Meer der Sehnsucht

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Vergeltung! Ambrosia will den Tod ihres Vaters rächen, der durch die Hand eines ruchlosen Piraten starb. Tagsüber segelt sie mit Kapitän Riordan Spencer mutig dem Feind entgegen. Nachts jedoch zählt für sie einzig die Liebe ihres tapferen Verbündeten…


  • Erscheinungstag 01.10.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733764029
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Land’s End, Cornwall, 1665

Ich überbringe eine Nachricht von unserem gemeinsamen Freund.“ Zwei schemenhafte Gestalten standen dicht an die Wand der Kajüte gepresst, auf einem Schiff, das ohne Flagge fuhr. Die Kerzen waren gelöscht. Nur das Mondlicht, das durch das kleine Bullauge fiel, spendete etwas Helligkeit.

„Ich hoffe, er hat auch Gold mitgeschickt.“ Die Stimme klang rau und kratzig von den vielen Jahren auf See.

Münzen klirrten, als der gut gekleidete Mann in seine Tasche griff und einen Beutel hervorzog. „Wenn du tust, was unser Freund verlangt, wirst du bald ein reicher Mann sein.“

„Oder ein toter“, erwiderte der andere trocken, griff gierig nach dem Säckchen und ließ es verschwinden. „So, und jetzt sag mir, was er von mir will.“

„Nun, was er will, was wir alle wollen, ist, dass Charles ein schwacher König bleibt. Damit, wenn der rechte Augenblick gekommen ist, ein gemeinsamer Freund von uns vortreten und Anspruch auf den Thron erheben kann. Das wird unser Glück besiegeln. Doch um das zu erreichen, müssen wir sicherstellen, dass bestimmte Schiffsladungen mit Gold, die für den König bestimmt sind, niemals in London eintreffen.“

Auf diese Worte hin erklang ein tiefes, raues Lachen. „Meine Männer und ich haben mit so etwas keine Schwierigkeiten. Wir waren schon als Piraten in jenen Gewässern unterwegs, als der König noch laufen lernte.“

„Aber die Zeiten haben sich geändert. Charles hat seine eigenen Freibeuter, die sich zu verteidigen wissen. Deshalb ist unser gemeinsamer Freund auch so großzügig. Wenn nötig, kannst du von dem Gold eine ganze Armee zu deiner Unterstützung anwerben.“

„Ich verstehe“, murmelte der andere.

Der Gentleman zog eine Schriftrolle hervor. „Hier ist eine Liste mit Namen von Kapitänen, die dem König treu ergeben sind. Schon bald werde ich diese Liste noch erweitern. Deine Aufgabe ist es, sie alle unschädlich zu machen.“

„Mit Vergnügen!“

Beide Männer schenkten sich aus einem Krug Ale in bereitstehende Becher und prosteten einander zu.

„Auf England“, sagte der elegante Herr. „Und einen neuen Monarchen.“

Der andere Mann stieß ein kurzes, trockenes Lachen aus. „Auf Gold in meinen Taschen. Das ist der einzige König, dem ich diene!“

1. KAPITEL

Ambrosia!“ Bethany Lambert und ihre jüngere Schwester Darcy traten in das Gemach ihrer ältesten Schwester und blieben wie angewurzelt stehen.

„Oh, wie wunderschön du aussiehst!“ Bethany ließ den Blick über Ambrosias Gewand aus rotem Satin gleiten, bewunderte den tiefen runden Ausschnitt und die zu den Handgelenken hin spitz zulaufenden Ärmel. „Wurde dieses Kleid nicht aus dem Ballen Satin gefertigt, den Papa von seiner letzten Reise aus Paris mitgebracht hat?“

„Ja, das ist gut möglich.“ Ambrosia wandte sich vom Fenster ab, an dem sie die letzte halbe Stunde gestanden und in die Ferne geblickt hatte. Schöne Kleider hatten ihr seit ihrer Kindheit noch nie etwas bedeutet. Und so war es auch heute noch. Als junge Frau von siebzehn Jahren zog sie meistens das an, was die Haushälterin für sie zurechtlegte. Mistress Coffey kümmerte sich um die Garderobe aller Bewohner von Mary Castle.

„Von der Undaunted ist weit und breit nichts zu sehen.“ Ambrosia schaute ihre Schwestern mit unverhohlener Sorge an.

Bethany, ein Jahr jünger, griff nach den Händen der Älteren und versuchte, sie in Richtung Tür zu ziehen. „Sie wird schon kommen“, versicherte sie und setzte hinzu: „Wenn nicht heute Nacht, dann eben irgendwann morgen. Keine Angst, Papa und James werden bald wieder zu Hause sein.“

Darcy war mit fünfzehn Jahren das Küken in der Familie. Jetzt trat sie ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. „Großvater und die anderen sind schon in der Kutsche. Kommt, wir müssen uns beeilen.“

Die drei Mädchen waren sowohl rein äußerlich als auch in ihrem Wesen so unterschiedlich, dass niemand, der sie nicht kannte, sie für Schwestern gehalten hätte. Ambrosia war von großer, aufrechter Gestalt und so hartnäckig und unerbittlich wie ein Mann. Sie hatte lange, wohlgeformte Beine und eine unübersehbar weibliche Figur. Als älteste von den drei Lambert-Schwestern galt sie als Anführerin und stand in dem Ruf, Furchtlos und unerschrocken zu sein.

Bethany war ein Rotschopf mit grünen Augen und einem mit weiblichen Attributen üppig ausgestatteten Körper, der auch in den bescheidensten Kleidern immer noch verlockend wirkte. Ihr übersprudelndes Temperament passte zu den roten Haaren, und kein Mann konnte sich ihrer Ausstrahlung entziehen. Ihr Vater behauptete stets, sie habe bereits bei ihrer Geburt mit den langen Wimpern geklimpert und Alt und Jung praktisch um den kleinen Finger gewickelt.

Darcy, das Nesthäkchen, war von zierlicher Gestalt und hatte blondes Haar sowie stets strahlende blaue Augen. Es war unmöglich, sie nicht aus tiefster Seele zu lieben, denn ihre liebreizende Scheu und ihr hilfsbereites Wesen waren einfach unwiderstehlich.

Nur zögernd ließ sich Ambrosia von ihren Schwestern aus dem Zimmer und weiter die breite Treppe hinunterführen. Widerstrebend folgte sie ihnen durch das schwere Portal nach draußen, wo die Kutsche mit dem Wappen der Lamberts bereits vorgefahren war.

Der alte Newton Findlay reichte ihr die Hand, um ihr beim Einsteigen behilflich zu sein. „Du siehst bezaubernd aus, Ambrosia“, versicherte er und machte eine kleine Verbeugung vor ihr.

„Danke, New.“ Sie lächelte Findlay zu, ihrem Vertrauten seit frühester Kindheit. Er war schon sowohl mit ihrem Großvater als auch mit ihrem Vater zur See gefahren. Erst der Verlust eines Beins bei einem Kampf mit einem Hai hatte ihn dazu gezwungen, die Seefahrt aufzugeben. Seitdem kümmerte er sich um Kutschen und Pferde, machte sich auf dem großen Anwesen überall nützlich und unterhielt die Lambert-Mädchen, seit diese alt genug zum Zuhören waren, mit einem schier unerschöpflichen Vorrat an Seemannsgeschichten.

Jetzt hatte er eine saubere Jacke über seine Seemannskluft gezogen, die er tagaus, tagein trug. Er wollte einen guten Eindruck auf Mistress Coffey, die Haushälterin, machen, die größten Wert auf tadellose Manieren legte.

Sie stand neben der Kutsche und beobachtete, wie Ambrosia in das Gefährt stieg und neben ihren Schwestern Platz nahm. Seit dem Tod ihres Mannes vor mehr als zwanzig Jahren trug sie nur noch schwarze Gewänder, vorzugsweise hochgeschlossen und so sehr gestärkt, dass sie stets leise raschelten, wenn sich Mistress Coffey bewegte.

„Beeil dich, Newton“, sagte sie jetzt und runzelte unwillig die Stirn. „Wir wollen doch nicht zu spät zu Edwinas Teestunde erscheinen.“

„Ich weiß sowieso nicht, warum wir überhaupt zu Edwina zum Tee fahren müssen“, bemerkte Ambrosia missgelaunt. „Das ist doch reine Zeitverschwendung. Edwina Cannon ist eine dumme, aufgeblasene Gans.“

„Also, Ambrosia, ich muss doch sehr bitten!“ Miss Winifred Mellon, das alte Kindermädchen, legte sich erschrocken die Hand auf den Mund. Sie war schon seit dem plötzlichen Tod von John Lamberts innigst geliebter Gattin Mary im Haus. Damals hatte sie als Amme und Kinderfrau die Schwestern in ihr Herz geschlossen und sie erzogen, als wären es ihre eigenen Kinder.

Erst als die Mädchen erwachsen wurden und kein Kindermädchen mehr brauchten, hatten sie erfahren, dass Miss Mellon weder Angehörige noch eine eigene Bleibe hatte, und so hatte man sie einfach auf Mary Castle, wie der Familiensitz genannt wurde, behalten.

Sie kümmerte sich weiterhin um die Erziehung der Lambert-Mädchen und achtete peinlichst genau auf stets untadelige Manieren ihrer Schützlinge und auch darauf, dass diese ihren Pflichten als junge Damen nachkamen. Wann immer sich eines der Mädchen in einer Weise aufführte, die Grund zur Empörung gab, erlitt Miss Mellon unweigerlich einen Ohnmachtsanfall. Diese Anfälle traten so häufig auf, dass sich inzwischen niemand mehr darüber aufregte. Familie und Bedienstete gingen einfach ihrer jeweiligen Beschäftigung nach und warteten in Ruhe ab, bis sich Miss Mellon wieder erholt hatte.

„Es ist unter deiner Würde, Edwina mit Schimpfnamen zu titulieren, Ambrosia“, erklärte sie jetzt streng und mit jenem missbilligenden Unterton, den die jungen Frauen seit ihrer Kindheit kannten. „Dein Vater wäre zutiefst schockiert, wenn er seine Älteste in dieser vulgären Art würde reden hören. Und was, glaubst du, würde dein Bruder sagen zu derart undamenhaftem Benehmen?“

„James würde mir recht geben, Winnie.“ Ambrosias Augen glitzerten. „Er hat mir erzählt von dem Tag, an dem er Edwina zum Picknick begleitet hat. Er meinte, er habe nicht einen noch so winzigen Funken Verstand bei ihr bemerkt. Sie habe die ganze Zeit über nur an ihr Hütchen denken können. Man stelle sich so etwas vor: Einen ganzen Tag zu vergeuden, indem man nur über einen Hut redet! James kann froh sein, dass er sie los ist.“

Winifred und die Haushälterin wechselten einen Blick des Einverständnisses. Wenn es um die Verteidigung ihres Bruders ging, waren die drei Schwestern in ihrer Kampfeslust kaum zu bremsen. Ihrer Meinung nach konnte keine Frau jemals gut genug für ihren Bruder sein. Und was ihren Vater betraf, so waren Ambrosia, Bethany und Darcy noch besorgter um sein Wohl und seinen Ruf. Niemand durfte ihn auch nur ansatzweise kritisieren. Sie bewunderten und verehrten ihn grenzenlos, und er vergalt ihnen ihre Liebe hundertfach.

Wann immer er nach langer Fahrt von See heimkehrte, klang das glückliche Lachen seiner Töchter durch die ehrwürdigen alten Mauern und erfüllte das Schloss mit Leben und Freude.

Captain John Lambert verfügte über einen wachen Geist, Witz und Charme. Diese Eigenschaften machten ihn zu einem sehr beliebten Anführer in der kleinen dörflichen Gemeinde von Land’s End, und in ganz Cornwall sprach man von ihm in lobenden Worten.

In der Tat galten alle Mitglieder der Lambert-Familie als gut aussehend. John und James waren von großer, kräftiger Gestalt, ihre Haut war rau und gebräunt von Wind und Wetter auf hoher See. So manche Frau in Cornwall hoffte, das Interesse von Vater oder Sohn zu wecken.

Die Mädchen hatten, bedingt durch den allzu frühen Tod ihrer Mutter und die oft monatelange Abwesenheit von Vater und Bruder, eine besondere Beziehung zueinander. Manchmal schien es so, als brauchten sie nur sich selbst und einander. Sie waren gegenseitig die besten Freundinnen und Vertrauenspersonen. Aber daraus entwickelte auch jede der drei eine ausgeprägte Form von Unabhängigkeitsstreben, welches Kindermädchen und Haushälterin mit Sorge beobachteten.

„Es wäre besser, du würdest endlich lernen, deine Zunge zu hüten“, sagte Winifred streng, woraufhin Bethany anfing zu lachen. Die alte Kinderfrau wandte sich um und meinte: „Und du solltest auch besser zuhören, anstatt dich über mich lustig zu machen. Solch ungebührliches Benehmen könnte ein ernstes Hindernis darstellen auf der Suche nach einer guten Partie.“

Ambrosia runzelte unwillig die Stirn. „Wenn dem so sein sollte, werde ich einfach so bleiben, wie ich bin, und mich an meiner eigenen Gesellschaft erfreuen, Winnie. Nie und nimmer würde ich meine Unabhängigkeit für einen Mann aufgeben.“

„Ich auch nicht“, bekräftigte Bethany. „Wenn ein Mann mich nicht so liebt, wie ich bin, dann ist er nicht mal die Zeit der Werbung um mich wert.“

Die süße Darcy nickte, woraufhin Mistress Coffey verzweifelt den Kopf schüttelte. „Darf ich euch drei darauf hinweisen, dass ihr unter solchen Umständen womöglich als die einzigen Jungfern in ganz Cornwall enden werdet?“

Winifred Mellon stieß einen unterdrückten Laut aus, und die Haushälterin erkannte, dass sie eine Taktlosigkeit begangen hatte, denn die alte Kinderfrau hatte nie geheiratet und auch niemals die Liebe eines Mannes kennengelernt. Um ihrer Bemerkung den Stachel zu nehmen, fügte Mistress Coffey hastig hinzu: „Wenigstens benehmen Sie sich stets wie eine Dame, Miss Mellon. Welcher Mann will schon eine Ehefrau, die lieber ein Segelschiff steuert, als sich mit Näharbeiten zu beschäftigen?“

„Na, ein echter, richtiger Mann natürlich“, erklang die Stimme des alten Newton, der der Unterhaltung bisher belustigt gelauscht hatte, vom Kutschbock. „Ein Seemann.“

Nun ließ sich auch der Großvater der Mädchen, Geoffrey Lambert, vernehmen. „Sehen?“ Er wandte den Kopf, um Newton besser verstehen zu können. „Was hast du gesehen?“ Früher einmal war er einer der besten Kapitäne zur See von ganz England gewesen. Eine versehentlich abgefeuerte Kanone hatte dem ein jähes Ende gesetzt, denn der Knall hatte sein Gehör dermaßen geschädigt, dass er von Stund an fast nichts mehr hören konnte.

Er verbrachte seine Tage damit, seinen Enkeltöchtern von seinen Abenteuern auf hoher See zu erzählen und ihnen alles beizubringen, was er über das Leben und Überleben auf See wusste.

Wollte man jedoch Mistress Coffey Glauben schenken, so nutzte er seine Behinderung schamlos dazu aus, immer nur das zu hören, was er hören wollte, und sich ansonsten taub zu stellen. „Was ich sehe, ist ein alter Dummkopf“, stieß sie halblaut hervor. Und im nächsten Moment rief sie aus: „Oh, da sind wir ja schon! Dort drüben ist das Anwesen der Cannons. Und seht nur, wie viele Wagen noch vor uns sind.“

Die Schwestern tauschten wissende Blicke. Ihnen war sattsam bekannt, dass Mistress Coffey nichts mehr verabscheute, als als eine der Letzten zu einer Einladung einzutreffen. Sie nutzte die Wartezeit, um den Mädchen noch einige Ratschläge mit auf den Weg zu geben.

„Denkt daran“, sagte sie, „dass Lord Silas Fenwick aus London anwesend sein wird. Man munkelt, dass er auf Brautschau sei. Benehmt euch untadelig, und vielleicht gelingt es einer von euch, einen äußerst wohlhabenden, begehrten Junggesellen für sich zu gewinnen.“

„Ambrosia, Bethany, Darcy!“ Edwina Cannon stieß einen schrillen Schrei aus, der ihre Freude ausdrücken sollte. „Ihr müsst unbedingt Lord Fenwick kennenlernen.“ Sie hielt den Arm eines elegant gekleideten, gut aussehenden Herrn mit sandfarbenem Haar und edel geschnittenen Gesichtszügen fest umklammert. „Lord Fenwick, darf ich Ihnen die Lambert-Schwestern vorstellen?“

Er nahm die jeweils dargebotene Hand und zog sie an die Lippen. Dabei bedachte er die jungen Frauen mit Blicken, die schon so manches Mädchenherz in Verwirrung gestürzt hatten.

Edwina plapperte unaufhörlich drauflos, wobei sie keine Gelegenheit ausließ, mit ihrem Zuhause zu prahlen und gleichzeitig Lord Fenwick schmachtende Blicke zuzuwerfen.

„Was für ein beeindruckender junger Herr“, bemerkte Mistress Coffey an Edwinas Mutter gewandt.

„Ja, er und Edwina sind ein wundervolles Paar“, bekräftigte Mistress Cannon und fügte triumphierend hinzu: „Edwinas Schönheit und sein Vermögen ergeben eine perfekte Verbindung. Er hat bereits erwähnt, dass seine zukünftige Frau auf jeden Fall ein Haus in London wird führen müssen.“

„Wie kann jemand freiwillig Cornwall gegen London eintauschen?“, warf Ambrosia ein, und plötzlich war es vollkommen still im Raum. Ambrosia jedoch war das gleichgültig. Sie langweilte sich und musste die ganze Zeit daran denken, dass ihr Vater womöglich inzwischen zurückgekehrt war und sie seine Ankunft verpasst haben könnte.

Lord Fenwick räusperte sich und versuchte, die plötzlich gespannte Atmosphäre wieder zu lockern. „Um diese Zeit ist es einfach zauberhaft in Cornwall“, versicherte er. „Ich sah ziemlich viele Schiffe im Hafen vor Anker liegen.“

„Die Undaunted, das Schiff unseres Vaters, wird täglich erwartet.“ Ambrosia nippte an ihrem Tee und nahm sich eines der angebotenen kleinen Gebäckstücke.

„Ich habe von Ihrem Vater gehört. Ist nicht Ihr Bruder James ebenfalls an Bord?“

„Ja.“ Ambrosias Augen leuchteten auf. „Kennen Sie die beiden, Lord Fenwick?“

„Nein, ich bin ihnen leider noch nicht begegnet. Aber ich habe viel von ihnen gehört. Mein Großvater vererbte mir sein Importgeschäft, eines der erfolgreichsten seiner Art in ganz England. Ich lege Wert darauf, so viele Schiffe wie möglich zu kennen und auch die Bekanntschaft ihrer Kapitäne zu machen.“

„Segeln Sie selber auch?“, wollte Ambrosia wissen.

Lächelnd schüttelte er den Kopf. „Meine Interessen liegen eher auf der geschäftlichen Seite. Aber ich nenne ein wunderbares Schiff mein Eigen. Es heißt Sea Devil, und ich hatte sogar die große Ehre, es dem König für die eine oder andere Kreuzfahrt auf der Themse zur Verfügung zu stellen.“

„Was?“ Edwina riss die Augen unnatürlich weit auf. „Sie haben wirklich den König unterhalten, Silas?“

„Ja, meine Liebe.“ Er tätschelte ihre Hand. „Vielleicht mache ich Sie eines Tages mit ihm bekannt. Er wird Sie genauso charmant finden wie ich.“

Edwina kicherte dümmlich, und Ambrosia setzte ihre Tasse etwas zu heftig ab. „Mistress Coffey, ich denke, wir müssen aufbrechen.“

„Aber wieso denn? Wir sind doch gerade erst angekommen.“

„Großvater macht einen erschöpften Eindruck. Wir sollten ihn besser nach Hause bringen.“ Sie neigte sich zu dem alten Herrn hinunter und sagte laut und vernehmlich: „Nicht wahr, Großvater, du möchtest doch gern nach Hause, oder?“

„In der Tat. Hab genug Tee getrunken und auch die köstlichen Süßigkeiten genossen.“ Er gähnte unverhohlen. „Vielleicht mache ich vor dem Dinner noch ein kleines Nickerchen.“

Edwina folgte der Lambert-Gesellschaft auf dem Fuß, wobei sie Lord Fenwick energisch mit sich zog. „Aber ich habe euch doch noch gar nicht erzählt, wie Silas und ich uns kennengelernt haben.“ Mit einem hingebungsvollen Augenaufschlag sah Edwina ihm in die Augen.

Er wirkt vollkommen gelangweilt, erkannte Ambrosia. Wie dringend muss es ihn nach einer Ehefrau verlangen, wenn er seine Zeit mit dieser albernen Edwina vergeudet. Laut sagte sie: „Spar dir die Geschichte für unser nächstes Treffen auf, Edwina. Du verstehst sicher, dass Großvaters Wohlergehen an erster Stelle steht.“

„Nun ja …“ Edwina bot den drei Schwestern die Wange zu dem üblichen, nur hingehauchten Abschiedskuss. Gemeinsam mit Lord Fenwick schaute sie den Gästen von Mary Castle nach.

Er spürte, wie sie ihn prüfend ansah, und wandte sich ihr mit einem aufgesetzten Lächeln zu. „Eine … nun ja, eine schillernde Familie, finde ich.“

„Jeder hier in Land’s End findet die Mädchen ziemlich seltsam. Die Seeleute behaupten, sie könnten ein Schiff so gut segeln wie jeder Mann. Und es ist auch allgemein bekannt, dass sie außerdem mit Waffen umzugehen wissen.“

„Waffen? Sie scherzen!“

„Nein, nein.“ Edwina kam sich ungeheuer wichtig vor, weil sie Lord Fenwick mit ihrem Wissen beeindrucken konnte. „Ambrosia kann ein Schwert so gut wie jeder Mann schwingen. Bethany wurde dabei beobachtet, wie sie mit der Pistole ihres Vaters eine Münze von einem Ast herunterschoss, und Darcy kann mit ihrem Messer einen Vogel im Flug treffen.“

Inzwischen hatten die Lamberts ihre Kutsche erreicht, und kurz darauf setzten sich die Pferde in Bewegung. Edwina seufzte. „Jeder in Land’s End ist davon überzeugt, dass die drei Schwestern als alte Jungfern enden werden. Welcher Mann gibt schließlich einer Frau den Vorzug, die über männliche Tugenden verfügt, aber völlig unfähig ist, wenn es um die Kunst des Nähens und Kochens geht?“

„Habt ihr schon gehört, was man sich über das Kleid erzählt, das sich Edwina Cannon für den großen Dorfball schneidern lässt?“ Mistress Coffey verhielt sich wie eine Glucke, die über ihren Nachwuchs wacht. Ihre Schützlinge Ambrosia, Bethany und Darcy saßen wie kleine Häufchen Unglück an dem langen Esstisch und stocherten lustlos in ihrem Essen herum.

„Das Tuch ist so fein wie gesponnenes Gold“, schwärmte die Haushälterin. „Das Kleid ist fast so schön wie das, welches die Geliebte des Königs voriges Jahr zum Maskenball trug.“

Mistress Coffeys Stimme klang hoch und laut, wie immer, wenn sie sich für eine Sache erwärmte. „Stellt euch nur mal vor, was Edwina für ein Leben führen wird, wenn Lord Fenwick, wie ihre Mutter andeutete, tatsächlich um ihre Hand anhalten sollte.“

Da keine der Lambert-Schwestern dazu etwas sagte, fügte sie noch hinzu: „Und dabei zählt Edwina erst sechzehn Lenze.“ Sie warf Ambrosia bei diesen Worten einen bedeutungsvollen Blick zu, doch diese war und blieb vollkommen unbeeindruckt von Mistress Coffeys Andeutungen, wusste sie doch, dass sich die alte Haushälterin Sorgen machte, sie, Ambrosia, könne womöglich als alte Jungfer enden.

Bevor irgendjemand Gelegenheit zu einem Gesprächsbeitrag bekam, ertönte ein lautes Klopfen an der Eingangstür.

„Nanu! Wem fällt es ein, während der Dinnerzeit zu Besuch zu kommen?“ Mistress Coffey setzte die große Teekanne ab, aus der sie soeben reihum allen Familienmitgliedern eingegossen hatte, und eilte hinaus.

Als sie nach kurzer Zeit wieder zurückkam, war sie im höchsten Maße erregt. Aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen. „Draußen steht ein Fremder. Er bittet darum, euch drei Mädchen sprechen zu dürfen.“

„Hat er seinen Namen genannt?“ Ambrosia setzte ihre Teetasse ab.

„Ja, ein gewisser Captain Spencer. Er hat Neuigkeiten von eurem Vater und Bruder … und …“, Mistress Coffeys Lippen zitterten, „… und sowohl der Vikar als auch der junge Ministrant sind bei ihm.“

In angespanntem Schweigen begaben sich die Lamberts in den Salon. Geoffrey Lambert hatte seinen breiten Schal eng um die Schultern geschlungen und geleitete Miss Mellon in den Raum. Der alte Newton stellte sich wie ein Wächter neben die Tür, während Mistress Coffey wenige Schritte in den Salon trat und dort stehen blieb.

Ein Fremder stand vor dem offenen Kamin und streckte die Hände dem wärmenden Feuer entgegen. Als die drei Schwestern eintraten, drehte er sich um, und der Vikar sagte: „Meine Damen, das hier ist Captain Riordan Spencer.“

Der Mann war groß und schlank. Das dunkle Haar fiel ihm in die Stirn, und sein von Wind und Sonne gebräuntes Gesicht hätte durchaus als attraktiv gelten können, wären da nicht die tiefen Schatten unter den Augen und die Züge im Schmerz wie erstarrt gewesen.

Ein endlos scheinendes Schweigen folgte auf diese kurze Vorstellung. Dann trat Ambrosia entschlossen einen Schritt vor und reichte dem Mann die Hand. „Captain Spencer, ich bin Ambrosia Lambert. Und das hier sind meine Schwestern Bethany und Darcy sowie unser Großvater Geoffrey Lambert. Außerdem sehen Sie hier noch unsere Kinderfrau Miss Mellon, die Haushälterin Mistress Coffey und unseren Freund Newton Findlay.“

„Miss Lambert.“ Er hielt ihre Hand fest und schaute ihr tief in die Augen. Ambrosia fühlte, wie sie von einer unbekannten Empfindung durchzuckt wurde. Der Mann strahlte eine ungeheure Kraft und Energie aus. Seine Augen waren grau und wirkten wie von unaussprechlicher Qual verschleiert.

Mit einer Verneigung begrüßte der Captain die anderen Anwesenden und wandte sich dann wieder an Ambrosia. „Ich bringe Nachricht von Ihrem Vater und Bruder.“

„Sind sie …?“ Es war ihr schier unmöglich, die schrecklichen Worte auszusprechen. Denn in diesem Moment wusste sie um die grauenvolle Realität. Sie schwankte kaum merklich, und unwillkürlich zog Captain Spencer ihre Hand an seine Schulter, um Ambrosia Halt und Unterstützung zu geben.

„Es gab einen furchtbaren Sturm“, setzte er behutsam an. „Den schlimmsten, den wir jemals erlebt hatten. Wir verloren viele Männer. Darunter auch Ihren Vater und Bruder.“

„Nein, o nein!“ Bethany ließ sich in einen Sessel sinken und begann zu weinen. Darcy kniete sich vor sie hin und barg das Gesicht in den Händen. Mistress Coffey stürzte mit einem jammervollen Aufschrei aus dem Raum. Die anderen blieben reglos stehen.

Ambrosia verschränkte die Finger ineinander, um das Zittern zu unterdrücken. „Waren Sie bei ihnen, Captain?“ Ihre Stimme klang heiser.

Er nickte. „Mein eigenes Schiff, die Warrior, ging unter. Ich brachte die Undaunted hierher zurück in ihren Heimathafen, an Bord die Überlebenden. Das war der letzte Befehl von Captain Lambert.“

Ambrosia brachte es nicht über sich, zu ihren weinenden Schwestern zu schauen. Sie war noch nicht fertig. „Ihre Leichname …?“

Er schüttelte den Kopf. „Es tut mir so unendlich leid, Miss Lambert. Aber vielleicht ist es Ihnen ein kleiner Trost, zu wissen, dass die See ihr Grab geworden ist.“

Ambrosia biss sich auf die Lippe und wandte sich ab. Dieser Fremde sollte ihren Schmerz nicht sehen. Doch auch in diesem Augenblick durfte sie ihre Aufgaben als Gastgeberin nicht vernachlässigen. „Sie haben eine weite und gefahrvolle Reise hinter sich, Captain Spencer“, sagte sie schließlich gepresst und sah ihn wieder an. „Sie müssen hungrig sein.“

„Ich werde in der Taverne ein Mahl einnehmen, bevor ich zum Schiff zurückkehre“, erwiderte er schroff, als wäre er ungehalten über Ambrosias bemühte Höflichkeit in dieser so schweren Stunde.

„Sie können unmöglich noch heute Nacht zurückkehren“, erklärte Ambrosia bestimmt, obwohl es sie verwirrte, dass der Captain sie weiterhin unverwandt ansah. Seinen Einwand verhinderte sie mit einer Handbewegung und sagte zu Mistress Coffey, die in diesem Augenblick wieder hereinkam: „Bitte bereite etwas zu essen für Captain Spencer. Und …“, sie schaute den Vikar und seinen Begleiter an, „… für unsere Freunde hier ebenso. Ich vermute, Sie haben auch noch nicht zu Abend gegessen.“

Vikar Goodwin trat vor und legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. „Wir müssen zurück ins Pfarrhaus, um dort die wöchentliche Bibelstunde abzuhalten. Aber wir könnten jetzt, wenn es dir recht ist, für euren Vater und Bruder beten.“

Ambrosia nickte und gab ihren Schwestern ein Zeichen, zu ihr zu kommen. Sie standen zusammen mit ihrem Großvater, Mistress Coffey und Mistress Mellon sowie Newton, hielten sich an den Händen, neigten die Köpfe und lauschten dem Gebet des Pfarrers.

Bethany und Darcy schluchzten herzzerreißend, und Ambrosia zog die beiden an sich und küsste sie auf die Wangen. „Geht nach oben“, wies sie ihre Schwestern sanft an. „Nehmt Großvater und Winnie mit. Sowie ich hier fertig bin, komme ich zu euch. Versprochen.“

Nachdem Ambrosia die beiden Geistlichen verabschiedet hatte, kehrte sie in den Salon zurück. Dort hielt sich jetzt nur noch Captain Spencer auf. Newton war verschwunden, und Ambrosia vermutete, dass er sich in sein Quartier zurückgezogen hatte, um dort auf seine Weise um die Toten zu trauern.

Sie sah, dass Libby, die Dienstmagd, inzwischen bereits ein Tablett mit Getränken gebracht hatte. Sie goss Ale in einen Becher und trat neben Captain Spencer, der wieder starr in die Flammen blickte. „Hier, trinken Sie etwas. Das wird Ihnen guttun.“

Er nahm ihr den Becher ab. „Vielen Dank, Miss Lambert.“ Er deutete mit einem Kopfnicken auf das Speisebrett. „Wollen Sie mir nicht Gesellschaft leisten?“, bat er. „Ich glaube, Sie können eine kleine Stärkung gut gebrauchen.“

Ambrosia ließ sich von ihm zu den Stühlen führen, die neben dem Tischchen standen. Wieder verspürte sie dieses seltsame Kribbeln unter der Haut, als er sie am Ellbogen berührte. Ihr war so, als ob er die gleichen aufwühlenden Gefühle hegte wie sie und sie durch ein unsichtbares Band der Trauer und des Schmerzes miteinander verbunden wären.

Nachdem sie Platz genommen hatte, setzte sich Captain Spencer auf den Stuhl ihr gegenüber und streckte die langen Beine in Richtung des Kaminfeuers aus. „Ich bedauere über alle Maßen, Ihnen und Ihrer Familie diesen Kummer bereitet zu haben.“

Nachdenklich drehte Ambrosia ihren Becher mit Ale zwischen den Händen. „Nun, nachdem wir allein sind“, begann sie, „möchte ich von Ihnen hören, was genau geschehen ist. Ich will sämtliche Einzelheiten wissen“, setzte sie noch hinzu.

Captain Spencer nickte. „Es geschah unmittelbar vor meinen Augen. Das Schiff schlingerte erbärmlich und war nur noch ein Spielball der Wellen. Ihr Vater und Bruder wurden über Bord gespült, zusammen mit der Hälfte der Besatzung. Es gab keine Möglichkeit, sie zu retten, denn jeder kämpfte ums pure Überleben.“

Ambrosia schloss in jäh aufwallendem Schmerz die Augen. Das Gefühl, einen unerträglichen Verlust erlitten zu haben, wurde beinahe übermächtig. Sie wollte so gern noch ein einziges Mal Vater und Bruder sehen, sie noch ein letztes Mal berühren, sich von ihnen verabschieden. Doch das blieb ihr nun verwehrt. Jetzt hatte sie nur noch ihre Erinnerungen voller Wärme und Liebe an die wunderbaren Gemeinsamkeiten.

Sie zwang sich dazu, die Augen wieder zu öffnen. „Und was geschah mit dem Schiff meines Vaters? Wurde es sehr schwer beschädigt?“

„Ja, leider. Wenn Sie es morgen früh sehen, werden Sie feststellen, dass wir nur mit Mühe und Not überhaupt noch den sicheren Hafen erreicht haben. Das Hauptdeck ist überflutet, Masten sind gebrochen. Doch die Undaunted ist immer noch ein feines, stolzes Schiff. Aber es bedarf aufwendiger Arbeit, sie wieder seetüchtig zu machen.“

Nach kurzem Anklopfen betrat die Haushälterin den Salon. Ihre Augen waren gerötet vom Weinen, aber ihre Stimme klang beherrscht, als sie sagte: „Ich habe ein Mahl für unseren Gast zubereitet.“

„Vielen Dank, Mistress Coffey.“ Ambrosia erhob sich und reichte Captain Spencer die Hand. „Ich bin sicher, Sie haben Verständnis dafür, dass ich mich jetzt um meine Familie kümmern muss“, erklärte sie. „Und ich hoffe, Sie werden die Einladung, die Nacht hier auf Mary Castle zu verbringen, annehmen.“

Er erwiderte ihren Händedruck. „Es ist mir eine große Ehre, Miss Lambert.“

Ambrosia nickte. „Wenn Sie so weit sind, wird Mistress Coffey Sie zu dem Schlafgemach meines Bruders führen. Ich denke, Sie werden dort alles finden, was Sie brauchen.“

Captain Spencer hielt noch immer ihre Hand. „Ich möchte, dass Sie Folgendes wissen, Miss Lambert.“ Er hatte die Stimme gesenkt. „Ihrem Vater war die Gefahr, in der er schwebte, durchaus bewusst. Während wir gemeinsam, Seite an Seite, dem Sturm trotzten, erzählte er voller Liebe und Stolz von seinen drei Töchtern. Er sprach von den Hoffnungen, die er sich für Ihre Zukunft machte. Und er bat mich um einen Gefallen, von dem ich inständig hoffte, dass ich ihn niemals würde erfüllen müssen, denn ich liebte Ihren Vater, als wäre er mein eigener gewesen.“

Die Stimme versagte ihm, und er musste sich mehrmals räuspern, bevor er weitersprechen konnte. „Captain Lambert bat mich, so ich das Unglück überleben sollte, die Undaunted nach Hause zu bringen und Ihnen zu sagen, wie sehr er Sie liebte und dass er sich wünschte, Sie würden seine Mission fortführen.“

Ambrosia stockte der Atem. „Fortführen? Das hat er gesagt?“

„Ja.“

Nur mit größter Mühe gelang es Ambrosia, die Tränen zurückzudrängen. Sie blinzelte mehrmals heftig und stieß dann mit letzter Kraft hervor: „Danke, Captain Spencer. Danke für alles.“

Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und eilte, so schnell sie konnte, die Treppe hinauf. Riordan Spencer blieb mit der Haushälterin zurück, die leise vor sich hin schluchzte.

2. KAPITEL

Riordan trank langsam und genussvoll von dem starken heißen Tee, den Mistress Coffey ihm mit dem Abendessen serviert hatte. Er konnte sich kaum noch daran erinnern, was er zu sich genommen hatte. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken nur so durcheinander; die meisten davon drehten sich um Ambrosia Lambert.

Nichts von all dem, was er erwartet hatte, war eingetreten. Er hatte felsenfest damit gerechnet, dass die Bewohner von Mary Castle schier zusammenbrechen würden. Er hatte sich gewappnet gegen den erwarteten Schmerz, die wehklagenden Laute. Auch war er darauf vorbereitet gewesen, dass die jungen Frauen in Ohnmacht fallen würden und er dabei behilflich sein müsste, sie zu Bett zu bringen. Deshalb hatte er auch die Geistlichen gebeten, ihn auf seinem schweren Gang zu begleiten.

Ihr Schmerz und ihre Trauer waren aufrichtig gewesen. Doch was ihn zutiefst beeindruckt hatte, war die außergewöhnliche innere Kraft, die die jungen Damen ausgestrahlt hatten, ganz besonders Ambrosia.

Sie hatte geahnt, was auf sie alle zukam. Schon im ersten Augenblick war ihr klar gewesen, welche Nachricht er zu überbringen hatte. Die Art und Weise, wie sie den Schicksalsschlag hingenommen und sich tapfer gehalten hatte, nötigte ihm den größten Respekt ab. Gleichzeitig hatte er das Bedürfnis verspürt, Ambrosia in die Arme zu nehmen und ihr Trost zu spenden, ihr zuzuflüstern, dass irgendwie und irgendwann alles wieder gut werden würde. Aber natürlich war ihm klar, dass ihr Leben eine unumkehrbare dramatische Wendung genommen hatte.

Riordan setzte seine Tasse ab. Ihm war nach einem stärkeren Getränk als Tee zumute. Gerade wollte er nach der Dienstmagd läuten, als es leise an der Tür klopfte und im nächsten Moment Mistress Coffey eintrat.

„Haben Sie noch einen Wunsch, Captain Spencer, bevor ich Ihnen Ihr Zimmer zeige?“

„Ja, in der Tat“, erwiderte er. „Ein Ale wäre jetzt genau das Richtige für mich.“

„Ich werde es Ihnen bringen lassen“, erklärte die Haushälterin und läutete nach dem Zimmermädchen. „Bitte folgen Sie mir jetzt.“

Riordan ging hinter Mistress Coffey die breite gewundene Treppe hinauf in das zweite Stockwerk. Hinter einer der geschlossenen Türen, an denen er vorbeikam, hörte er gedämpfte Frauenstimmen und ein herzzerreißendes Schluchzen.

Langsam folgte er der Haushälterin, die schließlich vor einer Tür stehen blieb und sie öffnete. „Eine Magd wird in Kürze Ihr Getränk bringen“, versicherte sie. „Ich hoffe, dass Sie hier alles zu Ihrer Zufriedenheit und Bequemlichkeit vorfinden. Sollte irgendetwas fehlen, brauchen Sie nur Libby Bescheid zu sagen. Sie wird sich dann um alles kümmern.“

„Vielen Dank, Mistress Coffey.“

Riordan schaute sich angelegentlich um. Die Betttücher waren bereits zurückgeschlagen. Im Kamin brannte ein Feuer, und das Wasser in der Schüssel auf dem Waschtisch dampfte. Trotz ihres Kummers waren die Lamberts und ihre Dienerschaft in der Lage gewesen, umsichtig für ihren unerwarteten Übernachtungsgast zu sorgen.

An einer Wand des Raums standen ein Tisch und ein Stuhl. Riordan griff nach dem Bilderrahmen, der auf dem Tisch stand, und betrachtete eingehend das kleine Gemälde darin. Es zeigte einen jungen Mann mit seiner wunderschönen Frau und den vier gemeinsamen Kindern. Sofort wurde Riordans Blick wie magisch angezogen von dem Mädchen mit den auffallend dunklen Haaren und Augen. Schon als Kind war Ambrosia außergewöhnlich schön gewesen.

Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. „Herein!“, rief er.

Libby, die Dienstmagd, trat ein und stellte ein Auftragebrett auf dem Nachttisch ab. Auch sie hatte, wie die Haushälterin, rote, geschwollene Augen vom Weinen. „Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Captain Spencer?“, fragte sie höflich.

„Nein, danke, Libby. Ich brauche heute nichts mehr.“

Das Mädchen knickste und huschte hinaus.

Mit einem tiefen Seufzer entledigte sich Riordan seiner Jacke und seines Hemdes, goss sich aus der Kanne Ale in den bereitstehenden Becher und ging hinüber zum Kamin. Nachdenklich blickte er in die Flammen und trank dabei gelegentlich einen Schluck.

Die Reise zurück nach Cornwall war schwierig und voller Gefahren gewesen. Am letzten Tag der ohnehin beschwerlichen Fahrt war schlagartig dichter Nebel aufgekommen, und Riordan hatte all sein Können aufbieten müssen, um den Weg nach Land’s End zu finden. Sie waren vor der Küste vor Anker gegangen, und dann hatte es noch mehrerer Fahrten in den kleinen Beibooten bedurft, bevor alle Männer von Bord der Undaunted sicher an Land gebracht worden waren.

Riordan hatte dafür gesorgt, dass die Seeleute in der Taverne unten im Hafen untergebracht wurden, hatte ihnen ihren Lohn ausgezahlt und als Zeichen seiner besonderen Anerkennung sogar noch die Unterkunft und ein deftiges Essen bezahlt. Bestimmt hatten sie inzwischen jede Menge Ale getrunken und lagen mit irgendwelchen hübschen Dirnen in den Betten. Bei dem Gedanken musste Riordan lächeln.

Er füllte seinen Becher abermals bis zum Rand, stellte ihn ab und zog sich dann aus. Nackt schlüpfte er unter die Decken, stopfte sich das Kissen als Stütze in den Rücken und griff nach seinem Ale. Dann wartete er darauf, dass sich sein Geist und Körper an die unnatürliche Stille im Haus gewöhnten.

Die ersten Tage an Land waren für ihn stets aufs Neue gewöhnungsbedürftig. Nach dem Stampfen und Rollen des Schiffes auf hoher See und dem Geräusch der ständig an den Bug klatschenden Wellen konnte er die Ruhe und Stille in Gebäuden nur schwer aushalten.

Nun zwang er sich dazu, sich Gedanken um seine Zukunft zu machen. Er war ein Kapitän, der ein Schiff und eine Mannschaft brauchte. Beides stand ihm in Land’s End zur Verfügung. Zwar mussten an der Undaunted umfangreiche Reparaturen vorgenommen werden, doch dann würde sie wie neu sein. Die Besatzung hatte sich als zuverlässig und arbeitsam erwiesen. Schon bald würden die Matrosen ohne Geld und des Lebens an Land überdrüssig sein. Es wäre dumm, sie nicht wieder anheuern zu lassen. Sie würden geradezu nach einer neuen Herausforderung lechzen.

Ambrosia wäre eine Herausforderung, dachte Riordan plötzlich.

Ihr Bruder James hatte ihm verraten, dass seine Schwester wie ein Mann mit einem Schwert umgehen konnte. Damals hatte Riordan diese Behauptung mit einer verächtlichen Handbewegung abgetan. Doch nachdem er Ambrosia nun kennengelernt hatte, zweifelte er kaum noch daran, dass James die Wahrheit gesagt hatte. Ambrosia strahlte eine ruhige Kraft aus. Sie glich einer Eiche, die groß und mächtig allen Stürmen trotzte, während um sie her alles zerbrach.

Jeder Mann könnte sich glücklich schätzen, eine solche Frau an seiner Seite zu haben. Sie verfügte nicht nur über Schönheit und Willenskraft. Zweifellos war sie außerdem auch noch sehr klug. Ein Mann konnte die ganze Welt gesehen und doch keine Frau gefunden haben, die sich mit Ambrosia vergleichen ließ.

Riordan stieß einen Seufzer aus. Er musste es schließlich wissen. Hatte er nicht schon alle Weltmeere befahren, und war er nicht an den exotischsten Plätzen gewesen, ohne dass er jemals sein Herz verloren hätte? Eigentlich hatte er schon die Hoffnung aufgegeben, jemals eine Frau zu treffen, die ihn länger als eine Nacht zu fesseln verstand.

Vielleicht hatte er in Ambrosia endlich die Frau gefunden, nach der er gesucht hatte!

Als ihm klar wurde, in welche Richtung seine Gedanken gingen, stellte Riordan mit einer heftigen Bewegung seinen Becher Ale ab. Sei kein Dummkopf, schalt er sich im Stillen. Ich kenne diese Frau erst seit einer Stunde und fange schon an, mich Fantastereien über sie hinzugeben.

Er blies die Kerzenflamme aus, legte sich in die Kissen zurück und schloss die Augen. Offenbar hatte er zu lange auf körperliche Freuden verzichten müssen. Es war doch schließlich allgemein bekannt, dass ein Mann, dessen Herz der See gehörte, keiner anderen Liebe frönen konnte.

Entschlossen schob er den Gedanken an die älteste Lambert-Tochter beiseite. Er brauchte jetzt ein paar Stunden Schlaf.

Ambrosia fand keine Ruhe. Sie ging im Arbeitszimmer ihres Vaters umher, berührte die Dinge, die auf seinem Schreibtisch lagen. Da war das alte Logbuch, das seinem Großvater gehört hatte. Und dann der Sextant, mit dessen Hilfe er schon als kleiner Junge eine Route um die Küste von Cornwall herum ausgetüftelt hatte. Ambrosia nahm das Gerät in die Hand, schloss die Augen und hoffte inbrünstig, dadurch irgendwie die Wärme ihres Vaters spüren zu können. Doch sie fühlte nur die Kälte des Metalls.

Nun entrollte sie die Weltkarte. Auf die vier Ecken stellte sie Gegenstände, damit sie sich nicht wieder aufrollte. Dann beugte sie sich tief darüber und studierte im Schein der Kerzen die Routen, die ihr Vater über die Weltmeere genommen und fein säuberlich auf der Karte eingetragen hatte. Er war so stolz gewesen auf seine Arbeit und darauf, dass er seinem König unschätzbare Dienste erweisen konnte.

Ambrosias Blick fiel auf den schweren dunklen Umhang, der an einem Haken an der gegenüberliegenden Wand hing. Er hatte ihrem Vater gehört, und ohne zu überlegen, was sie tat, nahm Ambrosia das Kleidungsstück vom Haken und hüllte sich darin ein. Erinnerungen stiegen in ihr hoch, und sie meinte, das Herz müsse ihr zerbrechen vor Schmerz und Verzweiflung.

„Vater, geliebter Vater“, stieß sie hervor und atmete tief den Duft ein, der von dem Umhang aufstieg, den Duft ihres Vaters. „Ich kann es nicht ertragen, zu wissen, dass ich dich niemals wiedersehen werde. Ich brauche dich so sehr, wir alle hier brauchen dich doch. Bitte, lass uns nicht ohne Führung und Unterstützung in diesem gewaltigen Sturm zurück, der über unser Leben hinwegbraust.“ Die Tränen drohten sie zu überwältigen, aber mit schierer Willenskraft gelang es Ambrosia, sie zurückzuhalten.

Es fiel ihr unendlich schwer, doch irgendwie schaffte sie es, den Kopf aus den Umhangfalten zu heben und mehrmals tief durchzuatmen. Sie rang um Fassung, richtete sich kerzengerade auf und wandte sich zum Gehen. In der geöffneten Tür stand eine große Gestalt, und Ambrosia wich zurück.

„Verzeihen Sie, Miss Lambert.“ Riordan trat näher, sodass er nun im Licht der Kerzen deutlich zu erkennen war. „Ich habe vergessen, Ihnen das hier zu geben. Es steckte noch in der Tasche meines Mantels, den ich an Bord der Undaunted trug. Es handelt sich um das Logbuch. Ihr Vater bestand darauf, dass ich es Ihnen bringen würde.“

Riordan reichte Ambrosia das in Leder gebundene Buch. „Es lag nicht in meiner Absicht, Sie in Ihrem Kummer und Ihrer Trauer zu behelligen“, versicherte er. Und damit sagte er die Wahrheit. Er ärgerte sich über sich selbst und machte einen Schritt zurück. „Ich werde jetzt gehen.“

„Nein, Captain, warten Sie“, bat Ambrosia ihn, als er sich zum Gehen wandte. Sie presste das Logbuch fest an ihre Brust und straffte die Schultern. „Bitte, bleiben Sie noch. Ich brauche jemanden, mit dem ich über meinen Vater und meinen Bruder sprechen kann.“

Riordan nickte. „Das kann ich gut verstehen. Wäre es Ihnen recht, wenn ich ein Feuer im Kamin mache? Es scheint mir doch recht frisch hier drinnen zu sein.“

„Ja, das ist ein guter Vorschlag. Ich hole uns inzwischen Tee, oder würden Sie lieber Ale trinken?“

„In der Tat. Ale wäre genau richtig jetzt.“

Eine Weile später kehrte Ambrosia mit einem Auftragebrett zurück, auf dem alles stand, was sie und Captain Spencer benötigten. Als sie in das Arbeitszimmer ihres Vaters trat, blieb sie einen Moment stehen und nahm fasziniert das Bild auf, das sich ihr bot.

Riordan Spencer richtete sich soeben aus seiner gebückten Haltung vor dem Kamin auf. Er hatte seine Jacke abgelegt, und Ambrosia konnte sehen, dass er schlank und gleichzeitig muskulös war. Wie bei ihrem Vater, so hatte auch bei ihm das Leben und Arbeiten unter freiem Himmel an Bord seines Schiffes für eine tiefe Bräunung der Haut in Gesicht und auf den Armen gesorgt. Eine Strähne des dunklen Haars war ihm in die Stirn gefallen, und er schob sie mit dem Handrücken zurück.

Er schaute auf und bemerkte, dass Ambrosia ihn beobachtete. „Warten Sie, lassen Sie mich das tragen.“ Mit wenigen Schritten durchmaß er den Raum und nahm ihr das Brett ab. „Wohin damit?“, erkundigte er sich.

„Dort drüben.“ Ambrosia deutete auf eine kleine Sitzgruppe, bestehend aus einem runden Tisch und zwei Stühlen, die in der Nähe der offenen Feuerstelle standen.

Riordan stellte das Brett mit den Getränken ab und rückte dann einen Stuhl für Ambrosia zurecht. Sie schenkte ihm Ale in einen Becher, bevor sie sich selber eine Tasse Tee eingoss. Vorsichtig nippte sie an dem heißen Getränk, bevor sie leise sagte: „Mein Bruder sprach oft von Ihnen, Captain Spencer. Er hielt große Stücke auf Sie.“ Sie verzichtete darauf zu bemerken, dass James in seinen Erzählungen von Riordan wie von einem Helden geschwärmt hatte.

„Für mich war James ein guter Freund, und Ihren Vater liebte ich, als wäre es mein eigener gewesen. Unsere Wege kreuzten sich häufig, und wann immer wir im selben Hafen vor Anker gingen, verbrachten wir dort unsere freie Zeit gemeinsam. Immer, ausnahmslos, sprachen sowohl James als auch Ihr Vater von ihrem Zuhause in Land’s End und von den drei bezaubernden jungen Damen, denen ihre Herzen gehörten. Nachdem ich Sie heute kennengelernt habe, kann ich James und John verstehen.“

„Berichten Sie mir über den letzten Tag im Leben meines Vaters.“

„Das habe ich bereits getan.“

Ambrosia schüttelte so heftig den Kopf, dass die schwarze Lockenpracht zu tanzen schien. „Ich will alles, absolut alles wissen. Alles, was er und James gesagt oder getan haben. Ich habe dieses überwältigende Bedürfnis, wirklich ausnahmslos alles über ihren letzten Tag zu erfahren.“

Riordan schaute sie lange unverwandt an. Er sah den Ausdruck unendlichen Schmerzes in ihren Augen, spürte ihre Verzweiflung über den unsagbaren Verlust. Und gleichzeitig kam sie ihm unerhört tapfer vor.

Schließlich konzentrierte er sich mit aller Kraft auf die Erinnerung an jenen Tag. Dabei suchte er nach Einzelheiten, die es Ambrosia etwas leichter machen würden, mit ihrer Trauer umzugehen. Leise erzählte er ihr von dem Tag, der wie jeder andere auf See begonnen hatte, bis der furchtbare Sturm losgebrochen war und so viel Unheil angerichtet hatte.

Ambrosias hing wie gebannt an seinen Lippen, und als Riordan mit seiner Schilderung zum Ende kam, sagte sie sanft: „Seit James ein kleiner Junge war, wollte er immer in Vaters Fußstapfen treten und ein ebenso guter Kapitän werden wie er. Als er elf Jahre alt war, gab es kein Halten mehr für ihn, und Vater nahm ihn zum ersten Mal mit auf eine Seereise. Als James dann wieder zu Hause war und all die Seemannsgeschichten und von den angeblichen Abenteuern erzählte, war ich schrecklich neidisch.“

„Verzeihen Sie, Miss Lambert, aber das kann ich kaum glauben.“

„Und doch ist es die Wahrheit. Meine Schwestern und ich gaben keine Ruhe, bis auch wir echte Seeleute geworden waren. Es gibt nichts an Bord eines Seglers, das wir nicht geradeso gut verrichten könnten wie jeder beliebige Matrose.“

Ambrosia bemerkte den überraschten Blick, mit dem Captain Spencer sie bedachte, durchaus, doch sie ging nicht darauf ein. „Es geschah recht häufig“, erzählte sie weiter, „dass Vater uns auf kurze Reisen entlang der Cornischen Küste mitnahm, wenn er nicht genügend Matrosen zur Verfügung hatte. Als ich dann elf Jahre alt war, bat ich ihn, mich auf große Fahrt mitzunehmen, wie er es auch mit James gemacht hatte. Ich war am Boden zerstört, als er mir diesen Wunsch nicht erfüllte.“

Riordan hatte eine ganze Weile starr in die Flammen geblickt, doch jetzt schaute er Ambrosia offen an. „Die Arbeit Ihres Vaters war gefährlich, oftmals von Gewalt begleitet. Dadurch werden die Männer, die diese Arbeit verrichten, manchmal ebenfalls gewalttätig. Ich kann verstehen, warum er nicht wollte, dass seine Töchter in solche Dinge verwickelt werden.“

„Aber …“

„Manchmal ist diese Arbeit schmutzig und undankbar. Und ganz gewiss ist sie nichts für furchtsame Herzen.“ Seine Stimme klang merkwürdig erstickt.

Erregt sprang Ambrosia auf. Ihre Augen schienen Blitze zu sprühen. „Captain Spencer, ich kann Ihnen versichern, dass meine Schwestern und ich weder schwächlich sind noch ein furchtsames Herz haben, womit Sie wahrscheinlich Feigheit meinen.“

Er lächelte, als er sich ebenfalls erhob. Er überragte sie um Haupteslänge, und einmal mehr fiel ihr auf, wie gut aussehend er war. Gut aussehend und auf eine geheimnisvolle Art gefährlich.

„Bitte verzeihen Sie mir, Miss Lambert. Ich habe mit meinen Äußerungen weder Sie noch Ihre Schwestern gemeint, sondern lediglich eine der auf See üblichen Tatsachen erwähnt.“

Während er sprach, hatte er unwillkürlich nach Ambrosias Arm gegriffen. Das war ein Fehler, denn diese einfache Berührung verursachte ihm sofort ein Prickeln in der Hand. Gleichzeitig wurde ihm unnatürlich heiß.

Sehr behutsam löste er den Griff und trat einen Schritt zurück. „Mir wird immer klarer, warum Ihr Vater so ungeheuer stolz auf seine Kinder war, Miss Lambert.“

„Ach, hat er darüber gesprochen?“ In ihren Augen stand ein Ausdruck brennender Sehnsucht, alles zu erfahren, was es über ihren Vater zu wissen gab – den Vater, der niemals wieder zu ihr zurückkehren würde.

„Allerdings, er sprach sehr oft über Sie alle. Und zwar so, wie er auch von seiner Arbeit erzählte.“

„Wie denn?“

„Mit einer Leidenschaft, die nur ein echter Seefahrer verstehen kann.“ Riordan bemerkte nicht, dass er in beinahe beschwörendem Tonfall redete. „Wenn ein Mann erst einmal die Erfahrung gemacht hat, wie das Leben auf See ist, dann ist er ihm mit Herz und Hand verfallen. Die Liebe zur See bringt eine Ruhelosigkeit mit sich, die sich tief in seine Seele einnistet und dort wächst, bis kaum noch Raum für etwas anderes ist. Die See ist seine Heimat, seine Zuflucht und seine Geliebte, eine oftmals grausame und launische Geliebte.“

Bei seinen so eindringlich hervorgestoßenen Worten lief Ambrosia ein eigentümlicher Schauer über den Rücken, denn sie hatte ihren Vater häufig in ganz ähnlichen Worten seine Leidenschaft für die Seefahrt beschreiben hören. „Und was ist mit Ihnen, Captain Spencer? Werden Sie, nachdem Sie Ihr Schiff und die Hälfte der Besatzung verloren haben, wieder in See stechen? Oder haben Sie genug Tod und Verderben gesehen, die von dieser launischen Geliebten ausgehen?“

„Glauben Sie mir, Miss Lambert“, erklärte Riordan Spencer fest, „nichts auf der Welt könnte mich dazu veranlassen, die Seefahrt aufzugeben.“

Ambrosia nickte. „Nichts anderes habe ich erwartet.“ Sie wandte sich zum Gehen, doch Riordan hielt sie unvermittelt am Arm fest. Dieses Mal wappnete er sich rechtzeitig gegen die unerwünscht in ihm aufsteigende Hitze.

„Obwohl mir klar ist, Miss Lambert, dass jetzt nicht der beste Zeitpunkt für mein Anliegen ist, so möchte ich Ihnen doch eine Frage von großer Wichtigkeit stellen.“ Er machte eine kleine Pause, ehe er fortfuhr: „Ich möchte mit Ihnen über die Undaunted sprechen.“

„Was gibt es denn so Dringendes über das Schiff meines Vaters zu bereden?“

„Nun, ich würde gern die Ausbesserungsarbeiten überwachen und dafür sorgen, dass es wieder seetüchtig wird.“

„Das würden Sie tun?“ Mit großen Augen sah sie ihn erstaunt an.

Riordan war einen Moment sprachlos. Er hatte das Gefühl, in der Tiefe von Ambrosias wunderschönen großen Augen zu ertrinken. „Ich habe mein eigenes Schiff verloren“, erklärte er schließlich rau. „Die Undaunted kann im günstigsten Fall in zwei Wochen wieder auslaufen. Und wenn Sie und Ihre Schwestern damit einverstanden sind, würde ich mich glücklich schätzen, sie Ihnen dann abkaufen zu können.“

Ambrosia schüttelte entschieden den Kopf. „Vielen Dank für das Angebot. Aber das Schiff meines Vaters steht nicht zum Verkauf.“

„Aber, Miss Lambert …“

„Nein, Captain Spencer. Es gibt auch keine Verhandlungen darüber.“

„Das verstehe ich nicht. Wollen Sie es hier im Hafen vor Anker liegen lassen als eine Art Schrein für Ihren Vater und Bruder?“

„Ach, glauben Sie das? Sie glauben tatsächlich, meine Schwestern und ich hätten keine andere Verwendung für die Undaunted, als sie zur Erinnerung zu behalten?“

„Sie ist ein Schiff, Miss Lambert, und ein außergewöhnlich seetüchtiges noch dazu. Sie ist dazu bestimmt, zu fernen Ufern zu segeln. Es wäre eine Schande, sie nur noch für unzählige Teepartys oder ähnliche Veranstaltungen zu nutzen.“

„So schätzen Sie uns also ein, Captain Spencer!“

„Was ich jetzt sehe“, erwiderte er, wobei er erneut ihren Arm umklammerte und Ambrosia so dicht an sich zog, dass er ihren Atem auf der Wange spürte, „… ist jemand, der zu schmerzerfüllt ist, um im Moment einen klaren Gedanken fassen zu können.“

„Ich versichere Ihnen, Captain Spencer, dass mein Verstand einwandfrei arbeitet und ich …“

Ambrosia kam nicht dazu, ihren Satz zu Ende zu bringen, denn Riordan neigte den Kopf und verschloss ihre Lippen mit einem Kuss.

Autor

Ruth Langan
Ruth Langan (auch als Ruth Ryan Langan bekannt) war eine ausgezeichnete Schülerin an der High School, die auf Grund ihrer Leistungen ein volles College – Stipendium bekam. Sie wollte am College ihren Englisch – Abschluss machen. Ihre Pläne veränderten sich auf Grund finanzieller Probleme und sie ging ins Arbeitsleben. Sie...
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