwie. Hinterher reicht mir Nicky ein Glas Wasser, damit ich mir den Mund ausspülen kann, und ein feuchtes Handtuch fürs Gesicht.

Ich nehme einen Schluck, tupfe mein Gesicht ab und spüre, wie eine einsame Träne meine Wange hinunterläuft und dabei zweifellos eine Mascara-Spur hinter sich herzieht. Wortlos führt Nicky mich zurück ins Wohnzimmer. Als ich meine gepackten Kisten sehe, entweicht mir ein tiefer, sauer schmeckender Seufzer.

„Hier“, höre ich ihn hinter mir sagen.

Ich drehe mich um, nehme die Visitenkarte mit der Adresse des Reviers und der Telefonnummer entgegen. „Lass uns sofort wissen, wenn er mit dir Kontakt aufnimmt. Ansonsten werden wir … einfach … in der Nähe bleiben, okay?“

Matt laufe ich hinter ihm her zur Tür, gelegentlich schniefend, und fühle mich selbst wie ausgekotzt. Eine leicht verbeulte recycelte Singlefrau, die in das System zurück erbrochen wurde, um noch einmal ganz von vorne anzufangen. Im Flur wendet sich Nicky mit zusammengezogenen Augenbrauen um.

„Was?“ frage ich, als das Schweigen zu lange anhält.

„Ist das in Ordnung? Ich meine, dass ich dich alleine lasse?“ Und ich denke oh … wie süß, bis er hinzufügt: „Vielleicht solltest du deine Mutter bitten, bei dir zu übernachten …“

Ich blicke ihn düster an.

„… oder auch nicht.“

Die Frau ist schließlich legendär. Selbst nach mehr als dreißig Jahren spricht laut Paula die Familie meines Vaters von meiner Mutter nur mit gesenkter Stimme.

„Meine Frau hat mich vor drei Jahren verlassen“, sagt er jetzt. „So was ist ziemlich schlimm.“

Frau? Was für eine Frau? Paula hat nie eine Frau erwähnt.

„Wieso?“ frage ich, weil ich es wirklich wissen will.

Er sieht mich noch immer nicht an, zuckt nur mit den Schultern, als ob es keine Rolle spielt. Aber sein Kiefer wirkt verkrampft. „Sie ist mit meinem Job als Polizist nicht zurechtgekommen. Sagte, sie hätte zu viel Angst. Wir haben uns nach weniger als sechs Monaten getrennt.“

„Oh. Tut mir Leid.“

Er nickt und sagt dann: „Aber ihr geht’s ganz gut. Hat letztes Jahr wieder geheiratet. Einen Buchhalter.“ Endlich dreht er sich um, und ein paar Sekunden lang sieht er mich an, als würde er mich gerne berühren, scheint jedoch zu ahnen, dass dadurch seine Lebenserwartung drastisch sinken würde. Er sagt sehr leise: „Ich hätte dich anrufen sollen. Ich meine nach Paulas Hochzeit.“

Dann dreht er sich um und geht den Flur hinunter. Ich sehe ihm eine Minute lang nach, bis er in den Fahrstuhl steigt, dann kehre ich zurück in meine Wohnung und lehne mich gegen die geschlossene Tür. Ich habe das unerklärliche, aber dringende Bedürfnis, ‚Don’t Cry For Me, Argentina‘ zu singen.

2. KAPITEL

„Du solltest nicht alleine hochfahren“, ruft Nedra knapp eine Woche nach meiner abgebrochenen Hochzeit am anderen Ende des Telefons. „Ich komme mit dir.“

„Hoch“ bedeutet Scarsdale, wo ich zumindest einige meiner Klamotten holen möchte, so, wie es mir Greg – der übrigens ziemlich lebendig ist, mehr dazu gleich – vorgeschlagen hat. Obwohl Nedra und ich seit Sonntag einige Male miteinander telefoniert haben, habe ich sie bisher noch nicht in persona gesehen. Ein Zustand, den ich eigentlich so lange wie möglich aufrecht erhalten will. Hey – ich habe schließlich genug Schwierigkeiten damit, überhaupt Luft zu bekommen. Jetzt auch noch um das bisschen Sauerstoff mit meiner Mutter konkurrieren zu müssen, könnte tödlich enden. Trotzdem bin ich einen Moment lang fast geneigt, ihrem Vorschlag zuzustimmen, weil ich nicht die Kraft habe, zu streiten. Vor allem nachdem ich dumm genug war, ihr von meinen Plänen zu erzählen.

Doch dann rettet mich mein Überlebensinstinkt, und ich sage: „Nur über meine Leiche.“

Eine Frau, deren Vorstellung von einer heißen Verabredung ist, mit körperlicher Gewalt von einer politischen Demonstration entfernt zu werden, fühlt sich durch so was nicht beleidigt. Wenn überhaupt, dann fordert sie dieser Spruch nur noch mehr heraus. Doch ich unterbreche sie umgehend.

„Das ist etwas, was ich alleine durchstehen muss“, behaupte ich und denke hmmmm … nicht schlecht. Ich schenke mir ein Glas Orangensaft ein, schlucke die Pille, obwohl ich mir ganz offensichtlich in naher Zukunft keine Gedanken über Geburtenkontrolle machen muss. Doch allein die Vorstellung, nach zehn Jahren wieder heftige Perioden und Krämpfe ertragen zu müssen, macht mich panisch. Nachdem ich sie heruntergeschluckt habe, sage ich: „Ich bin jetzt erwachsen. Ich brauche keine Mammi mehr, die meine Hand hält.“

„Das habe ich doch gar nicht behauptet. Aber wie willst du dein Gepäck ganz alleine im Zug zurückschaffen?“

Über das Problem habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Doch es gibt Zeiten, in denen der Selbsterhaltungstrieb wichtiger ist als Logik.

„Das krieg ich schon hin.“

„Du solltest dieser Frau nicht alleine gegenübertreten.“

Warum Nedra Phyllis Munson so sehr hasst, weiß ich nicht. Gregs Mutter war immer sehr nett zu meiner Familie, zumindest die paar Mal, wo sie sich über den Weg gelaufen sind. Doch andererseits ist Phyllis zu jedem nett. Während meine Mutter in den Sechzigern Büstenhalter und Fahnen verbrannt hat, hat Gregs Mutter den Juroren von Schönheitswettbewerben schöne Augen gemacht. Ein Mal hat sie es sogar geschafft, als Miss New York nach Atlantic City zur Endausscheidung zu kommen, ich habe vergessen, in welchem Jahr das war. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie es nie verwunden hat, nicht unter die ersten zehn gekommen zu sein. Was ich damit sagen will, ist, dass Phyllis vermutlich gar nicht weiß, wie man nicht lächelt. Wobei sich einem die Frage aufdrängt, ob es nicht irgendwann seinen Tribut fordert, wenn man so viele Jahre lang so unglaublich nett ist.

Wie auch immer, das Verhältnis zwischen Phyllis und mir ist ein ganz klein wenig getrübt, seit ihr Sohn unsere Hochzeit verpasst hat. Es wird für uns beide unangenehm werden, wir werden nicht wissen, was wir sagen sollen. Aber auch noch meine Mutter ins Spiel zu bringen, wäre in etwa, als würde man noch zusätzlich scharfe Sauce auf Hühnchen nach Szechuan-Art schütten. Außerdem will ich nicht, dass meine Mutter mitbekommt, wie viel Angst ich davor habe, mich wieder in die echte Welt hinaus zu wagen.

Also kratze ich alles an Überzeugungskraft zusammen und sage: „Ich gehe allein und fertig.“ Meine Mutter gibt einen ihrer langen leidenden Seufzer von sich, vor denen sich alle Töchter dieser Welt fürchten, und antwortet: „Also gut, sehr schön, sehr schön …“, was natürlich nichts anderes heißt als, dass sie es nicht schön findet, aber damit umgehen kann. Ich koste diesen kleinen, delikaten und vor allem wertvollen Sieg einen Augenblick lang aus. Bis sie fortfährt: „Es ist ja nicht so, dass du dich mit mir blamieren würdest oder so.“

Wenn ich genug Kraft hätte, würde ich loslachen.

„Na gut“, fügt sie hinzu, als ob meine Weigerung, ihr zu widersprechen, ihr nichts ausmacht, „wann willst du fahren?“

Ich druckse ein wenig herum. „So gegen elf.“ Mein Herz beginnt heftig zu klopfen. Ich öffne die Kühltruhe, in der noch drei von den gesunden Fertiggerichten liegen, ein halb gefüllter Eiswürfelbehälter und ein einsamer Eisriegel von Häagen-Dazs. Mit Nüssen. „Vielleicht.“ Ich reiße das Papier ab und seufze, als die herrlich cremige Schokolade auf meiner Zunge geradezu explodiert. Ja, ich weiß, es ist noch nicht mal neun Uhr morgens. Na und? „Ich bin mir noch nicht sicher.“ Was natürlich eine dreiste Lüge ist, denn schließlich will ich Phyllis auch antreffen. Also kann ich nicht einfach dort auftauchen, wenn mir der Sinn danach steht.

„Dann ruf mich an, wenn du zurück bist“, sagt Nedra, und ich antworte: „Klar“, obwohl wir beide wissen, dass ich das nicht tun werde.

Ich hänge seufzend ein, erleichtert und zugleich deprimiert darüber, dass ich nun wieder meinen Gedanken nachhängen kann. Gott, ist dieses Gefühl gruselig, als ob man in dichtem Nebel auf einem Drahtseil die Niagara-Fälle überqueren muss. Wenn ich einfach ganz ruhig abwarte, nicht überstürze, dann taucht die echte Ginger bestimmt wieder auf. Wird endlich wieder lebendig.

Ich habe mich total eingeigelt. Fast die ganze Woche habe ich im Pyjama auf meinem Sofa gelegen, Chips und Häagen-Dazs und Cherry Cola runtergeschlungen und gleichzeitig wie ein Zombie Soaps angeschaut. Außerdem gibt es ja noch diese Talk-Shows mit Sally Jesse und Oprah und natürlich diese faszinierenden Gerichtsserien. Meine Güte, wie kommen die nur immer an diese Leute ran?

Während ich mein Eis mampfe, starre ich mein Hochzeitskleid an, das noch immer in der Mitte des Zimmers liegt wie eine verwelkte Magnolie. Ich habe keine Ahnung, was ich damit machen soll. Ich kann es ja nicht einfach wegwerfen, und noch weniger kann ich es als Andenken aufbewahren oder jemand anderem geben, nachdem so viel schlechtes Karma daran klebt. Deshalb liegt es da also. Mit etwas Glück wird die Seide sich eines Tages einfach biologisch abgebaut haben und nur noch einen kleinen, niedlichen Haufen seidenüberzogener Knöpfe zurücklassen, die ich dann beerdigen könnte oder so.

Der Tüll bleibt an meiner Wade hängen, als ich auf dem Weg zur Couch auf das Kleid trete. Vielleicht hätte ich mir mal die Beine rasieren sollen.

Vielleicht hätte ich mal baden sollen.

Ich lasse mich auf die Couch sinken – zwar habe ich nicht ein einziges Mal geputzt, aber immerhin meine Bettwäsche tagsüber in den Kasten des Sofas gestopft –, den Mund voller schmelzender Schokolade und Eiscreme. Ich bin ein einziges Wrack, das können Sie mir glauben. Komischerweise fühlte ich mich vor ein paar Tagen besser als jetzt. Es gab eine kurze Zeitspanne, als …

Okay, Moment mal. Lassen Sie uns in der Zeit etwas zurückgehen, damit Sie auf dem Laufenden sind.

An den Tag nach der Hochzeit kann ich mich überhaupt nicht erinnern. Wer behauptet, dass man durch Champagner keinen Kater bekommt, lügt. Am Tag darauf aber war ich wieder so weit hergestellt, dass ich mich in die Küche wagte und meinen Anrufbeantworter abhörte, auf dem sich immerhin um die fünfundzwanzig Nachrichten angesammelt hatten. Neuer Weltrekord. (Ich hatte mein Handy ausgeschaltet. Ich ging davon aus, dass die Welt mal ein paar Tage ohne mich auskommen konnte.) Ich sammelte das letzte bisschen Mut zusammen – und auch Teds köstlichen Zitronen-Mohn-Napfkuchen –, hievte meinen Hintern auf den Barhocker und drückte den „Wiedergabe“-Knopf.

Die ersten dreizehn Nachrichten waren wie erwartet verschiedene Variationen des Themas „Bist du in Ordnung? Ruf mich an“ von meiner Mutter. Dann: „Hallo Ginger, hier ist Nick. Wollte mich nur mal melden und hören, ob du was brauchst. Wenn ja, ruf mich an.“

„Nick“. Nicht „Nicky“. Hab’s kapiert. Und auch, dass seine Stimme aufrichtig besorgt klang und nicht im Geringsten flirtig oder so. Nein, wirklich. Er gehört schließlich zur Familie, auf eine periphere Art und Weise. Und wo ich einmal nüchtern war, wurde mir auch schnell klar, dass ich auf ihn nur wegen des Alkohols und des Schocks so reagiert hatte. Ganz abgesehen davon, dass Paula mir von Nickys – Nicks – neuer Freundin erzählt hat. Sie sagte, sie habe sie ein Mal getroffen, sie sei ganz in Ordnung, aber um Gottes willen schon die sechste in diesem Jahr, und sie halte ja große Stücke auf ihren Schwager, doch wann zum Teufel würde er endlich mal erwachsen werden?

Weitere drei Nachrichten von meiner Mutter, dann: „Mädchen, nimm den verdammten Hörer ab!“ Terrie. „Komm schon, komm schon … verdammt. Ich weiß, dass du da bist, wahrscheinlich heulst du dir die Augen aus, und das ist dieser blöde Kerl nun wirklich nicht wert.“

Eines muss ich Terrie lassen, sie würde niemals so blöde Sprüche wie „andere Mütter haben auch hübsche Söhne“ oder „Da gibt es noch genug Fische, die du angeln kannst“ von sich geben. Ihrer Meinung nach beginnen Fische, wenn man sie geangelt hat, sowieso nur zu stinken.

„Gut, ich nehme an, dass du entweder rumsitzt und nicht rangehst oder die Klingel abgestellt hast. Ich schätze, ich kann dir das nicht mal übel nehmen. Aber bitte, wenn du das irgendwann innerhalb der nächsten zehn Jahre abhörst, vergiss nicht: Es war nicht DEIN Fehler. Okay, Süße, ruf mich an, wenn du wieder unter den Lebenden weilst, dann gehen wir aus und feiern.“

Oje. Im Augenblick verspüre ich eine starke Affinität zu Mrs. Krupcek aus 5 B, die, wie man sich erzählt, in den achtziger Jahren zwei Stunden lang im Fahrstuhl stecken geblieben war und als logische Konsequenz sich irgendwann einfach in die Hose gemacht hat. Seitdem hat sie angeblich nie mehr das Gebäude verlassen.

Ich habe sie nicht zurückgerufen. Terrie meine ich, nicht Mrs. Krupcek. Aber Terrie wird das verstehen. Hoffe ich. Bis jetzt hat sie noch alles verstanden.

„Äh, hallo?“ Die nächste Nachricht. „Hier ist Tony von Blockbuster?“ Ich frage mich, worüber er sich nicht im Klaren ist, darüber, dass sein Name Tony ist, oder dass er für Blockbuster arbeitet. „Ich rufe nur an, um Ihnen mitzuteilen, dass ‚Tod in Venedig‘ seit fünf Tagen überfällig ist. Okay, Wiederhören.“

Mein erster Gedanke: Wer zum Teufel hat sich ‚Tod in Venedig‘ ausgeliehen?

Der zweite: Habe ich hier tatsächlich irgendwo ein Video rumliegen?

„Hi Honey, hier ist Shelby. Bist du da? Ich schätze nicht. Egal. Mark und ich dachten, du hättest vielleicht Lust, irgendwann diese Woche zu uns zum Essen zu kommen? Die Kinder fragen immer nach dir. Na gut. Hab dich lieb. Tschüss.“

Um Ihre Frage zu beantworten: Nein, ich habe ihre Einladung nicht angenommen. Obwohl ich sie schließlich zurückgerufen und mich bedankt habe. Der Himmel weiß, dass dies nicht der Zeitpunkt ist, um bei dieser Vorzeigefamilie einen Abend zu verbringen. Vielleicht nächsten Monat. Oder so.

Ich schaufelte eine weitere Gabel Kuchen in den Mund, dann: „Hey, Ginge …“

Die Gabel flog aus meiner Hand, als ich beim Klang von Gregs Stimme nach dem Telefon grapschte, wobei ich total vergaß, dass es sich ja um eine Nachricht handelte, wie dumm von mir.

„… mir ist zu Ohren gekommen, dass mein Dad wieder völlig übertrieben und gleich die Polizei benachrichtigt hat, also dachte ich, ich sollte besser alle wissen lassen, dass es mir gut geht. Ich war einfach nicht in der Lage …“ Ich hörte, wie er seufzte. „Verdammt, das ist gar nicht so einfach zu erklären …“

Sie müssen sich vorstellen, dass ich mir inzwischen eingeredet hatte, dass der Kerl entweder tot oder entführt worden war oder eine ähnlich überzeugende Erklärung für sein Verschwinden bieten konnte. Als mir aber bewusst wurde, dass die erste Möglichkeit nun ziemlich unwahrscheinlich war und die zweite extrem zweifelhaft – schließlich klang er nicht, als ob ihm eine Pistole an die Schläfe gedrückt würde –, blieb mir nur die dritte Möglichkeit. Was aber auch nicht sehr viel versprechend war.

„… ich weiß, du bist wahrscheinlich sauer … na gut, extrem sauer.“

Zugegeben, das war ich in den vergangenen achtundvierzig Stunden gelegentlich gewesen.

„… Und du hast auch das Recht dazu. Was ich getan habe, ist unverzeihlich, und selbst wenn ich hundert Jahre alt werde, werde ich nie ganz kapieren, warum ich mich so aus dem Staub gemacht habe. Nein, nein … das ist nicht ganz wahr. Ich glaube … ähm … ich habe Panik bekommen. Wegen uns, wegen der Hochzeit, und weil du mich irgendwie auf eine Art Podest gestellt hast …“

Ich verschluckte mich an meinem Kuchen.

„… und da ist mir klar geworden, dass ich mir nicht genügend Zeit genommen hatte, um das alles richtig zu durchdenken …“

Inzwischen war meine Wut ganz hübsch hochgekocht. Ich meine, hätte er nicht zu dieser Einsicht kommen können, bevor ich meine sämtlichen Ersparnisse für ein Buffet ausgegeben habe, von dem kein Mensch jemals was gegessen hat?

Und was ist das für ein Mist von wegen dass ich ihn irgendwie auf eine Art Podest gestellt hätte?

„Ich will damit sagen, dass ich das wirklich nicht geplant hatte, du sollst nicht glauben, dass das alles nur eine Art Spiel war oder so etwas in der Richtung. Aber … mein Gott, Ginge, ich bin so ein Idiot.“

Da widerspreche ich nicht.

„Am meisten bedaure ich, dass ich mir über meine Gefühle erst klar wurde, als ich am Samstag das Haus verlassen wollte. Ich vermute, ich war einfach so beschäftigt mit … allem, ich habe mir keine fünf Minuten Zeit genommen, um zu überlegen, ob ich wirklich bereit bin, diesen Schritt zu gehen …“

Dieser Mann ist verdammte fünfunddreißig Jahre alt! Wann glaubt er denn, dass er bereit sein wird?

„… ich meine, der Sex war großartig, oder?“

Ich warf einen Blick auf meinen Couchtisch und seufzte.

„Und wer konnte schon ahnen, dass meine Eltern mich gleich vermisst melden würden, um Himmels willen? Ich hoffe nur, dass du dadurch nicht noch mehr Ärger hattest …“

Oh, nein. Gar nicht.

„… und ich hoffe, dass wir vielleicht eines Tages Freunde sein können, obwohl ich absolut verstehen könnte, wenn du mich jetzt hasst.“

Meinst du?

„Wie auch immer. Ich werde mich irgendwann die Woche noch bei Blockbuster melden …“

Was zumindest eine offene Frage beantwortet. Wobei ich den Mistfilm noch immer nicht gefunden habe.

„… es macht dir doch nichts aus, das Video schnell dort abzugeben, wenn du die Wohnung verlässt? Und dann sollten wir noch irgendwie verabreden, wie du an deine Sachen kommst. Vielleicht kannst du ja meine Mom anrufen. Ich meine, das wäre doch wahrscheinlich einfacher für dich, oder nicht?“

Deswegen die Pilgerreise nach Scarsdale.

„Oh, und hör mal …“. Was ich hörte, konnte als herzzerreißendes Seufzen durchgehen. „Ich wollte nicht, dass du auf den ganzen Rechnungen sitzen bleibst, das schwöre ich. Bitte schick sie in mein Büro, ja? Ich werde mich um sie kümmern, versprochen. Nun“, ein Räuspern, „ich schätze … nun. Mach’s gut. Und Ginge?“

„Was?“ keife ich die unglückselige Maschine an.

„Das hat überhaupt nichts mit dir zu tun, okay? Das meine ich Ernst. Du bist wirklich großartig. Gott, es tut mir Leid.“

Da hast du zumindest Recht.

Nachdem ich im Schnelldurchlauf die anderen Nachrichten – alle von meiner Mutter – abgehört hatte, starrte ich auf den Kuchen und musste feststellen, dass ich inzwischen die Hälfte davon aufgegessen hatte. Nicht dass das wirklich schlimm gewesen wäre, weil ich – und jetzt hassen Sie mich bitte nicht – essen kann, was ich will und niemals zunehme (obwohl ich den leisen Verdacht hege, dass all diese Kalorien in meinem Körper herumschwirren wie mikroskopische Luftmatratzen und sich exakt zu meinem vierzigsten Geburtstag von selbst aufblasen). Dann begann ich zu heulen – ein schluchzendes, atemloses Heulen –, das zusammen mit den Kuchenresten in meinem Mund dazu führte, dass ich mich entsetzlich verschluckte, bis ich glaubte, dass mein Hirn explodieren müsse.

Fünf Minuten später war ich nur noch ein schwaches, zitterndes, schwitzendes Bündel und kam zu der entmutigenden Einsicht, dass ich den Drecksack noch immer liebte, obwohl ich mich lieber mit einem stumpfen Messer hätte ausweiden lassen. Und fast eine Woche später empfinde ich noch genauso. Ich meine, aus welchem anderen Grund hätte ich sonst ein Dutzend Tüten Chips verdrückt? Ich müsste ihn hassen, ich weiß, aber ich war noch nie zuvor verliebt, nicht wirklich, und ich muss feststellen, dass man so was nicht einfach abdrehen kann wie einen Wasserhahn. Was entweder bedeutet, dass ich einfach sehr loyal – oder sehr dumm bin. Ja, ich bin verletzt und wütend und hätte gute Lust, einen Mord zu begehen, aber als ich die Nachricht zurückspulte (als ob Sie das nicht getan hätten!), fiel mir auf, wie verzweifelt er klang …

Nun. Wie auch immer. Ich saß also da, schaufelte mir noch immer Kuchen in den Mund und überließ mich meinen Emotionen, als das Telefon klingelte. Ich erschrak zu Tode, weil ich die Klingel zu laut gestellt hatte. Viel zu erschrocken um daran zu denken, dass ich ja eigentlich nicht rangehen wollte, nahm ich den Hörer ab.

„Hallo Ginger? Hier ist Nick.“

Ich könnte wetten, dass Sie das bereits geahnt haben, oder?

Ich jedenfalls nicht. Und ich dachte, ja klar, als ob es mir wegen so was besser gehen würde. Ich fuhr mir mit den Händen durchs Haar, aber leider blieb mein Verlobungsring in einer Strähne hängen. Ich zuckte zusammen – und bekam einen erneuten Hustenanfall.

Nick fragte mich, ob ich in Ordnung sei, aber ich konnte natürlich nicht antworten, schließlich war ich kurz davor zu ersticken. „Warte einen Moment“, krächzte ich, wankte zum Waschbecken und schüttete ein halbes Glas lauwarmes Wasser hinunter. Uff.

Eine Minute später nahm ich wieder den Hörer in die Hand und presste hervor: „Rate mal, wer sich bei mir gemeldet hat?“

„Ich weiß“, sagte Nick. „Ich habe gerade davon gehört. Munson geht’s gut.“

Er klang fast enttäuscht.

Ich wette, Nick würde nicht einfach so davonlaufen, dachte ich, bis mir einfiel, dass er genau das schon einmal getan hatte.

Ich blickte auf meine linke Hand und den Verlobungsring von der Größe, die einer Königin gerecht würde, und den ich seit dem Valentinstag so stolz getragen habe. Zwei Karat, Smaragd-Schliff auf einem Platin-Ring. Zur Hölle, für dieses Teil habe ich sogar extra meine Nägel wachsen lassen.

Ich weiß immer noch nicht, was ich mit dem Ring machen soll.

Aber zurück zum Telefonanruf.

„Ja“, sagte ich. „Tolle Neuigkeiten, was?“

„Verdammt“, entgegnete Nick sanft, und das Wort klang bei ihm irgendwie gar nicht wie ein Fluch. „Was ist passiert?“

Zu meinem Verdruss schossen mir schon wieder Tränen in die Augen. „Er hat eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter hinterlassen. Auf meinem Anrufbeantworter.“

„Machst du Witze? Mann, das ist so billig“, sagte Nick, und ich spürte, wie schon wieder Wut in mir aufstieg. Es hätte vermutlich auch gut getan, ein paar Minuten lang dieses Gefühl zuzulassen. Aber dann fiel mir wieder mein sehr bewusster Entschluss ein, den ich als Kind gefasst hatte, mich nämlich niemals von meinen Emotionen kontrollieren zu lassen, Entscheidungen nur auf Grund von Vernunft und Logik zu fällen, anstatt mich von Leidenschaft und Impulsivität leiten zu lassen.

Weil ich nicht wie meine Mutter sein wollte.

Plötzlich war ich sehr ruhig. Vielleicht lag es auch an der kühlen Brise, die durch das offene Küchenfenster hereinwehte. Aber für ein paar Sekunden spürte ich, dass alles gut werden würde, dass der Sturm zwar mein Boot ins Wanken gebracht hatte, ich es aber verhindern konnte, dass es kenterte.

Ich streckte mich und massierte meine verkrampften Nackenmuskeln. „Er wirkte aber ziemlich schuldbewusst.“ Meine Stimme klang selbst in meinen eigenen Ohren merkwürdig tonlos. „Ich meine, immerhin lässt er mich nicht auf all den Rechnungen sitzen.“

„Jesus.“

„Wie bitte?“

„Du machst mir Angst.“

„Ich mache dir Angst? Wieso?“

„Müsstest du nicht eigentlich total sauer sein und mit Gläsern um dich schmeißen?“

Ich wusste nicht, ob ich verblüfft oder beleidigt sein sollte. „Das ist ja so, als würde ich behaupten, dass alle Männer samstagnachmittags vor dem Fernseher sitzen, Fußball schauen und Bier in sich reinschütten.“

„Eben. Und?“

Ich seufzte leise. „Greg jedenfalls hat das nicht getan.“

„Nein, er hat dich nur ohne Erklärung vor dem Altar sitzen lassen.“

Ich runzelte die Stirn. Aber nur ein klein wenig. „Aber er hat gesagt …“

„Es interessiert mich überhaupt nicht, was er gesagt hat. Dieser Typ hatte nicht mal genug Mumm, es dir ins Gesicht zu sagen. Er hat dich wie den letzten Dreck behandelt, Ginger. Genauso wie ich damals, als ich dich eigentlich hätte anrufen sollen … du weißt schon. Nach Paulas Hochzeit. Aber das habe ich nicht. Und obwohl ich erst einundzwanzig war und nur mit halbem Hirn funktionierte, macht mich das trotzdem zu einem miesen Typen, womit ich übrigens leben kann. Doch was dieser Kerl dir angetan hat … verdammt! Warum bist du nicht total wütend?“

„Weil Wut kontraproduktiv ist …“

„Was für ein Blödsinn. Alles in sich hineinzufressen ist ungesund.“

„Dann darfst du auf keinen Fall zuhören, wenn sie dich bei der Polizei in Anti-Aggressions-Seminare schicken, wo man lernt, seine Wut zu kontrollieren“, rief ich und spürte, dass meine Wangen rot wurden. Was zum Teufel bildete sich dieser Typ eigentlich ein?

„Kontrollieren ist nicht das Gleiche wie in sich hineinfressen.“

„Wo wir gerade von hineinfressen sprechen …“

„Ich wette, du trägst sogar noch den Verlobungsring.“

„Das geht dich überhaupt nichts …“

„Nimm ihn ab, Ginger. Jetzt.“

Genau in diesem Augenblick, als ich mir mit der Hand durchs Gesicht fuhr, zerkratze ich mir die Nase an einem Zacken des Steins – wenn Sie es genau wissen wollen: Das ist mir mindestens ein Mal pro Tag passiert, seit ich dieses verdammte Teil übergestreift habe. Jetzt reichte es mir. Ich riss den Ring vom Finger und schleuderte ihn gegen die Küchenwand. Der Knall war überraschend laut. Und befreiend.

„Ist er ab?“ fragte Nick.

„Ich hoffe, du bist alleine“, gab ich zurück und unterdrückte den Wunsch, noch einmal meine Kochbücher zu durchforsten, bevor die Kakerlaken sie wegschleppten. (Ja, wir haben Kakerlaken auf der East Side, aber zumindest tragen sie winzig kleine Louis-Vuitton-Initialen auf ihren Rücken). „Kannst du dir vorstellen, wie das, was du gesagt hast, klingt …?“

„Ist … er … ab?“

„Ja, offenbar hast du wirklich ein Problem damit, geduldig zu sein …“

„Verdammt noch mal, Ginger …!“

„Ja, Nick. Der Ring ist ab. Zufrieden?“

„Mehr als das. Hast du ihn irgendwo hingeworfen?“

Ich strich mir eine Haarsträhne aus der Stirn. „Ja. Um ehrlich zu sein, habe ich das getan.“

„Mit Wucht?“

Seufzend krabbelte ich vom Stuhl und lief zur Wand, um sie zu betrachten. Tatsächlich war dort ein winziger Kratzer zu sehen. Ich könnte schwören, dass der nicht da gewesen ist, als ich einzog. Weil ich aber schon mal in der Nähe war, hob ich den Ring auf und setzte mich wieder hin. Den Ring drehte ich zwischen Daumen und Zeigefinger. „Fest genug.“

„Gut“, sagte Nick und klang, als wollte er so ausdrücken, dass er damit seine Arbeit getan habe. „Schön. Ich wollte mich jedenfalls nur mal melden. Und dir offiziell mitteilen, dass du nicht mehr unter Verdacht stehst.“

„Toll, danke.“

Eine Pause entstand.

„Gut. Pass auf dich auf, ja? Und Ginger?“

„Ja?“

„Steck den Ring nicht wieder an.“

Nachdem er aufgelegt hatte, lauschte ich einige Sekunden lang dem Freizeichen, mein Körper vibrierte, als ob ich gerade Telefonsex gehabt hätte.

Gut, nachdem Sie nun im Bilde sind, wie Ginger den dritten Tag ihrer Flitterwochen verbracht hat, können wir den Rest überspringen und uns wieder der ähnlich spaßigen Gegenwart widmen, wo ich diesen autistischen Anfall vor dem Fernseher habe. Nick hat seitdem nicht mehr angerufen. Schließlich hatte er ja auch gar keinen Grund.

Und der Ring ruht sicher in seiner kleinen Tiffany-Schachtel, die ich unter meinen Slips vergraben habe.

Und – vielleicht haben Sie es schon geahnt, dieses Gefühl, dass mein Boot schon nicht kentern wird, ist auch wieder vorbei. Vielleicht bin ich einen Moment lang ganz oben auf der Welle geschwommen, aber dann hat sie mich wieder nach unten gerissen. Erst als ich Rendezvous nicht mehr nötig hatte, war mir aufgefallen, wie sehr ich sie eigentlich hasste. Die grauenvolle Vorstellung, noch mal ganz von vorne zu beginnen, kann ich im Augenblick nicht ertragen.

Auf dem Fernsehschirm sehe ich den Abspann eines Films, was bedeutet, dass es schon später ist, als ich dachte, was wiederum heißt, dass ich nun langsam in die Pötte kommen muss, oder in diesem Fall erst mal unter die Dusche, um mich so weit herzurichten, dass ich nicht kleine Kinder erschrecke, sobald ich das Haus verlasse. Als ich das letzte Mal mein Spiegelbild betrachtet habe, sah ich aus wie ein Pudel, der einen Stromschlag bekommen hatte. Außerdem sollte ich langsam mal wirklich Ted und Randall den Kuchenteller bringen. Vielleicht sehe ich ja so traurig aus, dass sie Mitleid mit mir haben und mir einen neuen backen. Ich könnte mir da gut einen Schokoladen-Macadamia-Kuchen vorstellen. Oder Brownies, das wäre auch gut …

Mein Telefon klingelt schon wieder. Zögernd nehme ich ab.

„Cara?“

Mein Herz setzt eine Sekunde aus. Es ist meine Großmutter.

„Nonna, was ist …“

„Es geht um deine Mutter. Sie ist auf dem Weg zu dir. In einem Taxi. Aber von mir weißt du es nicht!“

In den ersten zehn Sekunden nachdem meine Nonna aufgelegt hat, denke ich darüber nach, dass Greg nicht tot ist und ich somit von der Verdächtigenliste der Polizei gestrichen wurde, weshalb es länger dauern wird, bis man mich mit dem Mord an meiner Mutter in Verbindung bringt. Andererseits, wenn sie mich dann schließlich doch verdächtigen, wird Nick mich wieder aufsuchen müssen, um mich zu verhören – was definitiv erfreulich wäre, ganz abgesehen von der Tatsache, endlich meine Mutter loszusein –, andererseits könnte ich die Enttäuschung in seinem Blick nicht ertragen, wenn er herausfindet, dass ich es war. Also werde ich meine Mutter wohl am Leben lassen.

Sie sollten meine Spinnereien nicht ernst nehmen. Ich kann ja nicht einmal eine Mausefalle aufstellen.

Während ich über das Ableben meiner Mutter nachsinne, vergeht ganz schön viel Zeit. Ich rechne schnell nach, wie lang ein Taxi vom Riverside Drive und der 116. Straße hierher braucht, wobei mir klar wird, dass ich entweder die Wohnung oder mich herrichten kann, aber auf keinen Fall beides, woraufhin ich eine Kaskade an Beschimpfungen loslasse. Meine Mutter ist zwar kein Putzteufel, bestimmt nicht – bis zu dem Tag, als meine Nonna nach Großvaters Tod bei uns einzog, wusste ich nicht einmal, dass man ein Bett überhaupt machen kann. Aber sie muss nur einen Blick in meine Wohnung werfen, um zu wissen, dass ich im Moment nicht alles unter Kontrolle habe.

Mir bleibt keine Wahl.

Natürlich erschlafft sofort jeder einzelne Muskel, und in diesem Zustand wäre ich womöglich ewig verharrt, wenn es nicht an der Tür geklingelt hätte. Ich presse ein einziges allumfassendes Schimpfwort heraus und zwinge mich, zur Tür zu gehen. Offenbar ist es Nedra gelungen, den einzigen Taxifahrer in New York zu finden, der sich nicht verfährt.

Ich schiele durch den Spion und stoße einen Freudenschrei aus. Als ich die Tür aufreiße, erschallt vom anderen Ende des Gangs Verdi, während Alyssa, die zwölfjährige Tochter von Ted, zu mir hoch grinst, ein Etwas aus Beinen und Zahnspange, seidigem honigfarbenem Haar und großen grünen Augen. Dankbar, dass es sich nicht um meine Mutter handelt, ist mir jetzt sogar meine Pudelfrisur egal, genauso wie die Tatsache, dass die Schokoladenflecken auf meinem Pyjama genau zwischen den Brüsten betonen, dass ich keinen BH trage. Nicht dass Ted das interessieren würde, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich ein gutes Beispiel für Alyssa abgebe.

Trotzdem grinse ich zurück, spüre aber ein verdächtiges Zittern um meine Mundwinkel. Alyssa ist meine Freundin, ich kann schon gar nicht mehr zählen, wie oft ich auf sie aufgepasst habe, seit Ted vor vier Jahren das Sorgerecht bekommen hat, was selbst heutzutage für einen schwulen Mann nicht üblich ist. Im letzten Jahr hat sie angefangen, sich für Jungs zu interessieren, also ungefähr zur gleichen Zeit wie ihr Vater. Sie wissen ja, wie das ist: Es ist immer einfacher, über so was mit jemandem zu reden, der nicht zur Familie gehört …

Jetzt erst bemerke ich, dass sie ein Tablett mit Keksen umklammert hält. Oh ja – langsam wird der Tag doch noch besser.

„Wir haben uns schon Sorgen gemacht, weil du deine Wohnung nicht verlassen hast“, sagt ihr Vater jetzt, als er hinter seiner Tochter auftaucht. Ich erblicke ein ausgebleichtes, navyfarbenes T-Shirt über einem kräftigen Oberkörper, behaarte Beine lugen aus den Shorts hervor – das typische Sommeroutfit eines freiberuflichen Schreibers also. Nussfarbene Augen sehen mich sehr besorgt an. Er starrt meine nicht gerade vorzeigbare Gestalt an. „Ich hoffe, du hast nicht länger als zehn Minuten gebraucht, um diesen Look hinzubekommen, denn Süße, glaub mir, er steht dir nicht.“

Meine Aufmerksamkeit will sich am liebsten auf die Kekse richten, doch dann erinnere ich mich wieder an die Gefahr, in der ich mich befinde. „Oh Gott. Meine Mutter ist auf dem Weg hierher. In einem Taxi.“

Ted betrachtet mich und blickt dann über meine Schulter in meine Wohnung. Ich schwöre, dass er erbleicht. Auch er kennt meine Mutter. „Verstehe. Wir sind gleich da.“

„Oh nein, du musst nicht …“

Ted wirft mir einen Blick zu, der keine Widerrede duldet, und sagt: „Al, hol doch mal schnell die Mülltüten. Und bring auch gleich noch Randall mit.“

In dem Wissen, dass nun die Kavallerie auf dem Weg ist, werde ich endlich aus meiner Lethargie gerissen und gehe zurück in meine Wohnung, wo ich fast ausflippe. Wo kommt nur dieser ganze Müll her? Habe ich wirklich so viele Zeitschriften abonniert? Und seit wann habe ich so viel Geschirr? Und wo soll ich das alles verstauen?

Ich packe das Hochzeitskleid und führe damit einen bizarren Tanz auf – auf keinen Fall wird dieses Teil in einen meiner Schränke passen, und die einzige Tür, hinter der ich es einigermaßen vernünftig verstecken könnte, führt direkt ins Badezimmer. In dem ich mich eigentlich gerade aufhalten sollte …

Randall, Teds Liebhaber, dieser glatzköpfige, muskulöse, schwarz gekleidete Typ, kommt durch die offene Tür herein und kriegt einen heftigen Lachanfall. Er trägt Dockers-Hosen, ein Hemd von Blue Oxford>no>, eine gestreifte Krawatte und Slipper. Und einen Diamantohrring. „Himmel, Frau – hast du eine Orgie gefeiert oder was?“

Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass Ted und Alyssa zurückgekommen sind. Zu meiner größten Erleichterung hat sie die Kekse noch immer bei sich und stellt sie auf der Küchentheke ab.

„Ich weiß auch nicht“, sage ich. „Ich meine, nein. Ich meine, ich weiß nicht, wie die Wohnung in diesen Zustand gekommen ist. Sind die für mich?“ beende ich den Satz mit einem breiten Lächeln für Alyssa.

„Mhm“, antwortet das Kind. „Dad hat mir heute Morgen gezeigt, wie man sie macht.“ Sie pult die Folie herunter und hält mir den Teller hin. Randall nimmt mir das zerknitterte Kleid aus den Händen, bevor ich darüber sabbern kann. Ich nehme ein Plätzchen und schaue ihm nach, wie er aus der Wohnung marschiert. Das ist ein bittersüßer Augenblick.

„Liebling, die Wohnung ist in diesen Zustand gekommen“, sagt Ted und nimmt so wieder geschickt den Faden des Gesprächs auf, „weil du eine Packratte bist, die in einem Schuhkarton lebt. Okay, Al“, ruft er seiner Tochter zu und macht sich über die Ecke her, wo einmal mein Tisch stand, „die Aufgabe ist nicht, sauber zu machen, sondern es sauber aussehen zu lassen.“

„Du meinst so wie wir es machen, wenn Mom kommt?“

„Genau so.“

Mampfend beobachte ich, wie das Kind einen Schrank öffnet und ganz professionell alles Mögliche hineinstopft, während der Vater stapelt, glatt streicht und aufschüttelt. „Weißt du“, sagt er, „eine Cousine von mir hat in Hoboken eine Dreizimmerwohnung gemietet, die wahrscheinlich halb so viel kostet wie dieses Loch hier.“

Das reicht schon, damit ich mit dem Kauen aufhöre. „Aber das liegt in Jersey.“

Ted überlegt einen Moment. „Das ist ein Argument.“

Randall kommt zurück, ohne Kleid.

„Was hast du damit gemacht?“ frage ich.

„Interessiert es dich wirklich?“

„Ich – um ehrlich zu sein, nein.“

Vielleicht bilde ich mir das nur ein, aber ich glaube, da liegt so etwas wie Erleichterung in seinem Blick. Vermutlich haben weder Ted noch Randall Greg sonderlich gemocht, obwohl sie nie etwas in der Richtung gesagt haben. Dann breitet sich ein Grinsen über Randalls Gesicht, wodurch ein paar wirklich anbetungswürdige Grübchen entstehen, bevor er so etwas sagt wie, es sei viel einfacher, so ein verdammtes Hochzeitskleid zu verstecken als Ted, wenn Randalls Mutter zu Besuch kommt. Ich schnappe mir ein weiteres Plätzchen, wo sie doch hier direkt vor mir auf dem Couchtisch stehen, und beginne darüber zu spekulieren, dass seine Eltern bestimmt etwas ahnen, nachdem er Mitte dreißig und nicht verheiratet ist. Da richtet sich Ted auf und sagt: „Hallo Fräulein Geschwätzig? Ich arbeite mir hier den Hintern ab, während du herumstehst und Ratschläge darüber abgibst, dass man ehrlich sein sollte?“

Ich springe auf und steure auf die Küche zu, doch er erwischt mich mit seinem langen Arm, wirbelt mich herum und schiebt mich auf die Badezimmertür zu. „Darum kümmern wir uns. Du machst dich fertig. Und verbrenne dieses … Dings, das du trägst.“

Sekunden später steige ich unter die Dusche und stelle mir vor, wie Shelby mit ihrer munteren Stimme sagt: „Denke positiv, Süße. Alles wird gut“, gefolgt von Terrie: „Du brauchst diesen armseligen Typen doch überhaupt nicht, Mädchen, und das weißt du.“ Dadurch und durch den hohen Zuckerspiegel in meinem Blut denke ich jetzt auch, dass sie Recht haben. Ich habe tolle Freunde und heißes Wasser, wenn ich es brauche, und neue Kunden, die ich am Montag treffen werde, und ein brandneues Shampoo, das ich ausprobieren kann, und meine Periode kriege ich erst in zwei Wochen. Wen interessiert es da, dass ich jetzt eigentlich in den Flitterwochen sein sollte. Was soll’s, dass mein Herz gebrochen wurde. Das wird schon wieder heilen, das Leben geht weiter, denn ich bin eine Frau und unbesiegbar, und ich werde mich von keinem Mann unterkriegen lassen, solange ich in einer Stadt lebe, wo ich Tag und Nacht Kung-Pao-Hühnchen in die Wohnung geliefert bekommen kann.

Wenn ich jetzt noch diesen aufdringlichen Klumpen in der Mitte meiner Brust dazu bringen könnte, zu verschwinden, würde es mir schon wieder viel besser gehen.

Als ich zehn Minuten und eine komplette Beinrasur später wieder ins Zimmer trete – meine Mutter findet übrigens, dass ich mich durch das Rasieren den männlichen Schönheitsidealen unterwerfe, dabei will ich einfach nicht so aussehen, als ob ich ein paar Stufen der Evolutionsleiter übersprungen hätte –, sieht meine Wohnung wieder so aus wie die eines zivilisierten Menschen. Ted und Randall und Alyssa sind nirgends zu sehen. Das Video von Blockbuster dagegen schon. Inzwischen ist der Film dermaßen überfällig, dass sie eigentlich ihre Geldeintreiber bereits hätten vorbeischicken müssen. Bei diesem Gedanken nehme ich mir noch einen Keks (hm – sieht so aus, als ob sie ein paar wieder mitgenommen hätten) und sage mir selbst, wie sehr ich diese dumme kleine Wohnung liebe, mit der Barbiepuppen-Küche und den hohen Decken und den zwei großen Fenstern, die östlich über die Second Avenue direkt in das gegenüberliegende Apartment blicken. Vor fünf Jahren habe ich es von einer Kostümdesignerin namens Annie Murphy für sechs Monate untergemietet, weil sie für einen Film nach L.A. musste. Doch danach wurde sie dort immer wieder engagiert und kam nie zurück. Über die Jahre hinweg räumte ihre Schwester nach und nach die Möbel raus – mit der Erlaubnis von Annie – und ich habe neue gekauft. Jetzt gehörte die Wohnung ganz und gar mir, in jeder Beziehung, vom Mietvertrag einmal abgesehen.

Aber ich wäre auch in einem Vorort glücklich geworden. Ich wollte mir einen Hund kaufen. Einen großen Hund. Einen, der so richtig sabbert.

Ach Mensch.

Während ich über all das nachdenke und auf einem halben Keks rumkaue, öffne ich eine der Taschen, die ich für unsere Flitterwochen gepackt habe und in denen die einzigen Klamotten sind, die ich noch hier habe. Alle möglichen zarten, glänzenden, leichten Teile – ein paar neue, ein paar Lieblingsstücke – blinzeln mir entgegen, als ich sie öffne. Bei der Arbeit trage ich einfache neutrale Outfits: schwarz, beige, grau, cremeweiß. Farben, die meine Kunden nicht ablenken – sie sollen meine Designs sehen, nicht die Designerin. In meiner Freizeit dann werde ich richtig wild. Salsa-Farben. Gewagte Drucke. Kleider, die mich glücklich machen.

Ich lecke die Krümel von den Lippen und rede mir ein, dass ich kein weiteres Plätzchen mehr brauche, vor allem nicht zusätzlich zu dem Häagen-Dasz-Eisriegel, und schlüpfe in einen brandneuen knallroten Slip mit passendem BH, der weit mehr hermacht als die Realität, einen pinkfarbenen kurzen Rock und ein türkisfarbenes Seidentop. Ich habe vielleicht recht armselige Brüste, aber meine Beine sind toll, wenn ich das so sagen darf, vor allem in diesen goldfarbenen, hochhackigen Leder-Acryl-Sandaletten, mit denen ich fast einsachtzig groß bin. Auf meiner Rangliste rangieren Schuhe gleich hinter Essen und Sex. Obwohl an solchen Tagen wie heute der Sex an die dritte Stelle verbannt wird. Ich drehe mich um und starre bewundernd meine Füße an. Gott, das sieht so sexy aus.

Noch zwei Kämme, um mein Haar zurückzustecken, ein Spritzer Parfüm und einen Hauch Lipgloss …

Ich betrachte mein Spiegelbild und denke: Mein Gott, Greg. Sieh dir an, was du verpasst.

Dann klingelt es.

Autor

Karen Templeton

Manche Menschen wissen, sie sind zum Schreiben geboren. Bei Karen Templeton ließ diese Erkenntnis ein wenig auf sich warten … Davor hatte sie Gelegenheit, sehr viele verschiedene Dinge auszuprobieren, die ihr jetzt beim Schreiben zugutekommen.

Und welche waren das? Zuerst, gleich nach der Schule, wollte sie Schauspielerin werden und schaffte...

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