Romana Exklusiv Band 273

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WEM GEHÖRT DEIN HERZ, CHARLOTTE? von ARMSTRONG, LINDSAY
Wie ein bunter Teppich liegt die australische Landschaft unter ihr. Während des Rundflugs über das Anwesen von Dennis Kinane spürt Charlotte, wie sehr sie sich verliebt hat - in das Land und den Mann. Vielleicht war hierher zu kommen doch die richtige Entscheidung?

WO DAS MEER DEN HIMMEL KÜSST von WALKER, KATE
In letzter Sekunde wird Emily von starken Armen aus dem Meer gezogen. Vito Corsentino hat ihr das Leben gerettet. Mit einem Kuss bedankt sie sich bei ihm - und verbringt mit ihm eine erotische Nacht in seinem Strandhaus. Doch ein Happy End scheint fern wie der Horizont …

UNTER DER SONNE MEXIKOS von TAYLOR, JENNIFER
Vor der traumhaften Kulisse der Maya-Pyramiden genießt Rachel die Liebe in den Armen von Sheridan Smith. Doch während Rachel sich sicher ist, den Richtigen gefunden zu haben, scheint der attraktive Arzt für eine neue Beziehung noch nicht bereit zu sein …


  • Erscheinungstag 29.07.2016
  • Bandnummer 0273
  • ISBN / Artikelnummer 9783733743536
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lindsay Armstrong, Kate Walker, Jennifer Taylor

ROMANA EXKLUSIV BAND 273

1. KAPITEL

Dennis Kinane bog vom Highway ab und schimpfte leise vor sich hin, als er den Range Rover am Straßenrand zum Stehen brachte. Eine junge Frau stand einsam an der Landstraße und hielt hoffnungsvoll den Daumen hoch.

Hier auf dem Land war es Ehrensache, gestrandete Anhalter mitzunehmen, doch Dennis hatte einen langen Tag hinter sich und keine Lust auf einen Umweg. Auch wirkte die junge Frau aus der Nähe nicht mehr ganz so schutzlos, wie er gedacht hatte. Sie war in Begleitung eines zuverlässigen, starken Bodyguards, eines schwarz gefleckten australischen Schäferhundes, den sie an der Leine hielt. Diese Rasse war nur mittelgroß, aber für ihre bedingungslose Treue bekannt.

Vorsichtig öffnete Dennis die Autotür, und der Hund fing an zu bellen. Ein einziges Wort seiner Herrin brachte ihn zum Verstummen. Gehorsam setzte er sich auf die Hinterpfoten, ohne Dennis aus den Augen zu lassen.

„Hallo“, sprach Dennis die junge Frau an. „Wo soll es denn hingehen?“

Sie war eine attraktive Blondine, deren Alter er auf Anfang zwanzig schätzte. Ihre hellen Locken waren im Nacken zusammengefasst, darüber saß ein blauer Sonnenhut. Aus wachen grauen Augen sah sie Dennis an, während er anerkennend ihre schlanke Gestalt in Jeans und T-Shirt musterte.

„Vielen Dank, dass Sie angehalten haben“, antwortete sie. „Ich möchte zur Mount Helena Farm, etwa zehn Meilen von hier.“

Er runzelte die Stirn. „Werden Sie dort erwartet?“

„Soll das heißen, Sie kennen die Farm?“, fragte sie höflich mit einem Blick auf seine fleckigen, ausgefransten Jeans, sein Arbeitshemd, seine abgenutzten Schuhe und schmutzigen Hände.

Dennis blickte an sich herab. „Ich … arbeite dort“, antwortete er nicht ganz wahrheitsgemäß. Warum, wusste er selbst nicht. Ein Gefühl, das er nicht näher erklären konnte, hielt ihn zurück.

Die junge Frau schien beruhigt zu sein. „Ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie mich mitnehmen könnten. Dies ist nicht gerade eine viel befahrene Straße, oder?“ Nervös ließ sie den Blick über die einsame Landschaft schweifen, dann wandte sie sich wieder Dennis zu. „Mein Name ist Charlotte Winslow.“ Vertrauensvoll streckte sie ihm die Hand entgegen.

Er ergriff sie und bemerkte die leichte Sonnenbräune auf der glatten, zarten Haut ihres Armes. Der Hund knurrte warnend.

„Schon gut, Rich“, sagte sie leise und entzog ihm die Hand.

„Tut mir leid, aber der Name Charlotte Winslow sagt mir nichts“, meinte Dennis.

„Tja, also … vielleicht ist niemand dazu gekommen, Ihnen von mir zu erzählen.“

„Gut möglich“, erwiderte er spöttisch und musterte sie noch einmal eingehend von Kopf bis Fuß.

Sie atmete tief durch und musste es hilflos über sich ergehen lassen, dass er sie förmlich mit Blicken auszog, bevor er fragte: „Sie sind nicht zufällig hinter Mark Kinane her?“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Sie wären nicht die Erste. Ist es so?“

Charlotte überlegte kurz und beschloss, ihm der Einfachheit halber recht zu geben. Sollte er doch denken, was er wollte! „Ja.“

„Und wieso?“

„Wir … ich meine, Mark hat mir von der Farm erzählt und mich eingeladen, ihn zu besuchen. Und jetzt bin ich hier!“ Er merkt bestimmt, dass ich lüge, dachte sie.

„Wie sind Sie denn hierher gekommen?“

„Ein Freund, der nach Augathella wollte, hat mich von Brisbane aus mitgenommen. Er hätte mich auch bis zur Farm gebracht, aber sein Wagen hatte keinen Allradantrieb, und er hatte Angst um seine Stoßdämpfer.“

Sie blickte viel sagend in Richtung Westen auf die staubige rote Landstraße mit ihren vielen Schlaglöchern.

„Was hätten Sie getan, wenn niemand vorbeigekommen wäre?“

Sie zuckte die Schultern und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie fassungslos sie selbst darüber war, dass ihr Bekannter sie hier abgesetzt hatte. „Ich hätte noch eine Stunde gewartet, dann wäre ich zum Highway zurückgegangen. Irgendjemand hätte mich sicher bis zur nächsten Ortschaft mitgenommen, und dann … Morgen ist auch noch ein Tag!“

„In Ordnung“, sagte Dennis schließlich. „Der Hund kommt nach hinten, zusammen mit Ihrem Gepäck.“ Er lud die Reisetasche auf den Rücksitz.

Kurz darauf waren sie alle zusammen im Range Rover unterwegs zur Farm. Der Hund hockte angespannt auf der Rückbank. Dennis war gar nicht wohl dabei, den heißen Atem des Tieres im Nacken zu spüren.

Charlotte dagegen bewunderte insgeheim die Geschicklichkeit, mit der er den Wagen über die holprige Straße lenkte. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, dass dieser große, schlanke Farmarbeiter mit den starken Händen ein recht attraktiver Mann war. Bei der Erinnerung daran, wie er sie von oben bis unten angesehen hatte, wurde sie nachträglich rot vor Verlegenheit.

Dann wurde ihr klar, in welche Richtung ihre Gedanken schweiften, und sie rief sich zur Ordnung. Dies war weder die richtige Zeit noch der richtige Ort für solche Fantasien. Entschlossen sah sie zum Fenster hinaus und konzentrierte sich auf die vorbeiziehende Landschaft. Es war noch immer eine verlassene Gegend, aber nicht mehr ganz so eintönig. Malerische Felsformationen und immer mehr Bäume kamen in Sicht.

„Wie lange kennen Sie Mark schon, Charlotte Winslow?“, fragte ihr Begleiter.

Sie dachte nach. „Seit einigen Monaten.“

Dennis sah sie von der Seite an. Jetzt, da sie den Hut abgenommen hatte, sah er ihr hübsches Profil. Ihre Nase war klein und gerade, der Mund schön geformt, das Kinn zierlich und der Hals glatt und schlank. Sogar ihr Ohr – Dennis konnte sich nicht erinnern, jemals auf Ohren geachtet zu haben – sah entzückend aus mit den dahinter geklemmten blonden Locken.

Eins muss ich ihm lassen, dachte er – Mark hat Geschmack. Allerdings hatte er das unbestimmte Gefühl, dass sich sein Bruder mit dieser Frau übernommen hatte.

„Wie haben Sie ihn kennen gelernt?“, fragte er.

„Auf einer Party.“ Das stimmte zwar, aber ihr war klar, dass sie sich in Schwierigkeiten brachte, wenn sie weiterhin in die Rolle von Marks Freundin schlüpfte. Lächelnd, um ihren Worten die Schärfe zu nehmen, fragte sie: „Wird das hier ein Kreuzverhör?“

Ihr Lächeln gefiel ihm, und amüsiert erwiderte er: „Ich bin nur neugierig. Sie sind eine willkommene Abwechslung zu all den dummen Kühen hier.“ Er deutete auf eine Viehherde, die sich um eine Wasserstelle in der Nähe scharte. „Manchmal treiben sie einen wirklich zum Wahnsinn.“

Charlotte lachte, ein schönes, melodisches Lachen. „Das kann ich mir vorstellen. Ich schätze, Mark ging es genauso.“ Sie verstummte und presste die Lippen zusammen. Bevor sie Mark nicht gefunden hatte, wollte sie mit niemandem über ihn reden, schon gar nicht mit diesem Mann von der Farm.

„Ich könnte Ihnen etwas von mir erzählen“, bot sie an. „Ich bin Lehrerin.“

Der Range Rover geriet kurz aus der Spur, bevor Dennis ihn wieder unter Kontrolle brachte.

„Sie sehen nicht aus wie eine Lehrerin.“ Sie tauschten einen kurzen, intensiven Blick.

„Danke, aber Ihre Vorstellung von einer Lehrerin ist vielleicht etwas überholt“, erwiderte sie, plötzlich nervös geworden.

„Mag sein. Was unterrichten Sie?“

„Hauswirtschaft. Kochen und Nähen, unter anderem. Beides tue ich zum Glück sehr gern.“

Was er merkwürdig fand. Häusliche Frauen waren noch nie Marks Typ gewesen, jedenfalls bisher nicht. Models und Starlets schon eher. Schöne, flatterhafte Mädchen ohne jedes praktische Talent.

Die junge Frau neben ihm aber sah nicht nur blendend aus, sie unterrichtete etwas so Bodenständiges wie Hauswirtschaft und schien darüber hinaus eine vernünftige, praktisch veranlagte Person zu sein. Immerhin war sie allein bis in diese Einöde vorgedrungen, und ihr Hund war ausgezeichnet erzogen.

„Übrigens male ich auch und spiele Klavier“, sagte sie ernst, aber er hatte den Eindruck, dass sie sich über ihn lustig machte.

„Was wissen Sie über die Mount Helena Farm?“, fragte er unvermittelt.

Sie durchforschte ihr Gedächtnis. „Nicht allzu viel.“

„Mark muss Ihnen doch irgendetwas erzählt haben!“

Charlotte merkte, dass er misstrauisch wurde und das Ganze gar nicht komisch zu finden schien. Unmittelbar darauf wurde ihr bewusst, dass er zwar nur ein Angestellter, aber auch ein großer, kräftiger Mann war, der sich durchaus weigern konnte, sie mitzunehmen. Und dem zuzutrauen war, dass er umkehren und sie am Straßenrand absetzen würde, wenn er glaubte, dass sie auf der Farm nichts zu suchen hätte.

„Nun … soviel ich weiß, hat Mark sich noch nicht entschieden, ob er Farmer werden will. Er hat erwähnt, es sei ein ziemlich großes Anwesen. Ich habe noch nie eine Rinderfarm gesehen.“

„Reden Sie weiter.“

Es war ein Befehl, und Charlotte reagierte gereizt. „Was wollen Sie denn noch alles wissen? Er hat einen älteren Bruder, der die Farm leitet und sich wie ein Diktator aufführt, aber da Sie dort arbeiten, dürfte Ihnen das bekannt sein.“

Rich knurrte leise, als wollte er ihr beistehen.

Dennis Kinane sah verärgert aus, aber sein Misstrauen schien sich gelegt zu haben. „Und Sie haben keine Hemmungen, Ihren ahnungslosen Gastgebern Ihren Hund aufzuhalsen?“, fragte er mürrisch.

„Rich ist darauf trainiert, zur Not im Freien zu schlafen. Ich mache ihn gern mit allen Hausbewohnern bekannt, sodass niemand Angst vor ihm haben muss. Er ist ein sehr gutmütiger Hund.“

„Solange niemand die Hand oder die Stimme gegen Sie erhebt.“

Ihre Blicke trafen sich.

„Ich habe ihn als Hundebaby in einem Müllcontainer gefunden“, sagte sie kühl. „Es ist ein Wunder, dass er überlebt hat. Ich musste hineinklettern und ihn unter dem Abfall ausgraben. Seitdem ist er mein ständiger Begleiter.“

„Und Ihnen entsprechend dankbar und treu ergeben“, bemerkte Dennis, fügte aber besänftigend hinzu, als er ihren zornigen Blick sah: „Regen Sie sich nicht auf, ich hätte genauso gehandelt.“

Er bog ab in eine Einfahrt, und der Wagen holperte über das in den Boden eingelassene Viehgitter. Der Schriftzug über dem Tor – MOUNT HELENA – war schlicht, aber der Straßenzustand besserte sich sofort. Nach kurzer Fahrt hielten sie vor einem Gartenzaun.

Durch die Windschutzscheibe war ein lang gezogenes weißes Gebäude mit rotem Dach zu sehen. Es war von Rasen und Gebüsch umgeben, machte einen sauberen, gepflegten Eindruck und erstrahlte, obwohl es alt war, in einem frischen Anstrich. Die Wassertanks im Hof waren von blühenden Rankpflanzen überwuchert. Hinter dem Haus erstreckte sich das Land sanft ansteigend bis hin zu einer Hügelkette, deren gold schimmernde Grasdecke von Sträuchern bewachsen war, die wie dunkle Tupfer aussahen.

Was für wunderbare Farben, dachte Charlotte beim Anblick der roten Erde, des tiefblauen Himmels, des Grases und des Hauses und seufzte erleichtert.

Dennis Kinane sah sie fragend an.

Sie lächelte verlegen. „Es sieht recht zivilisiert aus.“

„Dachten Sie, Sie wären hier in der Wildnis gelandet?“

„Ehrlich gesagt, ich war mir nicht ganz sicher. Mark … ich meine, die meisten Männer sind nicht gerade gut darin, ein Haus zu beschreiben, oder?“

Er antwortete nicht, aber hätte sie sich die Mühe gemacht, ihn anzusehen, wäre ihr sein grimmiger Blick nicht entgangen.

„Ich setze Sie hier ab“, sagte er und öffnete die Wagentür. „Da vorne ist der Wirtschafter, ich spreche kurz mit ihm.“

Charlotte sah ihm verwirrt nach, als er zum Gartentor ging. Der Wirtschafter war ein raubeinig wirkender, wettergegerbter Mann Mitte vierzig mit Stirnglatze und grauem Pferdeschwanz, der während der kurzen Unterhaltung mehrmals ungläubig den Kopf schüttelte.

„Charlotte, das ist Slim.“ Ihr Fahrer, dessen Namen sie immer noch nicht kannte, trat ans offene Wagenfenster und stellte ihr den anderen Mann vor. „Er führt den Haushalt und wird sich um Sie kümmern, bis … bis alles geklärt ist.“

„Guten Tag, Slim.“ Charlotte reichte dem Mann die Hand und wurde mit einem kräftigen Händedruck begrüßt. Rich bellte.

„Tag“, sagte Slim mit Reibeisenstimme und, nachdem er Charlotte und den Hund eingehend betrachtet hatte: „Willkommen in Mount Helena, Miss.“

„Danke. Ist Mark da?“

„Nein, im Moment nicht.“

„Oh.“ Charlotte war verunsichert.

„Das heißt nicht, dass wir Ihnen keinen angenehmen Aufenthalt bereiten können. Lassen Sie uns das Gepäck ausladen. Ist der Hund ans Haus gewöhnt?“

Charlotte bejahte und erfuhr von Slim, dass es auf der Farm gerade keinen Hund gab und nichts dagegen sprach, Rich ebenfalls zu beherbergen.

Sie konnte nicht widerstehen, dem Mann, der sie mitgenommen hatte, einen triumphierenden Blick zuzuwerfen, aber er ignorierte sie. Kurz darauf war sie in einer Gästesuite auf Mount Helena einquartiert. Ihr Fahrer war verschwunden, bevor sie ihm danken oder ihn nach seinem Namen fragen konnte.

Slim brachte ihr Tee aufs Zimmer, kündigte das Abendessen für sieben Uhr an und empfahl ihr, sich auszuruhen. Auf ihre Frage, wann mit Marks Rückkehr zu rechnen sei, zuckte er nur die Schultern und winkte lässig ab, als spielte das keine Rolle.

Nun saß sie auf dem breiten Bett, und Rich hatte den Kopf auf ihren Knien liegen. „Stell dir vor …“, sagte sie stirnrunzelnd und streichelte ihm über die Nase, „… ich veranstalte diese wilde Jagd, und Mark ist nicht da!“

Sie sah sich im Zimmer um, das altmodisch, aber geräumig und komfortabel war und zu dem eine überdachte Veranda und ein eigenes Bad gehörten. Die Einrichtung bestand aus großen, schweren Mahagonimöbeln, vor den Fenstern hingen hübsche geblümte Vorhänge, auf dem Bett lag eine dicke, mit rosa Seide bezogene Daunendecke.

Das Badezimmer schien erst vor kurzem modernisiert worden zu sein, auf der Veranda standen bequeme Korbmöbel, und alles war makellos sauber.

Während Charlotte ihren Tee trank, grübelte sie über die unglücklichen Umstände nach, in denen sie sich befand. Einer davon war, dass man sie nun für Mark Kinanes Freundin hielt. Unglückliche Umstände waren auch der Grund dafür, warum sie überhaupt nach Mount Helena gekommen war, die aber betrafen ihre Schwester Bridget und nicht sie.

Du meine Güte, dachte sie seufzend, Bridget ist wirklich ein Sorgenkind. Als Vollwaisen waren sie beide bei einer Tante aufgewachsen, die sie jedoch als Last empfunden hatte. Jetzt, als bildhübsche Neunzehnjährige und angehendes Model, war Bridget immer noch genauso verletzlich und hilflos wie damals nach dem Verlust ihrer Eltern. Vielleicht würde sie immer das warmherzige, liebevolle, großzügige und manchmal erschütternd naive Mädchen bleiben, das jemand an die Hand nehmen musste.

Und vielleicht, überlegte Charlotte, ist es eben meine Aufgabe, mich um meine Schwester zu kümmern. Manchmal fühlte sie sich hundert Jahre älter als Bridget, obwohl sie selbst erst zweiundzwanzig war.

Als Mark Kinane auf einer Party ihrer Schwester mit seinem guten Aussehen und seinem Charme den Kopf verdreht hatte, war sie es gewesen, die dafür sorgte, dass Bridget nicht völlig den Boden unter den Füßen verlor. Nach der Trennung dann war es an ihr gewesen, ihrer Schwester mit Trost und liebevollen Worten über den Schmerz hinwegzuhelfen.

Nur einmal hatte sie die Fassung verloren. Das war, als Bridget ihr das positive Ergebnis eines Schwangerschaftstests zeigte. Das Baby sei von Mark, hatte Bridget erklärt, und sie würde nie wieder einen anderen Mann lieben.

„Weiß er davon?“, hatte Charlotte entsetzt ausgerufen. „Wie konnte das passieren?“

Mark wusste nichts davon, denn Bridget hatte es bis dahin selbst nicht gewusst. Es folgte eine für Bridget typische, verworrene Geschichte von verwechselten Daten, vergessenen Pillen und einer leidenschaftlichen Nacht, in der sie und Mark den Kopf verloren hatten.

Zum ersten Mal in ihrem Leben war Charlotte wirklich streng zu ihrer Schwester gewesen und hatte darauf bestanden, den wahren Grund für die Trennung zu erfahren anstatt der beschönigten Version, mit der sie bis dahin abgespeist worden war.

Mark Kinane, im selben Alter wie Charlotte, schien ein recht wankelmütiger junger Mann zu sein, wie sich herausstellte. Er hatte bereits eine gescheiterte Verlobung hinter sich und war sich nicht sicher, welchen Weg er im Leben einschlagen sollte. Sein älterer Bruder hatte ihm befohlen, nach Hause zurückzukommen, auf eine abgelegene Rinderfarm im australischen Outback.

Diesem herrschsüchtigen Bruder, der offenbar der Lieblingssohn des Vaters gewesen war, gab Bridget die Hauptschuld an Marks Problemen. Angeblich zwang er Mark zu einem Leben, das ihm zuwider war, und untergrub sein Selbstwertgefühl. Doch mit ihr an seiner Seite und einer eigenen Familie, für die er sorgen musste, würde Mark sich ändern, hatte Bridget eigensinnig erklärt.

Er war charmant, das musste Charlotte zugeben, doch ob er genug Rückgrat hatte und sich überhaupt über die Neuigkeit freuen würde, stand auf einem anderen Blatt. Zweifellos aber hatte er ein Recht darauf, informiert zu werden, fand sie, und Bridgets Baby hatte Anspruch auf Unterstützung.

Gegen Bridgets Vorhaben, Mark die Nachricht persönlich zu überbringen, hatte sie jedoch energisch Einspruch erhoben. Bridget sah schwach und elend aus und litt an morgendlicher Übelkeit. Ausgeschlossen, dass sie sich auf die Reise machte und einem Glück hinterherjagte, das sich womöglich als Illusion erwies. Also hatte Charlotte sich bereit erklärt, selbst zu fahren.

Bridgets überschwängliche Dankbarkeit war rührend gewesen, aber sicherheitshalber hatte Charlotte gewisse Vorkehrungen getroffen. Sie hatte auf der Farm angerufen, nach Mark gefragt und erfahren, dass er gerade draußen bei der Herde war. Vermutlich hatte sie mit Slim gesprochen. Dann hatte sie eine gute Freundin bei sich zu Hause einquartiert und sie gebeten, ein Auge auf Bridget zu haben, falls ihre Reise länger als geplant dauern sollte …

„Als hätte ich es geahnt“, sagte sie jetzt zu Rich, der sich inzwischen zu ihren Füßen zusammengerollt hatte. „Aber wenn Mark vor zwei Tagen noch hier war, kann er doch nicht weit sein, oder?“

Rich öffnete ein Auge und klopfte mit dem Schwanz auf den Boden.

„Bleibt die Frage, wie ich damit umgehe, dass mich alle für Marks Freundin halten.“

Jetzt kratzte sich der Hund am Ohr, und Charlotte lachte leise. „Ich weiß, es ist ein ziemliches Verwirrspiel. Vielleicht muss ich einfach improvisieren. Wenn ich an den Mann denke, der uns mitgenommen hat, scheinen die Leute hier ziemlich misstrauisch zu sein.“

Sie sah im Geist ihren Fahrer vor sich und runzelte nachdenklich die Stirn. Möglicherweise ist es Einbildung, überlegte sie, aber er hatte etwas Besonderes an sich. Etwas, das so gar nicht zu einem Arbeiter auf einer Rinderfarm passen wollte, die zwar nicht gerade am Ende der Welt, aber doch im westlichsten Zipfel von Queensland lag.

Was war so auffällig an ihm gewesen? Alles, woran sie sich erinnerte, war, dass er zwar verstaubt und schmutzig ausgesehen hatte, aber auch sehr attraktiv mit seinem dichten dunklen Haar, den dunklen Augen und dem muskulösen Körper.

„Die Muskeln hat er vermutlich von der Arbeit mit den Rindern“, sagte sie verächtlich, aber er ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie sah seine Hände vor sich, seine große, kräftige Statur, und erinnerte sich daran, wie er sie mit Blicken förmlich ausgezogen hatte. Es hatte sie irritiert, aber auch nicht kalt gelassen …

Schluss damit, befahl sie sich und gähnte. Es war ein anstrengender Tag gewesen, und obwohl sie nicht schlafen wollte, fielen ihr die Augen zu.

Als sie zwei Stunden später aufwachte, war es dunkel im Zimmer. Zuerst wusste sie nicht, wo sie war, dann fiel es ihr wieder ein. Sie verzog das Gesicht, tastete nach dem Schalter der Nachttischlampe und knipste das Licht an. Es war halb sieben.

Mit Rich an der Leine ging sie über die Veranda in den Garten hinunter, machte einen kurzen Rundgang und kehrte dann in ihr Zimmer zurück, um zu duschen. Sie war gerade fertig, als es an der Tür klopfte. Es war Slim.

„Das Essen ist fertig, Miss, und Mr. Kinane erwartet Sie zu einem Drink.“

„Mark?“

Slim schüttelte den Kopf. „Ich habe Futter für Ihren Hund vorbereitet. Glauben Sie, er kommt mit?“

Charlotte bedankte sich und gab ihm die Hundeleine. „Wie viele Mr. Kinanes gibt es eigentlich? Soviel ich weiß, hat Mark keinen Vater mehr und nur einen Bruder.“

„Genau der ist es. Ich zeige Ihnen den Weg.“

Dennis Kinane führte gerade sein Whiskyglas zum Mund, als er Slims Stimme hörte: „Hier hinein, Miss.“

Er drehte sich zur Tür um und sah in die erstaunt blickenden grauen Augen seines Gastes.

Charlotte Winslow hatte sich zum Dinner umgezogen. Während er selbst lediglich eine saubere Jeans und ein frisch gebügeltes Khakihemd angezogen hatte, sah sie einfach umwerfend aus.

Die blonden Locken, die ihr jetzt offen über die Schultern fielen, schimmerten im Licht der Deckenlampe. Ihre Kleidung war von schlichter Eleganz – eine cremefarbene Hose und eine hellbraune Seidenbluse, die ihre hübsche Figur betonten. Außerdem war sie, wie er feststellte, der einzige Mensch, den er kannte, der auch mit verblüfftem Gesichtsausdruck attraktiv aussah.

„Kommen Sie herein, Charlotte. Was möchten Sie trinken?“

„Sind Sie der, für den ich Sie halte?“, stieß sie hervor.

„Ich bin Dennis Kinane, Marks älterer Bruder. Der Diktator, ganz recht.“

2. KAPITEL

„Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?“

Dennis zuckte die Schultern. „Ich hatte das Gefühl, dass auch Sie mir etwas verschweigen, Miss Winslow. Möchten Sie etwas trinken?“

Sie musterte ihn zornig. „Ja, ich könnte einen Drink gebrauchen.“

„Was darf es denn sein?“

„Ein Glas eisgekühlter Weißwein wäre nicht schlecht …“

„Kein Problem.“ Er stellte sein Whiskyglas ab, holte eine Flasche Weißwein aus dem Barschrank und öffnete sie, während Charlotte ihn beobachtete.

Dennis Kinane hatte wenig Ähnlichkeit mit seinem Bruder Mark. Er war Anfang dreißig, aber im Gegensatz zu dem feingliedrigen Mark mit dem hellen Haar und den blauen Augen wirkte dieser Mann kräftig und robust. Beide Männer waren gleich groß, etwa einen Meter neunzig, Dennis aber war, wie sie bereits festgestellt hatte, muskulös und durchtrainiert. Wie hatte sie übersehen können, dass das gewisse Etwas an ihm die Autorität war, die er als Besitzer von Mount Helena ausstrahlte?

Besonders beeindruckt war sie allerdings nicht davon, was auch Dennis Kinane zu bemerken schien. Er lächelte spöttisch, als er ihr das volle Weinglas reichte.

„Nehmen Sie Platz, und entspannen Sie sich.“

Sie sah sich um und setzte sich auf einen grünen Polstersessel. Der Salon war ähnlich gediegen eingerichtet wie das Gästezimmer, mit Möbeln aus Mahagoni und Zedernholz, und in harmonisch aufeinander abgestimmten Grün- und Brauntönen gehalten.

Dennis nahm, sein Glas in der Hand, auf dem Sessel gegenüber Platz. „Nun?“

Charlotte stärkte sich mit einem Schluck Wein. „Was verschweige ich Ihnen denn Ihrer Meinung nach?“, fragte sie kühl.

Ihm fiel auf, wie hübsch sie aussah mit ihrem trotzig gehobenen Kinn. „Warum Sie meinem Bruder nachlaufen, zum Beispiel“, meinte er.

„Wie kommen Sie darauf, dass ich ihm nachlaufe?“

„Ihr Besuch, der im Übrigen völlig unerwartet kommt, lässt darauf schließen. So etwas ist schon öfter passiert, und ich sage Ihnen lieber gleich, dass ich Sie so bald wie möglich dahin zurückschicken werde, wo Sie hergekommen sind.“

„Warum?“, fragte sie empört.

„Weil Mark vor zwei Tagen abgereist ist.“

Charlotte sah ihn fassungslos an.

Er trank einen Schluck Whisky und musterte sie prüfend über den Rand seines Glases hinweg. „Wann haben Sie das letzte Mal etwas von ihm gehört?“

„Was spielt das für eine Rolle? Und was geht Sie das an? Warum haben Sie mir nicht gleich gesagt, dass Mark nicht da ist?“

Er lehnte sich bequem zurück. „Weil ich es nicht wusste. Ich hatte einige Tage draußen an einer Bohrstelle zu tun und habe eben erst von seinem Verschwinden erfahren.“

Charlotte dachte an Bridget, die in Brisbane händeringend auf eine Nachricht wartete. „Wo ist er hingefahren?“, fragte sie kleinlaut. „Und warum so plötzlich?“

„Ich kann nur raten, aber seine frühere Verlobte …“, er sah Charlotte scharf an, doch ihre Miene verriet keinerlei Gefühlsregung, „… lebt in Broome. Vielleicht hatte er Sehnsucht nach ihr. Und warum er so plötzlich abgereist ist? Nun …“, der Ärger stand ihm im Gesicht geschrieben, „… Mark hält es hier nie sehr lange aus.“

Vor Enttäuschung und Ratlosigkeit musste Charlotte unwillkürlich seufzen.

„Hat er Ihnen nicht von ihr erzählt?“, fragte er ungerührt. „Sie beide müssen sich kennen gelernt haben, kurz nachdem er die Verlobung gelöst hatte.“

„Ich … also, ich meine …“ Charlotte trank in großen Zügen ihren Wein aus. Dabei zitterte sie leicht.

„Sie wären nicht die Erste, die meinen Bruder für ihre große Liebe hält und dann feststellen muss, dass sie auf Sand gebaut hat. Und auch nicht die Erste, die ihm durch das ganze Land nachreist.“

„Das Abendessen ist fertig“, rief Slim aus dem angrenzenden Esszimmer.

„Ich habe keinen Hunger, vielen Dank“, erwiderte Charlotte.

Slim kam in den Salon, die Hände in die Hüften gestemmt. „Keinen Hunger? Nachdem ich den ganzen Nachmittag am Herd verbracht habe, um ein ordentliches Essen auf den Tisch zu bringen?“

„Miss Winslow hat einen kleinen Schock erlitten“, meinte Dennis trocken.

„Das passiert uns allen von Zeit zu Zeit, meine Liebe. So ist Mark nun einmal, aber das Leben geht weiter. Kommen Sie, und essen Sie etwas, seien Sie ein braves Mädchen. Eine Ablehnung kommt nicht infrage!“ Slims dünner Pferdeschwanz schwang hin und her.

Charlotte zögerte. Sie war im Begriff, das Missverständnis aufzuklären, da erhob sich Dennis und sah spöttisch auf sie herab.

„Ich habe kein Mitleid mit Frauen, die sich vor Sehnsucht nach meinem Bruder verzehren.“

Sie stand ebenfalls auf. Wenn Blick töten könnten, hätte Dennis Kinane jetzt tot umfallen müssen. Doch ihr zorniger Blick schien ihn nur zu amüsieren, denn er sagte freundlich: „Nach Ihnen, bitte. Ich bringe den Wein mit.“

Hoch erhobenen Hauptes ging sie an ihm vorbei zum Esszimmer, um ihm zu beweisen, dass sie sich nicht einschüchtern ließ. Sie spürte seinen bohrenden Blick im Rücken. Als sie sich umdrehte, sah sie, wie er interessiert ihre Figur musterte, bevor er sich abwandte und nach der Weinflasche griff. Ein merkwürdiges Gefühl überkam sie, aber schon rückte Slim ihr den Stuhl zurecht.

Während des Essens merkte sie, wie hungrig sie tatsächlich war. Vielleicht lag es auch an der köstlichen Mahlzeit, die Slim zubereitet hatte – Parmaschinken mit Melone, Roastbeef und Yorkshire-Pudding.

Als sie gerade ihr Roastbeef aß, sagte Dennis: „Erzählen Sie etwas über sich, Charlotte. Stammen Sie aus Brisbane? Leben Ihre Eltern noch?“

Sie trank einen Schluck Wein und schilderte in kurzen Zügen ihre Lebensgeschichte.

„Sehr ungewöhnlich“, lautete sein Kommentar.

Schweigend strich sie Senf auf ein Stück Roastbeef.

„Sie haben also immer in Brisbane gelebt?“

Als Nächstes widmete sie sich ihrem Yorkshire-Pudding. „Slim versteht etwas vom Kochen, es schmeckt großartig.“

„Ja, Slim ist ein guter Koch. Warum wollen Sie nicht, dass ich mehr über Sie erfahre, Charlotte?“

Ihre Blicke trafen sich.

„Ich wüsste nicht, warum Sie sich für meine Lebensgeschichte interessieren sollten. Ich interessiere mich auch nicht für Ihre.“

„Ich bin untröstlich“, meinte Dennis, setzte aber unbekümmert seine Mahlzeit fort.

Charlotte betrachtete nachdenklich die schöne goldene Standuhr auf dem Kaminsims, dann widmete auch sie sich wieder dem Essen.

Als sie fertig waren, erschien wie auf Kommando Slim und servierte Käse und Obst. „Kaffee kommt gleich“, verkündete er.

Dennis nahm sich einen Pfirsich und schälte ihn. Wieder fielen Charlotte seine schwieligen, kräftigen, aber schön geformten Hände auf, die jetzt makellos sauber waren und gewisse Fantasien in ihr weckten …

Entschlossen sah sie sich im Zimmer um. Die Einrichtung mochte altmodisch sein, aber das Wohnhaus von Mount Helena hatte Stil. Staunend stellte sie fest, dass es sich bei den Bildern an den grün tapezierten Wänden um wertvolle Kunstwerke handelte. Auch das Porzellan schien kostbar zu sein, ebenso die geschliffenen Gläser … Prüfend klopfte sie mit dem Fingernagel an ihr Weinglas, und der feine Klang bestätigte ihre Vermutung, dass es sich um feinstes Kristall handelte.

Im Geiste sah sie Dennis Kinanes Wagen vor sich, schmutzig zwar, aber eindeutig ein neueres Modell mit allen Extras.

Bisher hatte sie sich kaum Gedanken über Mark Kinanes Herkunft gemacht. Jetzt drängte sich ihr der Verdacht auf, dass er möglicherweise aus reichem Hause stammte und Dennis Kinane deshalb so misstrauisch auf Frauen reagierte, die seinem offenbar recht verschwenderischen Bruder nachliefen.

„Und?“

Sie zuckte zusammen und sah Dennis an. „Was, und?“

„Ich nehme an, Sie haben gerade die Wertsachen geschätzt. Das Tafelsilber, die Kristallgläser und so weiter.“

Errötend sagte sie: „Ihr Bruder scheint eine gute Partie zu sein.“

„Ganz recht. Bitte, essen Sie doch etwas Obst.“

Charlotte nahm sich Trauben, aß sie aber nicht, sondern drehte sie nur nachdenklich zwischen den Fingern. „Und deshalb glauben Sie, Sie hätten das Recht, Marks Liebesleben zu kontrollieren?“

Die Atmosphäre war angespannt. Charlotte sah das zornige Funkeln in Dennis’ Augen und den harten Zug um seinen Mund, aber sie hielt seinem Blick tapfer stand, obwohl sie innerlich vor Angst zitterte.

„Sie sind ziemlich unverfroren“, sagte er schließlich. „Nein, ich kontrolliere Marks Liebesleben nicht. Ich habe nur etwas gegen Frauen, die hinter seinem Geld her sind. Die behaupten, schwanger zu sein, nur um ihn zur Heirat zu zwingen. Ich hoffe, Sie gehören nicht zu dieser Sorte, Miss Winslow.“

Charlotte atmete tief durch, während Dennis’ Blick unnachgiebig auf ihr ruhte. Ihre Hoffnung, bei ihm auf Verständnis für Bridgets Lage zu stoßen, schwand dahin, und sie fragte sich verzweifelt, was sie tun sollte. Nach Hause zurückkehren und ihrer Schwester sagen, sie solle Mark Kinane vergessen, weil dessen herrschsüchtiger, möglicherweise sogar gefährlicher Bruder Dennis ihnen im Weg stand? Oder so lange wie möglich auf der Farm bleiben, bis es ihr gelang, Kontakt zu Mark aufzunehmen?

Spontan und voller Zorn auf diesen Mann erwiderte sie: „Keine Sorge, Mr. Kinane, ich bin nicht schwanger. Und egal, ob Sie Marks Liebesleben kontrollieren oder nicht, mir machen Sie keine Vorschriften. Ich reise nicht ab, bevor ich nicht weiß, wo Mark ist.“

Feindselig sahen sie einander an, doch Charlotte fragte sich, ob es nicht auch ein gewisses Interesse aneinander war, das die Stimmung zwischen ihnen zusätzlich aufheizte.

In die Stille hinein erklang Motorengeräusch, und mit quietschenden Reifen hielt ein Auto vor dem Haus. In Charlotte regte sich die leise Hoffnung, dass es Mark Kinane war, der nach Hause kam.

Doch herein stürmte eine junge, offenbar sehr aufgeregte Frau. „Du wirst es nicht glauben“, platzte sie heraus, als sie Dennis sah, der aufgestanden war. „Jack hat mich verlassen! Der Mistkerl hat es schon wieder getan, aber diesmal kommt er nicht so einfach davon.“ Sie machte eine Pause, um Luft zu holen, und jetzt erst entdeckte sie Charlotte.

Im selben Moment kam ein etwa sechsjähriger Junge daumenlutschend und mit einem Teddy im Arm ins Zimmer getrottet. Ohne von irgendjemandem Notiz zu nehmen, kletterte er auf eine Polsterbank und rollte sich zum Schlafen zusammen.

„Du meine Güte, Harriet“, sagte Dennis ärgerlich, „hättest du nicht anrufen können, statt Bobby um diese Zeit aus dem Bett zu zerren?“

Harriet wies mit einer unwilligen Kopfbewegung auf Charlotte. „Wer, zum Teufel, ist das?“

Charlotte musterte sie misstrauisch. Wer immer diese Harriet auch sein mochte, sie war nicht zu übersehen. Groß, mit kurzem rotbraunen Haar, Sommersprossen und wachen blauen Augen, die Hände in die Hüften gestemmt, stand sie da und wirkte so angriffslustig, dass Charlotte besagter Jack beinahe leid tat.

„Dies ist Charlotte Winslow“, erklärte Dennis. „Sie ist auf der Durchreise. Harriet …“

Doch Harriet brach in Tränen aus.

Dennis verdrehte die Augen, ging zur Bar und goss Brandy in ein Glas.

„Hier, trink das.“ Er führte sie zu einem Stuhl.

Nachdem sie einen Schluck getrunken hatte, klagte Harriet in unzusammenhängenden Sätzen ihr Leid, und Charlotte hörte gebannt zu. Obwohl Harriet behauptete, diesen Jack Barlow aus tiefster Seele zu hassen, schien sie gleichzeitig verzweifelte Angst zu haben, ihn zu verlieren. Einerseits hielt sie ihn offenbar für den unausstehlichsten Ehemann der Welt, andererseits sollte ihn auch keine andere Frau haben …

Bobby, der kleine Junge, schlief währenddessen tief und fest, und irgendwann versiegten Harriets Tränen. Aus verweinten Augen sah sie Dennis an. „Du verstehst doch, dass ich ihm nachfahren muss, oder?“, fragte sie flehend.

Dennis zögerte. Charlotte hatte den Eindruck, dass er die Sache durchaus anders sah, aber nur zu gut wusste, dass er bei Harriet auf Granit stieß. „Aber nicht sofort“, sagte er schließlich. „Das hat Zeit bis morgen früh.“

„Aber …“

„Nein, Harriet“, unterbrach er sie barsch. „Wenn du Bobby bei mir und Slim lassen willst, ist das die Bedingung.“

Harriet überlegte kurz. „Du bist ein Schatz, Dennis.“ Sie sprang auf und legte ihm die Arme um den Nacken. „Kann ich hier übernachten?“

Er nickte.

Ohne Charlotte auch nur eines Blickes zu würdigen, hob Harriet ihren schlafenden Sohn in die Arme und marschierte mit ihm hinaus.

Verwirrt sah Charlotte ihr nach.

„Ich weiß, es ist, als würde man von einem Tornado heimgesucht“, meinte Dennis trocken.

„Liebt sie ihn denn jetzt, oder hasst sie ihn?“, fragte Charlotte ratlos, da kam Slim mit dem Kaffee herein. Sie schlug die Hand vor den Mund. „Tut mir leid, das geht mich nichts an.“

„Sie ist von ihm besessen“, erklärte Slim ruhig, „aber ich kenne keinen taktloseren oder streitsüchtigeren Menschen als sie. Manchmal bleibt Jack nichts anderes übrig, als die Flucht zu ergreifen. Ich gehe und kümmere mich darum, dass sie alles hat, was sie braucht.“

Dennis sah ihm missmutig nach, und Charlotte musste lachen.

„Slim scheint Sie alle sehr gut zu kennen“, stellte sie fest.

Dem lustigen Funkeln in ihren schönen grauen Augen konnte er nicht widerstehen. „Slim hat hier das Sagen“, meinte er schulterzuckend. „Harriet ist unsere Cousine, aber da sie nach der Trennung ihrer Eltern bei uns gelebt hat, ist sie für uns wie eine Schwester. Jack ist unser Vormann. Die beiden haben ein Haus auf einem anderen Teil der Farm.“ Sein Blick wurde misstrauisch. „Hat Ihnen Mark nicht von ihr erzählt?“

Charlotte schüttelte den Kopf und ahnte, dass der kurze Friede zwischen ihnen vorüber war. Um ihre Nervosität zu überspielen, übernahm sie es, den Kaffee einzuschenken.

„Sie können nicht gegen meinen Wunsch hier bleiben“, sagte Dennis grimmig.

„Und was ist mit Marks Wünschen, zählen die gar nicht?“

„Da Mark es versäumt hat, mir seine Wünsche mitzuteilen, brauche ich auch keine Rücksicht darauf zu nehmen. Ich bin nicht einmal sicher, dass er überhaupt Wünsche hat, die in irgendeiner Weise mit Ihnen zu tun haben.“

„Hören Sie, ich kenne Ihren Bruder und habe das Recht, ihn zu besuchen.“

„Sind Sie nicht ein wenig zu alt für ihn?“ Ihren empörten Einwand, sie sei zweiundzwanzig und nicht älter als Mark, überhörte er und fuhr fort: „Wieso jagen Sie meinem Bruder nach, anstatt kleinen Mädchen Nähen und Kochen beizubringen? Falls Sie überhaupt Lehrerin sind.“

Charlotte atmete tief durch. „Ich unterrichte keine kleinen Mädchen, ich bin in der Erwachsenenbildung tätig, und zurzeit sind Ferien.“

Er ballte eine Hand zur Faust und legte sie auf den Tisch. „Umso erstaunlicher. Sie sind gar nicht Marks Typ! Vernünftige, bodenständige Frauen interessieren ihn normalerweise nicht.“

„Wenn das eine vornehme Umschreibung dafür sein soll, dass ich …“, sie vergaß beinahe, dass es in Wirklichkeit um Bridget ging, „… nicht gut genug für Ihren Bruder bin …“

„Das habe ich nicht gesagt.“

Charlotte ärgerte sich, dass sie so aus der Rolle gefallen war. Plötzlich war die Versuchung groß, mit Marks Bruder ins Reine zu kommen, bevor die Situation noch mehr außer Kontrolle geriet.

Doch er fuhr nachdenklich fort: „Wenn überhaupt, sind Sie zu gut, um wahr zu sein. Bisher hat sich Mark immer in junge Models, Schauspielerinnen oder Modepüppchen verliebt, die hier draußen, wo es keine Geschäfte, Restaurants, Frisiersalons und Ähnliches gibt, nichts mit sich anzufangen wussten.“

Ihr sank der Mut. Trotz der teuren, komfortablen Einrichtung konnte sie sich vorstellen, wie einsam das Leben in dieser Gegend sein musste. All die Annehmlichkeiten, die Dennis Kinane gerade aufgezählt hatte, waren Bridgets Lebensinhalt.

Andererseits – wenn Mark und Bridget wirklich eine gemeinsame Zukunft planten, warum sollten sie dann hier auf Mount Helena leben? Hatte Marks Bruder nicht selbst gesagt, dass Mark es hier nie lange aushielt?

„Gibt Ihnen das zu denken, Miss Winslow?“

Seine Stimme riss Charlotte aus ihren Gedanken. Sie sah sein spöttisches Lächeln und sagte ruhig: „Sie scheinen noch immer nicht verstanden zu haben, dass Mark nur ein Freund ist, den ich besuchen möchte.“

„Unsinn“, erwiderte er. „Sie haben etwas anderes im Sinn, Miss Winslow. Wenn Sie nur mit Mark befreundet wären, würden Sie es nicht so schwer nehmen, dass er nicht da ist.“

Es ärgerte sie, dass sie so leicht zu durchschauen war, und anstatt die Wahrheit zu sagen, beschloss sie, alles zu tun, um an Mark heranzukommen. Nicht nur Bridget zuliebe, wie sie zugeben musste, sondern auch, weil es sie reizte, Marks Bruder die Stirn zu bieten.

„Also gut, ich will ganz offen zu Ihnen sein“, sagte sie schulterzuckend. „Ich bin zwar nicht so gerissen, wie Sie zu glauben scheinen, aber genau wie Sie bin ich der Meinung, dass ich gut für Mark bin. Und“, sie sah sich um, „ich finde das Leben hier bedeutend aufregender als Restaurants, Friseure und Ähnliches.“

Er war offensichtlich sprachlos.

„Gibt Ihnen das zu denken, Mr. Kinane?“

Bevor er antworten konnte, erschien Slim wieder im Esszimmer, gefolgt von Rich.

„Ein erstaunlich gut erzogener Hund, Miss Winslow“, meinte er.

„Und jederzeit bereit, einen bei lebendigem Leib aufzufressen“, setzte Dennis hinzu.

Slim lachte. „Schon möglich. Übrigens, Mrs. Barlow und der Kleine schlafen schon.“

„Danke, Slim. Ich werde mich auch hinlegen. Zwei Nächte im Zelt, ganz zu schweigen von Miss Winslows Gesellschaft, haben mich ziemlich ausgelaugt.“ Dennis stand auf. „Tun Sie, was immer Sie wollen“, sagte er zu Charlotte, „aber vergreifen Sie sich nicht am Silber. Und seien Sie darauf vorbereitet, gleich nach dem Frühstück abzureisen. Gute Nacht.“

„Ich würde das nicht so ernst nehmen.“ Slim begann das Geschirr abzuräumen, während Charlotte wie erstarrt auf ihrem Stuhl saß.

„Das habe ich auch nicht vor“, erwiderte sie, „aber ich habe noch nie jemanden getroffen, der so …“ Ihr fehlten die Worte.

„Nun, Marks Verschwinden hat seine Laune nicht gerade verbessert. Es gibt viel zu tun in nächster Zeit, und jetzt hat sich auch Jack Barlow noch aus dem Staub gemacht. Aber eigentlich ist Dennis ganz in Ordnung.“

Charlotte stand auf. „Das kann ich im Moment nicht ganz nachvollziehen, aber vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft, Slim. Kann ich Ihnen helfen?“

Obwohl er sich über ihr Angebot zu freuen schien und sie einen Moment lang nachdenklich ansah, lehnte er ab.

„Nett von Ihnen, aber gehen Sie lieber schlafen“, sagte er.

3. KAPITEL

Um zwei Uhr morgens lag Charlotte hellwach unter der rosafarbenen Seidendecke.

Rich schlief auf dem Läufer neben dem Bett. Im Haus war es still, nur das Dachgebälk knarrte hin und wieder leise in der kühlen Nachtluft.

Die Ereignisse des vorangegangenen Tages ließen ihr keine Ruhe. Sie bekam Magenschmerzen, wenn sie daran dachte, dass sie Mount Helena am nächsten Morgen verlassen sollte.

Irgendwie musste sie vorher in Erfahrung bringen, wo Mark war, aber sie hatte nicht die leiseste Idee, wie. Wenn wirklich niemand wusste, wo er sich aufhielt, war die Sache hoffnungslos.

Außerdem mochte es zwar reizvoll sein, sich aus einer Laune heraus mit Dennis Kinane anzulegen, aber ihrem Nervenkostüm tat es gar nicht gut. Es war ein Spiel mit dem Feuer, und ginge es nicht um Bridget, würde sie diesem Mann am liebsten nie mehr unter die Augen treten. Dieses gewisse Kribbeln, das seine Blicke und sein attraktives Äußeres bei ihr hervorgerufen hatten, hatte er mit seinen Kommentaren und Verdächtigungen gründlich zerstört. Der Gipfel der Unverschämtheit war seine Bemerkung über das Silber gewesen.

Sie erinnerte sich an seinen spöttischen Gesichtsausdruck und spürte Zorn in sich aufsteigen. Gleichzeitig begann ihr berühmter – oder berüchtigter? – praktischer Verstand zu arbeiten. Wusste wirklich niemand, wo Mark steckte, oder war das eine Ausrede?

In Slim hatte sie einen Verbündeten gefunden, jedenfalls schien er die Abneigung seines Chefs gegen sie nicht zu teilen. Vielleicht konnte sie ihn ein wenig aushorchen, auch wenn das sonst nicht ihre Art war.

Etwas Besseres fällt mir sowieso nicht ein, dachte sie niedergeschlagen.

Als Charlotte am nächsten Morgen zum Frühstück erschien, war weder Dennis noch Harriet zu sehen.

Das Frühstück wurde in der Küche serviert, einem großen, freundlichen Raum mit Blick auf die üppig blühenden Kletterpflanzen im Hof und ein Paradies für jeden Koch. Von der Decke hing ein schmiedeeisernes Gestell für Töpfe herab, und es gab einen Hackblock auf Rädern. Auf den Fensterbänken wuchsen Kräuter, der große runde Esstisch in der Ecke war mit dickem bunten Porzellan gedeckt.

Der Einzige, der Charlotte am Frühstückstisch Gesellschaft leistete, war Bobby. Lustlos rührte er in seiner Schale mit Haferbrei und ließ dabei die Beine baumeln.

Slim sah vom Herd auf. „Guten Morgen, Miss. Gut geschlafen?“

„Nicht so sehr, aber am frühen Morgen bin ich doch noch einmal eingenickt, deshalb bin ich etwas später dran als gewöhnlich.“

„Kein Problem, setzen Sie sich. Was möchten Sie essen?“

Sie entschied sich für das, was er vorbereitet hatte – Würstchen und Rührei, dazu ein Glas Orangensaft.

„Wer bist du?“, wollte Bobby wissen. „Warum musst du keinen Haferbrei essen?“

„Weil ich schon erwachsen bin. Von Haferbrei wird man groß und stark.“

Bobby verdrehte die Augen. „Das sagen sie von allen Sachen, die ich nicht mag. Bist du Dennis’ Freundin?“

„Nein, ich bin ganz sicher nicht Dennis’ Freundin“, betonte sie, und im selben Moment kam Dennis Kinane zur Hintertür herein.

Er zog seine Stiefel aus, warf seinen breitrandigen Hut über einen Haken und kam auf Socken zum Tisch. Dieser große, kräftige Mann mit dem zerzausten dunklen Haar hatte etwas Erfrischendes an sich. Und er war atemberaubend attraktiv.

„Das wäre ein schlimmeres Schicksal als der Tod“, meinte er, an Bobby gewandt. „Morgen, Charlotte.“ Ihre Blicke trafen sich. Spöttisch, aber eindeutig interessiert musterte er sie von Kopf bis Fuß.

„Was heißt das?“, fragte Bobby.

Charlotte, die verwirrt den Blick abgewendet hatte, lächelte schadenfroh und überließ die Erklärung ihm.

„Das heißt“, Dennis schenkte sich Orangensaft ein, „dass …“

„Es bedeutet“, sagte Slim ruhig, während er Charlottes Frühstück brachte, „dass die beiden sich nicht besonders gut verstehen, nichts weiter. Bobby, wenn du nicht bald aufisst …“ Er verstummte, fasste sich an die Brust und fiel taumelnd zu Boden.

In dem verzweifelten Versuch, ihn festzuhalten, stieß Dennis seinen Saft um und Charlotte ihren Teller vom Tisch.

„Was ist los, was fehlt ihm?“, fragte sie erschrocken, als sie neben Slim kniete und sah, wie sich seine Haut bläulich verfärbte.

„Er hat ein schwaches Herz. Bringen Sie mir das Telefon!“, befahl Dennis.

Charlotte sah sich hektisch um und entdeckte etwas auf der Anrichte, das wie ein Funktelefon mit Antenne aussah. „Hier!“ Sie gab es Dennis. „Ich kenne mich mit Erster Hilfe aus …“

„Dann fangen Sie damit an, während ich den Notarzt rufe.“

Anderthalb Stunden später beobachteten Dennis, Charlotte und Bobby, wie der Rettungshubschrauber mit Slim an Bord von der schmalen Startbahn der Farm abhob.

„Muss er jetzt sterben?“, fragte Bobby mit Tränen in den Augen.

„Ich glaube nicht“, sagte Dennis. „Auf jeden Fall ist er jetzt in guten Händen.“ Er hob Bobby auf seine Schultern, um ihn zum Haus zu tragen.

„Ich hab Angst“, meinte der Kleine mit piepsiger Stimme, als vom Haus her ein aufgeregtes Bellen erklang.

„Oh, das ist Rich“, rief Charlotte. „Den habe ich ja völlig vergessen, er ist auf der Veranda eingesperrt.“

„Du hast einen Hund?“, fragte Bobby eifrig.

„Ja, möchtest du zu ihm gehen?“

Dennis änderte die Richtung und setzte Bobby vor Charlottes Veranda ab.

„Rich liebt Kinder“, sagte Charlotte. „Das wird Bobby ablenken.“

Genauso war es. Rich kam die Stufen herunter, sobald Bobby die Verandatür aufgemacht hatte, sprang kurz an Charlotte hoch, ignorierte Dennis vollkommen und lief freudig zurück zu Bobby.

„Es macht mich immer noch wütend, wie jemand so grausam zu einem Tier sein kann, das anderen so viel Freude bereitet.“

Dennis sah sie einen Moment lang nachdenklich an. „Ja, kaum zu glauben. Finden Sie nicht auch, dass wir uns eine Tasse Kaffee verdient haben?“

Sie nickte zögernd.

„Warten Sie hier.“

Mit gemischten Gefühlen sah sie ihm nach, als er davonging. Dank der Tatsache, dass er einen kühlen Kopf bewahrt und die Anweisungen des Notarztes vor dem Eintreffen des Rettungshubschraubers genau befolgt hatte, war Slim bestmöglich versorgt worden und hatte gute Genesungschancen.

Sie musste zugeben, dass man sich glücklich schätzen durfte, Dennis Kinane in Krisenzeiten an seiner Seite zu haben. Es sei denn, man konnte seine schneidige Art nicht ausstehen.

Dennis brachte nicht nur Kaffee mit auf die Veranda, sondern auch gebutterten Rosinentoast. Bobby tobte mit Rich auf dem Rasen herum.

Es war ein wunderschöner Morgen, klar und sonnig bei wolkenlosem Himmel und nicht zu heiß. Charlotte konnte sich vorstellen, dass es im Hochsommer auf Mount Helena sehr heiß wurde, doch jetzt, Ende April, zeigte sich der australische Herbst von seiner schönsten Seite. Die Hügel hinter dem Haus leuchteten golden, und Charlotte wünschte, sie hätte einen Pinsel in der Hand, um alles zu malen.

„Ein Problem hätten wir gelöst“, stellte Dennis fest, während er Kaffee einschenkte.

„Sie meinen Bobby“, riet Charlotte. „Ist Harriet schon weg?“

„Seit dem Morgengrauen, ja.“

„Was werden Sie jetzt tun?“

Er sah sie über den Rand seiner Kaffeetasse hinweg an. Sie trug Jeans und eine blaue Bluse, ihr Haar war seitlich zum Zopf geflochten. Nachdem sie den ersten Schock überwunden hatte, war sie bei Slims Herzattacke eine große Hilfe gewesen. Doch war das Grund genug, ernsthaft in Erwägung zu ziehen, was ihm gerade durch den Kopf ging? Sie zu bitten, länger auf der Farm zu bleiben, widersprach jeder Vernunft. Der Vernunft vielleicht, nicht aber den Gefühlen, die diese rätselhafte junge Frau in ihm weckte …

„Ich befinde mich“, begann er vorsichtig, „in einer sehr schwierigen Lage. Ich habe niemanden für den Haushalt, ein elternloses Kind auf der Farm, keinen Vormann mehr, und mein Bruder ist auch weg – und das alles innerhalb von vierundzwanzig Stunden.“

Charlotte biss ein Stück von ihrem Toast ab, runzelte die Stirn, sagte aber nichts.

„Wie lange haben Sie noch Ferien?“, fragte er.

Sie ahnte, worauf er hinauswollte, und atmete tief durch. „Noch gut drei Wochen.“

„Sie sind doch mit hauswirtschaftlichen Tätigkeiten vertraut, oder? Ich gebe es ungern zu, aber Sie könnten mir aus der Klemme helfen, Charlotte Winslow. Nicht auf Dauer, natürlich“, fügte er rasch hinzu, „und gegen Bezahlung.“

„Was genau soll das heißen?“, fragte sie argwöhnisch.

„Ich biete Ihnen vorübergehend Slims Stelle an.“

Sie zögerte.

„Wollten Sie nicht wissen, wie es auf einer Rinderfarm zugeht?“

„Ja, aber …“ Sie dachte angestrengt nach. Es sah ganz so aus, als würde ihr die Lösung, wie sie noch länger bleiben konnte, geradezu in den Schoß fallen.

„Was hindert Sie dann?“

„Mark ist nicht hier“, sagte sie leise, dann energischer: „Ich kenne Sie überhaupt nicht …“

„Ach, kommen Sie“, erwiderte er ungeduldig. „Sie haben mit mir zu Abend gegessen, meine verrückte Cousine gesehen, Sie kennen meinen Bruder, wie Sie hartnäckig behaupten – und Sie haben mir gerade geholfen, jemandem das Leben zu retten.“

Charlotte war nicht sicher, wie sie reagieren sollte. Wenn sie zu bereitwillig auf seinen Vorschlag einging, würde er vielleicht noch misstrauischer werden, als er ohnehin schon war. Schließlich entschied sie sich für die simple Feststellung: „Sie mögen mich nicht. Ich mag Sie nicht.“

Seine Mundwinkel zuckten. „Es wäre nur vorübergehend, und ich erwarte nicht, dass Sie mit mir ins Bett gehen. Sie sollen sich nur um den Haushalt kümmern.“

Ihr zorniger Blick entlockte ihm ein kleines Lächeln.

Sie schob ihren Teller beiseite und griff nach der Kaffeetasse. „Gestern Abend hatten Sie noch Angst, ich könnte Ihr Silberbesteck mitgehen lassen.“

Er musterte sie amüsiert. „Das war doch nicht ernst gemeint, ich wollte Sie nur ärgern. Wer weiß, vielleicht taucht Mark in der Zwischenzeit auf.“

Schweigend wog Charlotte die Möglichkeiten gegeneinander ab. Einerseits machte es sie nervös, mit diesem Mann unter einem Dach zu leben, andererseits war das vielleicht ihre einzige Chance, die Zukunft ihrer Schwester abzusichern.

„Ich bezahle übrigens sehr gut“, warf Dennis ein.

„Glauben Sie, das wäre für mich ausschlaggebend?“, fragte sie erbost.

„Ich erwähne es nur, damit Sie wissen, dass es sich um ein rein geschäftliches Angebot handelt.“

Sie sah ihn an. „Wie viel?“

Die Summe, die er nannte, war erstaunlich hoch.

„Verdient Slim so viel?“, fragte sie ungläubig.

„Nein, er bekommt mehr, aber er macht diese Arbeit auch schon seit fünf Jahren, seit er wegen seines schwachen Herzens nicht mehr im Sattel sitzen kann. Er ist ein bewährter Mitarbeiter. Es ist schwer, heutzutage gutes Personal zu finden.“

Sie trank ihren Kaffee aus.

„Aber ich könnte verstehen“, meinte er spöttisch, „wenn Sie sich der Aufgabe nicht gewachsen fühlten. Es steckt mehr Arbeit darin, als man glaubt.“

„Inwiefern?“

„Nun, zunächst einmal haben wir demnächst Hausgäste auf Mount Helena. Das bedeutet viel Kocherei und Hausarbeit, außerdem die Zubereitung eines feierlichen Dinners für zehn Personen.“

„Und das trauen Sie mir nicht zu?“

Er zuckte die Schultern. „Ich frage Sie.“

„Das schaffe ich mit verbundenen Augen“, sagte sie beleidigt, „aber nur unter einer Bedingung.“

„Und die wäre?“

„Dass Sie mir Bescheid sagen, sobald Sie wissen, wo Mark ist.“

Herausfordernd sah sie ihn mit ihren klaren grauen Augen an. Er erwiderte ihren Blick, und sie fochten einen stummen Kampf miteinander aus.

„Lieben Sie ihn wirklich so sehr?“, fragte Dennis schließlich.

Charlotte zögerte. „Das geht Sie nichts an. Sind wir uns einig?“

Sie bemerkte ein leichtes Flackern in seinen Augen.

„Wenn Mark mit dem Auto unterwegs nach Broome ist …“

„Mit dem Auto? Dann müsste er ja quer über den ganzen Kontinent fahren!“

„Richtig.“ Dennis stand auf. „Aber wir Leute vom Land sind lange Autofahrten gewöhnt. Außerdem ist es nur eine Vermutung, doch wenn ich recht habe, wird er für längere Zeit nicht per Handy erreichbar sein.“

„Ja, aber …“ Charlotte dachte nach. „Hat er nicht vielleicht etwas Besseres als nur ein Handy dabei? Ein Satellitentelefon, zum Beispiel?“

„Haben Sie eine Ahnung, was so ein Ding kostet?“

„Sie scheinen doch sonst mit allem ausgestattet zu sein, was auf dem Markt zu haben ist. Womit haben Sie denn heute Morgen den Notarzt angerufen?“

„Mit einem Satellitentelefon, ganz recht. Aber das ist für Notfälle reserviert und nicht …“, er lächelte ironisch, „… für Marks Liebesleben.“

Charlotte sprang von ihrem Stuhl auf, als ihr klar wurde, dass Bridget recht hatte. Dieser unausstehliche Mann war die Ursache für Marks Probleme. „Ist Ihnen jemals der Gedanke gekommen, dass Mark einen älteren Bruder gebraucht hätte, der nicht so arrogant ist wie Sie, Mr. Kinane?“

Sie musterten einander feindselig.

„Sie haben wirklich eine Schwäche für ihn, nicht?“, fragte Dennis schließlich.

„Ja, das habe ich“, stimmte sie zu, wenn auch mit hinter dem Rücken gekreuzten Fingern. In diesem Kampf ist jedes Mittel erlaubt, dachte sie.

„Es hat also keinen Sinn, Ihnen zu sagen, dass ich mein Bestes getan habe, um Mark auf den richtigen Weg zu bringen, seit er die Schule verlassen hat?“

„Gar keinen“, antwortete sie trocken.

Er neigte den Kopf zur Seite und runzelte die Stirn. „Warum? Nur weil er gut im Bett ist?“ Viel sagend ließ er den Blick über sie hinweggleiten.

Charlotte wurde blass. „Was fällt Ihnen ein?“

„Ich kann mir nicht vorstellen“, erwiderte er mit hochgezogenen Augenbrauen, „dass Sie während Ihrer kurzen Bekanntschaft mit ihm Zeit hatten, seine anderen Qualitäten genauer unter die Lupe zu nehmen.“

Unwillkürlich drängte sich ihr die Frage auf, wie Dennis Kinane wohl im Bett sein mochte. Er war ein harter, starker Mann, kein Zweifel, verlor auch in Stresssituationen nicht die Kontrolle und konnte ziemlich rechthaberisch sein, aber gab es auch eine andere Seite an ihm?

Die Art, wie er sie ansah, sprach dafür. Sein Blick besagte, dass er genug Erfahrung mit Frauen hatte, um sich auszumalen, wie sie im Bett war. Schon beim Gedanken daran wurde ihr abwechselnd heiß und kalt. Sie kannte ihn doch kaum! Wieso zitterte sie vor Aufregung bei der Vorstellung, seine Hände auf ihrer Haut zu spüren?

„Eins weiß ich genau“, sagte sie und versuchte zu verdrängen, was ihr gerade durch den Kopf gegangen war. „Mark ist kein waschechter Viehzüchter wie Sie. Ihn zu zwingen, hier zu leben, obwohl er es hasst, ist gemein von Ihnen.“

Dennis Kinane verschränkte die Arme vor der Brust und fing zu Charlottes Überraschung an zu lachen. „Das hat er Ihnen erzählt?“

„Ja.“

„Dann lassen Sie mich das richtig stellen, Miss Winslow. Mark kann tun und lassen, was er will. Aber wenn er glaubt, er könne auf Kosten der Farm leben – und bisher hat er keine andere Einnahmequelle gefunden –, dann erwarte ich von ihm, dass er mit anfasst, wenn er gebraucht wird. Was ist daran so verkehrt?“

Charlotte verschränkte die Hände und atmete tief durch. „Familien sollten zusammenhalten. Er ist schließlich Ihr Bruder, auch wenn er gerade eine harte Zeit durchmacht, jung und unvernünftig ist und seinen Weg noch nicht gefunden hat“, sagte sie im Brustton der Überzeugung, während Dennis sie erstaunt ansah.

„Obwohl ich selbst noch nicht in dem Alter bin“, fügte sie hinzu, „weiß ich, wie leicht man vergisst, dass man selbst einmal jung war.“

Er fragte empört: „Für wie alt halten Sie mich eigentlich?“

„Da Sie zehn Jahre älter sind als Mark, müssten Sie zweiunddreißig sein.“

„Und das finden Sie alt?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nicht an Jahren, aber Alter hat auch etwas mit der inneren Einstellung zu tun.“

Vielleicht war es ein glücklicher Zufall, dass Bobby genau in diesem Moment mit Rich auf die Veranda zurückkam. „Wir haben Hunger!“

„Hier ist Toast für dich.“ Charlotte gab ihm eine Scheibe und lachte, als Bobby dem Hund ein Stück abgab und Rich es gierig verschlang. „Wollen wir hoffen, dass Bobby nicht auch Geschmack an Hundefutter findet“, sagte sie, an Dennis gewandt.

Dennis Kinane lächelte, aber es war ein gezwungenes Lächeln, denn er hatte das unbestimmte Gefühl, dass Charlotte Winslow einen Sieg über ihn errungen hatte. Und nicht nur das. Als er sah, wie sie sich zu dem Kind und dem Hund hinunterbeugte, wurde ihm klar, dass er sie zunehmend anziehender fand, je besser er sie kennen lernte und ganz gleich, was sie trug. Ihre Hüften in den engen Jeans waren ein verlockender Anblick, und das konnte zu einem echten Problem für ihn werden.

Eine Frau mit einem schönen Körper, aber einer Neigung zum Philosophieren, sagte er sich grimmig. Außerdem war sie in seinen Bruder verliebt. Was konnte ihm Schlimmeres passieren?

Charlotte richtete sich auf, sah den Ausdruck in seinen dunklen Augen und war verwirrt. Was war so faszinierend an ihm? War sie nicht zu dem Schluss gekommen, dass er mindestens genauso selbstherrlich und unsensibel wie sexy war?

Er wandte sich ab. „Möchten Sie mitkommen? Dann versuchen wir, Mark zu erreichen.“

Das Büro auf der anderen Seite des Hauses war ein enger Raum, ausgestattet mit einem altmodischen Schreibtisch, einem Computer, einem Funkgerät und einem Telefon.

„Sie haben es sicher schon auf seinem Handy versucht, oder?“, fragte er.

„Er … er sagte, er hätte es verloren.“ Das war die Auskunft, die sie von Bridget erhalten hatte, als sie nach Marks Nummer gefragt hatte.

Wütend warf Dennis den Hörer auf die Gabel. „Verdammt, nicht schon wieder! Das ist bestimmt das sechste, das er verloren hat. Ist Ihnen eigentlich klar, dass der Mann, hinter dem Sie her sind, sträflich nachlässig ist?“

Dazu sagte Charlotte lieber nichts, denn Bridget war mindestens ebenso nachlässig, wenn es um Schlüssel oder Geldbörsen ging, auch Regenschirme verschwanden ständig bei ihr. Einmal hatte sie sogar die Schlüssel für das Auto, das sie gemeinsam benutzten, in einem mehrstöckigen Parkhaus verloren. Es hatte Stunden gedauert, sie wiederzufinden.

„Was haben Sie?“, fragte Dennis.

Meine Schwester und dein Bruder, dachte sie – wenn die beiden je zusammenkommen, wird entweder ein Traumpaar oder eine Katastrophe daraus. „Ach, nichts“, sagte sie und sah zu Boden.

„Darf ich Mark in Ihrer Gegenwart etwa nicht kritisieren?“, fragte er ungläubig.

Sie ergriff den rettenden Strohhalm. „Ich dachte, das hätten Sie verstanden.“

Was er darauf erwiderte, war nicht druckreif, doch gleich darauf hatte er sich wieder unter Kontrolle. „Hören Sie, ich habe keine Ahnung, wie ich ihn erreichen soll, aber wenn er sich meldet, sage ich Ihnen Bescheid. Jetzt habe ich andere Sorgen. Die Herden müssen zusammengetrieben werden, der Empfang steht an, und jemand muss sich um Bobby kümmern. Wollen Sie den Job oder nicht?“

„Ja“, sagte sie langsam, „aber nur, solange ich mich dabei wohl fühle.“

Er sah gereizt zur Zimmerdecke, beherrschte sich aber. „Vielen Dank. Übrigens erwarte ich nicht von Ihnen, dass Sie sich zu Tode schuften. Es reicht, wenn Sie dafür sorgen, dass wir saubere Kleidung und etwas zu essen haben. Es gibt auch eine Haushaltshilfe …“ Er unterbrach sich und horchte. „Sie scheint schon bei der Arbeit zu sein. Kommen Sie, ich mache Sie mit Merlene bekannt.“

Merlene war eine kräftige Frau Mitte dreißig, über einsachtzig groß, mit einer stachligen Kurzhaarfrisur. Ihre grobe Kleidung und ihr vorstehendes Kinn taten ein Übriges, um den Eindruck zu erwecken, dass mit ihr nicht zu spaßen war.

Dennis erzählte ihr von Slims Herzattacke und stellte ihr Charlotte als vorübergehende Stellvertreterin vor.

Merlenes Augenbrauen schossen in die Höhe. „Das ging aber flott. Hat er wieder mal Ärger mit seiner Pumpe? Verdammt.“ Sie unterzog Charlotte einer eingehenden Inspektion. „Ist das Ihr Ernst, Boss?“

„Miss Winslow hat die allerbesten Empfehlungen“, sagte er nachdrücklich. „Trotzdem wäre es nett, wenn Sie Ihr helfen würden, Merlene. Und vielleicht könnten Sie vorübergehend in Slims Räumen im Seitenflügel wohnen. Ich gehe jetzt wieder an die Arbeit.“

„Ich erkläre Ihnen jetzt, wie das hier läuft, Charlotte“, kam Merlene zur Sache, kaum dass Dennis den Raum verlassen hatte. „Ich wische die Fußböden, putze die Fenster, wasche und bügle die Wäsche und hacke das Holz für den Ofen.“

„Das ist sicher eine große Hilfe!“

„Was ich nicht tue, ist Badezimmer sauber machen, Staub wischen, kochen und Geschirr spülen. Und falls das Bobby ist, den ich da höre – ich laufe nicht hinter kleinen Kindern her.“

„Selbstverständlich“, erwiderte Charlotte schwach und kapitulierte vor Merlenes stechendem Blick.

„Flicken, Nähen, Servieren oder Blumenschmuck gehören auch nicht zu meinen Aufgaben.“

„Kein Problem, wirklich …“

„Und ich reagiere äußerst gereizt, wenn man meine Arbeit bemängelt, was leider eine dumme Angewohnheit von Slim ist.“

„Das würde mir nicht im Traum einfallen“, versicherte Charlotte, die überzeugt war, dass Merlene sie mit einer Hand hochheben konnte, wenn sie wollte. Und sie fand, dass Dennis sie ruhig hätte warnen können, bevor er sie dem rauen und gar nicht herzlichen Empfang durch diese Frau aussetzte.

„Noch etwas.“ Merlene zog sich einen Stuhl heran und ließ sich darauf nieder. „Ich glaube keine Sekunde, dass Sie hier irgendwen vertreten. Es heißt, dass eins von Marks Liebchen ihm gefolgt sei, nur um festzustellen, dass er sich nach Broome abgesetzt hat.“ Sie verschränkte die Arme.

Charlotte schluckte und fand, dass es ihr jetzt reichte. Also sagte sie Merlene, dass sie Mark zwar kenne, aber dass das niemanden außer ihr etwas angehe und sie sich keinen Deut darum schere, was irgendjemand von ihr denke. Eins wisse sie aber ganz genau, nämlich dass sie niemandes Liebchen sei.

Merlene ließ die Arme sinken. „Wir beide könnten miteinander klarkommen. Wie wär’s mit einem Tässchen Kaffee? Den gönne ich mir immer vor der Arbeit.“

„Danke.“ Charlotte atmete auf.

„Danach zeige ich Ihnen, wo’s langgeht. Übrigens, ich arbeite drei Stunden am Tag. Und keine Sorge, um mein Essen müssen Sie sich nicht kümmern, auch wenn ich nebenan wohne. Ich esse trotzdem weiter mit den Jungs unten in den Wirtschaftsgebäuden.“

„Warum sollen Sie dann nebenan wohnen?“, fragte Charlotte verwirrt.

„Fragen Sie mich was Besseres“, meinte Merlene, fügte aber nach kurzem Nachdenken hinzu: „Dennis legt eben Wert darauf, dass alles seine Ordnung hat. Sie beide hier allein im Haus, das könnte für Gerüchte sorgen.“

„Ach so.“

„Obwohl …“, zum ersten Mal blitzte so etwas wie Humor in Merlenes Augen auf, als sie Charlotte von oben bis unten betrachtete, „… ich nicht sicher bin, um wessen Ruf er mehr Angst hat, um Ihren oder seinen. Gehen Sie nicht gleich in die Luft, war doch nur Spaß.“

Als es Mittag wurde, war Charlotte mit den wichtigsten Abläufen im Haushalt von Mount Helena vertraut. Nebenbei hatte sie viel Interessantes über das Leben auf der Farm und ihre Bewohner erfahren.

Slim und Merlene schienen erbitterte Feinde zu sein, aber Charlotte vermutete, dass ihnen beiden etwas fehlen würde, wenn sie nicht mehr miteinander streiten könnten.

Merlene hatte ihr ganzes Leben auf Mount Helena verbracht. Schon ihr Vater war Viehtreiber gewesen, und sie war in seine Fußstapfen getreten, bis ein Unfall sie dazu gezwungen hatte, die mühsame Beschäftigung an den Nagel zu hängen. Der einzige Sattel, in dem sie jetzt noch saß, war der ihres Motorrades. Neben ihren klar umrissenen Pflichten im Haushalt betrieb sie einen Laden für die Farmarbeiter. Bis auf Harriet Barlow, an der sie kein gutes Haar ließ, war Merlene die einzige Frau auf der Farm.

Charlotte staunte, als sie erfuhr, wie groß das Anwesen war und wie viele Rinder Dennis Kinane besaß. Für die stilvolle Einrichtung des Hauses war Dennis’ und Marks Mutter verantwortlich, die Merlene zufolge eine feine Dame von erlesenem Geschmack gewesen war.

Mit Äußerungen über Mark Kinane hielt sich Merlene zu Charlottes Überraschung taktvoll zurück, aus ihrer Bewunderung für Dennis Kinane dagegen machte sie keinen Hehl. Man hätte ihn für einen strahlenden Helden halten können – wenn man nicht gerade vom Gegenteil überzeugt war, wie Charlotte.

Als Dennis um ein Uhr zum Essen kam, servierte Charlotte eine einfache Mahlzeit aus kaltem Braten und Salat. „Morgen kann ich mit etwas Besserem dienen“, versprach sie, während sie Tee einschenkte und Bobbys Fleisch in Stücke schnitt. „Merlene war so nett, mir zu zeigen … wo’s langgeht.“

„Das heißt, Sie verstehen sich gut mit ihr?“ Ein spöttisches Lächeln spielte um seine Mundwinkel.

„Ihnen habe ich das bestimmt nicht zu verdanken.“

„Was immer ich auch gesagt hätte, es hätte nichts geholfen.“

„Da bin ich mir nicht so sicher. Spielen Sie nur nicht den Unschuldsengel!“

„Sie glauben mir nicht?“

„Sie haben es erfasst.“

Er lachte. „Ich bin doch kein Unhold, Charlotte.“

„Was ist das?“, fragte Bobby.

„Jemand, vor dem man sich in Acht nehmen muss“, erklärte Charlotte.

„Mom sagt, Dennis ist der Einzige, mit dem sie sich lieber nicht anlegt. Das wundert ihn aber, hat mein Dad gesagt.“

Charlotte warf Dennis einen triumphierenden Blick zu.

„Er ist aber gar nicht so schlimm“, fuhr Bobby fort. „Eigentlich ist er sogar netter als die anderen.“

„Vielen Dank, Bobby. Meinst du, du könntest dich heute Nachmittag lange genug von Rich losreißen, um mit mir auf die Weiden zu kommen?“, fragte Dennis.

Bobby hüpfte vor Freude von seinem Stuhl auf. „Jawoll, Sir!“

„Dann kann Charlotte sich ein wenig ausruhen und ihre gute Laune wiederfinden.“

Sie sahen sich einen Moment lang an, dann drehte Charlotte den Kopf weg. „Danke, ich weiß das zu schätzen“, sagte sie steif.

„Und spielen Sie ruhig Klavier, wann immer Sie Lust dazu haben. Gleich hinter dem Esszimmer ist das Musikzimmer.“ Dennis trank seinen Tee aus und stand auf. „Auf geht’s, junger Mann.“

Da Merlene inzwischen mit Donnergetöse auf ihrem Motorrad davongebraust war, befand sich Charlotte zum ersten Mal an diesem Tag allein im Haus. Endlich hatte sie Zeit, in Ruhe bei einer Tasse Tee darüber nachzudenken, welch überraschende Wendung die Ereignisse genommen hatten. In welcher Notlage Dennis Kinane sich auch immer befand – nie hätte sie damit gerechnet, dass er ausgerechnet sie um Hilfe bitten würde.

Natürlich saß er in der Klemme, aber hätte er nicht nur eine Personalagentur anrufen müssen? Was hatte das Ganze mit ihrer Person zu tun?

Sie stellte die Tasse ab und rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Trotz ihrer todsicheren Überzeugung, wie Bridget und sie als Kinder immer zu sagen pflegten, dass sie Dennis nicht mehr im Geringsten anziehend fand, lag etwas zwischen ihnen in der Luft. Nicht nur Feindseligkeit, sondern auch eine reizvolle Spannung.

Oder gehörte er, wie sein Bruder anscheinend auch, zu den Männern, die immer Flirtsignale aussandten, sobald eine halbwegs attraktive Frau in der Nähe war? Aber warum reagierte sie dann darauf? Gut, er war ein interessanter Mann, konnte jedoch sehr verletzend sein. Und er schien die Moral für sich gepachtet zu haben, wenn es um das Liebesleben seines Bruders ging.

Kopfschüttelnd stand Charlotte auf und räumte das Geschirr in die Spülmaschine. Dann ging sie, um sich abzulenken, auf die Suche nach dem Klavier. Als sie die Tür zum Musikzimmer aufstieß, stockte ihr vor Überraschung der Atem.

Ein schwarzer Stutzflügel stand in der Mitte des Raumes, dessen Fenster, mit zarten weißen Vorhängen dekoriert, auf die Veranda hinausführten. In der Ecke stand ein prächtiger, mit blauem Samt bezogener Polstersessel mit dazu passendem Fußhocker. Auch hier hingen, wie im Esszimmer, Bilder an den Wänden, doch es waren farbenprächtige, exotisch anmutende Gemälde von Früchten, Blumen, Bäumen und Vögeln.

Es gab einen Schreibtisch aus Rosenholz und ein Wandregal, auf dem neben Büchern silbergerahmte Fotografien und kleine Kunstgegenstände verteilt waren. Charlotte vermutete, dass dies das Refugium von Marks und Dennis’ Mutter gewesen war. Einer Frau, auf die sie allmählich neugierig wurde.

Sie ging zum Flügel und öffnete den Deckel. Die Tasten waren vergilbt, und das Elfenbein war an manchen Stellen abgenutzt, aber der Klang war glockenklar.

Es war das beste Piano, auf dem sie jemals gespielt hatte. Sie setzte sich auf den gepolsterten Klavierhocker, spielte Händels Wassermusik, und als das Stück zu Ende war, legte sie die Hände in den Schoß, sah sich um und fasste einen erstaunlichen Entschluss. Solange sie diesen Haushalt führte, würde sie die Gelegenheit nutzen, um Dennis Kinane zu beweisen, dass sie keineswegs zu gut war, um wahr zu sein.

Die folgenden zehn Minuten verbrachte sie damit, Bridget auf dem Handy in Kurzfassung von den Geschehnissen zu berichten.

4. KAPITEL

Dennis brachte Bobby am späten Nachmittag zurück und teilte Charlotte mit, dass er noch etwas zu erledigen habe, aber rechtzeitig zum Abendessen wieder da sein werde.

Rich war außer sich vor Freude, Bobby wiederzusehen, und Charlotte ließ die beiden noch eine Weile zusammen toben. Dann bestand sie darauf, dass Bobby ein Bad nahm, und machte ihm ein frühes Abendessen, da Harriet Barlows sonst so munterer Sohn deutliche Anzeichen von Müdigkeit zeigte. Nachdem sie ihm noch eine Gutenachtgeschichte vorgelesen hatte, schlief er sofort ein.

„Dafür, dass du mich kaum kennst und deine Eltern sich ziemlich merkwürdig verhalten, bist du ein erstaunlich pflegeleichtes Kind“, sagte sie leise.

„Das ist er wirklich.“

Sie drehte sich um und sah Dennis an der Tür stehen. „Oh, ich habe Sie gar nicht kommen hören.“

„Geben Sie mir zehn Minuten Zeit, dann können wir essen“, sagte er, nachdem er sie einen Moment lang nachdenklich angesehen hatte.

Pünktlich auf die Minute erschien er in der Küche, wo Charlotte den Tisch für sie beide gedeckt hatte.

Autor

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