Nur einmal diese Lippen spüren

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Schon ihr Foto hat ihn um den Verstand gebracht! Als Bailey nun vor ihm steht, kann der Journalist Micah nur noch daran denken, wie es wäre, ihre Lippen auf seiner Haut zu spüren. Würde das Topmodel ihm nur vertrauen! Leider denkt sie, dass er auf eine Sensations-Story hofft …


  • Erscheinungstag 14.05.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733717438
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Tief in Gedanken versunken, saß Bailey Hamilton auf dem Rücksitz des schwarzen Mercedes S 600, während die Limousine die Columbus Avenue hinunterfuhr. Sie atmete tief und gleichmäßig ein, um ihre Nerven zu beruhigen, doch das mulmige Gefühl im Bauch ließ nicht nach.

Die Limousine hielt an einer roten Ampel. Scharen von Fußgängern strömten über die Straße, als ob heute ein ganz gewöhnlicher Dienstagnachmittag wäre. Für die meisten von ihnen war es das vermutlich auch. Bailey hingegen konnte sich fast nicht mehr daran erinnern, wann sie sich zum letzten Mal normal gefühlt hatte. Während der vergangenen Monate war es ihre größte Angst gewesen, dass sie dieses Gefühl vielleicht nie wieder empfinden würde.

Doch das werde ich nicht zulassen.

Das hatte Bailey sich geschworen, als sie letzte Woche ihr Exil auf den Virgin Islands verlassen hatte und nach New York zurückgekommen war. Die letzten zwei Monate hatte sie in einem Zustand der ständigen Unruhe verbracht – aber damit war jetzt Schluss. Bailey würde nicht länger tatenlos dabei zusehen, wie dieser Verrückte langsam ihr Leben zerstörte. Heute unternahm sie den ersten Schritt auf dem Weg zurück in die Normalität. Es war allerhöchste Zeit.

Und dennoch … mit jedem Meter, den sich der Wagen seinem Ziel näherte, verstärkte sich das ungute Gefühl im Magen. Bailey schloss fest die Augen hinter ihrer überdimensionalen Sonnenbrille und lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze. Doch die düsteren Vorahnungen ließen sich nicht unterdrücken.

Dabei hatte Bailey selbst auf der Pressekonferenz bestanden. Zum ersten Mal seit zwei Monaten würde sie sich den Journalisten zeigen und ihnen Rede und Antwort stehen.

Bailey hatte es so satt, jeden Tag die wilden Spekulationen über ihr plötzliches Verschwinden in der Zeitung zu lesen. Von Tag zu Tag wurden die Geschichten absurder. Je mehr die Familie versuchte, sie von alledem abzuschirmen, desto aggressiver wurde der Ton der Medien. Heute würde sie dem Ganzen endlich ein Ende setzen.

Der Wagen bog in die Einfahrt zur Tiefgarage ab, die sich auf der 65th Street unter dem Lincoln Center befand. Auf einmal hatte Bailey das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ihr Hals und Brustkorb fühlten sich an wie zugeschnürt, und ihr Herz begann wie wild zu schlagen. Eine beginnende Panikattacke. Inzwischen kannte Bailey die Anzeichen nur allzu gut. In den vergangenen Wochen waren sie immer wieder aufgetreten.

Unter Aufbringung ihrer gesamten Willenskraft versuchte Bailey, sich zu beruhigen. Langsam und konzentriert atmete sie ein und aus.

„Du schaffst das“, beschwor sie sich leise.

Es war nicht leicht gewesen, ihre Familie zu der Pressekonferenz zu überreden. Sie davon zu überzeugen, dass sie sich von dem Zwischenfall erholt habe und stark genug sei. Bailey selbst hatte darauf bestanden, dass die Pressekonferenz an demselben Ort stattfinden sollte, an dem sie zwei Monate zuvor entführt worden war. Kurz bevor sie auf der Fashion Week ihren großen Auftritt als Model für Roger Hamilton Designs, das Modelabel ihrer Familie, hätte haben sollen.

Jetzt allerdings saß Bailey wie erstarrt auf dem Rücksitz des Wagens ihres Bruders, nur wenige Meter entfernt von dem Keller, in dem sie bewusstlos gelegen hatte, bevor man sie entdeckt hatte. Auf einmal bezweifelte sie, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, wieder an den Ort des Geschehens zurückzukehren. Warum habe ich bloß nicht auf Briannas Rat gehört und darauf bestanden, dass die Pressekonferenz bei RHD in SoHo stattfindet? warf Bailey sich im Stillen vor.

„Hör auf, du schaffst das!“, versicherte Bailey sich wieder.

„Natürlich schaffst du das“, bekräftigte ihr Bruder Daniel vom Fahrersitz aus.

Baileys und Daniels Blicke trafen sich im Rückspiegel, und sie lächelte ihren Bruder an. Gott sei Dank hatte sie ihre Familie. So sehr ihr das übertrieben besorgte Verhalten ihrer Verwandten auch manchmal auf die Nerven ging, wusste Bailey doch, dass sie die Qualen der letzten Monate ohne deren Unterstützung niemals überstanden hätte.

Bailey atmete noch einmal tief durch, als Daniel, der inzwischen ausgestiegen war, ihr die Wagentür öffnete und die Hand hinhielt, um ihr beim Aussteigen zu helfen.

„Hey, Bailey“, Daniel zögerte und warf einen prüfenden Blick zur Tiefgaragentür. „Ich bin fest davon überzeugt, dass du das schaffen wirst. Aber du solltest nicht vergessen, dass du es nicht tun musst. Ein Wort von dir und wir fahren wieder.“

„Ich laufe auf keinen Fall weg. Ich bin bereit.“

„Sicher?“

„Ja, ganz sicher.“ Bailey drückte seine Hand. „Ich muss da jetzt durch. Ich kann mich nicht länger verstecken, Daniel. Ich muss denen da draußen zeigen, dass ich mich nicht fertigmachen lasse.“

Und ganz besonders demjenigen, der mir das hier angetan hat … und immer noch draußen frei herumläuft.

Bei dem Gedanken zuckte Bailey zusammen, als ob sie einen Stromschlag bekommen hätte. Vielleicht befand sich der Angreifer sogar unter den Reportern.

Reiß dich zusammen! befahl sie sich und warf einen Blick auf ihr Spiegelbild in der Seitenscheibe der Limousine. Die dunkelbraune Stoffhose und der cremefarbene Rollkragenpullover unter dem rostbraunen Trenchcoat aus der letzten RHD-Kollektion waren eine gute Wahl gewesen.

Zufrieden mit dem, was sie sah, wandte Bailey sich zu ihrem Bruder um und setzte ein betont optimistisches Lächeln auf. „Gehen wir!“

Als sie die Plaza vor dem Lincoln Center erreichten, stand schon eine Ansammlung von Reportern und Fotografen um das Podium, das so vor der Fontäne aufgestellt worden war, dass das Metropolitan Opera House im Hintergrund zu sehen war. Die Spannung war förmlich mit den Händen zu greifen, als Bailey und Daniel sich der Menge näherten, und mit jedem Schritt wurde Bailey nervöser.

Vor dem Zwischenfall im September hatte Bailey den Kontakt mit der Presse genossen und sich gerne allen Fragen gestellt, die sich um ihren kometenhaften Aufstieg zum Supermodel drehten. Heute konnte sie sich nichts Schlimmeres vorstellen, als all diesen Reportern entgegenzutreten.

Rechts vom Podium stand ihre gesamte Familie versammelt.

Baileys Mutter, das ehemalige Model Lila Hamilton, löste sich sofort aus der Gruppe, als sie Bailey sah, und ging ihr zügig, und anscheinend vollkommen mühelos, auf ihren zehn Zentimeter hohen Stilettos entgegen.

„Wie geht es dir, Liebling?“, begrüßte Lila Bailey und strich ihr sanft über den Arm. „Du weißt, dass du das nicht machen musst, oder?“

Die Besorgnis, die sich auf dem Gesicht ihrer Mutter abzeichnete, ließ Bailey beinahe schwach werden, doch sie würde sich nicht von ihrem Vorhaben abhalten lassen. „Es geht schon“, versicherte sie ihrer Mutter und gleichzeitig sich selbst.

Lila nahm Baileys Hand, und sie gingen zusammen zu den anderen. Bailey nickte ihrem Vater Roger Hamilton zu. Der Patriarch der Familie und Chef von Roger Hamilton Designs würde die Presseerklärung verlesen. Roger Hamilton stieg auf das Podium, um die Konferenz zu beginnen.

„Ich danke Ihnen, dass Sie heute hier erschienen sind. Wir haben uns entschlossen, diese Pressekonferenz abzuhalten, um den Fehlinformationen, die seit der Fashion Week in den Medien verbreitet wurden, eine Ende zu bereiten. Wie Sie alle wissen, sollte meine Tochter Bailey als das Gesicht des Unternehmens Roger Hamilton Designs auf der diesjährigen Fashion Show auf dem Laufsteg er scheinen. Aufgrund unvorhergesehener Umstände konnte sie jedoch nicht auftreten. Seitdem wurde viel über die Gründe spekuliert, ich kann Ihnen jedoch versichern …“

„Bailey, waren Sie auf Entzug?“, unterbrach ihn ein Reporter mit einem Zwischenruf.

Roger Hamiltons Gesicht wurde rot vor Zorn. Bailey legte ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter, um ihn von einer wütenden Entgegnung abzuhalten. „Lass mich das machen.“

„Ganz bestimmt nicht“, erwiderte er und schüttelte energisch den Kopf.

„Es nützt nichts, wenn ich mich noch länger verstecke. Sie geben doch nicht eher Ruhe, bis sie es von mir selbst gehört haben.“

Es war ihrem Vater deutlich anzumerken, dass er sich lieber einem Rudel hungriger Löwen gestellt hätte, als Bailey den Fragen der sensationslüsternen Reporter auszuliefern. Dennoch machte er ihr widerstrebend Platz.

Bailey trocknete ihre schweißnassen Handflächen an ihrem Mantel, als sie an die Mikrofone trat, und bedankte sich im Stillen dafür, dass sie daran gedacht hatte, ihre Sonnenbrille aufzusetzen, als auf einmal tausend Blitzlichter vor ihr aufzuflackern schienen. Doch der Moment, um sich zu verstecken, war vorüber. Und sie würde sich auch nicht länger verstecken. Vor nichts und niemandem.

Bailey nahm die dunkle Sonnenbrille ab und legte sie vor sich auf das Rednerpult.

„Zunächst möchte ich mich bei Ihnen bedanken, dass Sie alle heute hier erschienen sind.“ Ihre Stimme klang fest und ließ nicht ansatzweise erkennen, wie nervös sie war. Gut so, dachte sie, wenigstens diese Genugtuung gebe ich ihnen nicht. „Als ich den Vorschlag gemacht habe, eine Pressekonferenz abzuhalten, hatten wir eigentlich vorgesehen, dass mein Vater Ihnen eine Erklärung vorliest. Jetzt habe ich allerdings den Eindruck, dass diese Erklärung nicht ausreicht. Sie alle sind hier, um Fragen zu stellen.“

Sofort brach ein Ansturm an Fragen los, doch Bailey hob beschwichtigend beide Hände.

„Lassen Sie mich bitte erst aussprechen. Ich habe eine Reihe von Vermutungen bezüglich meines ‚plötzlichen Verschwindens‘ gehört …“ Sie zeichnete mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft, bevor sie fortfuhr. „Von einer Entzugsklinik, weil ich angeblich ein Drogenproblem habe, bis hin zu einer heimlichen Schönheits-OP in Südamerika war alles Mögliche dabei. Lassen Sie mich eins klarstellen: Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie eine illegale Substanz angerührt, und als ich einmal etwas Stärkeres als Champagner getrunken habe, ist mir so schlecht geworden, dass ich ab dem Moment die Finger davon gelassen habe.“

„Und was ist mit der Schönheits-OP?“, fragte Nathan Porter, ein Kolumnist, der seit Jahren über die RHD-Shows berichtet hatte.

Es versetzte Bailey einen Stich, dass ein Mensch, der sie seit Jahren kannte und ein häufiger Gast im RHD-Atelier gewesen war, etwas Derartiges fragen konnte. Sie bedachte ihn mit ihrem freundlichsten Lächeln, bevor sie ihm antwortete. „Verzeih, wenn ich eingebildet klingen sollte, Nathan, aber an meinem Gesicht ist nichts, was ein Schönheitschirurg verbessern könnte.“

Bailey wusste, dass sie mit ihrer Erwiderung Lacher ernten würde. Bailey stand in dem Ruf, eines der unprätentiösesten Models im Business zu sein.

Baileys kurzes Triumphgefühl erhielt sofort einen Dämpfer, als die nächsten Fragen auf sie abgefeuert wurden.

„Was ist mit dem Kokainbriefchen, das in der Nacht, in der Sie verschwunden sind, angeblich bei Ihnen gefunden wurde?“

„Ja, genau, was ist mit dem Kokain?“

„Seit wann nehmen Sie Drogen?“

„Stimmt es, dass Sie fast an einer Überdosis gestorben wären?“

„Weshalb waren Sie so lange verschwunden?“

„Waren Sie auf Entzug?“

Die feindseligen Fragen prasselten mit einer derartigen Gewalt von allen Seiten auf Bailey ein, dass sie unwillkürlich einen Schritt vom Rednerpult zurückwich. Sie hatte das Gefühl, dass sich unsichtbare Hände um ihren Hals legten und ihr langsam die Luft abschnürten.

„Ich… ich hatte einen Schwächeanfall“, erwiderte sie stammelnd und brachte damit die Erklärung vor, die ihre Familie der Presse präsentiert hatte, während sie sich in ihrem Versteck auf den Virgin Islands befunden hatte.

„Wer versorgt Sie mit Drogen?“

„Niemand …“, entgegnete sie zunehmend aufgebracht, „… ich habe noch nie in meinem Leben Drogen genommen! Das sagte ich doch bereits.“

„Was ist dann mit dem Kokain? Wieso hatten Sie es bei sich?“

Baileys Vater übernahm wieder ihren Platz am Rednerpult. „Uns ist bewusst, dass viele Ihrer Fragen unbeantwortet sind, aber ich bitte Sie, sich noch etwas zu gedulden, da zurzeit noch polizeilich ermittelt wird, und wir noch nicht über die Einzelheiten sprechen können. Eines kann ich Ihnen jedoch versichern, meine Tochter Bailey war in keine kriminellen Aktivitäten verwickelt.“

„Helfen Ihnen die Drogen, so schlank zu bleiben?“, fragte ein Reporter einer großen Tageszeitung ohne Roger Hamiltons Statement auch nur im Geringsten zu beachten.

„Sind Sie wegen Magersucht in Behandlung, Bailey?“, rief ein anderer Journalist von der Seite.

„Die Pressekonferenz ist hiermit beendet“, unterbrach Baileys Vater die aggressive Fragerei. Dann legte er Bailey den Arm um die Schultern und führte sie vom Podium zu ihrer Mutter und ihren Brüdern.

Bailey konnte das heftige Zittern, das ihren Körper schüttelte, nicht länger unterdrücken. Sie wusste, dass sie die Pressekonferenz zu einem Abschluss bringen musste. Wegzulaufen würde alles nur noch schlimmer machen.

Doch dazu war Bailey zu entsetzt. Ich will nur noch weg hier, dachte sie verzweifelt.

Abgeschirmt von ihren Brüdern Kyle und Daniel, die der Familie einen Weg durch die Menge der Journalisten bahnten, lief sie zurück zur Tiefgarage. Die bohrenden Fragen der Reporter hallten noch in ihrem Kopf nach.

Nein, die Presseleute waren nicht ihre Freunde, das hatte sie jetzt begriffen.

Ihre gesamte Familie hatte sie davor gewarnt, sich so bald nach ihrer Rückkehr wieder ins Licht der Öffentlichkeit zurückzubegeben, aber Bailey hatte nicht auf sie hören wollen. Genauso wenig, wie sie dem Wunsch ihrer Familie, noch länger in St. Thomas zu bleiben, Folge leisten wollte. Nach dem, was gerade geschehen war, fragte sich Bailey allerdings, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn sie auf die wohlmeinenden Worte ihrer Eltern und Geschwister gehört hätte.

„Ich habe dich doch gewarnt“, wiederholte Kyle zum bestimmt hundertsten Mal, während er wie ein gefangener Tiger von einer Seite des Raumes zur anderen wanderte.

„Ja, hast du.“ Bailey knetete ihren Nasenrücken. „Mehrfach.“

Zusammengekauert, die Arme um ein Kissen geschlungen, saß Bailey auf dem Sofa im Wohnzimmer ihrer Eltern. Die gesamte Familie war in der Penthouse-Suite des Apartmentkomplexes, der zu einem Teil ihren Eltern gehörte, versammelt. Bailey selbst bewohnte zusammen mit ihrer Schwester Brianna eine Wohnung im zehnten Stock desselben Gebäudes, und auch ihre beiden Brüder lebten hier. Wenn die ganze Familie zusammenkam, trafen sie sich allerdings immer in der Wohnung ihrer Eltern.

Jeder der im Raum Anwesenden hatte gesehen, wie Bailey nach der Pressekonferenz beinahe zusammengebrochen war. Wenn sie nur daran dachte, wand sie sich vor Scham.

Während der letzten Stunde hatte sie alles daran gesetzt, ihre Familie nicht merken zu lassen, wie sehr sie die Pressekonferenz erschüttert hatte. Denn Bailey wusste genau, dass ihre Eltern sie sonst sofort ins nächste Flugzeug setzen würden, das sie aus New York wegbrachte.

Bailey drückte sich das Kissen gegen den Bauch.

„Du bist noch nicht so weit, dich der Presse zu stellen“, sagte Kyle. „Diese Geier kennen kein Erbarmen.“

„Diese Geier waren manchmal aber auch ganz nützlich für RHD“, entgegnete Bailey. „Oder hast du die vielen Artikel und Features, in denen deine Designs gezeigt wurden, schon vergessen?“

„Darum geht’s jetzt nicht“, schnaubte Kyle.

Seine Verlobte Zoe Sinclair packte Kyle am Saum seines Hemdes und zog ihn neben sich auf die Lehne des Sessels. Dann wandte sie sich an Bailey.

„Das einzig Wichtige ist doch, ob ihr mit der Pressekonferenz das erreicht habt, was ihr wolltet“, unterbrach Zoe beschwichtigend den Disput. „Meinst du, das habt ihr, Bailey?“

„Ich wollte hauptsächlich beweisen, dass ich kein Junkie bin. Vielleicht hätte ich noch meine Krankenakte mitbringen sollen. Wahrscheinlich ist das das Einzige, was die Reporter dazu bringen würde, mir endlich zu glauben.“

Brianna trat ins Wohnzimmer und brachte Bailey die Tasse Tee, um die sie gebeten hatte. Dann gesellte Brianna sich zu ihr aufs Sofa. „Unglücklicherweise befürchte ich, dass die Pressekonferenz genau das Gegenteil bewirkt hat. Jetzt sind die Reporter erst recht neugierig geworden“, fügte Brianna hinzu.

„Vielleicht sollten wir die Bewachung verstärken?“, schlug Daniel vor.

„Nein!“ Heftig setzte Bailey ihre Tasse auf dem Couchtisch ab. „Auf keinen Fall noch mehr Bodyguards. Eigentlich will ich überhaupt keinen Bodyguard mehr, der mir auf Schritt und Tritt folgt.“

„Das steht außer Frage.“ Ihr Vater, der während der Diskussion unverhältnismäßig still geblieben war, schaltete sich nun ein. Die Arme vor der Brust überkreuzt, stand Roger Hamilton vor dem marmornen Kamin und warf einen Blick in die Runde, der deutlich machte, dass er keinen Widerspruch duldete. „Die Bodyguards bleiben so lange in deiner Nähe, bis dein Angreifer gefasst ist.“

„Ich halte das nicht mehr aus.“ Mit einer um Verständnis heischenden Geste hielt sie ihm die geöffneten Handflächen entgegen. „Könnt ihr euch nicht vorstellen, wie grässlich es ist, ständig unter Bewachung zu stehen? Nein, das könnt ihr nicht, weil ihr alle das Recht habt, euch frei zu bewegen, ohne dass euch ständig jemand folgt.“

„Weil von uns auch keiner von einem Verrückten überfallen und einfach halbtot liegen gelassen wurde. Du hättest sterben können, Bailey“, erwiderte ihr Vater.

„Wenn derjenige, der mich überfallen hat, mich hätte töten wollen, dann würde ich jetzt nicht hier stehen.“

Bei diesen Worten zuckte ihre Mutter zusammen, und Bailey bereute sofort, so harsch gewesen zu sein. Auch wenn sie davon überzeugt war, dass sie recht hatte. Sie alle wussten immer noch nicht, weshalb Bailey vor zwei Monaten entführt worden war, aber sie war davon überzeugt, dass es dem Täter nicht darum gegangen war, sie zu töten.

Zumindest versuchte sie, sich das einzureden. Die Alternative – dass ihr Entführer vielleicht darauf spekuliert hatte, dass sie erst nach Tagen anstatt nach wenigen Stunden gefunden wurde – war zu schrecklich, um sie in Betracht zu ziehen.

Bailey verbarg das Gesicht in den Händen und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Als sie wieder aufsah, nahm sie den besorgten Ausdruck in den sonst so zuversichtlich blickenden braunen Augen ihrer Mutter wahr.

„Es tut mir leid“, sagte Bailey. „Aber ich kann so nicht weitermachen. Muss ich mich etwa den Rest meines Lebens verstecken?“

„Natürlich nicht für immer, Liebling. Du musst nur so lange warten, bis der Täter gefasst ist“, entgegnete ihre Mutter.

„Und wenn die Polizei ihn nie findet?“

Düsteres Schweigen erfüllte den Raum. Alle wussten, dass diese Möglichkeit durchaus bestand.

Bailey musste sich überwinden, um fortzufahren. „Wir müssen den Tatsachen ins Auge blicken: Das Ganze ist jetzt zwei Monate her – und die Chancen, dass die Polizei noch etwas herausfindet, stehen schlecht.“

„Sag das nicht“, unterbrach Lila sie heftig. „Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren. Sie werden denjenigen, der dir das angetan hat, ganz sicher finden und einsperren, Bailey.“

„Das werden sie sicher, Mom“, sagte Bailey, weil sie wusste, dass ihre Mutter das jetzt hören wollte. „Aber ich kann nicht wie eine Gefangene leben, bis es so weit ist.“

„Keiner hält dich gefangen, Bailey“, wies ihr Vater sie zurecht. An seinem strengen Gesichtsausdruck konnte sie ablesen, dass er in dieser Sache nicht nachgeben würde. Als er dann unvermittelt auf Geschäftliches zu sprechen kam, wusste sie, dass das Thema Bodyguards damit abgehakt war.

Bailey war so frustriert, dass sie am liebsten geschrien hätte.

Stattdessen ließ sie sich wieder ins Sofa sinken und hörte ihrer Familie nur mit halbem Ohr zu, während sie ihren eigenen Gedanken nachhing.

In den vergangenen zwei Monaten hatte die Angst ihr Leben komplett im Griff gehabt, doch dem wollte Bailey nun ein Ende machen.

Und das würde ihr am besten gelingen, wenn sie wieder anfing, das zu tun, womit sie sich vor dem Überfall beschäftigt hatte. Bailey beschloss, die Idee, die in der vergangenen Woche in St. Thomas in ihr aufgekeimt war, heute direkt anzusprechen. Sie wartete ab, bis die Unterhaltung über einen potenziellen neuen RHD-Zulieferer abgeschlossen war, bevor sie das Wort ergriff.

„Bevor ihr jetzt alle geht, wollte ich gerne noch etwas mit euch besprechen.“ Bailey hob das Kissen an ihre Brust und begann, nervös mit den Fingern über die Nähte zu fahren. „So wie es aussieht, wird die Presse nicht so bald lockerlassen. Deshalb denke ich, dass wir uns die derzeitige Publicity zunutze machen sollten.“

Alle im Raum sahen sie überrascht an.

Plötzlich mutiger geworden, legte Bailey das Kissen zur Seite und legte die Hände gefaltet in den Schoß. Sie atmete tief durch, bevor sie ihre Idee zum ersten Mal laut aussprach. „Ich finde, dass RHD eine zweite Show ansetzen sollte.“

Einen Moment lang sagte niemand etwas, bis Brianna das verblüffte Schweigen durchbrach. „Aber die Fashion Week war doch erst vor zwei Monaten.“

„Na, und? Gibt es etwa ein Gesetz, das verbietet, dass wir nur während der Fashion Week eine Show machen dürfen? Mir ist schon klar, dass die Modebranche nur ein paarmal im Jahr während der großen Shows im Fokus der Öffentlichkeit steht, aber im Moment sind aller Augen auf RHD gerichtet. Gut, der Grund dafür und die Umstände mögen schwierig sein, aber warum sollten wir nicht daraus Profit schlagen?“

Bailey wandte sich an ihre Schwester, auf deren Unterstützung sie üblicherweise zählen konnte. „Denk doch mal darüber nach, Brianna. Es wäre die perfekte Gelegenheit, um unsere neue Resort-Kollektion vorzustellen.“ An alle gerichtet fuhr sie fort. „Ich bitte euch doch nur, mal darüber nachzudenken.“

Bailey konnte die Spannung, die den Raum plötzlich erfüllte, fast körperlich spüren, aber sie würde nicht nachgeben. Sie musste sich einfach durchsetzen. Eine weitere Show würde ihr die Möglichkeit geben, ihre frühere Kraft und Energie, die ihr dieser verdammte Bastard genommen hatte, wiederzuerlangen. Wenn sie erst wieder auf dem Laufsteg stand, würde ihr das helfen. Davon war sie hundertprozentig überzeugt.

„Vielleicht ist eine außer der Reihe stattfindende Show keine so üble Idee, aber der Bodyguard bleibt“, entgegnete Roger Hamilton, dem sein Unbehagen deutlich anzumerken war.

„Dad …“

„Das diskutiere ich nicht, Bailey.“

„Dad hat recht“, mischte Daniel sich ein. „Du brauchst jemanden, der auf dich aufpasst.“

Wieder überkam Bailey das überwältigende Bedürfnis, laut zu schreien. Sie wusste, dass ihre Familie es nur gut mit ihr meinte, aber als Nesthäkchen der Familie hatte Bailey schon in der Kindheit eine ausreichend große Portion an Fürsorge bekommen. Vielleicht sollte sie einmal mit ihren Eltern alleine sprechen, wenn die älteren Brüder nicht dabei waren. Immerhin hatte sie erreicht, dass ihr Einfall Gehör gefunden hatte und ihr Vater ernsthaft bereit zu sein schien, darüber nachzudenken.

Das Gespräch nahm bald darauf eine andere Richtung und wandte sich der in Kürze stattfindenden Hochzeit von Kyle und Zoe zu. Bailey tat so, als ob sie der Unterhaltung interessiert folgte, doch innerlich fühlte sie sich vollkommen unbeteiligt. Wie konnte sie in ihrer Situation Interesse für Blumenarrangements und Geschenkelisten aufbringen, während sie gerade vor dem Scherbenhaufen ihres Lebens stand?

Bailey fragte sich, ob es ihr jemals wieder gutgehen würde. Immer wieder überfielen sie völlig unvermittelt Erinnerungen an den schrecklichen Moment der Entführung. Dann hatte sie das Gefühl, als ob ihr jemand die Kehle zudrückte, und ihr brach der kalte Schweiß aus.

Bailey strengte sich so an, wieder zurück zur Normalität zu finden. Aber wie zum Teufel sollte ihr das gelingen, wenn derjenige, der ihr das angetan hatte, immer noch draußen frei herumlief? Wie sollte sie sich jemals wieder normal fühlen, wenn sie ihr Leben unter der ständigen Bewachung von Bodyguards fristen musste?

Von allen Angstgefühlen, die sie seit der Entführung plagten, war dies das Schlimmste: die Angst, sich niemals wieder normal zu fühlen.

2. KAPITEL

„Hey, Chris, hast du das Material über den Korruptionsskandal der Preachers for Prosperity gefunden?“ Micah Jones blickte auf den Bildschirm vor sich und telefonierte über den Lautsprecher mit seinem Kollegen. „Ich brauche auch noch Ausschnitte aus Ezra Singletons neuem Film für das Interview heute Abend.“

Mit einer Hand blätterte er durch die auf seinem Schreibtisch verteilten Papiere, während er gleichzeitig durch das Onlinearchiv der New York Times scrollte. Micah war dabei, die Informationen, die er heute Abend in Connect, der von ihm produzierten und moderierten einstündigen Talkshow, die auf New Yorks WLNY Kabelkanal ausgestrahlt wurde, noch einmal zu überprüfen.

Micahs Blick fiel auf den zweiten Monitor, der im rechten Winkel von dem anderen Bildschirm auf seinem Schreibtisch stand, von dem ihn Bailey Hamiltons wunderschöne braune Augen anstrahlten. Das Foto war auf der gestrigen Pressekonferenz am Lincoln Center aufgenommen worden, und jedes Mal, wenn sein Blick darauf fiel, stockte ihm der Atem, so bezaubernd war sie.

Autor

Farrah Rochon
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