Mein geheimnisvoller Beschützer

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Nur wegen der Ländereien ihrer Familie soll sie einen faden Duke heiraten? Lady Helena würde alles tun, um dieser arrangierten Ehe zu entgehen. Bedauerlicherweise weiß das auch der Duke. Und engagiert einen Aufpasser, der seine Verlobte bis zur Trauung an der Flucht hindern soll. Der geheimnisvolle Declan Shaw folgt Helena auf Schritt und Tritt. Auch wenn Helena zunächst entrüstet ist, weiß sie der zärtlichen Nähe ihres starken Bewachers mit den breiten Schultern bald etwas abzugewinnen … Auch scheint er seinen Auftrag nur noch widerwillig zu verfolgen. Doch was wird aus ihr und Declan, wenn sie sich dem einflussreichen Duke widersetzen?


  • Erscheinungstag 19.07.2022
  • Bandnummer 381
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511063
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

London 1816

Das Newgate-Gefängnis war nichts für schwache Nerven.

Es war auch nichts für jemanden mit Platzangst, jemanden, der auf Sauberkeit Wert legte oder einen empfindlichen Magen hatte.

Keine dieser Eigenschaften traf auf Declan Shaw zu; er war vielmehr ein abgehärteter Söldner (momentan ohne Auftrag) und Gelegenheitsspion (wenn das Geld stimmte). Ihm waren in seinem Leben schon einige Höllenlöcher untergekommen, aber eine Verzweiflung wie in Newgate hatte selbst er noch nie erlebt. Nachdem er vier Monate in diesem Gefängnis verbracht hatte, wollte er nichts weiter, als von hier zu verschwinden, und zwar so schnell wie möglich.

Heute war er ohne weitere Erklärung aus dem großen unterirdischen Kerker für alle in eine Einzelzelle verlegt worden. Die hatte ein kleines vergittertes Fenster, von dem aus man einen schlammigen Hügel überblicken konnte. Man hatte ihm eine Matte voller Rüsselkäfer zugeteilt, und er bekam zweimal am Tag Hafergrütze anstatt nur einmal.

„Huntsman?“

Und irgendjemand rief seinen Namen.

„Huntsman?“

Nein, nicht seinen Namen. Für die Wärter war er Gefangener 48736 und für seine Mitinsassen Shaw. Huntsman war der Deckname, unter dem man ihn in seinem Geschäft kannte, sein Markenzeichen als Söldner, der Name, mit dem man ihn auf den Straßen von London ansprach.

„Huntsman?“, rief dieselbe Stimme wieder.

„Aye“, rief er zurück. Wenn er den Namen nicht annahm, würde es jemand anderes tun. In Newgate nahm sich jeder, was er konnte.

„Ach, da sind Sie ja“, sagte eine noch meterweit entfernte Männerstimme in eigenartig singendem Tonfall, untermalt vom harten Klacken eleganter Absatzschuhe, denen das schwere Poltern der Stiefel eines Wärters folgte.

„Oh, sieh mal einer an“, schwärmte die körperlose Stimme, „Ich muss sagen, Sie sind wirklich eine imposante Erscheinung. Ihre Größe und Ihre Haltung haben nicht gerade dazu beigetragen, dass man Sie für unschuldig halten konnte, nicht wahr? Mit Sicherheit nicht.“

Declan lehnte sich an die Gitterstäbe seiner Zelle und versuchte, im verqualmten Zwielicht etwas zu erkennen. Der Umriss eines Strichmännchens schälte sich aus den tiefen Schatten, zierlich, aber mit energischem Schritt. Der Mann wies den Wärter mit einem Fingerschnipsen an, eine Fackel näher an die Zelle heranzubringen. Er betrachtete Declan wie ein Sammlerstück in einem Geschäft.

„Sie können jetzt gehen“, befahl er dem Wachmann. „Ich rufe Sie, falls ich Sie brauche.“

Dann musterte er Declan aus zusammengekniffenen Augen. „Wie gefällt es Ihnen in Ihrer Einzelzelle, Huntsman?“

Declan gefiel es in seiner Einzelzelle überhaupt nicht.

„Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, Sie in diesem grässlichen Kerker aufzusuchen“, fuhr der Mann fort. „Man war so freundlich, Sie herzubringen, sodass wir übers Geschäft reden können, vorausgesetzt, Sie haben nichts dagegen.“ Er lächelte hoffnungsvoll.

Zu viel Lächeln für ein Gefängnis, dachte Declan. „Was für ein Geschäft?“

„Ja, was für eins? Sie sind für eine ganze Reihe von Dienstleistungen bekannt, nicht wahr?“

„Im Augenblick bin ich für meine Gefangenschaft bekannt.“

„Das ist richtig. Aber vor dem fürchterlichen Fehlschlag mit der Entführung und dem mutmaßlichen Mord und dem armen, verlorenen Mädchen war ihr Beruf …“ Die Stimme des alten Mannes wurde immer leiser, während er Declan anstarrte, als ob er versuchte, ihn sich in einer anderen Umgebung vorzustellen. „Nun, Sie sind doch so eine Art Leibwächter gewesen, nicht wahr? Ein Jäger? ‚Söldner‘ ist wohl die korrekte Bezeichnung? Nach dem, was meine Quellen sagen, einer der besten des Landes.“

„Sie kennen meinen Namen und wissen, womit ich mein Geld verdiene“, stellte Declan fest. „Sie sind hervorragend informiert, Mr. …?“

„Oh, bitte verzeihen Sie.“ Der Mann runzelte die Stirn, als hätte er versehentlich nach der falschen Gabel gegriffen. „Titus Girdleston, zu Ihren Diensten. Ich bin der Onkel und Verwalter des Familienvermögens meines Neffen – Seiner Gnaden Bradley Girdleston, Duke of Lusk.“

Wieder verfiel er in Schweigen. Declan wartete.

„Kennen Sie die Familie Girdleston oder Seine Gnaden, den Duke?“, wollte der Mann wissen.

„Nein.“

Declan sah keine Veranlassung, seine Verachtung für die Aristokratie im Allgemeinen und Dukes im Besonderen zu verheimlichen. Er machte keine Geschäfte mit dem Hochadel, nicht mehr, nicht seitdem ein gewisser königlicher Duke ihm eine Entführung und einen Mord in die Schuhe geschoben und seelenruhig zugesehen hatte, wie Declan ins Gefängnis wanderte.

„Nein?“, wiederholte Girdleston in hohem, nachdenklichem Ton, als ob Declan einen philosophischen Standpunkt dargestellt hätte, über den er noch nie nachgedacht hatte.

„Ich arbeite nicht für Dukes“, sagte Declan.

„Oh, wie schade. Nun, andererseits bin ich kein Duke, und ich wäre in diesem Fall Ihr Auftraggeber.“

Declan seufzte erschöpft. „Um welchen Auftrag …?“

„Ach ja richtig – der Auftrag. Nun, wissen Sie, ich bin hier …“, Girdleston hob seine Augenbrauen, „… weil meine Familie einen Auftrag für Sie hat. Es gibt da eine junge Frau, die gerade auf dem Weg nach London ist. Sie kommt sogar heute Abend schon an. Ihr Name ist Lady Helena Lark, und sie ist die Tochter des Earls und der Countess of Pembrook. Sie ist mit meinem lieben Neffen, dem Duke, verlobt. In den Wochen vor der Hochzeit werden sie und ihre Familie in unserer Residenz unterkommen, weil ihr eigenes Stadthaus gerade instand gesetzt wird. In direkter Nähe zu sein, wird dem Mädchen helfen, sich auf seine zukünftige Rolle als Duchess vorzubereiten. Außerdem können wir sie so im Auge behalten. Und genau da kommen Sie ins Spiel, Huntsman. Ich bin hier, um Ihnen den Auftrag zu geben, auf sie … aufzupassen. Ein besseres Wort fällt mir nicht ein. Sie im Auge zu behalten, sobald sie in London eintrifft, und so lange, bis sie auf dem Weg zum Altar ist, um die Ehe mit meinem Neffen einzugehen.“ Er schaute Declan vielsagend an.

Declan kniff die Augen zusammen. Das muss ein Witz sein.

Girdleston räusperte sich. „Mit ‚auf sie aufpassen‘ meine ich natürlich für ihre Sicherheit sorgen“, fuhr er fort. „Sich auf matschigen Wegen oder in überfüllten Geschäften um ihr Wohlergehen kümmern, dafür sorgen, dass sie alles hat, was sie braucht und … und an dieser Stelle wird es ein wenig knifflig, aber Ihnen dürfte das keine Mühe bereiten … sie davon abhalten durchzubrennen.“

„Sie von was abhalten?“ Er hatte sich die Frage nicht verkneifen können.

„Durchzubrennen“, wiederholte der Mann allen Ernstes. Er stieß einen Seufzer aus. „Ich fürchte, das Mädchen war ein wenig unsicher und zögerlich. Über diese Heirat wird schon seit Jahren verhandelt, was hauptsächlich ihrer … mangelnden Mitwirkung geschuldet ist. Aber jetzt sind wir uns alle über die Ehe und die glückliche Zukunft dieses Paares einig geworden. Ihre Eltern haben mir versichert, dass sie in vollem Umfang kooperieren wird. Aber trotzdem hätte ich gerne jemanden, dem ich vertrauen kann und der, sobald sie in der Stadt ist, dafür sorgt, dass sie nicht …“

„Flüchtet?“, schlug Declan vor. Der arme Kerl, der diesen Auftrag letzten Endes bekommen würde, tat ihm jetzt schon leid. Und das Mädchen auch. Wenn Declan eins verstand, dann war es Gefangenschaft.

„Oh, es wird schon nicht so schlimm kommen wie ‚flüchten‘“, versicherte Girdleston ihm. „Wie soll ich es ausdrücken? Die Familien auf beiden Seiten würden gern jegliche Ablenkung vermeiden. Lady Helena wird ihre Zeit in London mit Unternehmungen verbringen, die jeder zukünftigen Braut ein Vergnügen sein sollten: Einkäufe, Besichtigungen ihrer neuen Residenzen und Gesellschaften ihr zu Ehren. Ich möchte, dass sie sich ganz auf diese Vorbereitungen konzentriert und das Ziel der Eheschließung nicht aus den Augen verliert.“

Declan seufzte. „Warum passt ihre eigene Familie dann nicht auf sie auf? Ihre Eltern oder das Personal?“ Je schneller er das Problem dieses Mannes als solches anerkannte, desto schneller würde er wieder verschwinden.

Der alte Mann nickte nachdenklich. „Ja, das wäre sehr praktisch, nicht wahr? Unglücklicherweise musste ich feststellen, dass ihre Familie absolut hilflos ist, wenn es darum geht, auf sie aufzupassen. Und ihre ganz besondere Art von … oh, nennen wir es ‚lebhaftem Starrsinn‘ ist nachgewiesenermaßen einfach zu viel für jede Anstandsdame oder Zofe.“

„Also haben Sie sich ganz selbstverständlich für einen mutmaßlichen Kriminellen entschieden?“ Das musste einfach mal gesagt werden.

„Oh, Ihre mutmaßlichen Verbrechen beunruhigen mich gar nicht, Huntsman“, versicherte Girdleston. „Aber offensichtlich wissen Sie es noch gar nicht. Es gibt eine ganz erstaunliche Entwicklung in Ihrem Fall. Ehrlich gesagt, erst seit heute früh. Die Informanten, die Sie der Entführung dieses armen Mädchens bezichtigten, haben ihre Behauptungen zurückgezogen. Die Vorwürfe gegen Sie wurden fallengelassen, allesamt. Das ist gerade erst …“

„Was?!“, sagte Declan heiser. Schrecken und Fassungslosigkeit kämpften in seinem Kopf um die Vorherrschaft. Er sprang auf die Gitterstäbe zu.

Girdleston nickte und zeigte lächelnd seine weißen Zähne. „Die Familie von Miss Knightly Snow hat gerüchteweise gehört, dass das Mädchen gesehen wurde, und zwar mehrfach in Südfrankreich. Ich glaube, man hat einen Cousin losgeschickt, um sie zurückzuholen. Die Familie versucht, das alles so diskret wie möglich zu behandeln, das verstehen Sie doch sicher …“

„Knightly Snow ist gefunden worden?“, fragte Declan mit Nachdruck. Er saß im Gefängnis, weil er den Auftrag hatte, die junge Dame nach Frankreich zu begleiten, sie aber auf mysteriöse Weise verschwand. Er hatte die ganze Zeit gewusst, dass sie am Leben war und auf eigene Faust Europa unsicher machte, nicht entführt und ganz sicher nicht tot. Vor allem war nichts von dem, was sie tat, seine verdammte Schuld.

Er hatte es einfach nur nicht beweisen können.

Vor seiner Verhaftung hatte er seine Unschuld beteuert und seit sie ihn eingekerkert hatten, Hunderte von Pfund für Anwälte ausgegeben, die seine Unschuld beweisen sollten. Und dennoch waren die Anschuldigungen und die Anklage nicht aus der Welt zu schaffen gewesen.

Bis jetzt.

„Ich will mit meinem Anwalt sprechen“, sagte Declan. Kein Opfer hieß kein Verbrechen, und kein Verbrechen bedeutete, dass er ein freier Mann war. Es kribbelte auf seiner Haut. Am Rand seines Gesichtsfeldes sprühten Funken.

„Zu gegebener Zeit“, versicherte Girdleston ihm und schnalzte mit der Zunge. „Alles zu gegebener Zeit. Zuerst hoffe ich, dass ich Sie als Überbringer der guten Nachricht für mein Angebot interessieren kann.“ Er warf ihm einen wissenden Blick zu. „Für die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit.“

„Was?“, erwiderte Declan scharf. „Wir haben absolut keine solchen Möglichkeiten, Sie Witzbold. Ich will mit meinem Anwalt sprechen. Ich will raus aus diesem Käfig. Ich will meinen Vater sehen. Die Liste von Dingen, die ich will, ist im Augenblick ziemlich lang, Mr. …“

„Gehen Sie nicht zu schnell über mein Angebot hinweg, Huntsman“, fiel Girdleston ihm ins Wort. „Ich komme nämlich nicht nur mit der guten Nachricht, dass Ihre Anklage fallengelassen worden ist. Ich komme mit einer möglichen Geldquelle für Sie.“ Er hob vielsagend die Brauen.

Declan wusste, dass er jetzt nichts sagen durfte.

„Sie müssen verzeihen, dass ich Mutmaßungen über Ihre derzeitige finanzielle Situation anstelle“, fuhr Girdleston fort, „aber zufällig weiß ich, dass Sie seit Monaten Ihre Unschuld beteuern. Ich weiß auch, dass Sie Anwälte und Gerichtskosten zu bezahlen hatten, und Gott weiß, was das Überleben hier in Newgate kostet. Man wird Sie vielleicht freilassen, aber bekommen Sie dadurch Ihr Leben zurück? Ihren Lebensunterhalt?“

„Was geht Sie das an?“, gab Declan unwirsch zurück.

„Es ist mir ehrlich gesagt egal“, erwiderte der alte Mann, „abgesehen davon, dass Ihre missliche Lage hervorragend dazu passt, dass ich momentan einen gedungenen Soldaten gebrauchen kann. Und wenn ich ‚gedungen‘ sage, Huntsman, dann sollten Sie sich vor Augen führen, dass ich den finanziellen Verlust, den Sie im Verlauf des Jahres erlitten haben, einfach ungeschehen machen kann. Puff. Als hätte es ihn nie gegeben. Und ich könnte noch eine schöne Summe drauflegen.“

Declan starrte ihn böse an, zwang sich aber dazu, Girdlestons Argumenten zu folgen. Der Schrecken und die wilde Hoffnung, die in ihm tobten, waren mittlerweile so weit abgeklungen, dass sein Überlebensinstinkt sich meldete. Und der verlangte, dass er sich auf das Spiel einließ.

„Dieses Mädchen?“, fragte er daher. „Die Verlobte Ihres Neffen? Glauben Sie wirklich, dass sie damit einverstanden ist, dass ein ‚bezahlter Aufpasser‘ ihr überallhin folgt? Um ihren … ihren – wie haben Sie das doch gleich ausgedrückt – ‚lebhaften Starrsinn‘ unter Kontrolle zu halten?“

„Jetzt sprechen wir endlich dieselbe Sprache“, erwiderte Girdleston und lachte leise. „Ich glaube ehrlich gesagt, dass Lady Helena Ihre Anwesenheit vielleicht leichter akzeptiert, wenn Sie in der Rolle eines Bediensteten zu ihrem Haushalt stoßen. Eine zweite Identität annehmen, wenn Sie so wollen … Ich dachte, dass die Position eines persönlichen Knechts der zukünftigen Duchess vielleicht gut zu Ihnen passen würde.“

„Oh Gott“, sagte Declan tonlos und wandte sich ab.

„Ich habe gehört, dass Sie hin und wieder falsche Identitäten annehmen oder zu einer List greifen müssen, um Ihre Aufgaben zu bewältigen“, fuhr Girdleston fort. „Und Sie sind nach Ihrem Militärdienst doch bestimmt ein geübter Reiter. Mit der passenden Livree und angemessenem Auftreten könnten Sie als Stallknecht sicher überzeugend sein. Außerdem verschafft Ihnen diese Funktion gute Gründe, dem Mädchen überallhin zu folgen und sie auf den richtigen Weg zurückzubringen, falls sie … vom Kurs abweicht. Und Sie würden wirklich außerordentlich gut bezahlt werden. Sie hätten genug Geld, um nie wieder arbeiten zu müssen, Huntsman, sofern Sie das wünschen.“

Declan dachte über das Angebot nach.

Er dachte über eine junge Frau nach, die bewacht werden musste, um sich zu verheiraten.

Er dachte darüber nach, wie es wohl wäre, sich als Knecht auszugeben, eine Livree zu tragen und sich wie ein Dienstbote zu benehmen, was auch immer das bedeuten mochte.

Er dachte darüber nach, was der Duke für ein Mensch sein musste, wenn er seinen Onkel losschickte, damit der einen ehemaligen Sträfling anheuerte, um seine zukünftige Frau zu bewachen.

Aber am meisten dachte er darüber nach, ob es sich für ihn lohnen würde. Girdleston hatte vollkommen recht mit seiner Annahme, dass Declan dringend Geld verdienen musste, und das auch noch schnell. Wäre es nur um ihn selbst gegangen, hätte er einfach den Gürtel enger geschnallt, bis er wieder auf die Füße gekommen war. Aber er war nicht allein auf der Welt – er musste seine Pflicht seinem Vater und seinen Schwestern gegenüber erfüllen.

„Wie viel?“, fragte er schließlich schroff. Darauf kam es letzten Endes an.

Girdleston lächelte. „Fünfhundert Pfund, Huntsman. Zahlbar bei Ablieferung besagter junger Dame im heiligen Hafen der Ehe mit meinem Neffen, dem Duke.“

Prompt verschluckte Declan sich, was er mit einem Hüsteln überspielte. Er hatte für sich bereits eine Summe festgesetzt, die das Ganze wert gewesen wäre. Der Betrag, den Girdleston anbot, überstieg diese Kalkulation um mehrere hundert Pfund. Plötzlich betrachtete er den alten Mann mit ganz anderen Augen. Was war an dieser Hochzeit bloß so wichtig, dass die Familie des Dukes bereit war, fünfhundert Pfund zu bezahlen, um sicherzustellen, dass sie auch wirklich stattfand.

„Und wenn ich nun keinen Erfolg habe?“ Das war vermutlich die entscheidende Frage. „Was, wenn diese Frau mir entkommt oder Ärger macht? Was, wenn irgendetwas schiefgeht? Meiner Erfahrung nach mangelt es nicht an Katastrophen, sobald Frauen ins Spiel kommen. Und wenn sie leicht zu bändigen wäre, würden Sie mir so ein Angebot wohl kaum machen.“

„Oh ja, natürlich“, lächelte Girdleston. „Frauen sind schwierige Geschöpfe, zweifellos.“

„Nach Knightly Snow habe ich mir geschworen, nie wieder eine weibliche Klientin anzunehmen.“

„Nun, dann schlage ich vor, dass Sie nicht weiter über die Klientin nachdenken“, drängte Girdleston, „sondern lieber über die hübsche Bezahlung. Wenn Sie Erfolg haben, sind Sie ein reicher Mann.“

„Ich habe Sie nach dem Misserfolgsfall gefragt, nicht nach dem Erfolgsfall.“

„Ach ja, richtig.“ Girdleston schniefte und rückte seine Handschuhe zurecht. „Sie sind ein gründlicher Mensch. Falls es Ihnen aus irgendeinem Grund nicht gelingen sollte, sie zu bändigen, falls es Ihnen nicht gelingen sollte, sie vor den Altar zu bringen, bekommen Sie gar nichts. Oh, und es könnte sein …“, dabei schaute er Declan vielsagend an, „dass die Informanten, die ursprünglich die Vorwürfe wegen Miss Snows Entführung und Ermordung gegen Sie erhoben haben … ihre Geschichte wiederaufnehmen.“

Das war also der Haken.

Declan biss die Zähne zusammen. Er hatte damit gerechnet. Natürlich hingen seine Freiheit und der Auftrag und das Geld miteinander zusammen.

„Wie könnte man mich noch einmal anklagen“, fragte er gepresst, „wenn Knightly Snow in Frankreich wiederaufgetaucht ist?“

„Nun ja, man hat sie gesehen, glaube ich“, sagte Girdleston. „Ich kann Ihnen nicht sagen, ob tatsächlich jemand das Früchtchen gefunden hat. Oder wie lange das dauern könnte. Ich habe ja gesagt, dass ein Cousin nach ihr sucht.“

Declan fluchte tonlos und wandte sich ab. Wenn man ihm noch eine einzige Chance gegeben hätte, hätte er sie bestimmt gefunden. Aber er war verhaftet und zurück nach England verfrachtet worden, wo er vor Gericht gestanden und im Gefängnis gesessen hatte, seitdem das Mädchen verschwunden war.

„Keine Sorge, Huntsman“, versicherte der alte Mann. „Ich habe volles Vertrauen zu Ihnen. Sie werden mit Lady Helena zurechtkommen. Sonst wäre ich gar nicht hier.“

Declan drehte ihm den Rücken zu und lehnte sich an die Mauer. Er weigerte sich, in die entspannte Miene des Mannes zu blicken, der ihn gerade in aller Seelenruhe über den Tisch zog.

Declan hasste es, über den Tisch gezogen zu werden.

Aber er war ein Überlebenskünstler. Er würde die offene Zellentür nicht aufs Spiel setzen und die Aussicht auf fünfhundert Pfund genauso wenig. Wenn man überleben wollte, kam es vor allem darauf an, dass man wusste, wann man „nein danke“ sagen und wann man sich auf einen Pakt mit dem Teufel einlassen musste. Declan hatte keine andere Wahl.

„Einverstanden“, sagte er und drehte sich wieder um. „Und jetzt holen Sie mich endlich aus diesem verdammten Höllenloch raus.“

2. KAPITEL

Lady Helena Lark hatte keine andere Wahl.

Sie hatte eine Krankheit vorgetäuscht, so getan, als wäre sie wahnsinnig geworden, und in einem Kloster vorgesprochen. Sie hatte erklärt, dass sie zu jung sei, zu alt, zu dünn, zu blass und in jeder erdenklichen Weise ungeeignet.

Die letzten sechs Monate lang hatte sie sich einfach standhaft geweigert und Nein gesagt.

Vorher war sie weggelaufen. Fünfmal.

Aber der große Reichtum und der Einfluss ihrer Eltern hatten sie immer wieder in die Arme der Gesellschaft zurückgeführt. Und jetzt saß sie offenbar so fest, dass es kein Zurück mehr gab. Sie war auf dem Weg nach London. In das hochherrschaftliche Stadthaus ihres Verlobten.

Verlobt, dachte Helena, während sie das Wort im Kopf hin und her wendete. Sie nahm den Apfel in die Hand, der auf ihrem Schoß lag, und starrte ihn stirnrunzelnd an.

Gefangen traf es eher, dachte sie und biss ab.

Gekauft und bezahlt.

Verkauft.

„Gib dir doch Mühe, ein freundliches Gesicht zu machen, Helena“, seufzte ihre Mutter. „Du hast keine andere Wahl, als den Duke zu heiraten, das hast du doch vorher gewusst.“ Die Stimme der Countess klang vollkommen ruhig, es war die Stimme einer Frau, die seit fünf Jahren geduldig immer wieder das Unvermeidliche erläutert hatte.

„Ich habe vielleicht keine Wahl, wen ich heirate, aber über meinen Gesichtsausdruck kann ich doch wohl noch selbst bestimmen“, erwiderte Helena.

„Du führst ein sehr glückliches Leben, Liebes“, fuhr die Countess fort, „es gibt jede Menge Gründe zu lächeln. Aber dieses Glück hat seinen Preis. Wenn man die Herrenhäuser und Kleider und Reisen und Anerkennung will, muss man dafür auch die Verantwortung übernehmen. Wir tragen alle unsere Verantwortung.“

„Du und Papa, ihr genießt euren Reichtum und eure Stellung“, gab Helena betont beiläufig zurück. „Ich will einfach nur auf Castle Wood in Ruhe gelassen werden. Mit meinen Apfelbäumen und den Pächtern. Und ich will keinen Obertrottel heiraten, nur weil er zufällig ein Duke ist.“

„Du lieber Gott, Helena, musst du denn immer so dramatisch sein?“ Ihr Vater stieß einen tiefen Seufzer aus und schaute blinzelnd aus dem Fenster zur hellen Fassade des Stadthauses hinauf, vor dem sie angehalten hatten. Dienstboten in gelber Livree beeilten sich, die angekommenen Kutschen in Empfang zu nehmen. „Eine Ehe ist doch nicht das Ende der Welt, ganz gleich, wen man heiratet, und wenn es der Teufel wäre. Du lässt die Trauung über dich ergehen und kommst dem Duke hier und da ein wenig entgegen, und dann geht dein Leben weiter. Nur, dass du dann eine Duchess bist. Also etwas, das alle Mädchen gern sein würden, aber es muss einem schon in die Wiege gelegt werden. Du machst einen riesengroßen Aufstand wegen etwas, das im Großen und Ganzen doch nur eine Kleinigkeit ist.“

„Mein Leben, wie ich es kenne, wird eben nicht weitergehen.“ Traurig dachte Helena an den Wald und ihren Obstgarten. „Und es geht nicht nur um eine Kleinigkeit.“

Sie biss noch einmal von ihrem Apfel ab und fragte sich, warum sie sich überhaupt die Mühe machte zu widersprechen. Sie waren schließlich nur deshalb von ihrem Landsitz in Somerset nach London gekommen, damit man sie mit dem Duke of Lusk verheiraten konnte. Durch diese Ehe wurden zwei alteingesessene Familie vereint und (was noch wichtiger war) die Kalksteinminen des Dukes an die Schiffe gebunden, die auf dem Abschnitt des Flusses Brue fuhren, der ihrer Familie gehörte.

Diese Ehe war ein arrangiertes Geschäft, auf dessen Abschluss ihre Eltern unerbittlich und unerschütterlich seit fünf Jahren warteten. Helena hatte sich auf jede denkbare Weise gegen die Verlobung gewehrt, doch sie hatten sich blind und taub gestellt. Sie hatten ihre Tochter nicht etwa bestraft oder gezwungen oder beschämt. Sie hatten ihr Flehen schlichtweg ignoriert und abgewartet. Und nun hatte irgendeine Entwicklung auf den internationalen Märkten die Nachfrage nach Kalkstein steigen lassen, und nach Ansicht ihrer Eltern war die Wartezeit damit vorbei.

Helena presste sich mit dem Rücken in die Polster der Kutsche und weigerte sich, durchs Fenster die Stadtresidenz des Dukes zu bestaunen. Sie hatte das überladene Domizil bereits gesehen, vielen Dank auch. In den Wochen bis zur Hochzeit würde sie es noch gut genug kennenlernen.

Es kam Helena sehr verdächtig vor, dass ihr eigenes Londoner Stadthaus ganz plötzlich instand gesetzt werden musste, sodass sie gezwungen waren, die Gastfreundschaft des Dukes und seines tyrannischen Onkels in Anspruch zu nehmen. Und ihre Mutter erwartete auch noch von ihr, dass sie deshalb lächeln sollte.

Sie aß ihren Apfel auf, es war der allerletzte dieser Ernte. Wenn sie den Duke heiratete, waren die Apfelbäume nächstes Jahr um diese Zeit verschwunden – zerstört von den schweren Wagen mit Kalkstein, die über die Terrassen des Obstgartens zum Fluss hinunterfuhren.

Die große Ironie an der Sache war, dass dem Duke of Lusk, einem Mann, der ebenso lächerlich wie dümmlich war, überhaupt nichts an der Hochzeit lag. Er war ihr gegenüber im besten Fall gleichgültig, im schlimmsten Fall offen gelangweilt, ein dreißig Jahre altes Kind, das unter der Fuchtel seines Onkels stand.

Aber Helena wollte unter der Fuchtel von niemandem stehen. Sie wollte ihren Obstgarten nicht aufgeben und ihren Wald nicht verlassen. Und sie wollte ganz bestimmt nicht lächeln.

Aber andererseits wollte sie auch nicht schwierig sein, rief sie sich zur Ordnung. Die Zeit für Ausweichmanöver war vorbei. Jetzt gab es nur noch eine Lösung – einen dauerhaften Weg zur Flucht zu finden, eine Maßnahme, die sie nicht nur von hier wegbrachte, sondern dieser Verlobung ein für alle Mal ein Ende setzte.

Glücklicherweise hatte sie schon einen Plan.

Falls sie es schaffte, ihn auszuführen.

Falls sie es schaffte, lange genug freundlich zu sein, um jeden Verdacht von sich abzulenken, und klug genug war, alle notwendigen Beteiligten zusammenzubringen.

Es musste ihr gelingen, den Duke dazu zu bringen, sie für irgendein anderes Mädchen sitzen zu lassen.

Das war ihr Plan, theoretisch ganz einfach. In Wirklichkeit allerdings nicht ganz so leicht umzusetzen. Helena beabsichtigte, eine perfekte, möglichst aufreizenden Ersatzverlobte für den Duke zu finden, ihm dieses vor Energie sprühende Mädchen unter die Nase zu halten und der Liebe oder der Leidenschaft oder dem Ehrgeiz den Rest zu überlassen. Wenn Lusk in eine andere verliebt war, würde er endlich seinem Onkel die Stirn bieten und verlangen, die Frau heiraten zu dürfen, die er wirklich wollte. Und Helena wäre dann frei, um sich aus dem Staub zu machen, zurück zu ihrem geliebten Obstgarten und Wald.

Die größte Hürde bei ihrem Plan schien ihr zu sein, das ideale Mädchen zu finden, um den Duke zu verzaubern. In dieser Hinsicht verließ Helena sich auf Lusks offensichtliche Vorliebe für Eigenschaften wie Üppigkeit, gerundete Waden und runde Hinterteile. Ebenso wie auf seine Neigung zu Festen, die die ganze Nacht dauerten, zu Tänzerinnen und tagsüber betrunken zu sein. Helena hatte kein einziges Gespräch mit Lusk geführt, bei dem er seine Lieblingsthemen nicht angesprochen hätte. Sie hatte sich jahrelang über seine nervtötende Vulgarität beklagt, die von ihrer Mutter aber als jungenhaftes Gerede abgetan worden war. Helena wusste es besser; es war ein Fenster in seine Seele. Und sie hatte jetzt vor, dieses Fenster zu öffnen und hinauszukrabbeln.

Die Reihe von Kutschen hatte gerade eben vor dem Anwesen der Lusks angehalten, als ihre Eltern auch schon die Tür öffneten, um auszusteigen. Sie hatten zwar versucht (erfolglos), ihre offene Begeisterung darüber zu verbergen, dass zu ihrer Familie demnächst eine Duchess gehören sollte, würden sich aber lieber von einer Klippe stürzen, als die Verlobung platzen zu lassen. Doch wenn Helena mit ihrem Plan Erfolg hatte, war der Sinneswandel des Dukes seine eigene Entscheidung. Was sollte sie denn tun, wenn er dem wollüstigen Charme eines anderen Mädchens erlag?

Ja was nur?

Ihr Leben so weiterführen, wie sie wollte.

Der Earl und die Countess standen nebeneinander auf der Straße, strichen Seidenstoff glatt und rückten ihre Hüte zurecht.

Helenas drei jüngere Schwestern stiegen eine nach der anderen aus der zweiten Kutsche aus und fielen mit einer Unmenge von Klagen und Bitten über ihre Mutter her, während ihre Gouvernanten sie zurückzuhalten versuchten.

Die Hunde ihres Vaters stürmten aus der dritten Kutsche ins Freie, zusammen mit Tanten und Cousinen und Verwaltern und der Zofe ihrer Mutter.

Helena ließ sich von dem ganzen Aufruhr verschlucken. Sie hatte über die Jahre gelernt, sich vor aller Augen zu verstecken. Es war wirklich eine Ironie des Schicksals, wie wenig die zukünftige Duchess ihrer Familie bedeutete. Sie war nicht viel mehr als ein Gefährt, das die anderen auf dem Weg zu einer guten Verbindung mitnahm, aber sofort stehen gelassen wurde, wenn es etwas zu feiern gab.

Doch noch waren die Verhandlungen nicht abgeschlossen. Die schweren Eichenholztüren von Lusk House öffneten sich, und Titus Girdleston trat heraus, mit wichtiger Miene. Irgendjemand dachte daran, dass es ja schließlich um Helena ging, und schob sie nach vorn wie eine Jungfrau, die geopfert werden sollte.

„Willkommen in Lusk House, Mylord und Lady Pembrook, Lady Helena.“

Girdlestons Stimme dröhnte vom Treppenabsatz zu ihnen herab, und er breitete die Arme aus wie ein Opernsänger. Dann kam er die Stufen herunter und begrüßte ihren Vater mit einem kräftigen Handschlag, ehe er sich über die Hand ihrer Mutter beugte.

Dann lächelte er ihr schmallippig zu. „Ah, Lady Helena, was für eine Freude, Sie endlich hier in London begrüßen zu dürfen.“

„Vielen Dank, Onkel Titus“, sagte Helena freundlich. „Eine Freude, allerdings.“

Sie durfte keine unnötige Aufmerksamkeit erregen. Ihr Plan hing davon ab, dass sie nicht auffiel. Widerspruch hatte nur schärfere Kontrollen zur Folge. Sie musste unbedingt den Eindruck erwecken, dass sie zu bändigen war.

„Aber wo ist der Duke?“, fragte sie, obwohl sie seit fünf Jahren darüber im Bilde war, dass ihr Verlobter weder bei Begrüßungen noch bei Abschieden zugegen zu sein pflegte. Der Duke of Lusk ließ sich eigentlich nur blicken, wenn Girdleston ihn dazu zwang. Wie gewöhnlich war sie froh über seine Abwesenheit, aber es machte ihr Spaß, seine unverschämte Unhöflichkeit anzusprechen. Andererseits war sie nicht zum Vergnügen hier, sondern um sich zu befreien, weshalb sie ihre Frage vielleicht besser heruntergeschluckt hätte. Sie lächelte unschuldig.

„Der Duke ist aufgehalten worden“, beeilte sich Girdleston zu erklären. „Verwaltungsangelegenheiten, fürchte ich. Er wird uns beim Abendessen Gesellschaft leisten.“ Der ältere Herr musterte sie kurz aus zusammengekniffenen Augen und wandte sich wieder ihren Eltern zu. „Aber zuerst erlauben Sie bitte, dass ich Ihnen das aufmerksame und kompetente Personal des Dukes vorstelle.“

Er schnippte mit den Fingern, woraufhin Dutzende von Dienstboten in gelber Livree herbeieilten, um sich in einer Reihe aufzustellen, die von den Kutschen bis zum Haus reichte.

Oh, um Gottes willen, dachte Helena und betrachtete blinzelnd die endlose gelbe Wand.

„Wir sind entzückt, dass Sie unsere Gäste sind“, krähte Girdleston, „und bitte betrachten Sie unseren Haushalt als Ihren Haushalt.“ Er zeigte auf das Personal, als hätte er all diese Leute persönlich aus seiner Rippe geformt.

Seufzend betrachtete Helena die lange Reihe der Hausangestellten. Sie würde nie von sich behaupten, sparsam zu sein oder ein bescheidenes Leben zu führen, sie war schließlich die Tochter eines Earls und schon ihr ganzes Leben lang von Angestellten versorgt worden. Das Anwesen ihres Vaters in Somerset war ein vornehmes Herrenhaus, in dem es Jungen gab, die das Feuerholz holten, und Mädchen, die die Asche auffegten. Sobald sie alt genug gewesen war, hatte Helena beschlossen, das Haupthaus zu verlassen und zu ihrer Großmutter, der verwitweten Countess, zu ziehen, die ein gutes Stück weit entfernt auf demselben Besitz lebte. Sie zog das lebhafte Landhaus in den Wäldern von Castle Wood bei Weitem dem Herrenhaus vor, in dem ihre Eltern und ihre Schwestern wohnten. Im Landhaus gab es weniger Personal. Eine Köchin und eine Haushälterin, einen Mann, der sich um die Tiere kümmerte. Und ihre Großmutter. Oh, wie sie ihre Oma verehrte. Sie war die Einzige in der Familie, die Helenas Freigeist, ihre Liebe zur Natur, ihre Neugier und ihre Unabhängigkeit zur Kenntnis genommen hatte.

Vor etwa fünf Jahren war die alte Dame einem Fieber erlegen, und Helena vermisste sie noch immer schmerzlich, es schien nie besser zu werden. Die verwitwete Countess war kaum zu Grabe getragen worden, als Helenas Eltern der Gedanke kam, Castle Wood und ihren Abschnitt des Brue zu nutzen, um den Abtransport von Gestein aus den benachbarten Minen zu organisieren. Großmama hatte eine solche Vereinbarung zu ihren Lebzeiten untersagt, und sie hatte den bewaldeten Teil der Ländereien – auch als Castle Wood bekannt – direkt Helena hinterlassen, um ihn zu schützen. Aber nach ihrem Tod gab es niemanden mehr, der ihren Vater daran hinderte, Helena mit Lusk zu verheiraten. Wenn der Duke ihr Ehemann war, konnte er mit dem Wald und dem Fluss tun und lassen, was er wollte.

„Instandsetzungsarbeiten sind nie besonders angenehm“, sagte Onkel Titus jetzt zum Earl und der Countess, „aber Sie hätten keinen besseren Zeitpunkt finden können, um Ihr Stadthaus wiederaufbauen zu lassen. Der Duke freut sich sehr, Sie bei uns willkommen zu heißen. Immerhin wird Lady Helena schon bald hier wohnen.“

Der Gedanke ließ Helena schaudern. Sie gab sich Mühe, ein heiteres Gesicht zu machen.

„Wir haben für morgen eine Besichtigung des Hauses und des Grundstücks geplant“, fuhr Girdleston fort und führte ihre Eltern über die Treppe zum Haus hinauf. „Aber lassen Sie uns zuerst für eine Erfrischung sorgen und dafür, dass die zukünftigen Brautleute sich wieder besser miteinander bekannt machen. Ich habe darum gebeten, ein leichtes Menü zusammenzustellen. Das schien mir nach einer so langen Reise das Beste zu sein. Hier entlang, bitte …“ Er bedeutete Helenas Mutter, vor ihm durch die schweren Eichenholztüren einzutreten.

Helena schlenderte neben den Kutschen her und holte noch zwei von ihren Äpfeln aus einer Kiste in der Kutsche.

Also würde der Duke am Abendessen teilnehmen. Normalerweise verabscheute sie jede geplante Begegnung mit Lusk, aber jetzt war jeder gemeinsame Augenblick eine weitere Gelegenheit für eine erfolgreiche Kuppelei.

Sie wusste genau, dass die meisten jungen Frauen mit Freude die Gelegenheit ergriffen hätten, Duchess zu werden. Wenn es darum ging, ihn einem anderen Mädchen schmackhaft zu machen, war der Titel definitiv sein wichtigstes Pfund. Aber Lusk musste doch noch mehr haben, was für ihn sprach als ein Herzogtum. Irgendeine Beschäftigung oder Leidenschaft oder Qualität, die zu enthüllen er bislang zu betrunken oder zu unreif gewesen war.

„Helena, meine Liebe?“ Girdleston rief von der großen Eingangshalle aus nach ihr und winkte mit einer weichen, runden Handbewegung wie ein geisterhafter Haushofmeister. „Sie werden sicher erfreut sein, zu hören, dass ich eine ganze Reihe von ausgesprochen kompetenten Dienstboten ausschließlich für Sie abgestellt habe, um sicherzugehen, dass für alle Ihre Bedürfnisse und Ihre Sicherheit gesorgt ist.“

Was hat er? dachte Helena, während sie zur Eingangstür hinaufging.

„Kommen Sie, kommen Sie“, drängte er, „damit ich Ihnen Ihr persönliches Personal vorstellen kann.“ Hinter ihm stellte sich eine Gruppe von Dienstboten in gelber Livree im Halbkreis auf. „Dies ist natürlich nur ein Anfang. Als Duchess benötigen Sie wahrscheinlich mehr Dienstboten. Ganz gleich, was Sie brauchen, für den Duke stehen Ihre Bedürfnisse an allererster Stelle.“

„Bitte machen Sie sich keine Umstände“, rief Helena. „Ich verbringe so viel Zeit in meinem Obstgarten, dass ich schon mit den Mädchen und den Lakaien meines Vaters kaum etwas anzufangen weiß. Ich kann mir nicht vorstellen, auch noch das Personal des Dukes in Anspruch zu nehmen.“ Ich lasse mich doch nicht von Girdlestons Spionen belästigen.

„Es macht ganz und gar keine Umstände, Mylady“, fuhr Girdleston in scharfem Tonfall fort. „Darf ich Ihnen Mrs. Danvers vorstellen? Eine sehr fähige Kammerzofe. Bisher in Diensten der Countess of Polk, Sie werden sehen, dass Danvers unermüdlich und –“

„Ich habe meine eigene Zofe mitgebracht“, unterbrach Helena ihn und musterte die Frau mit den scharf geschnittenen Gesichtszügen, die neben ihm stand. Auf gar keinen Fall.

Sie schaute zu ihrer Familie. War denn niemand besorgt?

Ihr Verlobter hatte keine Lust, sie zu begrüßen, aber sein Onkel, der Puppenspieler, halste ihr fremde Dienstboten auf?

„Meine Zofe kümmert sich um mich, seitdem ich klein war, und ich habe nicht vor, sie in den Ruhestand zu schicken.“

„Ja, nun ja, vielleicht überlegen Sie –“

„Bestimmt nicht.“

„Aber was ist mit einem persönlichen Lakaien? Thomas?“, versuchte er es noch einmal.

Ein ältlicher Diener hinkte auf sie zu, verneigte sich leicht und zuckte dabei vor Schmerzen zusammen.

Helena lächelte dem alten Mann zu und drehte sich zu Girdleston um. „Die Verantwortung für einen persönlichen Lakaien kann ich auf gar keinen Fall übernehmen. Ich komme sehr gut allein zurecht, wie Sie sicher noch wissen. Mir ist jeder Diener recht, der zufällig meinen Weg kreuzt. Zu viel Personal macht mich nur nervös.“

Girdleston wirkte verärgert, ließ sich jedoch nicht beirren und zeigte auf einen großen Mann, der eine Schürze umgebunden hatte. „Aber gegen einen persönlichen Koch haben Sie doch sicher nichts –“

„Mir ist es nicht so wichtig, was ich esse“, versicherte Helena.

„Versuchen wir es doch erst einmal mit dem Koch“, beharrte Girdleston.

„Das ist wirklich nicht nötig.“

Girdlestons wütender Blick erinnerten sie daran, dass nicht sie hier das Sagen hatte, nicht wirklich. Je wütender er wurde, desto schwieriger wurde es, ihm auszuweichen. Wenn es ihr letztendliches Ziel war, ihn zu schlagen, musste sie sich kooperativ zeigen und genau überlegen, auf welche Kämpfe sie sich einlassen wollte.

„Ich habe die Mahlzeiten in Lusk House immer sehr genossen“, fügte sie beschwichtigend hinzu. „Ihr Koch ist wirklich ausgezeichnet.“

Sie wollte noch einmal darauf hinweisen, wie unwohl sie sich mit persönlichen Dienstboten fühlte, doch Girdleston redete schon weiter. „Aber gegen einen persönlichen Knecht haben Sie doch sicher nichts …“ Er streckte einen Arm aus. „Der Duke besteht darauf, dass jemand Sie durch London begleitet, damit für Ihre Sicherheit und Bequemlichkeit gesorgt ist, beim Ein- und Aussteigen aus der Kutsche, auf Straßen mit viel Verkehr und bei Bällen spät am Abend.“

In seinem Tonfall lag etwas Drängendes, er schien zu brodeln wie ein Topf kurz vor dem Überkochen. „Einen persönlichen Knecht werden Sie doch sicher nicht ablehnen, Mylady?“

Helena überlegte gerade fieberhaft, wie sie mit wiederum anderen Worten Nein sagen könnte, als ein breitschultriger Mann, der von Kopf bis Fuß in etwas zu engen gelben Samt gekleidet war, auf sie zukam und sich verneigte.

Helena blieb der Widerspruch im Hals stecken.

Sie blinzelte gegen das grell blendende Gelb an. Ihr erster Gedanke war, dass er die Livree nicht eigentlich angezogen, sondern den zitronenfarbenen Stoff einfach nur über seinen muskulösen Körper gespannt hatte. Die Livree passte ihm nicht, ganz und gar nicht. Seine Hände waren riesengroß, seine Stiefel waren riesengroß, und seine ganze Haltung – ruhig und stabil – war weniger die eines Dieners als die einer Palastwache.

Er war kein Riese, aber er sah aus, als ob er stärker wäre als alle anderen hier im Raum; er sah sogar stärker aus als alle anderen Menschen, die Helena je getroffen hatte. So viele Muskeln, über denen sich so viel … Gelb spannte.

Er wirkte nicht gekränkt oder verlegen. Seine Augen waren von einem sanften Braun, und er schaute Helena so ruhig und unbeteiligt an, dass sie Mühe hatte, seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Es lag keine Bitte darin, keine Hoffnung, keine Langeweile …

Er musterte sie, als wäre sie ein Sessel, dessen Größe und Gewicht er abschätzen wollte, um ihn zur gegenüberliegenden Wand hinüberzutragen. Hatte er ihr überhaupt ins Gesicht geblickt? Sie war sich nicht sicher.

Als er ihr schließlich doch in die Augen sah, senkte er demütig den Kopf zu einer halben Verbeugung.

Er sieht aus, als wäre er … nützlich.

Seine Zurückhaltung, kombiniert mit seiner Muskelkraft, verlieh ihm etwas Besonderes. Er hatte kräftige Arme, ausgeprägte Schultern, starke Oberschenkel. Sie kümmerte sich normalerweise nicht um die Oberschenkel von Dienstboten (oder anderen Männern), aber da seine goldfarbenen Kniehosen auf diese unmöglich, Art spannten, konnte man kaum irgendeinen Teil von ihm übersehen.

Er hatte das Gesicht weiterhin abgewandt, aber sie konnte sein Profil erkennen; energisches Kinn, wohlgeformte Nase, Wimpern.

Wimpern?

Sie tadelte sich selbst, weil ihr (erst) Oberschenkel und (jetzt) Wimpern aufgefallen waren, obwohl es hier doch um ihre Zukunft ging. Seine Augen waren weniger erheblich, aber insgesamt gesehen war nicht zu leugnen, dass er vielleicht wirklich nützlich werden konnte.

Sie warf Girdleston einen Seitenblick zu und überlegte, wo die Loyalität dieses „persönlichen Knechts“ wohl lag. Der Mann hatte sich zwar bei den anderen eingereiht, als Onkel Titus sie gerufen hatte, dabei aber auf so einstudierte Weise bewegt, als würde er nur Befehle befolgen. Er kam ihr eher folgsam als engagiert vor, und ihm fehlten die langsame, wissende Haltung und die verstohlene Miene des Mitwissers. Er sah aus, als wäre er … fügsam.

Vielleicht war er ja tatsächlich ein Knecht. Vielleicht war er ein großer, starker Knecht mit mehr Muskeln als Hirn.

Vielleicht war er genau das, was sie brauchte.

„Dieser Knecht steht nur mir allein zur Verfügung?“, hörte Helena sich fragen.

Sie hätte beinahe gelacht, als sie Girdlestons grenzenlos hoffnungsvolle Miene sah. Er wäre auf jeden Fall zufrieden, wenn sie einverstanden war.

„Ganz genau, Mylady“, sagte Girdleston. „Jemand, der Ihnen hilft, sich in der Stadt zurechtzufinden.“

Helena würde wirklich Hilfe brauchen, um in London die richtigen Wege zu finden. Sie war ein Mädchen vom Land, verabscheute es schon seit ihrer Kindheit, länger als einen Nachmittag in der Stadt zu sein, und jetzt war es vor allem ihre Aufgabe, Mayfair zu durchstreifen, um nach möglichen Duchess-Kandidatinnen Ausschau zu halten. Wenn sie diesen Knecht für ihre Zwecke gebrauchen konnte, anstatt … zu welchem Zweck Girdleston ihn auch immer vorgesehen hatte, dann hatte er ihr unbeabsichtigterweise einen wichtigen Verbündeten verschafft.

Helena schaute sich im Kreise der abgelehnten persönlichen Dienstboten um. Die Zofe war offensichtlich eine Spionin, und der alte Diener war dem Duke sicher treu ergeben. Helena zweifelte nicht daran, dass der persönliche Koch sie langsam vergiften würde. Aber der Knecht – der große Einfaltspinsel, der fügsame Knecht – war vielleicht harmlos. Und nützlich.

„Ja, Onkel Titus“, sagte sie. „Ich glaube wirklich, dass ich einen Knecht gebrauchen kann, der mir hilft, mich in den unbekannten Straßen von London zurechtzufinden. Wie aufmerksam von Ihnen.“

„Bedanken Sie sich bei Seiner Gnaden“, säuselte Girdleston und verneigte sich ein wenig. Helena war nicht bereit, diese Bemerkung zur Kenntnis zu nehmen, und wandte sich stattdessen an den Knecht: „Wie bitte ist Ihr Name, Sir?“

Der Knecht hob den Kopf, hielt aber seine braunen Augen gesenkt.

„Shaw, Mylady.“

Seine Stimme war leiser als erwartet, auch wenn sie nicht wirklich hätte sagen können, was genau sie sich vorgestellt hatte. Jedenfalls hatte sie Mühe gehabt, ihn zu verstehen, und wünschte sich plötzlich, diese Stimme noch einmal zu hören.

„Sehr gut, Mr. Shaw“, erwiderte sie. „Ich bin Lady Helena. Ich baue in Somerset Äpfel an. Möchten Sie einen?“ Sie griff in ihre Rocktasche und holte einen glänzenden, rot gefleckten Apfel hervor. Hinter sich hörte sie ihre Eltern seufzen.

Girdleston lachte in sich hinein. „Shaw ist es nicht gewöhnt, äh, Essen von seiner Herrschaft anzunehmen, Lady Helena. Bitte machen Sie sich keine Umstände.“

Der Knecht starrte den Apfel an, als ob er eine winzige Kanonenkugel wäre, deren Lunte gerade angezündet worden war. Er hob den Blick. Für den Bruchteil einer Sekunde schauten sie einander in die Augen. Helena hätte schwören können, dass sein Gesichtsausdruck sagte Soll das ein Witz sein?

Sie blinzelte. Sicher nicht. Er war bestimmt nur nervös und verwirrt.

Helena wartete darauf, dass er wieder aufblickte, um diese Sache zu klären, aber er machte nur eine weitere nachlässige Verbeugung und starrte weiter auf den Boden.

Nun denn, dachte sie und steckte den Apfel wieder ein. Sie hatte noch viel Zeit, um sich mit ihm zu verständigen. Das war nicht wichtig. Er musste nur tun, was sie sagte, zum Beispiel schwere Sachen tragen, und dabei arglos ihre Pläne unterstützen, zusammen mit ihrer Zukunft von hier zu entkommen.

„Sie haben gesagt, dass der Duke mit uns zu Abend essen wird“, sagte Helena fröhlich zu Girdleston. „Ich glaube, ich bin hungriger, als ich gedacht hatte.“

3. KAPITEL

Damit hatte Declan nicht gerechnet.

Untertreibung des Jahrhunderts.

Er hatte die Tochter eines reichen Gentlemans erwartet. Einen Flickenteppich aus Unzulänglichkeiten. Irgendeine Mischung aus anspruchsvoll und kindisch oder launisch und egoistisch, mit einer Prise Dämlichkeit oder Wahnsinn dazu.

In keiner seiner Vorstellungen war eine bezaubernde Schönheit vorgekommen, die fest entschlossen war, diesen verfluchten Duke-Haushalt zu untergraben. Er wusste genau, wann er es mit Ungehorsam zu tun hatte. Und mit Klugheit.

Beim Betreten der Eingangshalle hatte sie keinen einzigen Blick für die Buntglasfenster oder die geschnitzte Treppe oder den Kronleuchter übriggehabt. Sie hatte sich nicht um die Dienstboten gekümmert. Wenn Declan sich nicht täuschte, war sie auf der Suche nach einem Fluchtweg. Girdleston hatte sie herzitiert, aber das verstand sie offenbar weniger als Befehl denn als Herausforderung. Sie hielt sich gerade, doch ihre Haltung war nicht steif, sie war schlank, aber nicht zerbrechlich.

Declan hatte geblinzelt und sich gesagt, dass es seine Aufgabe war, sie anzustarren. Sie anzusehen gehörte zu seinem Auftrag.

Ich kann sie nicht nicht ansehen.

Gut. Also schön. Also sieh hin.

Ihre Augen waren hellgrün, sie hatten die Farbe eines Peridots, und ihr Haar war rabenschwarz ohne eine Spur von Kastanienbraun oder Mahagoni oder Aschblond. Sie trug es in einem ordentlichen Knoten am Hinterkopf, halb von einem kleinen grünen Hut verdeckt.

Ihre Wimpern und Brauen waren dunkel, aber ihre Haut hatte dieselbe Farbe wie das Innere eines Schneckenhauses, blass und durchscheinend – so hell, dass sie einen scharfen Kontrast zu dem ebenholzfarbenen Haar bildete. Wunderschön war das, wie eine Rabenfeder auf dem Eis.

In diesem Augenblick wurde Declan klar, wie schwierig, nein – unmöglich – seine verfluchte Aufgabe werden würde. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag gegen die Brust: Er sah Helena Lark als Frau und nicht als Auftrag.

Und nicht irgendeine Frau, eine atemberaubend schöne, offensichtlich sehr kluge Frau. Nur ein Dummkopf oder ein Amateur hätte das nicht zugegeben.

Das war allerdings ein Problem. Erstens der Ablenkung wegen – wenn er sie schätzte, und sei es nur als anerkennender Beobachter, beeinträchtigte das seine Fähigkeit, auf sie aufzupassen. Zweitens galt hübschen, klugen Mädchen grundsätzlich sein Mitgefühl, und er durfte mit dieser Frau kein Mitgefühl haben. Er arbeitete für ihren Feind. Drittens hatte Declan es sich zur Gewohnheit gemacht, einen weiten Bogen um Problemfrauen zu machen.

Bislang konnte Declan Shaw die weiblichen Wesen, denen er in seinem Leben bisher begegnet war, in zwei Kategorien einteilen: unkompliziert und willig … und alle anderen. Klientinnen fielen immer unter „alle anderen“, weil er ein Profi war. Es war schlecht fürs Geschäft, wenn er die Finger nicht von einer Klientin lassen konnte. Frauen, die keine Klientinnen waren, konnten – sofern sie unkompliziert und willig waren – als Erholung zwischen zwei Aufträgen dienen, solange sie sich keine Illusionen machten, ihn halten zu können. Es lag Declan im Blut, Soldat zu sein, und noch mehr, ein Söldner zu sein. Er mochte seine Arbeit. Er war gut darin. Keine Frau hatte ihn je in Versuchung geführt, seine Erfolgsserie zu unterbrechen, und das war ihm so auch am liebsten.

Aber er hatte noch nie eine Frau wie Helena Lark kennengelernt. Diese Erkenntnis erschütterte ihn bis ins Mark. Er hätte diesen Auftrag einfach drangegeben, wenn er Girdlestons Geld nicht so verzweifelt bräuchte und nicht befürchten müsste, dass der Mann tatsächlich die Macht besaß, ihn zurück ins Gefängnis zu schicken.

„Gute Arbeit, Huntsman“, sagte Girdleston, der plötzlich neben ihm stand. Declan fuhr herum, perplex über die Allgegenwärtigkeit des Mannes. „Gott weiß, warum Sie mit Ihnen einverstanden war und mit den anderen nicht, ihre Beweggründe sind für uns alle ein Mysterium, das uns wahnsinnig macht. Aber so haben Sie zumindest einen Eindruck von der Unverfrorenheit bekommen, mit der wir es die ganze Zeit zu tun gehabt haben.“

Declan hatte vor allem einen Eindruck von Klugheit und Verachtung gewonnen, aber Girdleston bezahlte ihn nicht dafür, eine Meinung zu haben. „Es war ein ehrgeiziges Ziel, ihr fünf Dienstboten auf einmal mitgeben zu wollen“, bemerkte er stattdessen.

„Bis sie Duchess ist, habe ich ihr die fixe Idee ausgetrieben, dass sie jemals wieder allein sein kann.“

Declan schwieg. Er hatte nicht gewusst, dass es größere Pläne gab, ihr etwas auszutreiben – weder das Alleinsein noch sonst irgendetwas. Innerlich fluchend schaute er der sich entfernenden Gestalt von Lady Helena hinterher. Sie hatte sich eingereiht und folgte ihrer Entourage.

Er wandte den Blick ab. In seiner Brust brach etwas Spitzes und Schweres ab, das sich anschließend in seiner Magengrube festsetzte. Er zwang sich, an das Geld zu denken, an seine Schwestern und seinen Vater. Die Entscheidung, bei diesem Spiel mitzumachen, war in Wirklichkeit keine Entscheidung. Er hatte keine andere Wahl.

„Sie beziehen jetzt Posten im Speisesaal. Dort beobachten Sie und hören zu“, wies Girdleston ihn an. „Sie müssen sich mit ihren Winkelzügen und ihrem Ungehorsam vertraut machen.“

„Ein Knecht im Speisesaal?“, fragte Declan. „Dafür gibt es keinen Grund. Lassen Sie mich …“

„Ich entscheide, wofür es einen Grund gibt, Huntsman“, fiel Girdleston ihm ins Wort. „Sie sind ihr gerade eben erst zugeteilt worden. Es gibt eine Menge zu lernen, wenn Sie Erfolg haben wollen.“

Declan hätte ihm gern gesagt, dass er bereits genug wusste, aber er biss die Zähne zusammen und dachte ans Gefängnis. Er schlüpfte in den Speisesaal und suchte sich eine dunkle Ecke.

4. KAPITEL

Ich bitte um Verzeihung“, sagte Helena etwa eine Stunde, nachdem die Familie sich zum Abendessen gesetzt hatte. Sie stieß sich freundlich lächelnd von der langen Tafel ab. Überall am Tisch verstummten die Gespräche.

„Entschuldigen Sie mich bitte, während ich dafür sorge, dass der Duke es irgendwo bequemer hat als hier am Tisch? Seine Gnaden ist …“ Sie schaute auf den Duke of Lusk herab. „Seine Gnaden hat seine Mahlzeit bereits beendet“, verbesserte sie sich.

Alle Blicke richteten sich auf den Duke, der auf seinem Stuhl zusammengesunken war wie ein Wäschehaufen. Sein Kopf hing schief zur Seite, und der Blick hinter halb geschlossenen Lidern war nachdenklich auf die Reste des Gänsebratens auf seinem Teller gerichtet. Den rechten Arm hatte er locker auf der Armlehne seines Stuhls liegen, und der Weinkelch, den er in den Fingern hatte, drohte jeden Augenblick zu Boden zu fallen und zu zerspringen.

Einen endlosen Augenblick lang blieben alle wie erstarrt sitzen. Helena gab sich Mühe, den Duke mit liebevoller Sorge anzusehen. Sie legte sanft eine Hand auf seine schlaffe Schulter.

Der Onkel des Dukes kam als Erster wieder zu sich, öffnete den Mund, um Einspruch zu erheben, aber Helena sank neben dem Duke auf die Knie.

„Möchten Euer Gnaden vor dem Abendspaziergang vielleicht ein kleines Nickerchen machen?“, flüsterte sie.

Der Duke schnaubte, blinzelte und lehnte sich hilfreicherweise an ihre Wange. Helena lächelte weiter freundlich, während er schwer atmend mit feuchten Lippen über ihren Hals strich. Sie zwang sich zu lachen.

„Wenn Sie uns bitte entschuldigen wollen“, sagte sie zur Tischgesellschaft, „essen Sie nur alle in Ruhe zu Ende. Man hat mir gesagt, dass es nachher Torte gibt. Wir sind gerade erst zusammengekommen, und dieses Essen hat eine Ewigkeit gedauert …“

Sie flüsterte dem Duke ins Ohr: „Aufstehen. Sehr gut. Kommen Sie, kommen Sie, aufstehen.“

Wie durch ein Wunder schaffte es der betrunkene Duke auf die Füße. Er schwankte leicht, als sie seinen Arm nahm.

Girdleston erhob sich ebenfalls, der Blick aus seinen zusammengekniffenen Augen loderte vor Zorn.

Helenas Vater prustete los. „Ich wusste, dass sie sich irgendwann zusammenraufen, Titus“, rief er. „Sie ist sehr fürsorglich, meine Tochter. Sie wird einen mäßigenden Einfluss auf den Jungen haben.“

„Ja …“, sagte Girdleston, doch sein Tonfall sagte Nein.

Helena spreizte eine Hand und stemmte sie gegen die schwächliche Brust des Dukes. „Wo befindet sich Ihr Arbeitszimmer, Euer Gnaden?“, flüsterte sie. „Wir suchen uns ein dunkles, kühles und ruhiges Plätzchen.“

Der Duke bekam einen Schluckauf und zeigte dabei auf die Tür gegenüber. Helena schlurfte mit ihm hinaus. „Wie schön“, flüsterte sie. „Ganz ruhig. So, das haben wir gleich.“

Sie schaute über ihre Schulter zurück. „Kümmern Sie sich einfach nicht um uns und genießen Sie das Essen“, rief sie. „Ich kann mich nicht erinnern, schon einmal einen so guten Gänsebraten gegessen zu haben. Aber die Torte will ich auf keinen Fall verpassen. Wir sind rechtzeitig wieder hier.“

„Euer Gnaden?“, rief der Onkel des Dukes. „Ist alles in Ordnung?“

„Ruhig …“, murmelte der Duke, „dunkel und kühl …“

„Lassen Sie sie ihre ehelichen Pflichten erfüllen, Girdleston“, schalt ihr Vater. „Der Weg zu Helenas Herz führt über aufopferungsvolle Sorge. Sie sollten sehen, was sie im Sumpfgebiet des Waldes von Castlereagh erreicht hat. Sie kümmert sich um ihn, und damit sind wir alle besser dran.“

Aus dem Augenwinkel sah Helena, wie Girdleston sich wieder hinsetzte, aber nicht ohne dem großen Knecht, der in einer Ecke stand, unauffällig zuzunicken. Der Knecht folgte ihnen dicht auf den Fersen, und Helena biss die Zähne zusammen, während sie den Duke vor sich herschob.

„Wo müssen wir hin, Euer Gnaden?“, flüsterte sie. Die Eingangshalle hatte Türen an allen Seiten.

„Schlafkammer?“, lallte der Duke, und Helena musste sich auf die Lippen beißen, um den Gestank von Wein und Gänsebraten in seinem Atem zu ertragen.

„Nein“, sagte sie geduldig, „Ihr Arbeitszimmer. Wir wollen nicht so weit laufen, meinen Sie nicht? Nur ein kurzes Nickerchen. Man wird uns nicht lange fortbleiben lassen.“

„Ich gehe aus“, widersprach er, erlaubte ihr aber, ihn hinter sich her zu ziehen. „Pläne …“

„Aber natürlich, ausgezeichnete Pläne“, versicherte sie ihm. „Noch ein Grund mehr, sich jetzt auszuruhen.“

„Sie sind ein eifriges kleines Dummchen“, murmelte er.

„Ja, das bin ich“, bestätigte sie gedankenverloren und spähte von einer Tür zur nächsten, „sehr eifrig.“ Der Duke schnaubte, sodass sie wieder in einer Wolke aus Alkohol und Gänsebraten stand.

Helena hielt den Atem an. „Das Arbeitszimmer, Euer Gnaden? Wissen Sie nicht mehr? Wo müssen wir hin?“

Er machte eine vage Handbewegung, die in jede Richtung hätte deuten können, und ließ das Kinn auf die Brust sinken.

Fluchend drehte Helena sich langsam um die eigene Achse. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was sie von früheren Besuchen über den Grundriss des Hauses wusste. Sie wollte gerade den nächstbesten Korridor betreten, als eine Stimme hinter ihr sich zu Wort meldete. „Ich bringe ihn hin.“

Helena wirbelte herum und stand plötzlich dicht vor einem muskulösen, gelb gekleideten Mann. Ihr neuer persönlicher Knecht. Shill? Sham? Sie konnte sich nicht mehr an seinen Namen erinnern.

„Wie bitte?“, sagte sie und beugte sich vor, um das Gewicht des Dukes besser auf ihre Schultern zu verteilen.

„Ich bringe ihn hin“, wiederholte der Knecht.

„Das ist nicht nötig, Mr. Shill. Und wenn Sie bitte …“

„Shaw“, sagte er und streckte eine Hand aus. „Declan Shaw.“

Helena riss die Augen auf. Sie konnte sich nicht erinnern, dass ein Diener sich ihr jemals mit seinem Vornamen vorgestellt hatte. Oder ihr gefolgt war, als sie ein Zimmer verlassen hatte. Oder versucht hatte, ihr etwas, nun ja, in diesem Falle jemanden, abzunehmen.

Sie wies das Personal fast nie zurecht, aber jetzt räusperte sie sich und hob den Kopf. „Das ist nicht …“

Der Knecht hörte nicht auf sie. Er stemmte die Hände in die Hüften und neigte den Kopf zur Seite, während er zusah, wie die schlaffe Gestalt des Dukes ihr langsam entglitt.

Helena hielt ihn fester und änderte ihre Taktik. „Was für ein Glück, dass Sie zufällig hier sind“, sagte sie fröhlich. „Dürfte ich Sie bitten, mir zu zeigen, wo ich das persönliche Arbeitszimmer des Dukes finde?“

„Keine Ahnung.“

Sie kniff die Augen zusammen. „Sie wissen es nicht?“

„Ich habe genauso wenig Ahnung wie Sie.“

Der Duke rutschte noch eine Handbreit weiter Richtung Boden, und seine Stiefel verloren den Halt. Shaw schob einen stützenden Fuß davor.

Helena richtete sich auf und packte Lusk fester. „Sie wissen nicht …“

„Ich arbeite in den Ställen“, sagte er. „Normalerweise.“

„Normalerweise?“

„Ich bringe ihn hin“, sagte er noch einmal. Ehe sie widersprechen konnte, streckte er die Arme aus, wälzte den Duke von ihrer Schulter und legte sich einen Arm des kleineren Mannes hinter den Nacken. Der Duke lehnte und hing gleichzeitig an ihm wie ein schlapper Schal.

Aus dem Speisesaal war Gelächter zu hören, und Helena fiel wieder ein, dass sie nur wenig Zeit hatte.

Stirnrunzelnd machte sie sich auf den Weg durch die Eingangshalle. „Wenn Sie sich hier im Haus nicht auskennen, fragen wir jemanden.“

Ein Mädchen kam um die Ecke, und Helena fragte sie nach dem Weg zum Arbeitszimmer des Dukes. Das Mädchen zeigte nach links, und Helena bat sie darum, ihr eine Schüssel Wasser und ein paar Tücher zu bringen.

„Legen Sie ihn da hin, bitte“, befahl Helena, als sie ins Arbeitszimmer kamen.

In einer Ecke vor einem bodentiefen Fenster stand ein lederbezogener Diwan; der Knecht legte den Duke dort ab, woraufhin dieser sich betrunken ausstreckte. Helena holte eine Kerze aus dem Korridor und zündete eilig die Lampen an. Im flackernden Schein jedes einzelnen Dochts kamen poliertes Mahagoni, genietetes Leder und Bücher zum Vorschein – so viele Bücher. Natürlich passte so ein Arbeitszimmer zum hochherrschaftlichen Rest des Hauses, es war eher eine Bibliothek als ein Arbeitszimmer mit einem Gewirr von Bücherregalen, die hinter einem gigantischen Schreibtisch aufragten.

Im weichen Schein des Kerzenlichts beugte Helena sich über den Duke. „Also, Euer Gnaden, ist das nicht besser so?“

Lusk stieß ein Schnauben aus und ließ sich rücklings fallen.

In diesem Augenblick kam das Mädchen zurück, und Helena legte dem Duke ein warmes, feuchtes Tuch auf die Augen. „Ruhen Sie sich einfach aus, Euer Gnaden“, sagte sie beruhigend und holte eine Decke für seine Beine. Wenige Augenblicke später fing der Duke an zu schnarchen. Helena zog sich zurück und wünschte inbrünstig, er möge wenigstens zehn Minuten lang bewusstlos bleiben.

„Und jetzt?“, fragte der Knecht, der neben ihr stand.

„Psst.“ Sie warf ihm einen wütenden Blick zu.

„Glauben Sie mir, der steht heute nicht mehr auf.“ Der Knecht zog eine Augenbraue hoch. „Aber ich nehme an, das ist genau das, was Sie wollten.“

„Sie haben keine Ahnung, was ich will. Sie dürfen jetzt gehen, Mr. Sham.“

„Ich warte“, erwiderte er.

„Warten? Worauf?“

Sie hatte seine Augen vorhin nicht bewusst wahrgenommen, aber jetzt sah sie sie deutlich. Sie waren tiefbraun marmoriert, und jegliche Gefügigkeit war daraus verschwunden.

„Sie dürfen gehen“, wiederholte sie mit fester Stimme und wies mit einem Nicken auf die Tür. Auf dem Diwan regte sich der Duke und ließ einen Arm über seinen Kopf fallen. Er streckte den anderen Arm aus und fasste tastend nach Helenas Röcken, um unbeholfen ihr Bein festzuhalten. Helena wich zurück.

„Ich bleibe“, erklärte der Knecht und machte einen Schritt auf sie zu. Helena starrte ihn verwundert an.

„Falls Sie mich brauchen“, fügte er hinzu.

„Das tue ich nicht.“

„Vielleicht doch.“

Helena sah ihn blinzelnd an. „Ehrlich gesagt“, erwiderte sie, „habe ich keine Zeit zum Streiten. Gehen Sie oder bleiben Sie, es ist mir egal.“

Wenn es in ihrem Kopf eine Stimme gab, die ihr sagte, dass es ihr nicht egal sein sollte, hörte sie nicht darauf. Sie war nicht bereit zuzugeben, dass sie einen Fehler gemacht hatte, als sie sich mit diesem Knecht einverstanden erklärte. Es war noch zu früh, ihre Pläne waren noch nicht weit genug fortgeschritten für falsche Entscheidungen.

Sie sah sich um und stellte fest, dass das Arbeitszimmer vollkommen unbenutzt aussah. Genauso, wie sie es von einem Mann erwartet hätte, der sich nicht um seine eigenen Ländereien kümmerte, seinen Schriftwechsel nicht selbst führte und sich nichts aus einer geistig so anstrengenden Tätigkeit wie Lesen machte. Auf dem Schreibtisch lagen einige Papiere, und Helena hob das oberste Blatt auf.

„Was ist das?“, fragte der Knecht.

Helena blickte auf. „Sie sollten wissen, dass ich nicht vorhabe, zu erläutern, was ich tue.“ Sie sah sich den Bogen in ihrer Hand an, eine Rechnung für Haarwasser, und dann richtete sie ihren Blick wieder auf Shaw.

„Sie sind nicht in die Bibliothek gekommen, damit der Duke sich hier ausruhen kann“, sagte er.

„Und Sie sind nicht in die Bibliothek gekommen, um einen betrunkenen Duke herzubringen. Ich schlage vor, dass weder Sie noch ich fragen, warum wir hier sind.“

„Ich wäre Ihnen eine größere Hilfe, wenn ich wüsste, was Sie vorhaben.“

„Eine größere Hilfe als mein Knecht?“

„Selbstverständlich.“

Sie nickte wissend. „Wenn ich mich nicht sehr täusche, kümmern Knechte sich um Pferde und Kutschen und Einkäufe und Regenschirme. Was nützt mir ein Knecht in einer Bibliothek?“

Autor

Charis Michaels
<p>Schon auf der Highschool verschlang Charis Michaels unzählige Romances, und jetzt lebt sie ihren Traum und schreibt Bücher über Leute, die in Kutschen fahren, auf Bälle gehen und sich unsterblich verlieben. Die gebürtige Texanerin lebt mit ihren Kindern, ihrem Mann und ihren zwei Hunden in Washington, D.C.</p>
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