Romana Exklusiv Band 186

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SÜSSE UNSCHULD von MATHER, ANNE
In der spanischen Winzerdynastie de Montoya ist es ein Skandal: Antonio will eine Engländerin heiraten! Umgehend fliegt sein Bruder Enrique nach London, um das Unerhörte zu verhindern. Doch als er Antonios Zukünftiger gegenübertritt, erkennt er schlagartig, was Liebe ist …

SIZIALIANISCHE VERFÜHRUNG von REID, MICHELLE
Sechs Wochen hat der sizilianische Unternehmer Giancarlo Cardinale Zeit, die Wahrheit herauszufinden: Will die bezaubernde Natalia wirklich die Ehe seiner Schwester zerstören? Höchstpersönlich kümmert er sich um die junge Dame - und verfällt ihr vollkommen.

MITTEN IM PARADIES von WINSPEAR, VIOLET
Die schöne Bliss fühlt sich wie im Traum: Auf der griechischen Insel Dovima genießt sie himmlische Stunden in den Armen des attraktiven Millionärs Lukas Angelos. Sie begehrt diesen Mann so sehr! Aber warum spricht der stolze Grieche nie von Liebe?


  • Erscheinungstag 12.05.2009
  • Bandnummer 186
  • ISBN / Artikelnummer 9783862956036
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Anne Mather, Michelle Reid, Violet Winspear

ROMANA EXKLUSIV, BAND 186

ANNE MATHER

Süsse Unschuld

Es gilt einen Skandal zu verhindern: Antonio de Montoya – jüngster Spross einer spanischen Weindynastie – hat sich ganz unstandesgemäß mit einer Engländerin verlobt. Sein Bruder Enrique, Erbe der Weingüter, soll Cassandra die Hochzeit ausreden. Doch auch er kann sich dem zauberhaften Charme der süßen Engländerin nicht entziehen und begeht einen großen Fehler …

MICHELLE REID

Sizilianische Verführung

Sein Puls geht rasend schnell, als Giancarlo Cardinale der bezaubernd schönen Natalia gegenübersteht. Für sechs Wochen hat der sizilianische Unternehmer die junge Frau in seine Heimat eingeladen. Eigentlich nur, um herauszufinden, ob Natalia ein Verhältnis mit seinem Schwager hat. Ein kühl kalkulierter Plan, der plötzlich gefährlich ins Wanken gerät …

VIOLET WINSPEAR

Mitten im Paradies

Wie atemberaubend der Blick auf das türkisfarbene Meer ist! Dabei hatte es der schönen Bliss anfangs so gegraut, den griechischen Millionär Lukas Angelos hierher auf die kleine Insel zu begleiten. Schließlich hat sie ihn nur geheiratet, um ihrem Bruder aus der Klemme zu helfen. Doch jetzt spürt Bliss mitten im Paradies, wie viel Macht die Liebe hat …

1. KAPITEL

Enrique bekam eine leichte Gänsehaut, als er frühmorgens um sechs auf den Balkon hinaustrat. Es hatte in der Nacht geregnet, und die Luft war noch kühl.

In London war es kalt und bedeckt gewesen, und er war gern nach Andalusien zurückgeflogen, wo er zu Hause war und wo im Juni der Himmel meist blau war und die Sonne warm schien. Und dann hatte er diesen Brief vorgefunden.

Ich sollte noch im Bett liegen, statt hier zu stehen und zu grübeln, überlegte Enrique ärgerlich. Er umfasste das Geländer des Balkons und runzelte die Stirn. Was passiert wäre, wenn sein Vater den Brief gelesen hätte, wollte er sich lieber nicht ausmalen. Er hatte ungeöffnet auf Julio de Montoyas Schreibtisch gelegen, und dort hatte Enrique ihn am Abend entdeckt.

Mit den Fingerspitzen berührte er die Blüten der Prunkwinde, die sich an den Säulen unterhalb des Balkons in die Höhe rankte. Die Regentropfen, die noch an den weißen Blüten hingen, schimmerten in allen Farben. Dann betrachtete Enrique den Jasmin und die Bougainvilleen, die ihre ganze Pracht und Schönheit im Garten unter ihm entfalteten.

Er war immer der Meinung gewesen, dass sein Zuhause der schönste Platz der Welt sei. Doch an diesem Morgen konnte er sich über nichts freuen. Er quälte sich mit den lästigen Gedanken, die seine heile Welt zu zerstören drohten. Sogar die ersten zaghaften Sonnenstrahlen, die auf die Kirchturmspitze im Tal unterhalb des Palasts fielen, konnten ihn nicht aufheitern. Frustriert drehte er sich um und ging in sein Schlafzimmer zurück.

Nachdem er den Brief um drei Uhr in der Nacht zum x-ten Mal gelesen hatte, hatte er ihn neben das Bett auf den Boden geworfen, wo er immer noch lag. Obwohl er ihn am liebsten noch einmal gelesen hätte, tat er es nicht. Stattdessen stellte er sich im angrenzenden Badezimmer unter die Dusche.

Zuerst ließ er sich heißes Wasser über den Körper rinnen, um warm zu werden. Dann wusch er sich das Haar, seifte sich ein und drehte den Thermostaten auf kalt. Das eiskalte Wasser wirkte erfrischend und schärfte seine Sinne. Jetzt war er bereit, sich mit allem, was der neue Tag ihm brachte, auseinanderzusetzen.

Er nahm ein großes Handtuch vom Regal neben der Dusche und schlang es um seine Hüften. Mit einem anderen rieb er sich das glatte schwarze Haar trocken. Schließlich betrachtete er sich kritisch im Spiegel über dem Waschbecken, während er sich mit der Hand über die Bartstoppeln fuhr.

Seine gebräunte Haut wirkte weniger strahlend als sonst, und er hatte dunkle Ränder unter den Augen. Die Lippen hatte er zu einem dünnen Strich zusammengepresst, und seine feindselige Miene fand er selbst abstoßend. Warum die meisten Frauen ihn attraktiv fanden, war ihm ein Rätsel.

Ich habe mich überanstrengt, gestand er sich ein. Nach seiner Rückkehr aus London hatte er den ganzen Nachmittag an geschäftlichen Besprechungen teilgenommen. Obwohl er sehr erschöpft gewesen war, hatte Sanchia erwartet, dass er den Abend mit ihr verbrachte. Und nicht nur den Abend, wie sich herausstellte. Zu ihrer Enttäuschung hatte er es abgelehnt, bei ihr zu übernachten. Dennoch war er erst weit nach Mitternacht ins Bett gegangen und hatte wegen des Briefes nicht schlafen können.

In den nächsten Tagen würde sein Vater aus dem Krankenhaus entlassen. Bis dahin musste die Sache geregelt sein. Seine Mutter hatte ihm am Abend zuvor am Telefon überglücklich berichtet, sein Vater erhole sich nach der Operation gut. Julio de Montoya war jedoch noch längst nicht wieder gesund, und sie mussten jede Aufregung von ihm fernhalten.

Enrique presste die Lippen zusammen und fing an, sich zu rasieren. Verdammt, was verspricht sich diese kleine Hexe davon?, fragte er sich. Und wer war das Kind, das den Brief geschrieben hatte? Mit ihm oder Antonio war es bestimmt nicht verwandt, dessen war er sich sicher. Cassandra hatte die ganze Sache wahrscheinlich erfunden. Aber warum?

Cassandra …

Was, zum Teufel, war mit ihm los? Weshalb war er plötzlich so beunruhigt? Diese Frau durfte sein Leben nicht noch einmal zerstören. Auch wenn sie Antonios Witwe war, gehörte sie nicht zu seiner Familie.

Nachdem Enrique sich rasiert hatte, zog er eine leichte Baumwollhose und ein schwarzes T-Shirt an. Dann schlüpfte er in die Schuhe aus weichem Leder, ehe er den Brief aufhob und ihn noch einmal las.

Er war nur kurz, und ein Kind schien ihn geschrieben zu haben. Hatte Cassandra etwa ihre Schrift verstellt? Es war nicht auszuschließen. Jedenfalls bezweifelte Enrique, dass der Brief echt war.

Am liebsten hätte er ihn zerrissen und weggeworfen. Dann könnte er die ganze Sache vergessen. Cassandra würde sich nicht noch einmal an seine Familie wenden, dessen war er sich sicher.

Doch trotz seines Misstrauens und der Tatsache, dass Antonio keine Kinder gehabt hatte, war Enrique neugierig, was dahintersteckte.

Sogar das Briefpapier empfand er als Beleidigung. Es war ein liniertes Blatt aus einem Schulheft oder dergleichen. Wahrscheinlich sollte damit der Eindruck verstärkt werden, ein Kind hätte den Brief geschrieben. Er verzog die Lippen, während er das Blatt aus dem Briefumschlag zog.

Lieber Großvater,

Du kennst mich nicht, und meine Mum sagt, Du wolltest mich auch nicht kennenlernen. Aber das glaube ich nicht. Ich wünsche mir, wir wären Freunde. Deshalb habe ich meine Mum überredet, mit mir dieses Jahr in den Ferien nach Spanien zu fahren. Wir kommen am zwölften Juni an und wohnen in der Pension del Mar in Punta del Lobo. Es liegt am Meer, aber ich weiß nicht, wie weit es von Tuarega entfernt ist. Du kannst mich bestimmt besuchen. Ich glaube auch, dass meine Mum sich freut, Dich zu sehen. Liebe Grüße von Deinem Enkel David de Montoya

Enrique biss die Zähne zusammen. Wie kann sie es wagen, ihrem Kind den Familiennamen de Montoya zu geben?, fragte er sich zornig. Wenn es überhaupt ein Kind gab, musste es nach Antonios Tod zur Welt gekommen sein. Und Enrique wusste, dass …

Nein, auf diese Gedanken wollte er sich jetzt nicht einlassen. Es ging hier nicht darum, was er über Cassandra Scott oder de Montoya, wie sie jetzt hieß, wusste oder nicht wusste. Wichtig war nur, dass dieser Brief seinem Vater nicht in die Hände fallen durfte. Momentan musste man jede Aufregung von dem alten Mann fernhalten.

Enrique zerknüllte das Blatt und warf es in den Papierkorb. Doch dann überlegte er es sich anders. Jemand könnte es dort finden und die Nachricht lesen. Deshalb holte er es wieder heraus und strich es glatt. Schließlich legte er es in das Buch in seiner Nachttischschublade.

Das Problem war damit aber noch längst nicht gelöst, wie Enrique sich später eingestand, als er in dem Säulengang des Innenhofs frühstückte. Um diese Zeit war es sehr angenehm, draußen zu sitzen. Normalerweise würde er jetzt schon mit den Managern seines Vaters über alle möglichen Fragen und Probleme diskutieren. Enrique vertrat seinen Vater und war momentan der alleinige Geschäftsführer des Familienunternehmens. Er nahm seine Verantwortung sehr ernst. Dass er sich an diesem Morgen auf nichts konzentrieren konnte, störte ihn sehr. Aber immer wieder musste er daran denken, dass es schon der fünfzehnte Juni war und Cassandra sich mit ihrem Sohn, wenn es ihn überhaupt gab, ungefähr fünfzig Kilometer entfernt in Punta del Lobo aufhielt. Würde sie es etwa wagen, zu ihnen nach Tuarega zu kommen?

Er stand auf und wanderte mit der Tasse Kaffee in der Hand über den Innenhof zu dem Brunnen. Neben dem Becken blieb er stehen und betrachtete die Wasserlilien, während er versuchte, sich zu beruhigen. Der Innenhof war von drei Seiten von den verschiedenen Flügeln des Palasts umgeben. Die vierte Seite war offen und mit leuchtend rotem Oleander und purpurfarbenen Azaleen bepflanzt, deren Duft Enrique an diesem Morgen kaum ertragen konnte. Eine warme Brise wehte ihm das Haar in die Stirn, und ungeduldig strich er es mit den Fingern zurück.

Verdammt, warum ausgerechnet jetzt, nachdem sie sich zehn Jahre nicht gemeldet hat?, überlegte er und trank einen Schluck Kaffee. Hatte sie vielleicht irgendwie erfahren, dass sein Vater krank war? Glaubte sie etwa, der alte Mann sei dadurch etwas zugänglicher und toleranter? Was soll ich jetzt machen?, fragte Enrique sich.

Cassandra beobachtete ihren Sohn, der im Wasser spielte. Er hatte sich mit Horst, dem Sohn eines deutschen Ehepaars, das in derselben Pension wohnte, angefreundet. Die Bucht war für Kinder geradezu ideal. Sie gestand sich ein, dass ihnen der Urlaub, den sie nur widerstrebend gebucht hatte, guttat.

Es war beinah fünf Uhr, und Cassandra hatte das Gefühl, lange genug in der Sonne gelegen zu haben. Sie hatte sich noch nicht an das Klima gewöhnt, was auch kein Wunder war, denn sie waren erst vor drei Tagen in diesem kleinen Ort in Andalusien angekommen. Cassandra wollte keinen Sonnenbrand riskieren.

David kannte solche Probleme nicht. Er hatte dunkles Haar und eine dunklere, weniger empfindliche Haut als sie. Dennoch bestand Cassandra darauf, dass er sich mit einem Sonnenschutzmittel schützte. Aber da er einen spanischen Vater hatte, vertrug er das heiße Klima besser als sie, obwohl er in England aufgewachsen war.

So braun wie er werde ich nie, dachte sie, während sie mit ihren schlanken Fingern den Sand von ihren Armen wischte. Ihre Haut wurde nur rosa oder rot, und sobald Cassandra sich nicht mehr der Sonne aussetzte, wurde sie rasch wieder hell.

Sie sah sich um und stellte fest, dass sich der Strand, der beinah ausschließlich von Touristen benutzt wurde, rasch leerte. Die meisten Urlauber gingen in ihre Hotels und Pensionen zurück, die an dem Hügel oberhalb des kleinen Ortes Punta del Lobo lagen. Cassandra gab ihrem Sohn ein Zeichen, dass sie auch gehen wollten.

David zuliebe aß Cassandra früher zu Abend als viele der anderen Gäste, weil er morgens schon sehr früh aufstand. Es gefiel ihr, in einem der Straßencafes oder kleinen Restaurants um den Marktplatz herum zu sitzen. Sie freute sich schon auf das Glas Wein, das sie sich normalerweise nach dem Abendessen gönnte.

Nachdem sie ihre und Davids Sachen in die Strandtasche gesteckt hatte, blickte sie sich noch einmal um. Obwohl Tuarega ungefähr eine Autostunde von hier entfernt war, verspürte sie immer ein seltsames Unbehagen, wenn der Strand so menschenleer war wie jetzt.

Eigentlich rechnete sie nicht damit, irgendwelchen Bekannten zu begegnen. Niemand wusste, dass sie hier war, und sie brauchte nichts zu befürchten. Es wäre ein großer Zufall, wenn die de Montoyas in Punta del Lobo auftauchten. Wahrscheinlich machte sie sich unnötige Sorgen.

Als David wieder einmal davon geredet hatte, in den Ferien nach Spanien zu fliegen, hatte sie lange gezögert. Zum ersten Mal hatte er es mit sechs oder sieben Jahren vorgeschlagen, und es war relativ leicht gewesen, es ihm auszureden. Doch in diesem Jahr hatte er sich nicht davon abbringen lassen. Schließlich hatte sie nachgegeben und sich gesagt, Spanien sei groß genug, sie würde den de Montoyas sicher nicht über den Weg laufen.

Dann hatte David ausgerechnet diesen kleinen Ort in Andalusien als Urlaubsziel ausgesucht. Um keine neugierigen Fragen zu provozieren, hatte Cassandra sich dann entschlossen, die Reise zu buchen. Glücklicherweise hatte in der Pension niemand gefragt, ob sie mit den de Montoyas verwandt sei. Punta del Lobo war eben nicht Cadiz, und sie war sich jetzt sicher, in diesem kleinen Ort würde niemand sie mit den de Montoyas in Verbindung bringen.

Ihr Vater war natürlich entsetzt gewesen. Aber er war sowieso der Meinung, sie hätte ihrem Sohn nicht erzählen dürfen, dass er einen spanischen Vater hatte. Doch weshalb hätte sie es ihrem Kind verschweigen sollen? David hätte es früher oder später selbst gemerkt, schon allein wegen des spanischen Namens. War es ein Fehler gewesen, dass sie nicht auf ihren Vater gehört hatte?

Ach, es darf einfach nichts passieren, dachte sie, während David angerannt kam und sie mit Wasser bespritzte. Horst folgte ihm. Cassandra lächelte den Jungen freundlich an. Seine Eltern waren nach Sevilla gefahren. Ihr Sohn war nicht mitgefahren, sondern hatte lieber mit David spielen wollen. Deshalb hatte Cassandra sich bereit erklärt, auf ihn aufzupassen. Er war ein netter Junge und viel gehorsamer als ihr eigener Sohn.

Bei dem Vater ist es auch nicht überraschend, dass David so eigenwillig ist, sagte sie sich. Doch sogleich verdrängte sie den Gedanken wieder. Sie wollte sich nicht daran erinnern, was für stolze, arrogante Vorfahren ihr Sohn hatte. Es war sowieso beinah unmöglich, zu vergessen, was vor zehn Jahren geschehen war, denn der Junge sah seinem Vater sehr ähnlich.

Sie konnte sich ein Leben ohne ihren Sohn nicht vorstellen. Die Angst, die Familie seines Vaters würde eines Tages etwas von seiner Existenz erfahren, war allgegenwärtig. Wenn David erwachsen war und eigene Entscheidungen treffen konnte, würde sie ihm vielleicht erzählen, wer sein Vater war. Doch das hatte noch Zeit.

„Müssen wir schon gehen?“ David rieb sich mit dem Badetuch das Haar trocken.

Cassandra lächelte und reichte Horst auch ein Badetuch. „Ja. Alle anderen sind schon weg. Fällt dir nicht auf, dass wir die Letzten sind?“

David schnitt ein Gesicht und zog leicht arrogant eine Augenbraue hoch.

Er reagiert genau wie sein Vater, schoss es ihr durch den Kopf. „Es ist wirklich schon spät, wir sollten zurückgehen“, erklärte sie betont energisch. Sie ärgerte sich über ihre Gedanken.

„Es war ein schöner Tag, Mrs. de Montoya“, sagte Horst. „Es war sehr nett von Ihnen, dass ich bei David bleiben durfte.“

„Das ist doch selbstverständlich“, erwiderte Cassandra und forderte ihren Sohn auf, seine Shorts anzuziehen. „Wir haben uns gefreut, dass du da warst. Stimmt’s, David?“

„Was? Ach so, ja.“ David schnitt wieder ein Gesicht. „Es macht mir Spaß, ihm zu beweisen, was für ein Schwächling er ist.“

„Weißt du, was du bist? Ach, in Gegenwart deiner Mutter sage ich es lieber nicht.“ Horst musste lachen.

„Nur keine Hemmungen“, neckte David ihn. Dann liefen sie über den Strand und wälzten sich schon bald lachend im Sand.

Cassandra seufzte und folgte ihnen mit großen Schritten. David war größer und geschickter als Horst, und er war ein hübscher Junge. Cassandra konnte sich gut vorstellen, wie attraktiv er einmal werden würde. Hoffentlich schlägt er nicht in jeder Hinsicht nach seinem Vater, dachte sie deprimiert.

Die Pension del Mar war relativ klein. Eine gestreifte Markise schützte die weiße Fassade vor der Sonne. Der Service war überraschend gut, obwohl es eins der preisgünstigsten Angebote gewesen war. Señor Movida, der Inhaber, war ein freundlicher, netter Mann und bemühte sich sehr, seinen Gästen den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen.

Zu ihrer Erleichterung stand der kleine Fiat, den Horsts Eltern gemietet hatten, auf dem Parkplatz vor der Pension. Und Horsts Vater wartete am Eingang schon auf seinen Sohn, der ihm entgegenlief.

„Er hat Glück“, sagte David leise.

Cassandra blickte ihn verblüfft an. „Wie bitte?“

„Horst kann glücklich sein, dass er einen Vater hat“, erklärte David mürrisch. „Vielleicht ist Post für uns da“, fügte er hinzu.

„Post?“, wiederholte sie verständnislos. „Wer sollte uns schon schreiben? Mit deinem Großvater haben wir erst gestern Abend am Telefon gesprochen.“

David zuckte die Schultern. „Ach, es war nur ein Gedanke“, antwortete er.

Plötzlich überlief es Cassandra kalt. Doch ehe sie überlegen konnte, was Davids Bemerkung zu bedeuten hatte, kam Horsts Vater auf sie zu.

„Ich möchte mich dafür bedanken, dass Sie auf Horst aufgepasst haben, Mrs. de Montoya.“ Der Mann betrachtete bewundernd und ungeniert ihre schlanke Gestalt. „Hat er sich gut benommen?“

Sie war sich auf einmal viel zu bewusst, wie feucht ihr knöchellanger Baumwollrock war. „Ja, das hat er“, versicherte sie ihm. „Hat sich der Ausflug gelohnt?“

„O ja, es war sehr interessant.“ Der Mann nickte. „Wir haben einige Paläste und Museen besichtigt. Meinem Sohn hätte es sicher nicht gefallen.“

„Das glaube ich auch.“ Sie rang sich ein Lächeln ab. „David würde sicher auch nicht mit nach Sevilla fahren.“

„Wissen Sie, dass de Montoya in Andalusien ein sehr häufiger Name ist?“, fragte Horsts Vater. „Wir haben uns Literatur beschafft, und daraus geht hervor, dass die Familie de Montoya für die Qualität ihrer Weine und die prächtigen Stiere berühmt ist, die sie auf ihrem riesigen Landgut nicht weit von hier züchtet. Sind Sie vielleicht mit dieser Familie verwandt, Mrs. de Montoya?“

„Nein“, antwortete sie hastig.

In dem Moment kam ein Mann aus dem Haus. Cassandra wurde blass. Sie legte David schockiert die Hand auf die Schulter und stand wie erstarrt da. Das ist doch völlig unmöglich, schoss es ihr durch den Kopf. Aber es war wirklich Enrique de Montoya. Er blieb stehen und beobachtete die Szene vor ihm kühl und irgendwie verächtlich.

Du liebe Zeit, das gibt es doch gar nicht, überlegte Cassandra. Außer ihrem Vater hatte sie niemandem verraten, wo sie Urlaub machte. Ihr Chef, der Inhaber der Buchhandlung, in der sie arbeitete, wusste natürlich, dass sie in Spanien war, mehr jedoch nicht. Von ihm konnten es die de Montoyas nicht erfahren haben.

Ihr Mund war plötzlich wie ausgetrocknet. Enrique sah noch genauso aus wie damals, er war noch genauso stolz, arrogant, herablassend und attraktiv. Vor zehn Jahren hatte sie sich viel zu sehr zu ihm hingezogen gefühlt, was er rücksichtslos ausgenutzt hatte.

„Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte Horsts Vater besorgt.

Cassandra hoffte verzweifelt, es sei reiner Zufall, dass Enrique hier aufgetaucht war. Vielleicht erkannte er sie ja gar nicht. David hatte er sowieso noch nie gesehen, und er ahnte auch nicht, dass es ihn überhaupt gab.

„Ich habe Kopfschmerzen“, improvisierte sie. „Wahrscheinlich war ich zu lange in der Sonne. David, komm mit, ich muss mir in der Apotheke Tabletten holen.“

„O, Mum!“, rief David aus. „Muss das sein? Wir sind doch gerade erst vom Strand zurückgekommen. Ich will duschen.“

„David!“

„Vielleicht kann ich Ihnen helfen“, mischte Horsts Vater sich ein. „Ich fahre gern für Sie zur Apotheke.“

„Nein, ich …“

Und dann war alles zu spät. Enrique kam auf sie zu, ehe Cassandra den Satz beenden und eine plausible Ausrede finden konnte, weshalb sie selbst in die Apotheke gehen müsse.

„Cassandra?“, fragte er. Beim Klang der ihr so vertrauten Stimme überlief es sie heiß. „Du bist es doch, Cassandra, oder täusche ich mich?“

Enrique de Montoya täuscht sich nie, jedenfalls würde er es nie zugeben, dachte sie. Dann hob sie den Kopf und sah ihn an.

„Und das ist … David, nehme ich an“, fuhr er fort und musterte den Jungen überrascht und irgendwie fassungslos.

Cassandra war verblüfft. Woher kannte er den Namen ihres Sohnes? Am liebsten hätte sie ihn aufgefordert, sich den Jungen genau anzusehen. Vielleicht begriff er dann, was er getan und was er verloren hatte.

Sie schwieg jedoch. Horsts Vater stand immer noch da und beobachtete Enrique und Cassandra neugierig und interessiert. Wahrscheinlich überlegte er, was ein so eleganter, attraktiver Mann wie Enrique de Montoya mit einer ziemlich zerzaust und aufgelöst wirkenden Engländerin zu tun haben mochte. Enriques dreiteiliger Anzug war bestimmt ein Designermodell, während Cassandras Outfit unauffällig und nichts Besonderes war.

„Sind Sie ein Freund von Mrs. de Montoya?“, fragte Horsts Vater schließlich.

„Kennst du meinen Großvater?“, wollte David wissen.

Cassandra war verblüfft. Woher wusste ihr Sohn etwas über seinen Großvater?

„Ich bin … dein Onkel Enrique, David“, stieß Enrique angespannt hervor. „Es freut mich, dich endlich kennenzulernen.“

„Sie sind Enrique de Montoya? Der Enrique de Montoya?“ Horsts Vater konnte seine Neugier kaum zähmen, und Cassandra wünschte, er würde sich taktvoll zurückziehen.

Enrique straffte die Schultern und sah den anderen Mann kühl an. „Ja, genau der bin ich“, antwortete er und lächelte höflich. „Und wer sind Sie?“

„Franz Kaufman“, stellte Horsts Vater sich vor und reichte Enrique die Hand. „Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.“

Enrique zögerte absichtlich sekundenlang, damit der andere Mann sich unbehaglich fühlte. Dann schüttelte er ihm die Hand. „Ganz meinerseits“, antwortete er, ehe er sich wieder zu Cassandra und David umdrehte.

„Bist du wirklich mein Onkel?“ David konnte es kaum glauben.

Endlich merkte auch Franz Kaufman, dass er störte. „Entschuldigen Sie mich bitte. Meine Frau und ich wollten noch spazieren gehen“, erklärte er.

Enrique zog eine Augenbraue hoch. Wahrscheinlich hat er angenommen, Horsts Vater sei mein Begleiter, überlegte Cassandra verbittert. Sie wünschte, sie könnte diesen Mann, der versucht hatte, ihr Leben zu zerstören, irgendwie verletzen.

2. KAPITEL

Als Franz Kaufman weg war, herrschte bedrückendes Schweigen. Enrique war sich bewusst, dass er die Frage des Jungen beantworten musste. Obwohl er ruhig und beherrscht wirkte, waren seine Nerven zum Zerreißen gespannt.

Dabei hatte er geglaubt, genau zu wissen, was er tat, als er nach Punta del Lobo gefahren war. Er hatte Cassandra wegen des Briefes zur Rede stellen und sie von seinem Vater fernhalten wollen. Aber jetzt war er der Meinung, er wäre am besten gar nicht gekommen.

„Ich … ja, ich bin dein Onkel“, sagte er schließlich. Es hatte keinen Sinn, es abzustreiten. „Antonio de Montoya war mein Bruder“, fügte er hinzu und bemerkte, dass Cassandra sich offenbar genauso elend fühlte wie er. „Du bist doch David, oder?“

Ehe der Junge antworten konnte, hatte Cassandra ihn an den Schultern gepackt und zu sich umgedreht. „Was hast du gemacht, David?“, fragte sie aufgewühlt.

Ihr Sohn errötete. „Ich habe dir doch gesagt, dass vielleicht Post für uns da ist“, erwiderte er und versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien. „Ich wusste nicht, dass … er hier auftauchen würde.“

Nein, das konnte er wirklich nicht wissen, dachte Enrique.

Aber vielleicht hätte er vermuten können, dass man auf seinen Brief reagieren würde. Oder hatte der Junge etwa angenommen, sein Großvater wisse, dass es ihn gab?

„Hast du geglaubt, wir würden deinen Brief ignorieren?“ Enrique war sich sehr bewusst, dass Cassandra wie erstarrt neben ihrem Sohn stand und ihn, Enrique, genauso feindselig ansah wie damals. Dabei war sie an dieser Situation selbst schuld. Er konnte nichts dafür, dass sie ihm und seiner Familie ihren Sohn verheimlicht hatte.

„Nein.“ David drehte sich um und war offenbar froh, vom Zorn seiner Mutter abgelenkt zu werden. „Ich habe gewusst, dass ihr mich kennenlernen wollt. Immer wieder habe ich meiner Mum erklärt, ich wolle meinen spanischen Großvater besuchen. Aber sie hat behauptet, ihr wärt nicht an mir interessiert.“

„So?“ Enriques Stimme klang verbittert. „Aber sie hat dich doch aufgefordert, uns zu schreiben, oder?“

„Nein!“, rief Cassandra ärgerlich aus. „Das würde mir überhaupt nicht einfallen …“

„Nein, das hat meine Mum nicht getan“, unterbrach David seine Mutter aufgeregt. „Ich habe eure Adresse in dem Pass meines Vaters entdeckt“, erklärte er stolz. „Der liegt in einem Kästchen in Mums Schrank. Dads Brieftasche und alte Briefe liegen auch darin.“ Er seufzte reumütig und wandte sich an seine Mutter. „Es tut mir leid. Ich habe das Kästchen gefunden, als ich … etwas anderes suchte.“

„Was denn?“, fragte Cassandra gefährlich ruhig.

David zuckte die Schultern. „Meine Schleuder“, antwortete er.

„Wie bitte? Du hast die Schleuder in meinem Kleiderschrank gesucht? Erwartest du wirklich, dass ich dir das glaube?“

„Es stimmt aber“, verteidigte David sich. „Ich hatte schon in der Schublade mit den Slips und so nachgesehen …“

Obwohl die Sache gar nicht komisch war, musste Enrique lächeln.

„Findest du das auch noch lächerlich?“, fuhr Cassandra ihn zornig an, als sie seine belustigte Miene bemerkte. „Etwas anderes kann ich wohl von dir nicht erwarten. Wahrscheinlich ist das alles für dich ein großer Spaß. Wenn du nach Hause kommst, kannst du dich mit deinem Vater kaputtlachen. Am besten fährst du sogleich zurück. Hier gibt es nichts für dich zu tun.“

Enrique wurde wieder ernst. „Meinst du? Leider muss ich dir widersprechen.“

Sekundenlang war Cassandra entsetzt, sie hatte sich jedoch rasch wieder unter Kontrolle. „Es ist alles gesagt worden“, stellte sie angespannt fest.

Er schüttelte jedoch den Kopf. „Nein“, entgegnete er kühl. „Ich möchte dir noch sagen, dass mein Vater in Sevilla im Krankenhaus liegt. Wenn er nicht vor zehn Tagen operiert worden wäre, hätte er sich vermutlich selbst um David gekümmert.“

Cassandra schwieg. Was hätte sie auch antworten können?

„Wir fliegen in ungefähr zwei Wochen nach England zurück. Ist er bis dahin wieder gesund?“, fragte David seinen Onkel mit ernster Miene.

„Das ist völlig egal“, mischte Cassandra sich ein. „Ich erlaube dir nicht, Kontakt mit den de Montoyas zu haben, David. Wir sind neun Jahre lang gut ohne sie zurechtgekommen. Ich habe nicht vor, das zu ändern.“

Enrique war jetzt klar, dass sie mit dem Brief nichts zu tun hatte.

„Aber sie gehören doch genauso zu meiner Familie wie du und mein anderer Großvater“, rief David empört aus und verzog trotzig die Lippen.

„Diese Leute wollen nichts mit dir zu tun haben“, stieß Cassandra angespannt hervor. „Das stimmt doch, oder?“ Sie blickte Enrique mit Tränen in den Augen an. „Verdammt, sag ihm doch endlich die Wahrheit!“

Erst um acht Uhr abends war Enrique wieder in Tuarega. Nachdem er in Punta del Lobo gewesen war, war er noch mindestens eine Stunde ziellos umhergefahren. Er hatte versucht, sich zu beruhigen und mit dem, was er erfahren hatte, zurechtzukommen.

Weder er noch sein Vater hatten jemals daran gedacht, dass Antonio und seine Frau ein Kind haben könnten. Obwohl Antonio wenige Stunden nach der Hochzeit ums Leben gekommen war, bezweifelte Enrique nicht, dass David ein de Montoya war. Der Junge hatte offenbar von sich aus Julio de Montoya geschrieben, ehe er und seine Mutter nach Spanien gereist waren.

Enrique stöhnte auf. Natürlich hätte er zu gern Cassandra die Schuld gegeben. David war erst neun Jahre alt, und sie war für ihn verantwortlich. War es wirklich so schwierig, ihn zu beaufsichtigen und zu kontrollieren, was er machte?

Aber letztlich konnte Enrique das nicht beurteilen, wie er sich eingestand. Nur weil die Söhne und Töchter seiner Freunde brav und gehorsam waren, konnte er daraus nicht schließen, dass andere Kinder genauso waren. Na ja, der Junge ist ja auch ein de Montoya, das lässt sich nicht leugnen, deshalb ist er wahrscheinlich sehr eigensinnig, sagte Enrique sich spöttisch.

Es kam ihm ungerecht und unfair vor, dass Cassandra ihm und seiner Familie die Existenz des Jungen verschwiegen hatte. Aber kann man es ihr wirklich verübeln?, fragte er sich. Nach allem, was geschehen war und was er ihr angetan hatte, glaubte sie sicher, es sei ihr gutes Recht gewesen, den Kontakt nach Antonios Tod abzubrechen.

Für Enriques Vater würde es ein Schock sein. Wenn er gewusst hätte, dass er einen Enkel hatte, hätte er sicher Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um das Sorgerecht zu bekommen. Einen anderen Enkel hatte er nicht, und für Julio de Montoya war die Familie das Wichtigste im Leben. Es wäre ihm in dem Fall egal gewesen, dass er Cassandra nicht mochte und versucht hatte, die Hochzeit zu verhindern.

Da Cassandra sich dessen natürlich bewusst gewesen war, hatte sie die Familie ihres Mannes nicht über die Geburt ihres Sohnes informiert. Sie hatte schmerzlich erfahren müssen, wie rücksichtslos sein Vater sein konnte und wie rücksichtslos er, Enrique, die Wünsche seines Vaters hatte durchsetzen wollen.

Darüber wollte er jedoch jetzt nicht nachdenken. Es war nicht der richtige Zeitpunkt für Gewissensbisse. Er durfte nicht vergessen, dass Cassandra Antonio von seiner Familie und der jungen Frau, mit der er verlobt gewesen war, weggelockt hatte. Hatte sie etwa Gewissensbisse gehabt? Es hatte ihr noch nicht einmal leidgetan, dass sie …

Enrique atmete tief ein. Nein, er wollte seine eigene Rolle bei der ganzen Sache lieber nicht hinterfragen. Es hatte tragisch geendet, und das war schlimm genug. Cassandra hatte Antonios Ehre und seine Zukunft, sein Leben zerstört. Hatte sein Bruder etwa herausgefunden, dass seine Frau ihn betrogen hatte? War vielleicht deshalb der Unfall passiert, als sie unterwegs in die Flitterwochen gewesen waren?

Nein, das kann ich mir nicht vorstellen, dann müsste Antonio auch herausgefunden haben, was mein Vater und ich geplant hatten, überlegte Enrique. Cassandra hätte sich in dem Fall bestimmt mit ihnen in Verbindung gesetzt und versucht, sich zu rächen.

Glücklicherweise hatte er sich nicht anmerken lassen, wie betroffen er über Davids Existenz war. Cassandra musste glauben, er hätte den Schock rasch überwunden und sei zornig, weil sie ihnen ihren Sohn verheimlicht hatte. Zweifellos hielt sie ihn für gefühllos, und das war ihm auch lieber.

Aber wie sollte er es seinem Vater beibringen? Enrique schüttelte den Kopf. Vor zehn Jahren wäre es viel leichter gewesen. Damals war Julio de Montoya noch völlig gesund, sehr dominant, rücksichtslos und jeder Situation gewachsen. Deshalb hatte er es auch nicht hinnehmen wollen, dass Antonio sich ihm widersetzt und darauf bestanden hatte, die Engländerin zu heiraten, die er während seines Studiums in London kennengelernt hatte. Julio hätte beinah alles getan, um diese Heirat zu verhindern. Er hatte sogar seinen ältesten Sohn nach England geschickt und ihn aufgefordert, mit allen Mitteln dafür zu sorgen, dass Antonio und Cassandra nicht heirateten.

Dass ich keinen Erfolg hatte, hat mein Vater mir nie verziehen, dachte Enrique. Sein Vater ahnte natürlich nicht, was wirklich geschehen war und warum er, Enrique, unverrichteter Dinge nach Hause zurückgekommen war.

Wenn er Antonio die Wahrheit gesagt hätte, hätte sein Bruder die Hochzeit in letzter Minute abgesagt, dessen war Enrique sich sicher. Er hatte jedoch geschwiegen, weil er sich viel zu sehr geschämt und sich wegen der Rolle, die er in der ganzen Sache gespielt hatte, verachtet hatte. Deshalb hatte er Cassandra schließlich gewinnen lassen.

Wieso gewinnen?, fragte er sich jetzt. Hatte sie wirklich gewonnen? Er wusste es selbst nicht.

Als er durch das Tal fuhr, das sich seit Jahrhunderten im Besitz seiner Familie befand, war es dunkel. Die angestrahlte Spitze der Kirche San Tomas und die vielen erleuchteten Fenster der Häuser im Dorf waren ein beruhigender Anblick. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, dass hier noch alles so war wie vor hundert Jahren. Es hatte sich jedoch viel verändert, vor allem während der Präsidentschaft General Francos. Glücklicherweise hatte man das politische Klima in dieser ländlichen Gegend nie so deutlich gespürt wie in den Städten. Während er an den Feldern und Weiden vorbeifuhr, auf denen die Stiere grasten, war er stolz auf das, was seine Familie erreicht hatte.

Plötzlich erinnerte er sich daran, dass er seiner Mutter versprochen hatte, sie an diesem Abend vor sieben anzurufen. Sie hielt sich in dem Apartment der Familie in Sevilla auf, solange ihr Mann im Krankenhaus lag. Er gestand sich reumütig ein, dass er in den letzten Stunden andere Dinge im Kopf gehabt und seine Mutter vergessen hatte.

Sie würde glauben, der Gesundheitszustand seines Vaters interessiere ihn nicht. Seit Julio krank war, war Elena de Montoya überempfindlich. Oft fühlte sie sich beleidigt oder verletzt, obwohl sie gar keinen Grund dafür hatte. Vielleicht befürchtete sie, sie würde durch die Krankheit ihres Mannes an Autorität verlieren oder Enrique würde sie nicht mehr respektieren, falls Julio starb. Das war natürlich absurd.

Seit Julios Herzanfall vor einigen Monaten stellte sie immer mehr Ansprüche an ihren Sohn und seine Zeit. Enrique war klar, dass er unter den Umständen kaum etwas anderes erwarten konnte. Dennoch fiel es ihm nicht leicht, seine eigenen Interessen mit denen seiner Eltern in Einklang zu bringen.

Neben dem Säulengang des Gebäudes, in dem man früher die Wagen und Geräte untergebracht hatte und das jetzt als Garage diente, stellte er seine Limousine ab. Er musste sich entscheiden, was er machen wollte. Seiner Mutter wollte er jedenfalls noch nicht erzählen, was er erfahren hatte.

Er nickte dem Mitarbeiter zu, der aus dem Gebäude kam, damit dieser sich um das Auto kümmerte. Dann ging er mit großen Schritten über den Vorhof auf den prunkvollen Eingang des Palasts zu und eilte durch die Eingangshalle mit der hohen Decke. Dies war der älteste Teil des Palasts im maurischen Stil, und hier war die Vergangenheit noch lebendig. Der Name Tuarega ging auf die Sarazenen zurück, die diesen Teil Spaniens während der Kreuzzüge erobert und besetzt hatten, und nicht auf den Volksstamm in der Sahara, wie Enrique früher einmal geglaubt hatte.

Die Sarazenen waren von spanischen Eroberern vertrieben worden, und man hatte den Palast in vergangenen Jahrhunderten erweitert. Er war sehr geräumig, hell und kühl, und viele Handwerker und Künstler waren damit beschäftigt, ihn in Stand zu halten und die ursprüngliche Architektur wieder herzustellen und zu erhalten.

Den Innenhof, in dem Enrique am Morgen gefrühstückt hatte, ließ er links liegen und ging die Marmortreppe hinauf auf die Galerie. Dort begegnete er einem der Angestellten, der ihn fragte, ob er etwas essen wollte. Doch dafür interessierte Enrique sich momentan nicht. Zuerst musste er seine Mutter anrufen, dann musste er nachdenken.

Cassandra war sehr verschlossen und unfreundlich gewesen. Sie hatte ihm noch nicht einmal erlaubt, mit David zu reden, weder allein noch in ihrem Beisein. Stattdessen hatte sie den Jungen mit sich in die Pension gezogen und hoffte wahrscheinlich jetzt, nie wieder einem Mitglied der Familie de Montoya zu begegnen.

Das wäre ziemlich naiv, sagte Enrique sich und öffnete die Tür zu seinem Apartment. Dann löste er die Krawatte und legte sie achtlos weg. Was auch immer er empfand, er konnte die Tatsache nicht ignorieren, dass David sein Neffe war. Zum Abschied hatte er dem Jungen versprochen, sie würden sich bald wieder sehen. Doch Cassandra hatte kühl entgegnet: „Nur über meine Leiche.“

Es war ihm jedoch völlig egal, ob Cassandra es ihm leicht oder schwer machte. David war ein de Montoya, und früher oder später würde er zu der Familie seines spanischen Vaters gehören.

3. KAPITEL

Cassandra stützte das Kinn in die Hände und betrachtete ihren Sohn über den Tisch hinweg. Sie war zornig, aber sie konnte ihn auch irgendwie verstehen.

Immerhin war es nicht seine Schuld, dass sie ihm nie die Wahrheit über seine Verwandten väterlicherseits gesagt hatte. Sie hatte es immer vermieden, über die Familie ihres verstorbenen Mannes zu reden, und gehofft, David wäre damit zufrieden, dass sie mit den de Montoyas keinen Kontakt haben wollte. Der Junge hatte trotzdem eine große Familie, denn Cassandra hatte zwei Schwestern, die beide verheiratet waren und Kinder hatten. Doch die vielen Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen und sein Großvater mütterlicherseits reichten ihm offenbar nicht.

David war wie sein Vater, er war sehr intelligent und gab sich nie mit Ausflüchten zufrieden. Cassandra hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass er Antonios Pass finden und Julio de Montoya schreiben würde, ohne es ihr zu erzählen. Wie sollte sie ihm das verzeihen?

Sie seufzte. Vielleicht konnten sie vorzeitig abreisen? Nein, das war keine gute Idee. Sie hatte für zwei Wochen bezahlt, und wenn sie früher zurückfliegen wollte, müsste sie wahrscheinlich den Rückflug extra bezahlen.

Und das konnte sie sich nicht erlauben. Sie hatte schon mehr für die Reise ausgegeben, als sie verantworten konnte. Nur ungern würde sie ihren Vater bitten, ihr zu helfen. Es würde ihr schwerfallen, ihm zu erklären, was passiert war.

„Wie lange willst du noch schweigen?“, fragte sie ihren Sohn schließlich.

Er sah auf. Das Rührei mit Schinken hatte er sich trotz ihrer Einwände bestellt. Bei dieser Hitze war ein so üppiges Frühstück ihrer Meinung nach nicht gut. Er hatte jedoch auf seinem Willen bestanden.

„Wenn du weiterhin nicht mit mir redest“, fügte sie hinzu, „kannst du allein am Tisch sitzen.“

David trank einen Schluck Orangensaft und blickte seine Mutter vorwurfsvoll an. „Lässt du mir überhaupt eine Wahl?“, antwortete er ziemlich unverschämt.

Sie hätte ihn am liebsten geohrfeigt, was ihr noch nie passiert war. „So redest du nicht noch einmal mit mir, David“, erklärte sie und legte die Serviette weg. Sie hatte nichts gegessen. Schon allein der Anblick des reichhaltigen Frühstücks verursachte ihr Übelkeit. „Mir ist klar, du glaubst, du hättest das Recht gehabt, deinem Großvater zu schreiben. Du ahnst jedoch nicht, in was für ein Wespennest du gestochen hast.“

„In ein Wespennest“, spottete David mit vollem Mund. „Du weißt nicht, wovon du sprichst. Wenn dich meine Meinung interessiert: Ich glaube, du bist eifersüchtig, weil Onkel Enrique mich mag.“

„Ah ja, das glaubst du.“ Sie musste sich sehr beherrschen, ihm keine Ohrfeige zu verpassen, damit ihm die selbstgefällige Miene verging. „Was weißt du denn schon davon?“

„Ich weiß jedenfalls, dass Onkel Enrique richtig nett ist“, stellte ihr Sohn unbeeindruckt fest. „Du hast ihn wirklich grob behandelt, Mum. Es ist ein Wunder, dass er mich trotzdem wiedersehen will.“

Sie presste die Lippen zusammen und kämpfte mit den Tränen. O ja, Enrique de Montoya wollte den Jungen wiedersehen. Er würde wahrscheinlich jetzt versuchen, ihr das Kind wegzunehmen.

Darüber konnte sie mit ihrem Sohn natürlich nicht reden. So rücksichtslos war sie nicht, außerdem würde er ihr vermutlich sowieso nicht glauben. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Menschen logen und betrogen oder ihre Macht missbrauchten, um andere zu zerstören. Warum sollte sie David unnötig erschrecken? Er würde früh genug erfahren, dass die de Montoyas in der Wahl ihrer Mittel nicht zimperlich waren, wenn sie etwas erreichen wollten.

„Ich meine, du solltest dich bei ihm das nächste Mal entschuldigen“, fuhr David fort und sah sie mit seinen dunklen Augen an. „Wir sehen ihn doch wieder, Mum, oder?“

Cassandra zögerte. „Nein, wahrscheinlich nicht. Ich habe mich entschlossen, früher nach Hause zu fliegen“, erwiderte sie ruhig, obwohl es nicht stimmte. „Heute Nachmittag erkundige ich mich, ob es möglich ist.“

„Nein!“ David sprang bestürzt auf. „Ich fliege nicht mit“, erklärte er. Dass er Aufsehen erregte und die Leute an den Nachbartischen sich zu ihnen umdrehten, war ihm egal. „Du kannst mich nicht zwingen.“

„Setz dich, David“, forderte Cassandra ihn auf. Sein Benehmen war ihr peinlich.

„Nein, das tue ich nicht“, rief er aus. „Ich will Onkel Enrique wiedersehen. Und ich will meinen Großvater kennenlernen. Warum darf ich das nicht?“

„Setz dich!“, wiederholte sie streng und wollte auch aufstehen. Plötzlich schien David zu begreifen, dass er sich keinen Gefallen damit tat, seine Mutter vor den anderen Gästen zu blamieren, und gehorchte. „Jetzt hör mir mal zu. Du tust genau das, was ich dir sage. Du bist erst neun Jahre alt, David, und darfst selbst noch gar nichts entscheiden.“

David saß mit mürrischer Miene da, hatte aber Tränen in den Augen. „Warum machst du das, Mum? Du hast immer behauptet, du hättest meinen Vater geliebt. War das gelogen?“

„Nein.“ Sie stöhnte insgeheim auf.„Dein Vater war nicht so wie der Rest der Familie. Er war … sanft und lieb. Und er war bereit, die Trennung von seiner Familie zu riskieren, nur um mit mir zusammen zu sein.“

David runzelte die Stirn. „Waren sie nicht damit einverstanden, dass ihr geheiratet habt?“

Ihr verkrampfte sich der Magen. „So kann man es nennen.“

„Du hast gesagt, dass du nicht mit Dads Familie zurechtgekommen bist. Aber in Wahrheit sind seine Verwandten nicht mit dir zurechtgekommen, stimmt’s?“

Darüber wollte Cassandra jetzt nicht reden. „Wahrscheinlich“, antwortete sie angespannt.

„Sie können aber ihre Meinung geändert haben“, wandte David voller Hoffnung ein. „Mein Dad ist vor zehn Jahren gestorben, oder?“

„Vor beinah zehn Jahren, ja.“

„Na bitte. Offenbar haben sie ihre Meinung geändert. Warum wäre Onkel Enrique sonst heute gekommen?“

„Deinetwegen natürlich“, erklärte sie etwas zu heftig. „Sie wollen dich kennenlernen. Du bist immerhin Antonios Sohn“, fügte sie ruhiger hinzu.

„Und deiner“, stellte der Junge fest. „Wenn sie dich einmal kennen …“

„Sie werden mich nicht kennenlernen“, unterbrach Cassandra ihn. „Hast du mir denn nicht zugehört? Ich möchte keinem Mitglied der Familie de Montoya jemals wieder begegnen.“

„Das meinst du nicht ernst.“ David sah sie traurig an.

„O doch.“ Sie war gar nicht glücklich über das, was sie da tat. Aber es musste sein. „Mir ist klar, dass du enttäuscht bist. Doch wenn wir nicht früher zurückfliegen können, werde ich versuchen, die Unterkunft zu wechseln.“

„Nein!“

„Ich bin zu einem Kompromiss bereit, weil du dich so sehr auf den Urlaub gefreut hast. Vielleicht wäre es wirklich eine gute Lösung, eine andere Unterkunft zu finden.“ Ihre Stimme klang energisch.

„Ich will aber nicht umziehen“, protestierte der Junge deprimiert. „Mir gefällt es hier. Ich habe doch schon Freunde gefunden.“

„Die findest du überall.“

„Aber …“

„Was aber?“, fragte sie.

David schüttelte den Kopf. „Ach, nichts.“

In dem Moment blieben die Kaufmans an ihrem Tisch stehen. „Guten Morgen, Mrs. de Montoya“, begrüßte Franz Kaufman sie fröhlich. „Heute ist wieder ein schöner Tag.“

„O … ja.“ Cassandra lächelte höflich. „Sie wollen wohl einen Ausflug machen, stimmt’s?“

„Ja, wir fahren nach Ortegar. Dort gibt es so etwas wie einen Freizeitpark für Kinder“, erklärte Horsts Mutter. „Darf David mitkommen?“

„O.“ Cassandra war verblüfft. Sie kannte die Leute kaum, und der Gedanke, ihnen ihren Sohn anzuvertrauen, gefiel ihr nicht. Andererseits hatte sie sich für diesen Tag einiges vorgenommen. Und vielleicht würde David, wenn er mit Horst und seinen Eltern unterwegs war, seine spanischen Verwandten vergessen.

„Darf ich, Mum? Bitte.“ David war ganz begeistert.

Hilflos zuckte sie die Schultern. „Ich … weiß nicht, was ich sagen soll.“

„Wir passen natürlich gut auf Ihren Sohn auf“, versprach Franz Kaufman. „Weil die beiden Jungen sich so gut verstehen …“

„Ja, das tun wir!“, rief David aus und blickte seine Mutter mit großen Augen erwartungsvoll an.

„Okay“, willigte Cassandra schließlich ein und seufzte. „Wohin genau wollen Sie fahren?“

„Nach Ortegar“, wiederholte Franz Kaufman.

„Wo liegt das?“ Cassandra runzelte die Stirn.

„An der Küstenstraße in Richtung Cadiz“, antwortete er leicht ungeduldig. „Ungefähr dreißig Kilometer von hier.“

Und ungefähr dreißig Kilometer näher an Tuarega, überlegte Cassandra. Die Sache gefiel ihr irgendwie nicht.

„Ich mache mich rasch fertig“, erklärte David. „Es dauert nicht lange.“

„Ich komme mit.“ Sie stand auf und lächelte die Kaufmans freundlich an. „Entschuldigen Sie mich bitte.“

„Wir warten draußen auf dem Parkplatz“, verkündete Franz Kaufman.

Cassandra hatte das ungute Gefühl, ihr Sohn hätte sie schon wieder überlistet. Als sie ins Zimmer kam, hatte er bereits das Badetuch und die Badehose in den kleinen Rucksack gestopft. Hatte er es wirklich so eilig, von ihr wegzukommen?

„Brauchst du Geld?“, fragte sie ihn.

Er schüttelte den Kopf und eilte zur Tür. „Ich habe noch etwas übrig von gestern“, antwortete er.

Sie blickte ihn erstaunt an. „Das reicht doch nicht. Du weißt gar nicht, wie viel der Eintritt kostet.“

„Du kannst es ja Horsts Vater nachher zurückgeben“, sagte er ungeduldig. „Nun mach schon, Mum. Sie warten auf mich.“

„Okay. Benimm dich.“

„Ja.“ David gab ihr einen Kuss auf die Wange und lief mit triumphierender Miene hinaus. „Bis später.“

Als Enrique aus dem Palast ging, fuhr gerade Sanchia in ihrem roten Sportwagen vor. Sie war eine große dunkelhaarige und schöne Frau. Nachdem sie ausgestiegen war, zog sie den engen, kurzen Rock ihres grünen Leinenkostüms hinunter.

Sie war die Verlobte seines Bruders gewesen, hatte sich jedoch rasch davon erholt, dass er eine andere geheiratet hatte. Nicht einmal ein Jahr später hatte sie einen entfernten Verwandten der spanischen Königsfamilie geheiratet. Und als ihr viel älterer Mann gestorben war und ihr sein ganzes Vermögen hinterlassen hatte, klammerte sie sich sogleich an den älteren Bruder ihres früheren Verlobten. Enrique fragte sich immer wieder, ob sie es nicht von Anfang an auf ihn abgesehen gehabt hatte.

Aber vielleicht habe ich mich getäuscht, überlegte er jetzt. Sanchia war erschüttert gewesen, als Antonio diese Engländerin geheiratet hatte und kurz darauf ums Leben gekommen war. Sie hatte sich sogleich auf Enrique konzentriert, was er damals für eine verständliche Reaktion auf die dramatischen Ereignisse gehalten hatte.

Er hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass er nicht beabsichtigte, mit ihr da weiterzumachen, wo sein Bruder aufgehört hatte. Er mochte Sanchia, aber er wollte nicht nur deshalb mit ihr schlafen, weil sein Bruder sie hatte sitzen lassen. Auch er war erschüttert gewesen über Antonios Tod und hatte sich lange Zeit mit Schuldgefühlen herumgequält. Dass er seinen Bruder betrogen hatte, konnte er sich nicht verzeihen.

Jetzt war die Situation anders. Sanchia war verheiratet gewesen und verwitwet, und Enrique war älter und sah die Dinge nicht mehr so eng. Er bezweifelte, dass er jemals heiraten würde, auch wenn sein Vater es sich sehr wünschte. Vielleicht hoffte Sanchia, Enrique würde seine Meinung ändern. Sie war jedoch nicht die einzige Frau in seinem Leben und würde es auch nie sein.

Wahrscheinlich war er deshalb so ungeduldig, als sie an diesem Morgen überraschend auftauchte. Für Sanchia hatte er momentan keine Zeit, er hatte Wichtigeres zu tun.

Sie konnte natürlich nicht wissen, was passiert war. Er hatte sie am Abend zuvor nicht angerufen, obwohl sie auf seinen Anrufbeantworter gesprochen hatte.

„Liebling!“, rief sie erfreut aus und küsste ihn auf die Wange, ehe sie ihn musterte. „Willst du weg? Ich habe gehofft, du würdest den Tag mit mir verbringen“, sagte sie enttäuscht.

„Es tut mir leid, ich … habe etwas zu erledigen.“

„In dem Aufzug?“ Sanchia schob die Finger unter den Ledergürtel seiner Hose. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass du in T-Shirt und Leinenhose zu einer geschäftlichen Besprechung fährst.“

„Habe ich das behauptet?“, entgegnete er kurz angebunden und schob ihre Hand weg. Dann trat er einige Schritte zurück. „Es ist eine persönliche Angelegenheit“, fügte er hinzu, weil er glaubte, ihr eine Erklärung schuldig zu sein. „Ich habe wirklich keine Zeit.“

„Geht es um eine andere Frau?“

Sie scheint zu glauben, sie hätte das Recht, mich auszufragen, schoss es ihm durch den Kopf. Er ärgerte sich. Aber da sie sich seit einigen Wochen mehr oder weniger regelmäßig trafen, konnte sie daraus vielleicht gewisse Rechte ableiten.

„Nein, jedenfalls nicht so, wie du es meinst“, versicherte er ihr und rang sich ein Lächeln ab. „Kann ich dich später anrufen?“

Sanchia presste die Lippen zusammen. „Willst du mir wirklich nicht verraten, wohin du fährst?“

„Nein“, antwortete er schroff.

Ihre Lippen zitterten. „Enrique …“

Es gefiel ihm selbst nicht, dass er plötzlich so gereizt war. Aber er wollte möglichst früh in Punta del Lobe sein, weil er befürchtete, Cassandra würde einfach verschwinden. „Hör mal zu“, begann er ruhig, „das hat mit dir … mit uns nichts zu tun, sondern eher mit meinem Vater. Es ist eine sehr persönliche Sache.“

„Hat dein Vater etwa eine außereheliche Affäre gehabt?“

„Natürlich nicht“, erwiderte er entsetzt. Wie konnte sie so etwas denken?

„Du hast doch zugegeben, dass es etwas mit einer anderen Frau zu tun hat“, wandte sie ein.

„Ich habe dir erklärt, dass es anders ist, als du vermutest. Es hat sich … eine gewisse Komplikation ergeben.“ Du liebe Zeit, wie sollte er es sonst ausdrücken?

„Mit einer Frau?“

„Nur indirekt.“ Das stimmt sogar, fügte er in Gedanken hinzu. Ihm verkrampfte sich der Magen bei der Vorstellung, Cassandra wieder zu sehen. Ich hasse diese Frau, und wenn Sanchia das wüsste, brauchte sie sich keine Sorgen mehr zu machen, sagte er sich.

„Gut.“ Sie drehte sich um, und er begleitete sie zu ihrem Wagen. „Aber du rufst mich heute Vormittag an, oder?“

„Lieber heute Nachmittag.“ Er unterdrückte ein Seufzen. „Wenn du nicht zu Hause bist, versuche ich es über dein Handy.“

„Ich stelle es jedenfalls nicht ab so wie du deins gestern Abend“, erklärte sie irgendwie bissig.

Verdammt, seit wann bin ich ihr Rechenschaft schuldig?, überlegte er gereizt. „Ich rufe dich an“, versprach er noch einmal, ohne sich festzulegen, wann. Dann hielt er ihr die Tür des roten Sportwagens auf. „Bis später.“

4. KAPITEL

Cassandra hatte den ganzen Morgen auf die Mitarbeiterin des Reiseveranstalters gewartet. Dann hatte sie kurz mit ihr gesprochen und vergebens versucht, für sich und David eine andere Unterkunft zu bekommen.

Es gab keine Zimmer in der Preiskategorie, die sie sich leisten konnte. Die einzige Möglichkeit war, dass sie in ein größeres Hotel wechselte. Die Mitarbeiterin des Reiseveranstalters hatte ihr höflich zugehört, sie war jedoch über Cassandras Bitte wirklich nicht begeistert gewesen. Da Cassandra behauptet hatte, es sei für ihren Geschmack zu wenig los in Punto del Lobo, vermutete die junge Frau wahrscheinlich jetzt, Cassandra liebe das Nachtleben.

Das ist nur Enrique de Montoyas Schuld, dachte sie ärgerlich. Wenn er nicht plötzlich aufgetaucht wäre und ihr den ersten richtigen Urlaub seit vielen Jahren verdorben hätte, wäre die Welt noch in Ordnung. Außerdem hätte sie sich dann auch nicht mit David auseinandersetzen müssen. Eigentlich habe ich keine andere Wahl, als früher zurückzufliegen, egal, was es kostet, überlegte sie.

Schließlich gestand sie sich ein, dass nicht nur Enrique, sondern auch David an ihrem Dilemma schuld war. Vielleicht hätte sie mit ihm ehrlich über seine Verwandten väterlicherseits reden müssen. Aber den Brief hätte er auf keinen Fall heimlich schreiben dürfen.

Während sie auf die Pension zuging, hatte sie plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie sah sich um und entdeckte den Mann, der ihr von der Terrasse her entgegenkam. Natürlich war es Enrique de Montoya. Wer hätte es auch sonst sein können?

Er wirkte so kühl und beherrscht wie immer und sehr attraktiv. Ihr kribbelte die Haut beim Anblick dieses dunkelhaarigen, großen, muskulösen Mannes mit der faszinierenden Ausstrahlung.

„Was willst du?“, fragte sie ärgerlich, als er vor ihr stehen blieb.

Er warf ihr einen gleichgültigen Blick zu und ignorierte ihre Frage. „Wo ist er?“

„Nicht hier“, erwiderte sie und war froh, dass sie David mit den Kaufmans hatte fahren lassen. „Du verschwendest nur deine Zeit.“

Er blickte Cassandra kühl und verächtlich an. Ich sehe wieder einmal zerzaust und erhitzt aus, dachte sie unglücklich. Das Haar hätte sie sich vor dem Urlaub schneiden lassen müssen, und in dem ärmellosen Top und den Baumwollshorts wäre sie ihm lieber nicht begegnet.

Aber das kann ich nicht ändern, sagte sie sich dann ungeduldig. Es spielte sowieso keine Rolle, wie sie aussah. Selbst wenn man sie zur besten Mutter des Jahres wählen würde, würden die de Montoyas dennoch alles daransetzen, ihr den Jungen wegzunehmen.

„Wo ist er?“, wiederholte Enrique.

„Er ist mit Freunden weggefahren“, antwortete sie und versuchte eher zaghaft, an ihm vorbeizugehen.

„Mit was für Freunden?“ Er versperrte ihr den Weg. „Etwa mit den Kaufmans?“

„Ja. Lässt du mich bitte durch?“

Enrique fluchte leise vor sich hin und hielt sie am Arm fest. „Lass den Unsinn, Cassandra. Du weißt genau, dass du jetzt nirgendwohin gehst.“

Ihr war klar, dass es keinen Sinn hatte, sich zu wehren. Aber vielleicht würde er sie loslassen, wenn sie anfing zu schreien.

Doch Enrique schien zu ahnen, was sie vorhatte. Er zog sie mit sich über den kiesbedeckten Weg und erklärte hart: „Ich habe hier einen guten Ruf. Es nützt dir nichts, eine Szene zu machen.“ Er bog mit ihr um die Ecke und steuerte auf den Parkplatz zu, wo seine Limousine stand. „Es würde nur auf dich zurückfallen. Und das willst du sicher nicht riskieren, oder?“

Sie zitterte am ganzen Körper. „Du bist ein ganz gemeiner Kerl, Enrique!“

„Ich bin lieber ein gemeiner Kerl als ein Lügner, Cassandra“, sagte er kühl und hielt ihr die Beifahrertür auf. „Steig ein.“

„Und wenn ich es nicht tue?“

„Du würdest nur deine und meine Zeit verschwenden, Cassandra. Wir müssen uns unterhalten, und ich möchte vor anderen Leuten keine schmutzige Wäsche waschen.“

Widerwillig stieg sie ein. Während er um den Wagen herumging, betrachtete sie unglücklich ihre nackten, von der Sonne geröteten Oberschenkel.

„Mach nicht so eine ängstliche Miene, ich beiße nicht“, stieß er hervor, nachdem er sich ans Steuer gesetzt hatte.

„Bist du dir sicher?“ Sie blickte ihn vorwurfsvoll an. Sogleich wandte er sich ab. Erinnerte er sich etwa auch daran, was damals geschehen war? Es gefiel ihr nicht, dass er sie immer noch aus der Fassung bringen und die heftigsten Emotionen in ihr auslösen konnte.

„Was soll das? Was hast du vor?“, rief sie entsetzt aus, als er vom Parkplatz fuhr.

Er zuckte die Schultern. „Wonach sieht es denn aus?“, fragte er. „Du hast doch nicht erwartet, wir würden uns im Auto unterhalten, oder?“

„Warum denn nicht?“ Ihr Protest nützte nichts, das war ihr klar. Vielleicht gelang es ihr sogar, ihn zu überzeugen, sie und David in Ruhe zu lassen. „Ich fahre jedenfalls nicht mit dir nach Tuarega.“

„Habe ich dich eingeladen?“, fragte er spöttisch und lachte auf. Cassandra errötete vor Verlegenheit. „Wir setzen uns in eine Bar, wo wir keinen Bekannten begegnen.“ Er fuhr los.

„Du meinst wohl, wo du keinen Bekannten begegnest“, korrigierte sie ihn.

Sekundenlang sah er sie nachdenklich an. „Ist das wichtig?“

„Nein“, erwiderte sie kühl. „Ich will es so rasch wie möglich hinter mich bringen.“

Er schüttelte den Kopf. „Das ist eine Illusion. Du hättest meinem Vater nicht schreiben dürfen, wenn es ein Geheimnis hätte bleiben sollen.“

„Ich habe deinem Vater nicht geschrieben“, protestierte sie hitzig. „So etwas würde ich nie tun.“

„Nein“, stimmte er ihr zu. „Das glaube ich dir jetzt.“

„Hast du es bezweifelt?“

Enrique zuckte die Schultern. „Ja, und das aus guten Gründen.“

Sie blickte ihn mit großen Augen an. Auf einmal dämmerte es ihr. „Du hast offenbar wirklich geglaubt, ich hätte von dir oder deinem Vater irgendetwas gewollt, stimmt’s?“

Als er schwieg, begriff sie, dass er seine Meinung über sie nicht geändert hatte. Er hielt sie immer noch für geldgierig und vermutete, sie hätte sich mit seinem Bruder nur wegen seines Reichtums eingelassen.

Ein wilder Schmerz durchfuhr sie, und sie öffnete instinktiv die Tür. Es war ihr völlig egal, dass sie mit mindestens sechzig Stundenkilometern unterwegs waren. Sie wollte nur so rasch wie möglich weg, und auch der Luftzug, den sie plötzlich verspürte, brachte sie nicht zur Besinnung.

Wer weiß, was passiert wäre, wenn Enrique nicht so besonnen reagiert hätte. Er packte Cassandra am Arm und drückte sie auf den Sitz zurück. Zugleich bremste er, lenkte den Wagen von der Küstenstraße und brachte ihn am Rand der Klippen zum Stehen.

„Bist du verrückt geworden?“, fuhr er sie an. Als sie sich zu ihm umdrehte und er die Tränen in ihren Augen bemerkte, fügte er leise hinzu: „Du bist wirklich ein bisschen verrückt.“ Seine Stimme klang rau und gar nicht mehr so kühl wie zuvor. Dann stieg er aus und stellte sich an den Rand der Klippen, die steil ins Meer abfielen.

Er ließ sich den warmen Wind ins Gesicht wehen und blickte hinaus auf das Wasser. Schließlich strich er sich das Haar zurück und ließ die Hand auf dem Nacken liegen.

Vielleicht will er mir Zeit lassen, mich zu beruhigen, obwohl so viel Rücksichtnahme nicht zu ihm passt, überlegte Cassandra unbehaglich. Er hatte sie jedenfalls davor bewahrt, ernsthaft verletzt zu werden. Um zu verhindern, dass sie eine Dummheit beging, hatte er, ohne zu zögern, eingegriffen und viel riskiert, vielleicht sogar sein Leben.

Was habe ich mir dabei gedacht?, fragte sie sich voller Entsetzen. Sie zitterte am ganzen Körper, als ihr bewusst wurde, was hätte passieren können. Was hätte sie davon gehabt, wenn sie sich aus dem Auto geworfen hätte? Sie hätte dabei umkommen können. Und wer hätte sich dann um David gekümmert? Ihren Angehörigen würde man das Sorgerecht nie zusprechen, sondern viel eher den de Montoyas.

Warum hatte Enrique sie überhaupt vor dieser Dummheit bewahrt? Machte er sich etwa jetzt Vorwürfe, dass er die Gelegenheit nicht genutzt hatte, sie loszuwerden? Nein, das ist Unsinn, mahnte sie sich sogleich.

Schließlich atmete sie tief ein und stieg aus. Dann ging sie etwas unsicher auf ihn zu. Der Wind wehte ihr das lange, gelockte rotblonde Haar ins Gesicht. Sie hielt es mit der einen Hand im Nacken zusammen und betrachtete Enriques angespannte Miene.

„Es tut mir leid“, sagte sie nach kurzem Zögern.

„Setz dich wieder ins Auto“, forderte er sie gleichgültig auf, ohne sie anzusehen. „Ich komme auch gleich.“

Cassandra biss sich auf die Lippe. „Du hast recht, es war verrückt, was ich getan habe. Ich habe uns beide in Lebensgefahr gebracht.“

Jetzt schaute er sie an. „Vergiss es. Ich habe es auch schon vergessen“, erklärte er.

Sie erbebte. „Ich weiß, du vergisst immer alles, was dir unangenehm ist“, erwiderte sie aufgewühlt. „Und die Menschen, die dir nicht passen, auch.“

Seine Miene verfinsterte sich. „Ich habe überhaupt nichts vergessen“, entgegnete er hart und so feindselig, dass sie zusammenzuckte.

„Dann müsstest du Schuldgefühle haben. Wie kannst du damit leben?“ Sie konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen.

Enrique ging an ihr vorbei zu seinem Wagen. „Das weiß ich selbst nicht“, antwortete er. „Steig ein.“

Im nächsten Ort hielt er vor einem kleinen Restaurant am Meer an. Auf dem Sandstrand lagen einige Fischerboote, und etwas weiter entfernt ragte ein Landungssteg ins Wasser hinein.

Der Barkeeper begrüßte Enrique freundlich. Cassandra vermutete, dass der Mann zu gern erfahren hätte, wer sie war, denn er betrachtete sie neugierig. Aber er sagte nichts, sondern führte sie höflich an einen Tisch auf der Terrasse, wo eine Markise gegen die heiße Sonne schützte. Dann fragte er nach ihren Wünschen.

„Trinken wir Wein?“, schlug Enrique vor. Als sie gleichgültig nickte, bestellte er zwei Gläser Rioja. „Man bekommt ihn hier vom Fass“, erklärte er, als der Mann weg war.

Wahrscheinlich ist er nur deshalb so höflich, weil wir nicht allein sind, überlegte sie und beschloss, genauso höflich zu reagieren. „Wo sind wir hier?“

„In San Augustin“, antwortete er. „Früher war ich oft hier. Als Student habe ich an der Bar gearbeitet, bis mein Vater es erfahren hat.“

„Hat er es dir verboten?“

Er nickte. „Er hat gesagt, ein de Montoya solle nicht … Ach, es ist nicht wichtig. Es ist schon lange her.“

„Trotzdem erinnert sich der Barkeeper noch an dich.“

„Sicher, ich bin ab und zu als Gast hier. Jose und ich kennen uns ganz gut.“

Cassandra lächelte. Doch plötzlich presste sie die Lippen wieder zusammen. Es war nicht gut, sich in Enriques Gegenwart zu entspannen. Sie durfte nicht vergessen, warum sie hier waren.

Der Barkeeper servierte ihnen den Wein und stellte eine große Platte mit Tapas, kleinen Snacks, auf den Tisch. Sie dufteten köstlich, und unter normalen Umständen hätte der Käse, der aus den Schinkenröllchen hervorquoll, ihr den Mund wässrig gemacht. An diesem Tag jedoch nicht.

Enrique wies auf die Tapas. „Bist du hungrig?“

„Nein, eigentlich nicht“, erwiderte sie und trank einen Schluck Wein. Sie hoffte, sie würde ihn vertragen, denn sie hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen. „Worüber willst du mit mir reden?“

Cassandra merkte, dass er auch keinen Appetit hatte und sich mit dem Wein begnügte. Sie betrachtete seine Hände. Mit den langen, schlanken Fingern spielte er mit dem Stiel des Glases. Es sah aus wie sinnliches Streicheln und erinnerte sie viel zu sehr daran, wie es sich angefühlt hatte, als er damals ihr Handgelenk umfasst, sie am Arm gepackt und dann ihre nackte Haut gestreichelt hatte.

Plötzlich ertönten Gitarrenklänge, und Cassandra atmete tief ein. Die Musik berührte sie sehr, sie weckte Erinnerungen. Ich hätte nicht mit ihm fahren dürfen, ich bin noch viel zu verletzlich, sagte sie sich.

„Du weißt genau, was ich mit dir besprechen will“, antwortete Enrique nach sekundenlangem Zögern und blickte sie aufmerksam an. „David ist ein de Montoya. Du hättest ihn uns nicht verschweigen dürfen.“

„Du bist dir wohl völlig sicher, oder?“

„Dass er Antonios Sohn ist? Natürlich.“

„Woraus schließt du es?“

Enrique lehnte sich auf dem Stuhl zurück. „Cassandra, versuch doch nicht, mir etwas vorzumachen“, erklärte er spöttisch. „Wir wissen beide, dass er genauso aussieht wie sein Vater in dem Alter.“

„So?“

„Soll ich dir Fotos zeigen? Nein, ich bin überzeugt, du brauchst keine Beweise. Der Junge ist Spanier durch und durch, das erkennt man an seinen Augen, seiner Haut, seiner ganzen Art. Und man merkt es auch an seiner Offenheit, seiner Ehrlichkeit.“

Cassandra versteifte sich. „Wie bitte? Ausgerechnet du redest von Ehrlichkeit?“

„Sei vorsichtig, Cassandra“, antwortete er ärgerlich. „Wie sagt man doch so schön? Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.“

Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und das Kinn in die Hände. Es wäre so leicht, den ganzen Schwindel aufzudecken und ihm die Illusion zu rauben, David sei Antonios Sohn, überlegte sie. Es wäre jedoch unklug, der Versuchung nachzugeben. Lieber wollte sie abwarten, wie sich die Sache entwickelte.

„Okay, vielleicht hätte ich deinen Vater über Davids Geburt informieren müssen. Aber ich hatte gute Gründe, zu glauben, du und ihr alle wolltet mit mir nichts mehr zu tun haben.“

„Und deshalb hast du dich entschlossen, dich zu rächen und uns seine Existenz zu verheimlichen, stimmt’s?“, fuhr Enrique sie an.

„Mit Rache hatte es überhaupt nichts zu tun“, rief sie so hitzig aus, dass die anderen Gäste sich zu ihr umdrehten. Rasch nahm sie sich zusammen und senkte die Stimme. „Ich … wollte nichts von euch, sondern nur meine Ruhe haben.“

„Obwohl mein Vater Davids Großvater und der Junge sein einziger Enkel ist?“ Seine Stimme klang hart und vorwurfsvoll.

„Das konnte ich nicht wissen“, erwiderte sie leise und trank einen großen Schluck Wein, an dem sie sich prompt verschluckte. Sie fing an zu husten, und ihr traten Tränen in die Augen. Erst nach einigen Minuten konnte sie wieder sprechen. „Ich habe angenommen, du hättest geheiratet und selbst schon Kinder.“

„Hast du das wirklich gedacht?“, fragte er skeptisch.

„Wahrscheinlich habe ich überhaupt nicht darüber nachgedacht. Ich muss zugeben, dass ich deinetwegen bestimmt keine schlaflosen Nächte gehabt habe.“ Das stimmte nicht, doch das brauchte Enrique nicht zu wissen.

„Warum hättest du auch deine Zeit an etwas verschwenden sollen, das dir so wenig bedeutet hat?“ Er schnitt ein Gesicht.

Cassandra zog die Augenbrauen hoch, die viel dunkler waren als ihr Haar. „Willst du mir daraus einen Vorwurf machen?“

Als Enrique nur die Schultern zuckte, fügte sie hinzu: „Ich habe mich sowieso oft gefragt, was du Antonio erzählt hast.“

Er schüttelte den Kopf. „Warum sollte ich dir das verraten? Er hat es mir offenbar nicht geglaubt, sonst hätte er dich nicht geheiratet.“

„Mag sein“, erwiderte sie skeptisch. „Er hat jedenfalls mir gegenüber nie etwas erwähnt.“

„Das wundert mich allerdings nicht. Immerhin ging es auch um seine Ehre.“

„Was für große Worte! Und wieso‚ auch‘? Du willst doch hoffentlich nicht behaupten, du hättest auch so etwas wie Ehre, oder?“, spottete sie.

„Ich habe nicht mich, sondern meinen Vater gemeint“, antwortete er kühl. „Mein Neffe David ist ganz anders als du. Er scheint begriffen zu haben, wie wichtig die Familie ist“, fügte er hinzu.

„David hat eine Familie, eine englische, die ihn sehr liebt“, stellte Cassandra fest.

„Er hat aber auch eine spanische Familie, die ihn genauso sehr lieben würde“, entgegnete Enrique. „Ach, das führt zu nichts.“ Er winkte den Barkeeper herbei. Sogleich breitete sich Panik in Cassandra aus. Wollte er etwa das Gespräch beenden? Zu ihrer Erleichterung bestellte er jedoch nur noch einmal zwei Gläser Wein.

„So“, begann Enrique, nachdem der Mann ihnen den Wein gebracht hatte, „ich schlage vor, wir versuchen, uns zu verständigen. Wir sind uns einig, dass David Antonios Sohn ist, oder?“ Als Cassandra schwieg, fuhr er fort: „Gut. Es stellt sich die Frage, wann und wie ich meinem Vater die Neuigkeit beibringe.“

„Und was dann?“ Sie hatte plötzlich das Gefühl, Enrique und seiner einflussreichen Familie hilflos ausgesetzt zu sein. „In zwei Tagen fliegen wir nach England zurück.“

„Nein, du fliegst erst dann zurück, wenn alles geklärt ist“, entschied er. „Ich habe gestern mit Señor Movida geredet. Er hat mir freundlicherweise verraten, dass ihr für zwei Wochen gebucht habt. Du brauchst mir nichts vorzumachen.“

„Offenbar hast du schon feste Pläne und glaubst, ich müsse machen, was du willst. Aber du kannst mir gar nichts vorschreiben.“

„O, Cassandra“, sagte er erschöpft. „Du kannst dir doch denken, was geschieht. David will seine Familie väterlicherseits kennenlernen. Glaubst du wirklich, du hättest das Recht, es ihm zu verweigern?“

Momentan wusste sie überhaupt nicht mehr, was sie noch glauben sollte. Es wäre sowieso sinnlos, zu flüchten und vorzeitig nach Hause zu fliegen. Die de Montoyas hatten erfahren, dass es David gab. Wenn sie ihn sehen oder zu sich holen wollten, spielten Entfernungen und Geld für diese Leute keine Rolle. Außerdem war es Davids Entscheidung, es ging um sein Leben. Habe ich das Recht, ihm zu verbieten, seinen Großvater zu besuchen?, überlegte sie gequält und voller Zweifel.

„Fährst du mich bitte zurück?“, bat sie Enrique angespannt. „Ich will vor David in der Pension sein.“

„Was wirst du ihm sagen?“

Cassandra blickte ihn verbittert an. „Nur die Wahrheit“, erwiderte sie kühl.

5. KAPITEL

Die meisten Geschäfte und Boutiquen in Punta del Lobo waren über Mittag geschlossen und wurden erst wieder um vier oder fünf Uhr geöffnet. Und dann konnte man bis in die Abendstunden einkaufen.

Alles wirkte sehr normal an diesem Nachmittag. Doch Cassandra war klar, dass nichts mehr so war wie zuvor.

Erleichtert stellte sie fest, dass der Wagen, den die Kaufmans gemietet hatten, vor der Pension stand. Sie wusste jedoch noch nicht, wie sie David erklären sollte, dass sie ausgerechnet mit dem Mann weggefahren war, den sie bisher so unfreundlich und wie einen Gegner behandelt hatte. Der Junge würde sie sicher fragen, warum sie ihm die Verabredung mit Enrique verschwiegen habe. Dass sie gar nicht mit ihm verabredet gewesen war, würde er ihr nicht glauben.

Irgendwie hätte er damit sogar recht, denn sie hatte schon vermutet, Enrique würde sie und ihren Sohn nicht in Ruhe lassen. Deshalb hatte sie ja auch versucht, eine andere Unterkunft zu finden.

Die Kaufmans standen vor der Pension, und Cassandra seufzte. Es wäre ihr lieber gewesen, Enrique hätte nicht gewusst, dass David wieder da war. Dann wäre er vielleicht sogleich weitergefahren.

Schließlich atmete sie tief aus. Was für ein naiver Gedanke, sagte sie sich. Enrique wollte David sehen, und er würde sicher erst dann nach Hause fahren, wenn er mit ihm gesprochen hatte.

Enrique parkte den Wagen vor dem Tor, und Cassandra stieg mit einem unguten Gefühl aus. Wo war David? Vielleicht ist er auf sein Zimmer gegangen, beantwortete sie sich die Frage selbst und wanderte über den kiesbedeckten Weg. Enrique folgte ihr.

Cassandra war plötzlich zutiefst beunruhigt. Aus den Mienen der Kaufmans schloss sie, dass etwas passiert war.

„Sie sind früh zurückgekommen“, erklärte sie höflich und beherrscht. „Es tut mir leid, dass ich nicht hier war, als …“

„Mrs. de Montoya!“ Franz Kaufman ging auf sie zu. „Ich muss Ihnen etwas … Schlimmes mitteilen.“

„Was ist geschehen? Was ist mit David?“, rief sie aus. Panik breitete sich in ihr aus.

„Beruhige dich“, forderte Enrique sie auf, ehe er sich an Franz Kaufman wandte. „Wo ist der Junge?“

Der Mann blickte ihn und Cassandra besorgt an. „Ich weiß es nicht“, gab er unglücklich zu, und Cassandra griff instinktiv nach Enriques Arm. „Er ist verschwunden.“

„Verschwunden?“ Cassandra wurde blass. „Was soll das heißen? Haben Sie nicht auf ihn aufgepasst?“

„Cassandra, lass uns doch bitte erst einmal zuhören, was Mr. Kaufman uns erklären will“, forderte Enrique sie ruhig auf. „Es bringt doch nichts, jemandem Vorwürfe zu machen, solange wir nichts Genaues wissen.“

„Es tut mir so leid, Mrs. de Montoya“, sagte Franz Kaufman, während seine Frau und Horst sich auch zu ihnen gesellten. „Wir sind in den Freizeitpark in Ortegar gefahren. Die beiden Jungen wollten im Wellenbad schwimmen.“

„Und?“, fragte Enrique ungeduldig.

Sogleich fuhr der Mann fort: „Es waren viele Kinder in dem Swimmingpool, und als wir David zuletzt gesehen haben …“

„Zuletzt?“, fragte Cassandra leise und klammerte sich so fest an Enriques Arm, dass sich ihre Fingernägel in seine Haut gruben. Er warf ihr einen mitfühlenden Blick zu.

„Er hat so zufrieden gewirkt“, erklärte Franz Kaufman hilflos. „Meine Frau und ich waren uns sicher, wir könnten die beiden kurz allein lassen und einen Kaffee in der Cafeteria trinken.“

„Sie haben die Kinder allein gelassen?“, wiederholte Cassandra bestürzt.

„Es war wirklich nicht unsere Schuld“, mischte Horsts Mutter sich ein. „Horst hat gesagt, David hätte auf die Wasserrutschbahn gehen wollen. Horst hatte dazu keine Lust.“ Sie zuckte die Schultern. „Und dann ist David nicht zurückgekommen.“

„O nein!“, rief Cassandra aus. Ihr wurde übel. Sie hatte geglaubt, es könne nicht noch schlimmer werden. Offenbar hatte sie sich getäuscht. Vielleicht kämpfte er jetzt um sein Leben. Sie hielt den Atem an. Was sollte sie nur tun?

Als sie aufschluchzte, drehte sich Enrique, der den Kaufmans noch einige Fragen gestellt hatte, beunruhigt zu ihr um. „Liebes“, sagte er sanft. „Cassandra, versuch doch, positiv zu denken. Möglicherweise hat David sich verlaufen und wartet darauf, dass du ihn bei der Verwaltung abholst. Es ist eine sehr große und sehr weitläufige Anlage.“

„Meinst du?“ Erst jetzt wurde Cassandra bewusst, dass sie sich an Enriques Arm klammerte. Hastig zog sie die Hand zurück. Dann schüttelte sie den Kopf. „Ich muss nach Ortegar.“ Sie machte eine Pause und fügte zögernd hinzu: „Fährst du mich hin?“

„Ich fahre Sie gern, Mrs. de Montoya“, erklärte Franz Kaufman, ehe Enrique antworten konnte. Er ignorierte den missbilligenden Blick seiner Frau und berührte Cassandra am Arm. „Das ist das Mindeste, was ich tun kann.“

„O, ich …“, begann Cassandra.

Autor

Michelle Reid

Michelle Reid ist eine populäre britische Autorin, seit 1988 hat sie etwa 40 Liebesromane veröffentlicht.

Mit ihren vier Geschwistern wuchs Michelle Reid in Manchester in England auf. Als Kind freute sie sich, wenn ihre Mutter Bücher mit nach Hause brachte, die sie in der Leihbücherei für Michelle und ihre...

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