Romana Extra Band 101

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UNTER FRANKREICHS FUNKELNDEN STERNEN von ROBERTA BARLEY

Wie verzaubert greift Maler Antoine zum Skizzenblock: Die schöne Sophie, die sich nach einer Autopanne in sein Haus geflüchtet hat, inspiriert ihn. Schon bald will Antoine seine bezaubernde Muse nie wieder gehen lassen! Bis eine Intrige ihr gemeinsames Glück in Gefahr bringt …

NUR DU, FÜR IMMER UND EWIG von ALLY BLAKE

Wilde Locken, ein markantes Kinn: Rafe Thorne sieht noch umwerfender aus als in Sables Erinnerung. Damals hat sie ihn ohne ein Wort verlassen, aber vergessen hat sie den sexy Bad Boy nie. Jetzt ist sie zurück in ihrer Heimatstadt - mit einer ungeheuerlichen Bitte an Rafe …

ABENTEUERREISE NACH PERU von JESSICA STEELE

Was für ein Glück, dass Erith gleich an ihrem ersten Tag in Peru den gut aussehenden Domengo de Zarmoza kennenlernt! Je mehr Zeit sie auf seiner Hazienda verbringt, desto faszinierter ist sie von ihm. Aber dann muss sie feststellen, dass Dom sie getäuscht hat …

VERBOTENE STUNDEN MIT DEM BOSS von ALLISON LEIGH

Mit dem Job im neuen Luxushotel ihrer Familie will Erbin Kimi endlich allen beweisen, was in ihr steckt. Doch das scheint ihr Boss Greg Sherman verhindern zu wollen. Warum nur verhält sich der attraktive Manager ihr gegenüber so abweisend - obwohl es heiß zwischen ihnen knistert?


  • Erscheinungstag 24.11.2020
  • Bandnummer 101
  • ISBN / Artikelnummer 9783733748036
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Roberta Barley, Ally Blake, Jessica Steele, Allison Leigh

ROMANA EXTRA BAND 101

ROBERTA BARLEY

Unter Frankreichs funkelnden Sternen

Nur ein Blick, und es ist um Sophie geschehen! Der Maler Antoine Brunier weckt überwältigende Gefühle in ihr. Für ihn würde sie sogar ihre Verlobung lösen. Doch kann sie Antoine wirklich vertrauen?

ALLY BLAKE

Nur du, für immer und ewig

Sie war seine große Liebe – bis sie einfach verschwand. Jetzt ist Sable Sutton zurück – und genauso verführerisch wie damals. Rafe darf nicht zulassen, dass sie sein Herz noch einmal bricht …

JESSICA STEELE

Abenteuerreise nach Peru

Erst brennt sein Neffe mit einer Engländerin durch, dann kommt deren Schwester angereist. Um der jungen Dame auf den Zahn zu fühlen, lädt Dom sie auf sein Anwesen ein – entschlossen, ihr zu widerstehen …

ALLISON LEIGH

Verbotene Stunden mit dem Boss

Die Flut dunkler Haare, der Blick ihrer braunen Augen: Manager Greg Sherman ist hingerissen von Hotelerbin Kimi. Nichts will er mehr, als sie glücklich zu machen. Aber er ist ihr Boss …

1. KAPITEL

Bordeaux, im Mai

Sophie atmete tief ein. Es war erst Anfang Mai, aber schon angenehm warm. Die Luft war weich wie Samt, obwohl sie sich in einer Großstadt befand. Davon war hier im Saint-Pierre-Viertel allerdings nicht viel zu spüren. In den engen Gassen wechselten sich kleine Cafés, Restaurants und Boutiquen ab, und es gab Blumenläden, die vor lauter Blütenpracht fast zu bersten schienen. Na gut, es widerstrebte ihr zwar gehörig, sich das einzugestehen, aber die Altstadt von Bordeaux war wunderschön. Sophie mochte Frankreich nicht. Ja, sie hasste es, beinahe wäre sie gar nicht mitgefahren. Aus einer offenen Tür erklang jetzt ein Lied von Edith Piaf, und jemand rief ihr auf Französisch ein Kompliment zu, das mit „Mademoiselle“ anfing und einem „oh là là!“ endete.

Jetzt reichte es aber! Sophie schnaubte durch die Nase. Diese Franzosen, dachte sie empört! Besonders hier im Süden schienen die nur Rotwein, gutes Essen und Flirten im Kopf zu haben. Sie wechselte ihre schwere Fototasche von der rechten auf die linke Schulter. Der Mietwagen stand auf einem Parkplatz ein paar Straßen weiter, denn hier in der Altstadt war es unmöglich, einen Platz zu finden. Suchend tastete sie mit den Augen die Häuserreihe nach ihrem Hotel ab und begegnete zufällig ihrem eigenen Anblick in einem Schaufenster. Ihr dunkelbraunes Haar trug sie zurückgekämmt und zu einem straffen Pferdeschwanz gebunden. Ihre schlanke Figur steckte in Jeans und einem ausgebleichten T-Shirt, um die Hüften hatte sie ihre Jeansjacke geknotet, an den Füßen trug sie Turnschuhe. Sie strich sich unwillig den Schweiß von der Stirn. Seitdem sie in Frankreich war, fühlte sie sich noch langweiliger und einfallsloser gekleidet als in London. Dort hatte sie im Museum of Arts keine extravaganten Sachen tragen können, denn ihr anspruchsvoller, aber doch recht eintöniger Verwaltungsjob hatte nur Bürokleidung zugelassen.

Und hier? Hier musste sie vor allen Dingen praktisch gekleidet sein! Sie konnte nun mal nicht mit High Heels auf Motivsuche in der ländlichen Umgebung umherstreifen. Und lange Kleider, wie das saphirgrüne, das direkt neben ihr an einem Kleiderständer hing, waren auch ungeeignet. Doch warum hatte der Franzose oh là là gerufen?

Sie schüttelte den Kopf und musste nun doch lächeln. Gedankenverloren befühlte sie den wunderbar weichen Stoff des Kleides, trat näher an die spiegelnde Scheibe der Boutique heran und betrachtete ihr Gesicht. Ihre grünen Augen waren von dunklen Wimpern umrandet, ihre hohe Stirn war nach den zwei Tagen in der französischen Spätfrühlingssonne sogar ein wenig gebräunt. Vielleicht hatte der Mann von eben trotz ihrer alltäglichen Kleidung gesehen, dass sie sich in dieser Stadt sehr glücklich fühlte, ohne so recht zu wissen, warum. Diese Franzosen mit ihren intensiven Blicken! Sie würde Robert davon erzählen und mit ihm darüber lachen, wenn sie ihm die Ausbeute des Tages zeigte.

„Mademoiselle?“ Die Verkäuferin schaute aus der Tür der Boutique. Hatte sie etwa Angst, dass Sophie sich mit dem Kleid davonmachen könnte, dessen Ärmel sie immer noch zwischen den Fingerspitzen hielt? Doch die Frau zeigte nur abwechselnd auf sie und das Kleid, sagte dann: „La couleur!“ Sie hielt den Daumen und winkte Sophie herein.

Die Farbe – die Verkäuferin hatte recht. Die Farbe würde wunderbar zu Sophies Augen passen. Sophie schüttelte schon ablehnend den Kopf, als ihr auffiel, wie elegant und weiblich die Verkäuferin in ihrem locker fallenden Kleid, dem offenen Haar und den goldenen, schlichten Sandaletten wirkte. Durch die Ladentür waren die Töne eines alten französischen Chansons zu hören.

„Probieren Sie es an!“, sagte die Verkäuferin nun auf Englisch.

Natürlich identifizierte man Sophie als Touristin. Niemand hielt sie hier für eine Landsmännin, obwohl ihr Vater Franzose gewesen war – ein kleines, unbedeutendes Detail in ihrem Leben. Aber warum sollte sie das Kleid nicht einmal überstreifen? Sie machte einen ersten zögerlichen Schritt. Eine Belohnung hatte sie sich wahrlich verdient. Robert würde sich bestimmt freuen, wenn er am Abend mit einer ganz verwandelten Verlobten zum Essen gehen könnte …

Eine halbe Stunde später verließ Sophie die Boutique mit einer großen Papiertragetasche, in der ihre alten Sachen waren. Sie hatte das Kleid gleich angelassen und sich außerdem für ein Paar goldene Sandaletten entschieden. In der Umkleidekabine hatte sie spontan ihre strenge Alltagsfrisur gelöst, sodass ihre Haare jetzt lang und wellig über ihre halb nackten Schultern flossen. Sie fühlte sich schön, elegant und weiblich! Die schwere Fototasche, die ab und zu an ihre Hüfte stieß, bemerkte sie nicht einmal mehr.

Zu ihrer Linken lag die Galerie „Hervé, an der sie nun schon ein paarmal auf dem Weg zum Hotel vorbeigekommen war. Sie hatte immer neugierig durchs Fenster auf die ausgestellten Fotos und Gemälde geschaut, sich aber alleine nie hineingetraut. Doch nun? Mit ihrem neuen Kleid und den wunderschön zarten Sandaletten, aus denen ihre Zehennägel dunkelrot hervorschimmerten, fühlte sie sich gewappnet. Als Fotografin, nun ja, richtiger als Assistentin eines Fotografen und zukünftigen großen Künstlers, hatte sie doch wohl jedes Recht der Welt, sich einmal unverbindlich umzuschauen, oder?

Mit einiger Anstrengung stieß sie die Tür zur Galerie auf. Drinnen war es kühl. Die Wände waren weiß gestrichen, der Boden aus Holz, die Beleuchtung angenehm. Die beiden Bilder, die vor ihr an der linken Wand hingen, gefielen ihr auch von Nahem ausnehmend gut. Es waren keine Fotografien, sondern moderne Landschaftsmalereien. Ein dunkelblaues Lavendelfeld, ein hellblauer Himmel, dazwischen nur ein lichter Streifen Gelb. Sophie spürte genau, wie es sich anfühlen würde, in dieser Landschaft zu laufen, zu leben! Auch das andere Gemälde war in kräftigen Farben gehalten, ein sonnengetupfter Wald. Wie hieß der Künstler? A. Brunier, Landschaften bei Noulens. Den Verkaufspreis konnte sie nicht entdecken. Sophie wandte sich um und betrachtete die Schwarz-Weiß-Fotografien, die auf der rechten Seite des Raumes ausgestellt waren. Recht gewöhnliche Dorfszenen, ein Karussell, eine Kirche …

Das kann mein Robert besser, ging ihr durch den Kopf. Seine Fotos sind viel eindringlicher, geben viel mehr Raum zum Nachdenken. Und ich unterstütze sein Talent, so gut es geht … Vielleicht sollte sie den Galeriebesitzer mal mit ihrem Verlobten bekannt machen. Sie sah schon die kleinen Schilder unter den Fotografien: Robert Taylor, Kirchenruine bei Bordeaux. Kapelle bei Bordeaux. Alter Brunnen bei Bordeaux. Sophie hatte heute diese wunderschönen Motive entdeckt.

Langsam ging sie in den nächsten, kleineren Raum, in dem beleuchtete Vitrinen an den Wänden standen und ein Sofa, auf dem sie dankbar ihre schwere Fototasche abstellte. Plötzlich hörte sie eine ärgerliche Frauenstimme durch eine halb geschlossene Tür, hinter der sich wahrscheinlich das Büro befand. „Mein Künstler kann nicht mehr malen!“, sagte die Stimme auf Englisch mit hörbar französischem Akzent. „Was soll ich machen, außer ihn vom Trinken und den Frauen abzuhalten, die er sich in sein Atelier holt?“ Das folgende Lachen hörte sich ganz und gar nicht freundlich an. „Nein, nein, keine Angst, er steht hier vor mir und darf das ruhig mitbekommen. Er weiß, was ich von ihm halte! Einer richtigen Frau wie mir ist er ja nicht gewachsen. Stimmt doch, chéri, oder?“ Wieder ein Lachen, das diesmal wohl verführerisch klingen sollte.

Sophie hielt den Atem an. Wie peinlich, wildfremden Menschen bei einer Auseinandersetzung zuzuhören. Vielleicht sollte sie ein anderes Mal wiederkommen.

„Er weiß auch, dass er einen Vertrag zu erfüllen hat. Es ist alles nur in deinem Kopf, sage ich ihm seit zwei Jahren, du musst dich einfach nur zusammenreißen!“

Oh, please, stop it, Chloé“, sagte eine tiefe Männerstimme nun ebenfalls auf Englisch. Sie klang müde, traurig, gleichzeitig aber auch etwas aggressiv.

Das musste der Künstler sein, den sie chéri genannt hatte! Die Frau schien das Telefonat beendet zu haben, denn nun begannen die beiden Personen hinter der Tür auf Französisch zu streiten. Sie klang höhnisch, der Mann wurde zunehmend lauter.

Leise nahm Sophie ihre Tasche wieder vom Sofa. Bloß raus hier! Doch sie war noch keinen Schritt in Richtung Ausgang gekommen, als hinter ihr die Tür aufgestoßen wurde und mit einem Knall an der Wand landete. Sophie drehte sich erschrocken um, da rannte auch schon jemand in sie hinein. Vor Schreck ließ sie die Einkaufstasche fallen.

„Pardon!“ Der Mann war stehen geblieben und musterte sie für einen Moment intensiv. Was für Augen – so dunkel, so wütend, aber doch so tief in sie schauend, als ob er Sophie schon ewig kennen würde.

„Nichts passiert“, sagte sie wie in Trance. Noch immer konnte sie den Blick nicht von ihm abwenden. Sein dunkelblondes Haar war zerzaust und ein wenig zu lang, sein männliches Kinn war schon seit mindestens einer Woche nicht mehr rasiert worden. Doch da war etwas in seinem Gesicht, das sie wie magisch anzog. War es seine gerade Nase, sein schön geschwungener Mund? Nein, es war der Ausdruck in seinen Augen, die sich bei näherem Hinschauen als dunkelblau entpuppten.

Ein unbekanntes Gefühl wallte in Sophie auf. Sie wollte diesen Fremden kennenlernen, sogar sehr gut kennenlernen. Sie wollte seine Lippen küssen, seine breiten Schultern umfassen, ihren Kopf an seine Brust legen und ihn umarmen. Ganz lange einfach nur umarmen. Er sollte sie an sich pressen, er sollte … Sie spürte, wie sie rot wurde und die Scham sich als heiße Welle in ihr ausbreitete. Was war in sie gefahren? Woher kamen diese Fantasien? Seitdem sie mit Robert zusammen war, hatte sie noch nie auf diese Art an einen anderen Mann gedacht. Und sie wollte es auch nicht!

Mit Mühe schaffte sie es, ihre Verwirrung zu überspielen, indem sie sich bückte, um ihre Sachen aufzuheben, die aus der Tasche gerutscht waren. Dabei konnte sie feststellen, dass er einen leichten Sommerpullover, Jeans und Segelschuhe trug und darin so lässig elegant wirkte, wie es nur ein Franzose konnte. Er kniete sich hin, um ihr beim Aufsammeln zu helfen, und gab ihr ihren Turnschuh zurück. „Je suis désolé. Es tut mir leid“, murmelte er, stand auf und stürmte nach draußen.

Sophie schaute zu der Bürotür. Die Frau, die er Chloé genannt hatte, schien es nicht zu interessieren, was im Ausstellungsraum los war. Sie rief nur etwas hinter dem Mann her, das verdächtig nach einem Schimpfwort klang.

Kopfschüttelnd stand Sophie auf und verließ die Galerie. Was für eine Begegnung! Unwillkürlich hielt sie in der Gasse nach ihm Ausschau. Doch den so übel beschimpften, gut aussehenden Künstler konnte sie nirgends entdecken. Gott sei Dank, dachte sie, schließlich bin ich mit meinem Verlobten, den ich sehr liebe, zum Fotografieren hier und nicht, um mich von irgendeinem Franzosen, der nicht mehr malen kann, durcheinanderbringen zu lassen.

Was tat er eigentlich noch hier, an diesem Ort? Was für ein Leben führte er schon seit Monaten? Antoine schaute in den Kühlschrank, fast leer, wie beinahe immer … doch halt, wer hatte den Rotwein da hineingestellt? Er nahm die angebrochene Flasche und goss sich ein großes Glas ein. Nicht gerade fantastisch und um einiges zu kalt, aber doch ausreichend für seine Zwecke! Er ließ sich auf die abgenutzte Couch fallen, die mitten im Raum stand.

Hatte er letzte Nacht hier geschlafen anstatt in seiner Wohnung? Er erinnerte sich nicht mehr genau. Er ließ seinen Blick durch den hohen Raum schweifen. Das abendliche Licht ließ alles im gnädigen Halbschatten versinken, dennoch sah er die Leinwände, die alle umgedreht gegen die Wand lehnten. Das war richtig so! Kein Besucher sollte seine jämmerlichen Versuche zu Gesicht bekommen. Er konnte seine Bilder einfach nicht mehr zu Ende malen, weil es keine guten Ideen waren, von Anfang an nicht. Es gab eben nichts mehr, was ihn wirklich inspirierte oder berührte.

Seit fast zwei Jahren ging das nun schon so. Anfangs hatte er es der Trauer zugeschrieben, und auch seine Freunde hatten ihm versichert, dass man sich nach dem Tod einer lieben Angehörigen eben so fühlte.

Nimm dir eine Auszeit, hatten sie gesagt. Sogar Chloé hatte Verständnis gezeigt. Kein Wunder, ihre Galerie hing ja damals auch noch voll mit seinen Werken. Doch dann, nachdem Monsieur Gall aus Paris ihn entdeckt und all seinen begüterten Freunden als Geheimtipp empfohlen hatte, waren Antoines Bilder mit einem Mal sehr gefragt gewesen. Sogar die frühen Werke und die Serie am Meer waren verkauft worden. Nun lag Chloé ihm in den Ohren und verlangte Nachschub.

Die Szene in der Galerie erschien noch mal vor seinen Augen. Chloé war schwer zu durchschauen. Sie benahm sich sonst immer wie die Grand Dame schlechthin, doch wenn sie wütend war, zog sie auch vor Kunden über ihn her und plauderte offenherzig über seine Schwächen. Vor ein paar Jahren hatte er ihre heftigen Avancen mehr als einmal freundschaftlich abgelehnt. Später tat sie so, als ob diese Annäherungsversuche nicht ernst gemeint gewesen waren. Doch seitdem machte sie ständig abfällige Bemerkungen über seine ständig wechselnden Frauenbekanntschaften.

Frauen … sie begehrten ihn, er musste gar nicht viel tun … Das Mädchen in dem grünen Kleid aus der Galerie kam ihm in den Sinn. Na ja, Mädchen, sie war eher eine junge Frau. Er schätzte sie auf fünfundzwanzig, also zehn Jahre jünger als er. Ihre Augen hatten genau den Farbton des Kleides gehabt, das war ihm sofort aufgefallen. Außerdem war sie … außergewöhnlich gewesen. Er konnte es nicht in Worte fassen, doch es umgab sie etwas Geheimnisvolles, und er hatte sich stark von ihr angezogen gefühlt. Das passierte ihm selten.

Etwas Spitzes bohrte sich in seine Hand, Antoine zog einen modischen Ohrring hinter dem Sofakissen hervor und betrachtete ihn. Chloé hatte ja recht. Der Trost, den seine kurzen Affären ihm brachten, war nie von Dauer. Und auch der Anblick der immer sehr hübschen Frauen in seinem Bett brachte ihn nicht dazu, auch nur ein einziges Mal zu einem Bleistift zu greifen und vielleicht den Eindruck in einer Skizze zu verarbeiten. Er hatte keine Kraft. Es war, als ob alles in ihm mit ihr gestorben wäre. Es war nichts von ihr übrig geblieben. Nichts, außer dem Grabstein auf dem kleinen Friedhof von Noulens und seinem schlechten Gewissen, das ihn seitdem quälte.

Seine alten Freunde hatten sich bis auf einen nach und nach von ihm abgewandt. Doch das war ihm egal. Er hatte jetzt neue Bekannte, die ihn zu Partys einluden und zu nächtlichen Streifzügen durch die Jazzclubs von Bordeaux. Obwohl er wusste, dass das Nachtleben ihm nicht guttat, machte er keine Anstalten, seinen Lebenswandel zu ändern. Er trank noch einen Schluck Wein und ging hinüber zum Arbeitstisch, auf dem eingetrocknete Farbtuben, Paletten und Pinsel lagen. Das alles war nicht mehr seine Welt! Er war kein Maler mehr. Wütend fegte er Pinsel und Tuben vom Tisch und stellte stattdessen das leere Weinglas darauf ab.

Es klingelte. Im Treppenhaus war bereits lautes Lachen zu hören. Er drehte sich um, nahm seine Jacke und ging zur Tür. Höchste Zeit, auf andere Gedanken zu kommen.

2. KAPITEL

Sophie klopfte und öffnete vorsichtig die Zimmertür. Die Vorhänge waren mal wieder zugezogen, es war dämmrig im Raum. Robert liebte seinen Nachmittagsschlaf. Außerdem musste er sich, wie er sagte, mental vorbereiten, bevor man sich übermorgen endlich gemeinsam an die praktische Ausführung seiner Arbeit machen würde.

Das neue Fotoprojekt war nur eine vage Vorstellung in seinem Kopf gewesen, erst durch Sophies Ideen hatte es richtig Gestalt angenommen. Sie hatte es „Verwunschene Plätze“ getauft und ihm von halb verfallenen Burgen, magischen Ruinen und überwucherten Friedhofsmauern erzählt. Sie hatte sich Gedanken über Bildaufbau, Kamerastandort und Nutzung von natürlichen Lichteffekten zu unterschiedlichen Tageszeiten gemacht. Alles Maßnahmen, die aus der bloßen Abbildung eine künstlerische Fotografie machen würden, die sie bereits vor ihrem geistigen Auge sah. Er hatte ein wenig über ihren Eifer gelacht, war skeptisch, ob man dies alles in Südfrankreich vorfinden würde. Denn da wollte er unbedingt hin.

Südfrankreich?! Niemals würde sie ihn dorthin begleiten, hatte sie gesagt. Sie hatte eigentlich an Schottland gedacht! Auf keinen Fall würde sie in ein Land voller Verräter reisen. Doch Robert hatte behauptet, ohne sie würde er nur mit unbrauchbaren Ergebnissen nach Hause kommen. Und ihr zukünftiger Schwiegervater Henry hatte sie mit dem Versprechen auf ein wundervolles kleines Hotel gelockt, das er den Verlobten spendieren wollte, sobald Sophie ihren englischen Dickkopf vergessen würde. Bei so viel sanfter Erpressung hatte sie einfach nachgeben müssen. Sie lächelte, die beiden Männer waren ihr Leben!

Und siehe da, Frankreich war gar nicht so schlimm, wie sie sich immer ausgemalt hatte. Auch den Straßenverkehr auf der rechten, völlig falschen Seite hatte sie bis jetzt ganz gut gemeistert. Und das Beste war, dass sie hatte die verwunschenen Plätze gefunden hatte. Sie ganz allein! Der Fotospeicher ihres Handys war voll mit pittoresken Motiven und magischen Locations in unmittelbarer Umgebung der Stadt, die sie Robert gleich zeigen würde, wenn er wach war. Sie hatte sogar selber schon angefangen, mit der Spiegelreflexkamera zu fotografieren. Drei Schwarz-Weiß-Filme hatte sie in den beiden vergangenen Tagen belichtet, die sie ihm natürlich nicht zeigen konnte, da man das Filmmaterial erst ganz altmodisch im professionell ausgestatten Fotolabor seines Vaters in London entwickeln musste. Robert war ein Perfektionist. Erst wenn alles berechnet und mehrfach getestet worden war, wurde das Foto von ihm per Hand vergrößert. Mit erstaunlich akkuraten Ergebnissen!

Du machst es jedoch anders, wisperte es jetzt in Sophies Kopf, als sie sich dem Bett näherte. Wenn du ein Motiv siehst, weißt du bereits, wie es als Foto wirken wird, und das ist doch auch eine Gabe …

„Was hast du da an, meine Süße?“, nuschelte Robert verschlafen und streckte ihr seine Arme entgegen.

„Ein Kleid?“, sagte sie kokett, beugte sich hinab und umarmte ihn. Er roch nach Schlaf und ein bisschen nach Alkohol. Wahrscheinlich hatte er sich zum Mittagessen ein Gläschen Wein genehmigt. In England hatte er hatte wegen Alkohol am Steuer vor drei Monaten seinen Führerschein abgeben müssen. Aber sie gönnte es ihm dennoch, denn schließlich waren sie in Bordeaux, und das größte Weinanbaugebiet Frankreichs lag vor der Tür. Da musste man Wein trinken, so stand es zumindest im Reiseführer.

„Das sieht sehr schön aus“, sagte Robert und rieb sich die Augen. „Aber wolltest du nicht arbeiten, anstatt shoppen zu gehen?“

„Ich habe beides gemacht“, antwortete sie stolz. „Du wirst staunen, wo ich dich überall hinführen werde!“

„Ist dir aufgefallen, dass hier viel mehr Frauen Kleider tragen als in England?“ Robert rekelte sich träge. „Überall sieht man Frauenbeine! Im Bistro, im Restaurant, auf der Straße.“

Sophie biss sich auf die Lippen. Sofort fühlte sie sich wieder als spröde Engländerin. „Schau, meine Beine sind jetzt auch besser zu sehen.“ Sie lupfte das grüne Kleid frech etwas über die Knie, doch Robert schien ihr nicht zugehört zu haben. „Auch die Zimmermädchen hier im Hotel … Schon allein deren Arbeitsuniform ist ziemlich heiß. Mon dieu!

„Dir wird gleich auch ziemlich heiß, wenn du so weiterredest“, drohte Sophie ihm spielerisch. Plötzlich war es ihr zu stickig im Zimmer. Sie lief zum bodentiefen Fenster, um es aufzureißen. Einen Moment lang sah sie hinunter auf die Gasse, in der ein Liebespärchen Arm in Arm entlangschlenderte, vielleicht um einen frühen Aperitif zu nehmen.

Sophie verschränkte die Arme, lehnte sich gegen die gusseiserne Brüstung vor dem Fenster und streichelte, ohne es zu merken, über ihre nackten Oberarme. Sie suchte nach etwas ganz Bestimmten. Jemand ganz Bestimmten … Bevor sie es sich eingestehen konnte, tauchte der Künstler wieder vor ihrem geistigen Auge auf. Sein tiefer Blick, sein wunderbarer Mund, diese kräftigen Arme, etwas untypisch für einen Maler, doch wie geschaffen, um sich von ihnen umarmen zu lassen …

Nein, nach dir halte ich bestimmt nicht Ausschau, sagte sie unhörbar und verscheuchte die Vision aus ihrem Kopf, indem sie sich schwungvoll umdrehte: „Weißt du, ich war auch in der kleinen Galerie, an der wir abends schon manchmal vorbeigekommen sind. Sie stellen auch Fotografien aus, aber deine sind dreimal besser als das, was da an der Wand hängt.“ Sie ging auf Robert zu: „Wie wäre es, wenn du deine Bilder dort mal zeigst?“

„Ja? Meinst du?“ Roberts Interesse war geweckt, er setzte sich auf. „Hast du schon mit jemandem geredet? Was hast du über mich erzählt? Wie hast du mich vorgestellt?“

Er hat sich mir nicht vorgestellt, dachte sie verträumt. Sein erstes Wort war Pardon gewesen, und dann hat er sich nochmals bei mir entschuldigt … „Die Besitzerin heißt Chloé“, sagte sie schnell.

„Hast du mich als den jungen englischen Fotografen der Zukunft vorgestellt, oder hast du den Namen meines Vaters fallen lassen?“

Der Ruhm seines Vaters eilte Robert voraus. Er hasste das, und er wollte endlich mehr als nur der Sohn des großen Henry Taylor sein. „Ich habe Chloé von dir vorgeschwärmt – kreativ, erfolgversprechend und so weiter.“ Sophie räusperte sich. Diese kleine Lüge würde Robert schnell vergessen, wenn er persönlich mit der Galeriebesitzerin sprach. „Lass uns essen gehen“, sagte sie, „ich sterbe vor Hunger!“

„Moment, du wolltest mir deine Motive zeigen“, widersprach Robert. „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!“

Als sie zwei Stunden später in einem der romantischen Restaurants der Altstadt saßen, war Sophie vor Hunger bereits so flau im Magen, dass sie zunächst nichts hinunterbringen konnte. Doch nach der ersten Vorspeise mit Spargel und einem Schluck Weißwein kehrten ihre Lebensgeister und ihr Appetit zurück. „Warum fahren wir nicht schon morgen los?“, fragte sie. „Wie du gesehen hast, habe ich in den drei Tagen wunderbare Locations gefunden, an denen wir arbeiten können.“ Sie lächelte ihn an. „Als deine Assistentin habe ich schon einen ausführlichen Zeitplan erstellt. Wenn wir morgen in Mérignac beginnen, wird uns der Tag später nicht fehlen. In zehn Tagen fliegen wir schon wieder zurück nach London.“

„Langsam, langsam, warum die Eile, Honey? Eine gute Vorbereitung erspart uns größere Umwege und damit Zeit.“

Eine gute Vorbereitung, die allein in meinen Händen liegt, dachte Sophie. Ich bin diejenige von uns, die das Leihauto fahren kann. Doch sie hatte nichts dagegen, erneut einen Tag allein unterwegs zu sein. Sie liebte das Gefühl, alles wie durch eine Lupe zu sehen, während sie nach den schönsten Fotomotiven Ausschau hielt.

Robert prostete ihr zu. „Gib es zu, du magst Frankreich“, sagte er. „Du wirst mir noch dankbar sein, dich mit hergeschleppt zu haben!“

Sophie zuckte mit den Schultern. „Die Franzosen nehmen sich viel Zeit für gutes Essen“, sagte sie. Das klang bewundernder, als sie eigentlich beabsichtigt hatte. Noch immer mochte sie nicht zugeben, dass sie dabei war, sich in das Land, das sie immer abgelehnt hatte, zu verlieben.

Am nächsten Nachmittag beschloss Sophie, etwas früher als an den Tagen zuvor zurück ins Hotel zu fahren. Sie hatte mehr Motive gefunden, als sie jemals würden fotografieren können! Zufrieden machte sie sich auf den Weg zu ihrem Leihwagen, einem kleinen Peugeot.

Ihr Ausflug zum Château de Vayres hatte sie an einem verfallenen, viel kleineren Schlösschen vorbeigeführt, das sie so entzückt hatte, dass ein weiterer von Roberts Schwarz-Weiß-Filmen verbraucht war. Er würde es ihr nicht übel nehmen, so hoffte sie jedenfalls.

Zurück in der Stadt ging sie an der Galerie vorbei, ohne auch nur einen Blick durch das Fenster zu werfen. Trotzdem begann ihr Herz aufgeregt zu klopfen. Wie albern war das denn? Sie starrte auf die Pflastersteine vor ihren Füßen, sie hatte keinen Bedarf an französischen Malern, no merci! Außerdem hätte er sie wahrscheinlich nicht einmal erkannt, denn sie trug ihr Haar unter einer Kappe verborgen und statt des schönen grünen Kleids wieder Jeans und ein lässiges T-Shirt.

Im Hotel angekommen zeigte die Uhr über der Rezeption kurz vor drei. Sophie grüßte den Portier und plauderte gut gelaunt in sehr stockendem Französisch über das schöne Wetter mit ihm. Es klappte besser als gedacht, sie lächelte über sich. War sie nicht fast schon eine Einheimische?

Robert schien im Zimmer zu sein, denn der zweite Schlüssel lag nicht im Fach. Als sie die Tür aufschloss, empfing sie wieder Dunkelheit, und im Bett bewegte sich etwas. „Bonjour! Na, hältst du eine kleine Siesta?“, flüsterte sie scherzend. Sie freute sich auf eine erfrischende Dusche, um danach zu ihm unter die dünne Decke zu schlüpfen und ihm von ihren Abenteuern zu erzählen.

Plötzlich schlug ihr ein anderer Duft entgegen, gewaltsam wie eine Ohrfeige. Ein süßer, sehr weiblicher Frauenduft. Und dann hörte sie auch schon ein gepresstes „Merde!“

Oh nein, das durfte doch wohl nicht wahr sein. Sophie riss die Augen auf. Da lag eine Frau in seinem Bett! In ihrem Bett! Ein junges Mädchen eher, völlig nackt und der Kleidung nach, die sie jetzt auf dem Fußboden entdeckte, eines der Zimmermädchen. Völlig perplex machte Sophie einen Schritt zurück, dann noch einen. Sie stolperte rückwärts durch die Tür und knallte sie hinter sich zu!

Was für ein … Verräter! Sie rannte über den schmalen Flur. Ihr Rucksack, in dem ihr Geld und ihre Papiere waren, hüpfte auf ihrem Rücken, die Fototasche schlug gegen die Wand, doch sie merkte es nicht. Robert war ein mieser Betrüger! Schickte sie extra noch einen Tag länger durch das Hinterland von Bordeaux, damit er in Ruhe das Zimmermädchen verführen konnte! Was für ein billiges Klischee! Tränen stiegen ihr in die Augen. Sophie bekam kaum mehr Luft, als sie die beiden Stockwerke wieder nach unten rannte, die sie vor einer Minute so freudig hinaufgespurtet war. Sie war wie betäubt, nur weg von hier. Doch in der kleinen Lobby hielt sie inne. Folgte Robert ihr, rief er sie wenigstens beim Namen? Nichts. Kein Rufen, keine Schritte. Der Portier hob den Kopf und sah sie an. „Mademoiselle?“

„Au revoir!“, stieß sie hervor, obwohl sie all das hier ganz und gar nicht wiedersehen wollte! Schon war sie aus der Tür und hetzte die Straße entlang zum Auto. Innerhalb weniger Minuten war sie auf dem Parkplatz, warf ihren kleinen Rucksack und die Fototasche auf den Beifahrersitz und fuhr davon.

Sie fuhr, ohne zu wissen, wo sie war. Es war egal, jede Straße war ihr recht, um nur schnell einen großen Abstand zwischen sich und Robert zu bringen! Sie umklammerte das Lenkrad, die Tränen liefen jetzt hemmungslos über ihr Gesicht! Er hatte noch nicht einmal versucht, sie aufzuhalten!

Was sollte sie jetzt tun? Ihr Job im Museum, den sie auf Roberts Drängen hin gekündigt hatte, war sicher längst wieder vergeben! Und ihr Erspartes reichte gerade mal für drei Monate. Ihre Mutter durfte sie nicht fragen, die hatte selber nichts. Und ihr Vater? Der war schon lange tot und hatte sich nie um sie gekümmert. Mehr wusste sie nicht, aber das war eine andere, ebenso traurige Geschichte. Ein schmerzhafter Stich durchfuhr sie.

Sie hatte ihre unerfreuliche Vergangenheit hinter sich gelassen und sich nach ein paar unbedeutenden Beziehungen in Roberts Arme geflüchtet! Er war ihre Rettung gewesen. Sie hatte ihn geliebt, natürlich, sie liebte ihn immer noch. Liebe ließ sich doch nicht einfach wie ein Wasserhahn abstellen! Sie hatte Robert völlig vertraut und es nach einigem Zögern auch reizvoll gefunden, ihren Job aufzugeben, seine Assistentin zu werden und immer in seiner Nähe zu sein. Und auch in der Nähe von Henry, ihrem zukünftigen Schwiegervater, den sie so gern mochte und der sie als Schwiegertochter in sein Herz geschlossen hatte! Zukünftiger Schwiegervater, Schwiegertochter? Sie war keine Schwiegertochter mehr, das alles war jetzt vorbei!

Es dämmerte bereits, und Sophie fuhr langsamer. Die Landstraße wurde schmaler, war aber wenig befahren. Sie bog ab, wann immer sie abbiegen musste, rechts oder links, immer noch war es ihr egal, wohin sie fuhr. Doch dann kamen die Tränen wieder so heftig, dass sie nichts mehr sehen konnte. Sie hielt auf dem Randstreifen an und suchte in ihrem Rucksack nach einem Taschentuch. Ein kurzer Blick auf ihr Handy zeigte ihr, dass keine Nachricht von Robert eingegangen war. Sie warf es wieder auf den Sitz. Untreu, untreu, untreu, alle Männer waren untreu, egal ob Franzosen oder Engländer!

Zum Glück hatte sie ihr Laptop in der Fototasche, und die Unterlagen für die Flugtickets waren auch irgendwo in der Tiefe des Rucksacks verborgen. Sie würde versuchen, ihr Ticket umzubuchen, vielleicht ging das ja. Oder sollte sie …? Einen Moment lang sah sie sich mit Stativ und Kamera vor den Ruinen des Schlösschens stehen, das sie an diesem Mittag fotografiert hatte.

Was wenn sie die „Verwunschenen Plätze“ selber durchzog? Ideen und Motive hatte sie genug dafür gesammelt, sogar schon vier Filme fotografiert. Aber nein, das konnte sie nicht. Sie war zwar in der Lage, die Filme selber zu entwickeln, aber dabei konnte man viel falsch machen, und Robert würde sich hintergangen … hintergangen?

Sie schnaubte laut. „Wer muss sich hier hintergangen fühlen?“, rief sie zornig gegen die Windschutzscheibe. „Er ist der, der untreu war! Er hat es geplant, er hat mich weggeschickt, um in Ruhe dieses kleine Luder … das ist das Allerschlimmste!“

Sie fuhr wieder schneller. Ob sie nun einen Unfall baute oder nicht, wen kümmerte das schon? Das Licht der Scheinwerfer huschte über die Straße und streifte die Stämme der Bäume. Schon lange war sie durch keine Ortschaft mehr gekommen. Wo war sie?

Mittlerweile war es stockdunkel. Nach einigen Minuten passierte sie doch ein Ortsschild.

Noulens.

Irgendwo hatte sie dieses Wort schon mal gehört, ihr fiel nur nicht ein, wo. Gab es hier vielleicht ein Hotel oder eine Pension? Irgendwo musste sie ja schließlich übernachten. Aber außer ein paar Häusern und einer Kirche schien es hier nichts zu geben. Ein weiteres Schild mit Noulens tauchte auf, diesmal rot durchgestrichen. Schon hatte sie den Ort wieder verlassen.

Bevor sie weiter über den Namen nachdenken konnte, begann das Auto zu ruckeln. Kurz darauf stand der Wagen endgültig still. Verdammt! Hatte sie etwa kein Benzin mehr? Dann musste die Tankanzeige kaputt sein, denn sie hatte nicht aufgeleuchtet.

Warum musste ihr das alles an einem Tag passieren? Schon wieder mit den Tränen kämpfend zog sie ihr Handy hervor. Nach einem Blick auf Google Maps würde sie wissen, wo sie war, und auch die nächste Tankstelle, das nächste Hotel angezeigt bekommen. Ihr Handy suchte und suchte nach einem Netz, doch es gab keinen Empfang. In was für eine abgeschiedene Gegend war sie geraten? Wie weit lag der Ort zurück? Mehrere Kilometer? Sie hatte kein Gefühl für die Distanz, die sie zurückgelegt hatte.

Nachdem sie fast eine Stunde gewartet hatte, wurde ihr klar, dass heute kein Auto mehr vorbeikommen würde. Sie musste sich etwas einfallen lassen, wenn sie nicht im Wagen übernachten wollte. Aber was? Langsam stieg sie aus und machte mutlos ein paar Schritte in Richtung Ort. Plötzlich sah sie einen Lichtschein hinter den Bäumen. Sofort kehrte sie um, holte die wertvolle Fotoausrüstung und ihren Rucksack aus dem Wagen, schloss ihn ab und marschierte los. Vielleicht würde sie beim Licht Hilfe bekommen!

Das Haus zwischen den alten Eichen sah vertrauenserweckend aus. Sophie fragte sich natürlich, ob das Kinderspielzeug – Dreirad, Sandeimer, Bälle, ein windschiefes Indianerzelt – sie zu dieser Einschätzung veranlasste, als sie durch die Stäbe des hohen Tores blickte. Oder lag es an dem freundlich gelben Licht, das sowohl Haustür als auch Tor von oben beleuchtete und das sie von der Straße aus gesehen hatte. Es gab tatsächlich eine Klingel, die sie jetzt betätigte. Nach einem Moment kam eine Frau nach draußen, die sie einen Moment lang über die Entfernung des Gartenweges musterte, dann aber das Tor aufspringen ließ. Sophie hätte beinahe aufgeschluchzt. Sie liebte diese Franzosen, die einem wildfremden Menschen einfach ihr Haus öffneten!

„Bonsoir, begann sie auf Französisch, wechselte dann aber sofort ins Englische, wobei sie sich Mühe gab, langsam zu sprechen. „Ich bin mit dem Auto liegen geblieben und weiß nicht, was ich tun soll. In der letzten Stunde ist niemand auf der Straße vorbeigekommen.“ Sie hätte beinahe angefangen zu weinen, so erschöpft war sie plötzlich.

„Ja, es ist etwas einsam hier bei uns“, sagte die Frau, die Sophie höchstens ein paar Jahre älter schätzte als sie selbst. „And you look sad.“ Die Fremde lächelte, als ob es das Normalste der Welt sei, dass traurige Frauen vor ihrer Tür standen und um Hilfe baten.

Sophie versuchte, das Lächeln zurückzugeben, aber es wollte ihr nicht recht gelingen. Natürlich sah sie traurig aus, nach diesem fürchterlichen Tag!

„Wie ist dein Name?“

„Sophie!“

„Ich bin Marie Bonnaire, aber Marie reicht. Und ich habe eine Idee.“

Sophie atmete tief ein und aus und spürte, wie die Erleichterung sich in ihr ausbreitete. Marie schien unkompliziert zu sein, sie würde ihr helfen!

„Bei uns im Haus ist leider kein Platz, ich habe vier Kinder … und meine Eltern wohnen auch hier.“ Die junge Französin zuckte lachend die Schultern. „Doch einen Kilometer weiter liegt ein Anwesen, um das sich meine Mutter seit einiger Zeit kümmert. Der Besitzer hat sie darum gebeten, denn er wohnt momentan woanders. Dort ist reichlich Platz, und die Betten sind immer frisch bezogen.“

„Wirklich?“, stammelte Sophie überglücklich, „aber das wäre ja …“

„Such dir ein Zimmer aus!“ Marie drückte ihr einen Schlüsselbund und eine große Taschenlampe in die Hand. „Es liegt mitten im Wald. Du gehst aus der Pforte, biegst scharf nach links und bleibst auf dem Weg, der hier am Haus vorbeiführt“, sie zeigte in die Dunkelheit, „ein Stück durch den Wald, und wenn du auf die Eichenallee kommst, bist du schon fast da. Fünfzehn Minuten, du kannst es gar nicht verfehlen.“

„Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll, Marie“, stotterte Sophie und konnte nur mühsam die Tränen zurückhalten, so gerührt war sie von dem Angebot.

„Komm morgen vorbei, wenn du ausgeschlafen bist! Bon nuit!

Der Weg war stockdunkel, im Eichenwald rauschten die Bäume, und der Strahl ihrer Taschenlampe erzeugte bizarre Schatten. Doch Sophie verspürte seltsamerweise keine Angst. Der Wald umfing sie wie eine warme Decke, er war ihr Freund, es gab kein Grund zur Besorgnis. Es war schon ein ziemlicher Fußmarsch, doch nach einer knappen Viertelstunde lichteten sich die Bäume, zu ihrer Rechten tauchte eine mit Efeu bewachsene Mauer auf, von der anderen Seite ragten hohe dunkle Baumkronen über den Weg. Auch hier ein Tor, eingerahmt von zwei Säulen, auf denen jeweils ein herrschaftlicher Löwe saß. Sous trois Chênes stand auf einer steinernen Fläche eingemeißelt. Was sollte das heißen? Sophie setzte die schwere Fototasche ab und klimperte mit dem Schlüsselbund. Für eine Nacht war sie die Herrin eines Anwesens in Südfrankreich namens Sous trois Chênes, wo immer es auch lag.

Das erste Mal seitdem sie an diesem Nachmittag in das Hotelzimmer geplatzt war, huschte der Schimmer eines echten Lächelns über ihr Gesicht. Es tat ihr leid, das grüne Kleid bei Robert zurückgelassen zu haben, denn in dem hätte sie sich noch französischer gefühlt. Alles andere konnte ruhig bei ihrem untreuen Ex-Verlobten bleiben. Sie hatte sich noch nie viel aus Klamotten gemacht. Das hatte sich erst in den Gassen von Bordeaux vor der kleinen Boutique ein wenig geändert … Einen Moment lang musste sie an die Galerie und den Maler denken, was der jetzt wohl machte? Sie seufzte und suchte an dem eisernen Ring nach dem richtigen Schlüssel für das Tor. Ihr Leben hatte sich mit einem Schlag um hundertachtzig Grad gedreht, und nun musste sie erst einmal die richtige Richtung wiederfinden.

„Komm, ich bring dich nach Hause“, sagte Phillip zu ihm, und Antoine merkte, wie er ihn durch die Tür des Clubs zu bugsieren versuchte. Er wehrte sich, denn es war noch lange keine Zeit, nach Hause zu gehen, und das musste doch auch sein bester Freund einsehen. „Nach Hause, wo ist das? Ich habe kein Zuhause. Das weißt du doch, denn du bist der Einzige, der mir noch zuhört“, sagte er mit schwerer Zunge.

„Ich bin der Einzige, der dich und dein Selbstmitleid noch ertragen kann, Sportsfreund“, war Phillips nüchterne Antwort. „Wir haben lange genug hier herumgestanden. Schau mal, die Bühne ist leer, die Musiker sind gegangen sowie auch meisten weiblichen Gäste, da passiert heute nichts mehr.“

„Doch, doch, da passiert noch alles!“, beharrte Antoine, doch er hörte selber, wie kindisch er klang. „Komm! Einen Whiskey noch.“

„Keinen Whiskey mehr, du hattest genug.“

„Aber was soll ich denn in meiner Wohnung, so ganz allein?“, fragte Antoine und befreite sich von Phillip, der ihn aus der Tür geschoben hatte.

„Dich ausschlafen, dich ausnüchtern, dir mal Gedanken machen, wie es weitergehen soll mit dir?“

„Du bist gut, ich mache mir seit zwei Jahren Gedanken, ohne Erfolg.“ Wie zum Beweis bekam er nun auch noch einen Schluckauf, und mit einem Mal wurde ihm bewusst, wie Phillip ihn jetzt vor sich sah. Ein Künstler, der nicht mehr gerade stehen, geschweige denn malen konnte, mit leerem Portemonnaie und Klamotten, die nach Bier rochen, da im Laufe des Abends ein Schwall auf seiner Hose gelandet war, wenn auch nicht durch seine Schuld. Gott bewahre, so weit war es doch noch nicht …

„Wie lange warst du nicht mehr dort?“

Obwohl Phillip es nicht ausgesprochen hatte, wusste Antoine sofort, was er meinte. „Zwei Jahre“, sagte er. „Seitdem sie …“

„Ich bring dich hin. Gleich morgen Mittag fahren wir los!“ Sein Freund klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. „Du wirst sehen, das wird dir guttun. Du musst dich nur endlich der Vergangenheit stellen, sonst kommst du nie über sie hinweg.“

Obwohl er wusste, dass Phillip recht hatte, protestierte Antoine. „Und wie soll ich das deiner Meinung nach machen? Auf dem Friedhof herumstehen und um Vergebung bitten?“ Er lachte, sodass es durch die schmale Rue des Menuts schallte.

„Ja“, sagte Phillip schlicht, „damit könntest du zum Beispiel schon mal beginnen.“

„Du hasst mich, du bist kein Freund, du bist ein …“

„Der Einzige, der dich zurzeit hasst, bist du selber, Antoine“, unterbrach Phillip ihn. „Und nun keine Widerrede, jetzt gehst du schlafen, und morgen bringe ich dich nach Hause.“

3. KAPITEL

Ein wenig unheimlich war ihr doch, als sie die schwere Haustür hinter sich schloss und im Schein der Taschenlampe nach dem Lichtschalter tastete. Endlich fand sie ihn, knipste ihn an, schaute sich kurz um und atmete auf. Sie stand direkt in einer gemütlichen Landhausküche, die in einen großen Wohnraum mündete. Obwohl der Besitzer, wie sie erfahren hatte, lange nicht mehr hier gewesen war, lag ein frischer Duft in der Luft. Maries Mutter hatte die Anweisung, alles sauber zu halten, gewissenhaft ausgeführt.

Nachdem Sophie ihre Tasche und den Rucksack abgesetzt hatte, machte sie ein paar Schritte über den gefliesten Küchenboden und schaute in den Salon. Dort gab es einen Kamin, ein geblümtes Sofa und mehrere Sessel. Die Wände waren hoch und hingen voller Bilder, vor den bodentiefen Fenstern lagen Teppiche, und in den Ecken standen Bodenvasen. Sie drehte sich einmal um sich selbst. Was für ein Glück am Ende dieses unglückseligen Tages! Hier konnte sie für eine Nacht bleiben und sich morgen um ihren Rückflug kümmern. Nun musste sie nur noch das Badezimmer und eins der frisch bezogenen Betten finden. Ob es warmes Wasser gab? Aber sie würde auch eiskalt duschen, Hauptsache raus aus den staubigen Klamotten!

Eine halbe Stunde später lag sie in einem großen Landhausbett unter einer leichten Decke, die nach Lavendel duftete. „Frankreich ist voller Klischees“, murmelte sie zufrieden und kuschelte sich noch ein wenig tiefer in die Kissen. „Man könnte auch sagen, es ist so schön, dass man es gar nicht glauben mag.“ Sogar eine Schublade voller nagelneuer Zahnbürsten hatte sie gefunden und sich eine ausgeliehen, wie auch etwas von dem Shampoo und eins der weichen Handtücher. Gastfreundlich sind sie auch noch, diese Franzosen, dachte sie. Und wenn man zu lange unter ihnen lebt, färben sie irgendwie ab, ich fühl mich auch schon völlig … Sie hatte den Gedanken noch nicht einmal zu Ende gedacht, da war sie auch schon eingeschlafen.

Am nächsten Morgen erwachte sie so ausgeruht wie lange nicht mehr. Sie lauschte nach draußen. Es war ruhig hier, so völlig ruhig, ganz anders als in London! Ein tiefer Frieden erfüllte sie. Sie musste nichts tun, gar nichts, einfach nur liegen, nichts denken, nur sein, und ihren nackten Körper zwischen der duftenden Bettwäsche spüren.

Sie drehte sich wohlig noch einmal um, und es dauerte tatsächlich ein paar köstliche Minuten, bis die Harmonie in ihrem Inneren durch die ersten besorgten Gedanken gestört wurde. Wo war sie, wo stand dieses Haus, ob es hier einen Internetanschluss gab, um sich endlich wieder orientieren zu können? Wie spät war es? Bestimmt schon mitten am Tag. Ob ihr Auto noch an der Straße stand?

Voller Energie strampelte sie mit den Beinen, bevor sie die Decke mit einem Ruck zurückschlug und aufstand. Vor dem Kleiderschrank zögerte sie, doch sie verspürte großen Widerwillen, in ihre schmutzigen Klamotten zu schlüpfen. Jetzt bereute sie es doch, so überstürzt aufgebrochen zu sein, ohne ihre persönlichen Sachen zu packen. Neugierig öffnete sie die Tür. Der Schrank war fast leer, nur ein paar lange weiße Herrenhemden hingen an der Stange. Nicht gebügelt, also perfekt, um sie auszuleihen!

Ob es okay war, wenn sie noch ein bisschen blieb? Es war so behaglich hier, sie wollte gar nicht fort. In einem großen Spiegel erhaschte sie ihren eigenen Anblick und schnaubte belustigt. Mit dem weißen Hemd, den langen Beinen und den wuscheligen dunklen Haaren sah sie aus, wie die junge Frau aus dem Werbespot für französischen Brotaufstrich, der in England derzeit so oft im Fernsehen lief.

Neugierig ging sie durch den Salon, öffnete die Flügeltür, trat auf die überdachte Veranda und stieß einen Laut der Überraschung aus. Vor ihr lag ein romantisch verwilderter Garten mit Rosenstöcken, wuchernden Buchsbäumen und Rosmarinbüschen. Sogar einen See schien es zu geben, denn es glitzerte blaugrau durch die Stämme der schlanken Pappeln hindurch, die den Garten begrenzten. Unfassbar, was manche Leute für ein Glück haben, dachte Sophie. Hatte Marie nicht gesagt, das Haus wäre gerade unbewohnt? Dann könnte sie doch für immer bleiben … Sie fühlte sich plötzlich so frei, so leicht, als ob eine schwere Last von ihren Schultern genommen worden wäre. Übermütig breitete sie ihre Arme aus und drehte sich ein paarmal lachend im Kreis.

Doch plötzlich überkam sie ein schlechtes Gewissen. Sie durfte die Gastfreundschaft der Französin nicht überstrapazieren! Und was war mit ihren Gefühlen für Robert? Er hatte sie zwar betrogen, aber war das ein Grund, ihn für immer zu verdammen? Waren Künstler nicht alle so? Kompliziert und immer auf Abwechslung und Bestätigung aus? Und was sagte das über ihre Liebe zu ihm, wenn ein einziger Fehltritt seinerseits schon all diese Zweifel in ihr aufkommen ließ? Wollte sie überhaupt noch mit ihm zusammen sein? Liebte sie ihn noch? Verlegen zupfte sie an den Trieben des Lavendels, der vor ihr im Blumenbeet wuchs und wild ins Grün schoss, weil niemand ihn bisher zurückgeschnitten hatte. Sollte sie ihn anrufen? Hatte Robert versucht, sie anzurufen? Sie merkte gerade, dass sie seit dem Abend nicht mehr auf ihr Handy geschaut hatte. Warum auch, sie hatte ja keinen Empfang gehabt.

Unschlüssig, was sie jetzt tun sollte, ging sie in die Küche zurück, wobei ihr Blick auf die Uhr über der Spüle fiel. Schon zwei! Sie hatte zwar keinen großen Hunger, aber ein Kaffee wäre an diesem Frühnachmittag nicht zu verachten. Vorsichtig zog sie die Schubladen auf, fand Kaffeepulver in einer Dose und eine Maschine, die nicht allzu schwer zu bedienen aussah. Auch haltbare Milch entdeckte sie. Statt einer Tasse wählte sie eine flache Schale und fühlte sich sogleich noch mehr zu Hause. Hier in Frankreich trank man den Café au Lait nun mal aus solchen Schalen. Mit dem heißen, starken Getränk ging sie wieder durch den Salon. In diesem Haus schien nicht nur ein Gartenfreund, sondern auch ein Kunstliebhaber zu wohnen. Die Bilder an den Wänden zeugten von einem sehr vielfältigen, aber exquisiten Geschmack.

Auf der Veranda machte sie es sich in der Hollywoodschaukel bequem. Nur noch eine kleine Auszeit, dann würde sie sich wieder mit ihrem alten Leben und Robert beschäftigen. Das leise Knarren der Schaukel und die Vögel, die in den Kronen der Bäume ringsum zwitscherten, wurden zu einem beruhigenden Lied. Sie stellte den Kaffee zur Seite, legte ihren Kopf auf das kleine Kissen und streckte sich aus. Nur fünf Minuten. Sie schloss die Augen und schlief wieder ein.

Die Gascogne empfing ihn wie immer wild, grün und üppig blühend zu dieser Jahreszeit. Etwas in Antoines Brustkorb wurde ganz weit, sobald sie von der Nationalstraße abgebogen waren, und seine Gesichtszüge entspannten sich. Das war seine Heimat, die Umgebung, in der er seine Kindheit verbracht hatte. Eine sehr glückliche Kindheit, die Erinnerungen stiegen in ihm auf wie schillernde Seifenblasen und ließen sogar seine Kopfschmerzen vergehen. Er merkte plötzlich, dass er viel zu lange nicht mehr hier gewesen war, und schüttelte den Kopf über sich. Ganze zwei Jahre war es her, und dennoch sah alles aus wie früher.

Als Einzelkind hatte er sich sehr eng den Nachbarskindern angeschlossen, ein wilder Haufen Jungen und Mädchen, mit denen er im Wald getobt und im See geschwommen hatte. Sein Vater war Landarzt gewesen und deshalb sehr oft unterwegs, doch seiner Mutter war es gelungen, ihm auf Sous trois Chênes, dem Gutshof unter den drei Eichen, ein wunderbares Zuhause zu erschaffen. Sie hatten zwei Pferde, Hühner und Schafe. Dennoch hatte es bei ihnen auch Literaturlesungen im Wohnzimmer gegeben, und sie war oft mit ihm zu Kunstausstellungen in der Nähe oder ins Kino gefahren.

Vielleicht hatte Phillip recht, und er würde sich wirklich erholen können und mal ganz zur Ruhe kommen. Einfach in den Tag hineinleben, im eiskalten Lac Manipan schwimmen, den Alkoholkonsum einschränken oder darauf ganz verzichten, lange Spaziergänge in der wunderschönen Landschaft unternehmen, ohne einen Gedanken an das Malen zu verschwenden. Die Stille und Abgeschiedenheit könnten tatsächlich die richtige Medizin für seine Seele sein, um ganz unbefangen wieder damit anzufangen …

Das Ortsschild Noulens ließ ihn noch ein Stück tiefer in seine Kindheit versinken. Auf dem Platz vor der Kirche war morgens der kleine Schulbus losgefahren, hatte die wenigen Kinder eingesammelt und nach Ramouzens zur Grundschule gebracht. Doch noch etwas verband er mit dem Platz. Hinter der Kirche hatte Laurine Geneviève Dupont, geborene Mercier, verwitwete Brunier, ihre letzte Ruhestätte gefunden – zwischen ihren beiden Männern, ganz wie sie es sich gewünscht hatte. Antoine knirschte mit den Zähnen, während die Häuser aus Naturstein an ihnen vorbeizogen, schon hatten sie den Ort hinter sich gelassen. Er hatte ihr diese zweite Heirat jahrelang übel genommen und sich kaum mehr bei ihr gemeldet, obwohl sie sich so sehr bemüht hatte, den Kontakt aufrechtzuerhalten. Briefe, Päckchen, Anrufe, die er nicht beantwortete oder sofort wegdrückte.

„Zuerst zu den Bonnaires?“, riss Phillip ihn aus seinen Gedanken.

„Ja, ich habe selbst gar keinen Schlüssel mehr. Maries Mutter kümmert sich um alles.“

„Wie viele Kinder hat sie mittlerweile?“

„Marie? Ich glaube vier.“ Marie war mit Mann und Familie in ihrem Elternhaus geblieben und hatte die Gascogne nie verlassen. Nichts für mich, schnaubte Antoine innerlich, doch er bemerkte, wie sein Herz schneller klopfte und er sich freute, das vertraute Haus wiederzusehen, vor dem Phillip jetzt hielt.

Nach einer herzlichen Begrüßung und ein wenig Geplauder über Marie und ihre Geschwister, die steigende Enkelkinderzahl und das schöne Wetter übergab die alte Madame Bonnaire Antoine den Schlüssel. „Du musst verzeihen, mein Junge, aber Marie hat einen Gast bei euch drüben einquartiert“, sagte sie. Bei euch. Er stieß hörbar die Luft aus der Nase. Sie sprach immer noch so, als ob seine Eltern noch lebten. „Was für einen Gast?“, brauste er auf.

„Eine junge Engländerin, die hier gestern Nacht vor dem Haus stand, weil ihr Auto vorne auf der Straße liegen geblieben ist. Seid ihr vielleicht daran vorbeigefahren?“ Antoine und Phillip zuckten mit den Schultern. „Laurine hätte nichts dagegen gehabt, das weiß ich.“ Die alte Französin lächelte still vor sich hin.

„Macht ihr das öfter?“, fragte Antoine harsch zurück. „Vermietet ihr das Haus heimlich?“

Er hörte, wie Phillip nach Luft schnappte und ihm beruhigend auf die Schulter klopfte. „Antoine meint es nicht so böse, wie es sich anhört“, entschuldigte sein Freund sich schnell für ihn. „Er ist überreizt von der Arbeit, er ist müde und unausgeglichen.“

„Ich bin überhaupt nicht …“, setzte Antoine schon an, da fiel ihm etwas ein. „Oder hast du das mit der Engländerin etwa arrangiert?“, fuhr er seinen Freund an.

„Danke, dass du mir so etwas zutraust“, entgegnete der ruhig. „Doch das schaffe selbst ich nicht in so kurzer Zeit. Denk doch mal nach, wir haben erst gestern Nacht beschlossen, hier hinzufahren.“

Du hast es für mich beschlossen!“

„Deine Mutter hatte gern Gäste“, unterbrach Madame Bonnaire die beiden. „Sie wollte aus Sous trois Chênes einen belebten Ort machen, eine Künstlerkolonie oder etwas Ähnliches. Wo Künstler in Ruhe arbeiten können.“

„Künstlerkolonie! Das wird ja immer besser!“ Antoine schüttelte den Kopf, doch er wusste, warum ihre Worte ihm einen Stich versetzten. Er hatte nichts davon gewusst! Er hatte seine Maman in den letzten Jahren nicht oft genug besucht, auch nicht, nachdem sein Stiefvater gestorben war. Und leider nur sehr selten, als sie schließlich erkrankte. Und wenn er bei ihr gewesen war, hatte er ihr offenbar nicht zugehört, hatte sie nicht unterstützt bei ihren Plänen.

„Sie hätte ihre Pläne weiter vorangetrieben“, fuhr die Nachbarin fort, „wenn die Krankheit ihr nicht dazwischengekommen wäre …“

Danke für den Hinweis, aber er hatte sich schon selbst daran erinnert, wie seine Mutter gestorben war. „Wann fährt dein Zug?“, herrschte Antoine seinen Freund an. „Wird Zeit, dich loszuwerden und nach Mont-de-Marsan zu bringen.“

„Er kann mit mir fahren“, warf Madame Bonnaire ein. „Ich hole Marie und die Kinder dort ab!“

„Danke für das Angebot, Madame“, sagte Phillip, „aber ich weiß nicht, ob ich unseren Freund hier überhaupt allein lassen sollte. Nicht, dass er noch auf die arme Frau in seinem Haus losgeht. So aggressiv, wie er in letzter Zeit ist, wäre ihm das zuzutrauen.“

„Ich werde ihr schon nichts tun. Hauptsache, sie verschwindet bald.“ Natürlich bemerkte er den Blick, den Phillip und Madame Bonnaire sich zuwarfen, doch sie sagten nichts, und kurze Zeit später machte Antoine sich allein auf den Weg zu seinem Elternhaus.

Als er den Wagen langsam über die schmale, unbefestigte Straße lenkte, fühlte er sich noch schlechter. Und das kam nicht vom Alkoholkonsum der vergangenen Nacht. Er war ein unfreundlicher, egozentrischer Künstler, der sich nur um sich selbst drehte, dem nie auffiel, wie andere sich fühlten oder was ihnen auf dem Herzen lag.

Das Tor war verschlossen. War der ungebetene Gast vielleicht schon wieder gegangen? Er parkte den Wagen auf dem Vorplatz und musterte die Stallungen, den alten Taubenschlag und den flachen Anbau, während er durch den vorderen Hof auf das Wohnhaus zu ging. Das Anwesen war auf den ersten Blick in einem recht guten Zustand, obwohl die Bäume ausgeholzt werden mussten. Ein großer morscher Ast war schon herabgestürzt und lag unter einer der Korkeichen. Die Ruhe und Gelassenheit, die ihn noch vor einer halben Stunde auf der Autofahrt durchströmt hatten, waren schon wieder dahin, denn während er die Haustür aufstieß, schossen ihm wilde Gedanken durch den Kopf. Das alles barg zwar schöne Erinnerungen, musste aber auch instandgehalten werden. Noch gingen die Kosten von dem ererbten Vermögen seiner Mutter ab, doch das war schon gehörig zusammengeschrumpft. Er musste seinen Vertrag mit der Galerie erfüllen, dann würde er auch wieder Geld verdienen. Aber wie, wenn er nicht malen konnte?

Er stellte seine Reisetasche in der Küche ab und atmete den vertrauten Duft des Hauses ein. Er sollte nicht lange nachdenken, sondern so schnell wie möglich alles verkaufen. Dadurch wäre er gleich zwei seiner Hauptsorgen los. Er wäre nicht gezwungen, sofort wieder zu malen, und müsste sich in den nächsten Jahren nicht mehr um den Erhalt von Sous trois Chênes kümmern.

Langsam ging er durch den Salon. Zwei seiner frühen Arbeiten hingen zwischen zahllosen anderen Kunstwerken an der Wand. Er lächelte unwillkürlich. Maman hatte immer an ihn geglaubt, selbst die verrückte kleine Skizze aus der Grundschule hatte sie gerahmt. Eines seiner ersten wirklich ernst zu nehmenden Werke …

Er griff nach dem Bilderrahmen mit dem eigenwillig gezeichneten Schaf. Es war Betty, sein Liebling von damals. Behutsam stellte er Betty wieder auf den Kaminsims zurück. Das war der Anfang, in diesen und den folgenden Jahren war er frei gewesen. Antoine hatte einfach gezeichnet und gemalt, besessen, ohne Angst vor dem Ergebnis. Heute war das nicht mehr so. Die Furcht, nichts Vernünftiges, Wertvolles zustande zu bringen, saß ihm wie ein schwarzer Troll im Nacken und lähmte ihn. Wann hatte das begonnen? Seit Mamans Tod, keine Frage. Du musst Sous trois Chênes verkaufen, dachte er wieder. Wenn du erst alles los bist, wird endlich dieser Druck, malen zu müssen, von dir weichen, und es wird dir besser gehen.

Plötzlich bewegten sich die Vorhänge leicht, und Antoine sah, dass die Tür zur Terrasse offen stand. Die fremde Engländerin! Die hatte er bei all seinen Sorgen ganz vergessen. Er trat nach draußen. Der Garten lag ruhig und friedlich vor ihm, Bienen summten im Lavendel, Vögel zwitscherten. Wo war sie? Lief sie irgendwo zwischen den Bäumen herum, war sie am See, oder hatte sie sich schon mit wertvollen Stücken aus dem Nachlass von Laurine aus dem Staub gemacht und den Schlüssel gleich mitgenommen? Wieder wurde er ärgerlich. Warum quartierte Madame Bonnaire wildfremde Menschen im Haus seiner Mutter ein? Sie hatte keinerlei Berechtigung dazu!

Laurine wollte hier eine Künstlerkolonie eröffnen, bis ihr die Krankheit dazwischenkam. Wieder hörte er die sanfte Stimme seiner Nachbarin in seinem Kopf. Und du bist nicht bei ihr gewesen, dachte er und ballte die Hand zur Faust, um die Welle des schlechten Gewissens abzuwehren, die mit voller Kraft über ihm zusammenschlug.

Er schaute sich um und zuckte zusammen. Da lag jemand auf der Hollywoodschaukel und schlief seelenruhig. Die Fremde trug eine von Mamans geliebten Hemdblusen, ansonsten … offenbar nichts außer einem Höschen, denn ihre langen Beine, die sie an sich gezogen hatte, waren nackt. Er bemerkte die halb volle Kaffeeschale auf dem Boden und den schlanken Arm, der halb über ihrem völlig entspannten Gesicht lag. Ihre Wimpern waren lang und seidig und warfen kleine Schattenkränze unter ihre Augen. Auf ihren Lippen lag der Hauch eines kleinen Lächelns.

Hatte er die Frau nicht schon mal gesehen? Irgendwie kam sie ihm bekannt vor. Bevor er wusste, was er tat, ging Antoine zurück in den Salon und schaute sich suchend um. Ungeduldig zog er nacheinander die Schubladen einer Kommode auf, danach die untersten Fächer eines Sekretärs. Irgendwann fand er, wonach er gesucht hatte. Das Kästchen mit der Zeichenkohle und dem Skizzenblock, den er damals im Gymnasium benutzt hatte. Nun schnell wieder hinaus, bevor sie aufwachte und dieser Ausdruck auf ihrem Gesicht verschwand.

Er setzte sich in den Korbsessel ihr direkt gegenüber und setzte die ersten Striche auf die weiße Fläche. Seine Hand übertrug das, was er sah, mit dem Kohlestück auf das Papier, er schaute gar nicht hin, er schaute nur auf sie!

Innerhalb weniger Minuten war die Skizze fertig. Zufrieden lehnte er sich zurück und betrachtete sie prüfend. Nach Monaten des absoluten Nichtstuns war es einfach aus ihm hinausgeflossen, ohne groß nachzudenken. Nur weil er das Bedürfnis verspürte und sich nichts in ihm dagegen gewehrt hatte.

Es fühlte sich beinahe wie damals an, als er jung und ungehemmt an der Kunstakademie in Bordeaux angefangen hatte – begierig, die Technik der Malerei zu erlernen, und den Kopf voll mit eigenen Ideen!

Er erhob sich leise und brachte den Block wieder nach drinnen, riss die Skizze ab und deponierte sie in einer Zeichenmappe in der Schublade des Sekretärs. Die Frau sollte nicht sehen, dass Antoine sie gezeichnet hatte. Denn wie jede andere Frau wäre sie wahrscheinlich nicht begeistert, wenn sie wüsste, wie genau und eingehend sie in den letzten Minuten betrachtet worden war. Frauen hatten ihn in den letzten Monaten nur kurzfristig von seiner Depression ablenken können. Sie machten meistens mehr Ärger, als dass er sie wirklich schätzte.

Plötzlich wollte er hier in seinem Elternhaus allein sein. Wie sollte er sonst seine Probleme lösen, die sich immer noch vor ihm auftürmten? Antoine trat wieder hinaus auf die Veranda und räusperte sich laut.

4. KAPITEL

Sophie erwachte von dem Geräusch, als ob jemand hustete. Irritiert schlug sie die Augen auf und setzte sich langsam auf. Doch niemand war zu sehen, nur der Garten und die Bäume, hinter denen die Sonne nun schon etwas tiefer stand und sich mit Mühe durch einen diesigen Schleier kämpfte. Die Vögel sangen nicht mehr. Ob es ein Gewitter geben würde? Dann hörte sie Schritte und erschrak. Es war jemand im Haus, und sie lag halb nackt auf dieser Schaukel … schnell schaute sie, ob es etwas gab, mit dem sie sich bedecken konnte. Doch die Schritte kamen näher, und dann stand er schon vor ihr.

Sophie hatte Mühe, ihren offen stehenden Mund wieder zu schließen. Das war doch … der Maler aus der Galerie! Sie hätte ihn überall wiedererkannt, seine durchtrainierte Figur mit den breiten Schultern und der schmalen Taille, seine Bewegungen, aber vor allen Dingen sein markantes Gesicht, aus dem die Augen in diesem unglaublich intensiven Dunkelblau leuchteten. Nun sagte er etwas auf Französisch zu ihr. Es klang leider überhaupt nicht freundlich.

„Sorry“, sagte sie und versuchte das Hemd ein Stück weiter über ihre Knie zu ziehen. „Ich spreche kein Französisch.“

„Sie tragen das Hemd meiner Mutter!“, sagte der Mann nun auf Englisch mit einem starken Akzent, doch sie konnte ihn mühelos verstehen. Er war offenbar sehr ärgerlich, denn zwischen seinen Augen hatten sich zwei tiefe senkrechte Kerben gebildet.

Am liebsten wollte sie sofort aufspringen und davonlaufen. Aber das konnte sie mit dem Outfit vergessen. Außerdem war ihr Auto nicht fahrtüchtig, wenn es überhaupt noch da stand, wo sie es am vergangenen Abend so verzweifelt verlassen hatte.

„Ich weiß, und es tut mir leid. Es ist sonst nicht meine Art, an fremde Kleiderschränke zu gehen, aber meine eigenen Sachen waren sehr schmutzig.“ Abermals entschuldigte sie sich und schaute zu ihm hoch. Doch er hatte sich schon längst von ihr abgewandt und tat, als ob im Garten etwas Interessantes zu sehen war.

Warum war er so unhöflich? Hielt er Sophie etwa für eine Einbrecherin?

„Ich heiße Sophie Brisbois. Die Nachbarin hat mir erlaubt, hier zu übernachten“, versuchte sie stockend zu erklären. „Mein Auto hatte ein Panne, und ich wusste nicht, wo ich bleiben sollte!“ Das kurze Hemd machte sie nervös.

„Ich weiß“, sagte er knapp angebunden.

„Ich sollte gehen!“

„Richtig.“

„Aber mein Wagen springt nicht an. Entweder hat er kein Benzin mehr, oder ich muss damit in die Werkstatt.“

Er stieß ein unwilliges Geräusch aus und wandte sich wieder zu ihr um. „Hören Sie …“ Wieder dieser unnachahmliche, sexy Akzent. Doch er sprach nicht weiter, sondern kniff nur die Augen zusammen, um sie besser ins Visier zu nehmen.

Sie lächelte ihn an. Hatte er Sophie nun endlich auch erkannt? „Wir sind uns schon einmal begegnet, erinnern Sie sich?“, fragte sie in der Hoffnung, ihn zu besänftigen. „In der Galerie in Bordeaux. Sie sind der Künstler, der mich fast umgerannt hat.“

„Ach, Sie waren das!“ Sein Gesicht zeigte leider keine Freude des Erkennens. Im Gegenteil, es war ihm sichtlich unangenehm, dass sie hier vor ihm saß. „Nun, jedenfalls kann ich mich nicht um Ihr Auto kümmern. Ich muss an meinen Bildern arbeiten und habe außerdem einiges hier am Haus tun.“

„Sie wollen malen?“, fragte sie erstaunt. Hatte seine Galeristin sich nicht unüberhörbar am Telefon darüber beschwert, dass er schon seit Monaten nichts mehr bei ihr abgeliefert hatte?

„Ich weiß, Sie haben unseren Streit mitbekommen“, sagte er grimmig, dabei legte er eine Hand hinter das Ohr, um zu demonstrieren, dass sie unrechtmäßig gelauscht hatte.

„Ich habe nicht gelauscht, ich wurde nur zufällig Zeugin des Gesprächs, das nun mal auf Englisch war. Aber ich werde sofort gehen!“

Er machte eine Geste, die irgendwo in Richtung Ausgangstür wies. In diesem Moment krachte es ganz fürchterlich, und eine Windböe fuhr durch den Garten und presste die Lavendelbüsche dicht auf den Boden.

Sie fuhr zusammen, und im nächsten Augenblick zuckte ein Blitz über den jetzt zunehmend grauen Himmel. Der Donnerschlag folgte auf dem Fuße. Dann setzte auch schon der Regen ein. Regen? Es war ein Wolkenbruch, das Wasser prasselte wie aus Eimern geschüttet vom Himmel.

„Ja, dann …“ Er würde sie doch wohl nicht bei dem Wetter vor die Tür schicken?

„Dann bleiben Sie eben.“ Es klang genervt, zornig. „Aber ich muss arbeiten.“

„Das sagten Sie bereits.“ Sophie wäre am liebsten sofort gegangen, um diesem Grobian zu zeigen, dass sie nicht auf seine Hilfe angewiesen war. Doch sie schluckte ihren Stolz hinunter. Ein oder zwei Stunden, solange bis das Unwetter da draußen vorbei war, würde sie schon noch in seiner Gegenwart aushalten können. Was für einen romantischen Unsinn hatte sie sich in den ersten Sekunden ihres Zusammentreffens nur ausgemalt und zusammengeträumt? Dieser Typ war so grob und uncharmant wie kein anderes Exemplar, das sie in ihrem siebenundzwanzigjährigen Leben kennengelernt hatte! „Wo sind wir hier überhaupt?“, wagte sie noch zu fragen, als er schon wieder auf dem Weg ins Haus war.

„In der tiefsten Gascogne.“ Er verschwand ohne eine weitere Erklärung.

Gascogne? Das hörte sich wunderschön an – weich wie Cognac, der in der Nähe von Bordeaux ja seinen Ursprung hatte, und vielversprechend, wie die allerschönste Landschaft, die sie umgab. Aber was hatte Sophie jetzt davon? Sie war mit einem griesgrämigen Kerl in einem Haus gefangen.

Sie ging nach oben in das Zimmer, das sie gestern Abend spontan ausgewählt hatte, und schloss die Tür ab. Schnell schlüpfte sie aus dem Hemd und zog ihre verschwitzten Klamotten an, mit hastigen Bewegungen packte sie ihre wenigen Habseligkeiten zusammen. Dann ging sie mit ihrem Gepäck hinunter und setzte sich in die Küche.

Sie waren doch alle gleich, diese Künstler. Dieser Franzose war der beste Beweis. Launisch, unberechenbar, immer war ihre Kunst wichtiger als alles andere. Na ja, oder die Dinge, um sich davon zu erholen …

Obwohl sie sich dagegen wehrte, sah sie sich wieder in seinen Armen. Wie hatte er doch gleich geheißen? Er hatte sich ihr nicht vorgestellt, doch natürlich erinnerte sie sich an den Namen, der unter den Bildern gestanden hatte: Antoine Brunier. Und nun wusste sie auch, wo sie den Namen der Ortschaft das erste Mal gelesen hatte. Landschaft bei Noulens hatte als Titel auf den Kärtchen unter den Gemälden gestanden.

„Antoine“, flüsterte sie leise vor sich hin. Wie er wohl küsste? Verdammt! Sie schüttelte den Kopf. Sie war durcheinander. Seit wann fand sie Männer attraktiv, die sich so ungehobelt benahmen? Unglaublich attraktiv …

Robert kam ihr in den Sinn. Sollte sie ihn anrufen? Warum hatte er das nicht schon längst getan? Wieder wurde sie wütend auf ihn. Nein, sie musste nach Bordeaux zurück und dann mit der nächsten Maschine nach London fliegen. Hier konnte sie auf keinen Fall bleiben, leider. Sie schaute aus dem Fenster und wartete, dass das Unwetter vorbeizog.

Meine Güte, warum muss ausgerechnet sie hier in meinem Elternhaus auf mich lauern und mir noch mehr Ärger bereiten, als ich sowieso schon habe, dachte Antoine, während er einen der ehemaligen Ställe betrat.

Ärger macht sie dir ja nun nicht, wies ihn seine innere Stimme zurecht, die immer alles besser wusste. Sie verwirrt dich nur gehörig, gib es zu! Meinetwegen auch das, gab er mürrisch zu und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Als er den Hof überquerte, war er ziemlich nass geworden, und auch jetzt prasselte der Regen mit aller Macht auf die Dachfenster, die seine Mutter noch vor ihrem Tod hatte einbauen lassen.

Der Wind rüttelte an den Dachpfannen, doch das schlechte Wetter konnte nicht davon ablenken, dass hier, wo das Schaf Betty früher mit ihrer kleinen Herde Unterschlupf gefunden hatte, ein lichtes Atelier entstanden war. Mitten im Raum stand eine Staffelei, an den Wänden lehnten Leinwände in unterschiedlichen Größen, ordentlich auf Keilrahmen gespannt, Regale mit Behältern voller Pinseln und einer Auswahl von Acryl- und Ölfarben, ein altes Sofa, ein Tisch mit einem Wasserkocher und Tassen. Auch bei diesem Wetter ein großartiges Atelier, bei Sonnenschein wahrscheinlich ein Paradies!

Man könnte sofort loslegen. Wieder durchfuhr ihn der altbekannte Schmerz. Warum war er nicht hier gewesen, um seine Mutter bei der Umsetzung ihres Traums zu unterstützen? Nun war es zu spät. Er würde nie mehr mit ihr reden können. Ihr nie sagen können, wie stolz er auf sie war!

Antoine ging in den alten Pferdestall nebenan. Auch der war komplett umgebaut worden. Wenn nicht gerade ein Unwetter wie im Moment darüber hinwegzog, mussten die Lichtverhältnisse darin wunderbar sein. Durch ein neu eingelassenes Fenster in der Wand konnte man sogar den See sehen! Er setzte sich in den Ohrensessel, der zu diesem Zweck vor dem Fenster stand, und schaute auf die aufgewühlte Wasseroberfläche.

Er würde abwarten, bis Sophie wieder weg war, und dann weiter überlegen, was er tun sollte. Doch das Gewitter schien sich zu einem wahren Unwetter entwickeln zu wollen. Abgerissene kleine Äste prasselten auf das große Oberlicht, es war dunkel, und der Wind heulte.

Wenn es weiter so regnete, würde der kleine Bach, der an Noulens vorbeilief, ansteigen, die kleinen Straßen überschwemmen und das Landgut von den Nachbarn und der Welt abschneiden, so wie er es in seiner Kindheit schon manches Mal im Frühjahr und Herbst erlebt hatte.

Hoffen wir, dass das nicht passiert, dachte er, sonst sitze ich hier mit ihr fest. Seine Skizze kam ihm in den Sinn und damit auch ihre schlanke Figur, die dunklen langen Haare, das wunderschöne ebenmäßige Gesicht. Was hatte er gedacht, als er Sophie das erste Mal in der Galerie gesehen hatte?

Außergewöhnlich. Er fand sie außergewöhnlich. Auch jetzt konnte er sich nicht weiterer Gedanken erwehren, sie kamen einfach in seinen Kopf. Er sah sich mit ihr in dem neuen Atelier stehen, er würde ihr von Bettys Ausflügen erzählen und den beiden Pferden, Amadé und Spencer. Und dann würde er sie von hinten umarmen und ihren warmen, nach sinnlicher Frau duftenden Nacken küssen … Nein. Er erhob sich mit einem Ruck aus dem Sessel. Das wirst du nicht, sagte er sich. Nicht, dass du sie nicht verführen könntest, wenn du nur wolltest. Aber wann hat eine deiner Affären dir das letzte Mal wirklich etwas gebracht, außer Nächten mit zu viel Alkohol, wenig Schlaf und verliebten Frauen, die am Morgen danach nicht gehen wollten? Sieh lieber zu, dass du deinen Kram aus dem Auto holst und dir etwas zu essen machst. Vielleicht wird deine Laune dann besser.

Als er völlig durchnässt die Küche betrat, fand er seinen ungebetenen Gast am Tisch sitzend vor. Unwirsch knallte er den Karton mit den Vorräten vor ihr auf den Tisch. Auf Phillips Anweisung hatte er in einem Supermarkt außerhalb von Bordeaux eingekauft. Steaks, Koteletts, Whiskey – alles, was ein Mann brauchte.

Er verkniff sich eine Bemerkung über das Wetter, um sie nicht zu einem dieser Small Talks zu verleiten, die er hasste. Doch sie lächelte ihn nur scheu an und zog sich umgehend in den Salon zurück. Wahrscheinlich stand sie jetzt vor seinen Bildern und betrachtete sie ehrfürchtig.

Er trocknete sich mit einem frischen Küchenhandtuch ab, verstaute die Vorräte und schaute dann um die Ecke. Wie er gedacht hatte, sie stand vor einem seiner Werke! Ihre Augen trafen sich, er ging schnell wieder zurück. Sie sollte nicht meinen, dass er eingebildet war oder sie kontrollierte.

Wann Sophie wohl zum letzten Mal etwas gegessen hatte? „Haben Sie Hunger?“, rief er.

„No. Merci!“, kam es aus dem Nebenraum. Ihr Akzent war grauenhaft englisch und klang dennoch sehr süß.

„Wirklich nicht? Ich kann Sie doch nicht verhungern lassen, nur weil sich draußen ein Sturm zusammenbraut. Haben Sie heute überhaupt schon etwas gegessen?“

„Ich habe einen Kaffee getrunken. Danke, das reicht mir!“

„Das war heute Morgen, und jetzt ist es fast sechs Uhr abends. Hinaus kommen wir heute nicht mehr. In diesem Sturm möchten Sie garantiert nicht an der Straße stehen und Ihr Auto reparieren!“

Sophie seufzte. Warum ließ er sie nicht einfach in Ruhe? Eben hatte Antoine sie nicht schnell gut verabschieden können, doch nun hatte das Unwetter ihr einen kleinen Aufschub gewährt. Sophies Magen knurrte. Ich werde gar nicht mit ihm reden, mich nicht auf ihn einlassen, dachte sie. Ich habe die Nase voll von egoistischen Künstlern, die mich schlecht behandeln!

Sie checkte ihr Handy. Immer noch kein Netz und deswegen wahrscheinlich auch immer noch keine Nachricht von Robert. Also schaute sie ihre Fotos durch, die sie gestern Morgen noch bei schönstem Sonnenschein aufgenommen hatte. Schlösser, Ruinen, ein kleiner Altar mit vertrockneten Blumen in einem Einmachglas, direkt an der Straße.

Dieses Motiv hatte sie auch aus einem anderen Winkel mit der Spiegelreflex fotografiert. Sie wusste genau, wie großartig es in Schwarz-Weiß wirken würde, und freute sich darauf, es zu Hause in London zu entwickeln. London. Zu Hause. Das bedeutet auch Henry, ihr fast schon Schwiegervater. Wie sollte es jetzt weitergehen? Würde sie jemals wieder mit ihrem untreuen Verlobten zusammenkommen? Wollte sie das überhaupt? Tränen stiegen ihr in die Augen.

„Reis oder Kartoffeln?“, fragte eine Stimme. Sie schrak auf. „Wie bitte?“

„Ich habe beschlossen, Ihnen die Hälfte meines Steaks anzubieten. Nachher verklagen Sie mich noch, weil ich Ihnen das Essen weggezogen habe, und ich komme ins Gefängnis.“

Sophie musste gegen ihren Willen lachen. Sein englischer Wortschatz war sehr reichhaltig, dennoch traf er nicht immer die richtigen Wörter. „Ich verklage Sie nicht, wenn Sie mir das Essen entziehen. Nehme Ihr Angebot aber gern an.“ Sie stand auf und begab sich wieder in die Küche. „Soll ich etwas Reis kochen und den Salat waschen?“

„Beides.“

Sie arbeiteten schweigend. Sophie tat, was ihr aufgetragen worden war, und wusch dann noch einen Berg junger Spinatblätter. Als der Reis kochte, stand sie schweigend neben Antoine und beobachtete, wie er mit gekonnten Handgriffen eine Schalotte hackte, kurz andünstete und dann die Spinatblätter hineinfallen ließ. Kurz darauf stellte er eine Pfanne auf den Herd, ließ ein bisschen Fett darin heiß werden, dann warf er einen Rosmarinzweig und zwei geschälte Knoblauchzehen hinein. Es duftete köstlich. Seine Bewegungen waren geschmeidig und geübt, er wusste, was er tat. Doch er kam ihr nicht zu nahe, dafür war zu viel Platz in der Küche. Leider, dachte Sophie. Ihr Magen knurrte laut und vernehmlich.

„Jetzt habe ich doch ein bisschen Hunger“, gab sie lächelnd zu.

„Aha.“

Gut, er wollte nicht reden. Also würde sie ebenfalls nichts mehr sagen.

„Das Haus ist sehr geschmackvoll eingerichtet“, brach es dann doch aus ihr hervor, als sie zwei große liebevoll bemalte Teller von einem Regal nahm, in dem sie aufrecht gestanden hatten, und zwei Gabeln und Messer des alten Silberbestecks polierte, bevor sie damit den Tisch deckte. „So viele außergewöhnliche Dinge, die alle eine Geschichte zu haben scheinen.“

„Hmm.“ Er stand am Herd und wandte ihr seinen breiten Rücken zu.

Nie mehr, nie mehr werde ich noch mal das Wort an diesen ungehobelten Künstler richten, dachte Sophie erbost und spürte, wie ihre Wangen rot wurden. Soll er doch mit seiner schlechten Laune alleine klarkommen!

Das Essen war köstlich, das Steak gerade richtig durch, der Spinat fein mit Muskat abgeschmeckt. Doch Sophie konnte die Mahlzeit nicht genießen, da ihr das Schweigen auf den Magen schlug.

Sie nippte nur ein paarmal an ihrem Rotwein, den Antoine aus dem Weinkeller hervorgezaubert hatte, aß zu Ende und erhob sich dann schnell. „Gute Nacht! Ich hoffe, der Sturm wird nicht noch schlimmer.“

„Wird schon.“ Er lächelte kurz zu ihr hoch, doch dann verfolgten seine Augen schon wieder seinen Zeigefinger, der Kreise auf den Tisch malte.

„Danke für alles. Morgen früh bin ich wahrscheinlich schon weg!“

Er sagte nichts mehr, also zog sie sich in ihr Zimmer zurück, froh, kurze Zeit später wieder in ihrem Bett zu liegen. Rotwein, Steak, ein romantisches Landhaus mit einer gemütlichen Küche, mitten in der Gascogne … Wenn sie alleine hier gewesen wäre, hätte sie sich wieder sehr französisch gefühlt. Doch das war nicht möglich, solange ihr ein missgelaunter Mensch gegenübersaß.

Sie musste an ihren Vater denken. Wie hatte er wohl gelebt, wo hatte er seine letzten Jahre verbracht? Sie hatte nur ein altes, unscharfes Foto von ihm, auf dem er Sophie als Baby, vielleicht fünf Monate alt, auf dem Arm trug. Er war früh gestorben, war kaum sechzig geworden. Ihre Mutter hatte es ihr eines Tages ganz lapidar am Telefon mitgeteilt. Obwohl er sich nie um Sophie gekümmert hatte, war sie sehr traurig gewesen. Doch sie hatte sich nichts anmerken lassen. Mum wäre nur böse geworden. Sie ließ kein gutes Haar an Jacques Brisbois, von dem Sophie nur den Nachnamen hatte, sonst nichts.

Was für eine dumme Idee hierherzukommen, fluchte Antoine. Er beschloss, seinen Freund anzurufen, um seinen Ärger loszuwerden. Da Handyempfang hier im Tal kaum vorhanden war und er den WLAN-Code nicht auswendig wusste, griff er zum Hörer des altmodischen Festnetztelefons, das im Salon stand. Phillip ging sofort nach dem ersten Klingelton ran.

„Vielen Dank, du Idiot!“, schleuderte Antoine ihm entgegen.

„Was ist los?“

„Maman ist hier überall. Ich kann sie spüren, auch nach zwei Jahren kann ich ihr Parfum noch erschnuppern, und der Geruch ihres fantastischen Kirsch-Clafoutis hängt für immer in der Küche, egal wie viel Knoblauch ich auch anbrate …“

„Du hast gekocht? Das ist gut!“, war Phillips Antwort.

„Gut? Es ist furchtbar. Das Haus und die Erinnerungen verderben mir alles, was nur irgendwie angenehm sein könnte.“

„Das heißt, es schlägt dir aufs Gemüt?“

„Sieht so aus.“ Ausführlicher mochte Antoine nicht antworten. Natürlich deprimierte es ihn, machte ihn traurig. Aber warum bloß? Darüber hatte er schon in den letzten Stunden nachgegrübelt.

„Ist doch klar“, sagte Phillip verständnisvoll. „Weil es der Ort deiner Kindheit war, weil du dort wundervolle Jahre zugebracht hast, beschützt von Mutter und Vater.“

„Meinst du?“

„Du bist von dort geflohen, nachdem deine Mutter diesen Vincent geheiratet hat, den ich ja übrigens gar nicht kennengelernt habe“, sagte Phillip bedauernd.

„Stimmt. Ich selber bin ja auch nie mehr zurückgekehrt, solange er lebte.“

„Ich weiß, und das war ganz schön kindisch“, sagte Phillip leichthin. „Deine Mutter war glücklich mit ihrem zweiten Mann. Sie hat nochmals eine große Liebe mit ihm erleben dürfen und ist nach dem Tod deines Vaters wieder aufgeblüht. Das haben alle gesehen, nur du nicht. Du warst viel zu sehr damit beschäftigt, den eifersüchtigen Sohn zu geben.“

„So siehst du mich?“, fuhr Antoine ihn empört an.

„Na ja, einer muss es dir mal sagen! Sind Freunde nicht dafür da?“

Antoine schüttelte den Kopf. Der eifersüchtige Sohn? Nun ja, er hatte seiner Mutter ab dem Zeitpunkt das Leben schwer gemacht, an dem sie sich wiederverheiratete. Das stand außer Frage. Nie war er zu ihr gekommen, immer hatte sie ihn in Bordeaux besuchen müssen, ohne seinen Stiefvater natürlich.

Er trat an das Wohnzimmerfenster und blickte in den dunklen Garten. Der Regen strömte unbeirrt hinab, abgerissene Zweige und Blätter lagen auf der nassen Veranda. Hatte Phillip vielleicht doch recht?

Sein Blick fiel auf die Kaffeeschale, die noch neben der Hollywoodschaukel auf dem Boden stand.

„Und wie war dein Gast? Ist sie wieder weg?“, fragte Phillip in diesem Moment, als ob er Antoines Gedanken lesen konnte.

„Nein! Hier herrscht ein totales Unwetter. Die Äste und Ziegel fliegen nur so durch die Luft, es wäre lebensgefährlich, rauszugehen. Sie ist also noch da.“

„Oh, bei uns in Bordeaux regnet es nur stark. Aber sag, ist sie eine Nervensäge?“

„Ja. Nein.“

„Mensch, Antoine, nun lass dir nicht alles aus der Nase ziehen, was ist los? Macht sie dich an, macht sie dich aggressiv?“

Antoine nickte. Sie ist wunderschön, sie ist praktisch begabt, hätte er am liebsten gesagt. Und sie ist eine Frau, die zupacken kann, dass habe ich an diesem Abend in der Küche gesehen. „Sie ist in Ordnung.“ Er rieb sich über die Stirn. Und er begehrte sie, mon dieu. Er hatte sich alles Mögliche mit ihr vorgestellt. Wollte sie an sich pressen und sie überall küssen, doch das würde er natürlich nicht tun! Niemals. Er räusperte sich. „Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber vielleicht liegst du gar nicht so falsch in deinem Urteil. Mit Anfang zwanzig habe ich mich unmöglich benommen, nur weil meine Mutter eine zweite Ehe eingegangen war. Und das holt mich jetzt, zehn Jahre später, ein.“ Er zögerte, doch die Stille am Ende der Leitung zeigte ihm, dass Phillip ihm zuhörte. „Weißt du, es ist echt lächerlich, aber ich befürchte, Maman zu hören, die mir ohne Worte ihre Meinung über sie zu verstehen gibt, wie immer, wenn ich ihr jemanden vorgestellt habe.“

„Mit jemanden meinst du Frauen?“, fragte Phillip.

„Ja.“ Antoine atmete hörbar.

„Hat sich deine wunderbare kleine Maman denn jemals negativ über deine Liebschaften geäußert, als sie bei dir in Bordeaux zu Besuch war?“ Phillips Stimme hörte sich erstaunt an. „Über wen hat sie geredet? Über Amelie? Isabell oder Nanette? Ich weiß noch, sie hat die Mädels in deiner kleinen Studentenbude bekocht und über das Landleben erzählt, als ob nichts wäre.“ Er lachte. „Sie hat sich vermutlich ihren Teil gedacht, aber ihre Meinung für sich behalten.“

„Genau! Das ist ja das Schlimme“, rief Antoine erbost. „Dabei habe ich alles getan, die auszuwählen, die ihr nicht gefallen!“

„Aha! Das hört sich schon anders an. Du wolltest deine Mutter bestrafen, du hast es darauf angelegt, dass sie deine Freundinnen nicht mochte“, sagte Phillip.

„Du solltest Psychologe werden!“ Spätestens jetzt bereute Antoine seinen Anruf.

„Ich bin Augenarzt, Antoine, aber danke für den Tipp!“ Immer noch lachte Phillip leise vor sich hin.

Antoine legte auf und seufzte tief. Nun fühlte er sich noch schlechter, dabei hatte er mit dem Anruf das Gegenteil erreichen wollen. Morgen würde das Leben mit der Engländerin endlich Vergangenheit sein. Noch mehr Unruhe konnte er wirklich nicht gebrauchen!

5. KAPITEL

Sophie lag lange wach. Draußen tobte der Sturm, und ihre Gedanken ließen ihr auch keine Ruhe und wühlten sie auf, je mehr sie sich darin verstrickte. Sie war keine Künstlerin, sie hatte nicht genug Ahnung von Fotografie, niemals würde sie eine eigene Karriere in dieser Richtung starten können. Außerdem war sie keine ernst zu nehmende Frau, denn man durfte sie offenbar einfach betrügen und musste sich anscheinend auch nicht deswegen bei ihr entschuldigen. Und besonders gut aussehend konnte sie auch nicht sein, wenn ein Mann, mit dem sie immerhin schon zusammen in der Küche saß und Rotwein trank, ihr so derart ausdauernd die kalte Schulter zeigte.

Irgendetwas wurde gegen ihr Fenster geschleudert und fiel herab. Ein Ast? Draußen blitzte es unaufhörlich, und der Regen hatte nicht eine Sekunde nachgelassen. In den frühen Morgenstunden nickte sie für ein Stündchen ein, doch als sie kurz darauf wiedererwachte, war ihr sofort klar, dass der Sturm sich nicht beruhigt hatte. Im Gegenteil, er war noch heftiger geworden.

Sie schlich zum Fenster und schaute vorsichtig nach draußen. Was, wenn der Regen den See überflutet hatte? Er lag so nahe am Garten und dadurch auch am Haus. Und was war wohl ihrem Auto? Ob es in einem mit reißendem Wasser gefüllten Straßengraben lag? Hatte es neben der Straße einen Graben gegeben? Sie konnte sich nicht mehr erinnern, es war ja schon dunkel gewesen.

Sie wollte sich anziehen, doch dann zögerte sie. Der dritte Tag in denselben Klamotten war einfach nur widerlich. Warum hatte sie bei ihrer Flucht aus dem Hotelzimmer nicht wenigstens ein paar ihrer Kleidungsstücke zusammengerafft? Beherzt nahm sie das Hemd, das sie schon einmal getragen hatte, aus dem Schrank und suchte nach weiteren Sachen, die sie sich ausleihen konnte. Sie fand eine saubere Jogginghose, eine weite Strickjacke und dicke Socken in einer Kommode. So ausgerüstet wusch sie ihre eigenen Kleidungsstücke im Waschbecken des Badezimmers und hing alles in der Dusche zum Trocknen auf. Sollte Antoine sich doch beschweren, sie konnte nichts dafür, dass dieses grässliche Unwetter ihre Abreise verzögerte!

In der Küche standen eine Kanne Kaffee, Brot, Butter und Honig auf dem Tisch. Antoine selbst war nicht zu sehen. Umso besser, dachte sie, während sie sich setzte und dann gedankenvoll ihren Kaffee trank. Sie genoss das kleine Frühstück, während sie in den Sturm hinausschaute. Die Krone der großen Eiche wurde schwer zur Seite gedrückt, der Wind heulte, als ob er zornig sei, den Baum nicht gänzlich umwerfen zu können. Wann würde sie hier bloß abreisen können?

Mit der Schale Kaffee in der Hand stand sie auf, ging in den Salon und stellte sich an die große Terrassentür, um von dort nach draußen zu sehen. In dem Moment kam ihr Gastgeber in den Raum gepoltert. Er grüßte knapp und stapelte dann ein paar Holzscheite in den Kamin. Ihre Blicke trafen sich kurz, sie lächelte ihn an und hob bedauernd die Schultern. „Tut mir leid. Ich wäre ja gern abgereist, aber …“

„Das geht nicht“, unterbrach Antoine unwirsch. „Ganz abgesehen davon, dass Sie einen Ast oder Dachziegel auf den Kopf bekommen könnten, spricht man in den Nachrichten von schlimmen Überschwemmungen in manchen Gebieten. Der Manipan ist bereits über die Ufer getreten, da gibt es kein Durchkommen mehr.“

„Oh, das tut mir leid!“

„Na ja, Sie können ja nichts dafür.“

Sie beobachtete heimlich, wie er sich um den Kamin kümmerte.

„Es ist zwar nicht kalt, aber mit dem Feuer wird es doch etwas gemütlicher. Und wenn Sie Wäsche haben, können Sie die davor aufhängen. Die Heizung ist derzeit nicht funktionstüchtig.“

Sophie schnaubte empört. Sie würde auf keinen Fall ihre Unterwäsche hier vor den Kamin hängen, aber ihr T-Shirt und die Jeans hätten wenigstens die Chance, etwas zu trocknen.

Plötzlich war ein Krachen und sofort danach ein Splittern zu hören. „Verdammt, wahrscheinlich eins der Dachfenster in den Ställen!“, rief Antoine und war schon auf dem Weg nach draußen. „Sie bleiben hier!“

Doch Sophie dachte gar nicht daran. Sie schlüpfte in ihre Turnschuhe und rannte ihm hinterher. Der Wind war entsetzlich stark. Er zerrte an ihr und ließ sie kaum vorwärtskommen, der Regen durchnässte sie sofort, als sie zu dem Anbau rannte, in dem er verschwunden war. Das niedrige Gebäude hatte sie gar nicht bemerkt, als sie vorgestern bei Dunkelheit angekommen war.

Sophie stemmte die Tür auf und trat ein. Was war das für ein Raum? Er war leer, doch mit vielen Fenstern versehen, aus denen man eine wunderbare Aussicht auf den jetzt so aufgewühlten See hatte. Als sie die Staffelei und die weißen Leinwände erblickte, wusste sie Bescheid. Es war ein Atelier!

„Ich hatte doch gesagt, Sie sollen im Haus bleiben!“ Antoine schaute prüfend zur Decke, „Es muss das andere Fenster sein, das es erwischt hat!“ Schon war er wieder aus der Tür.

Sophie folgte ihm. Der Raum nebenan war um einiges größer, doch hier herrschte Chaos! Ein Ast war auf das Dachfenster gekracht und hatte es zerschmettert. Glassplitter und Rahmenteile lagen auf den schönen, offenbar neuwertigen Holzdielen, durch die Lücke im Dach sah man einen Teil des abgebrochenen Astes, und es regnete wie wild herein. „Können wir das irgendwie abdichten?“, rief Sophie laut gegen den Sturm.

„Wir?“ Er sah sie ablehnend an. „Ich glaube nicht, dass Sie …“

„Ich bin schwindelfrei, haben Sie eine stabile Plane?“

Er schüttelte den Kopf und zeigte nach oben. „Ich werde da auf keinen Fall mit Ihnen zusammen hochklettern!“ Er kramte ein paar Decken aus einer Ecke, die wie Pferdedecken aussahen, und warf sie über die Stelle mit den Glasscherben. „Der Holzboden geht kaputt, wenn das Wasser darunter kommen sollte. Warum gehen Sie nicht zurück ins Haus?“

„Wo haben Sie Ihr gutes Englisch gelernt?“, fragte sie statt einer Antwort.

„Ein Schuljahr in Cambridge. Schon ewig her.“

„Das hört man trotzdem noch.“ Sie lächelte ihn an und strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht. „Und jetzt helfe ich Ihnen!“

Gemeinsam holten sie eine Plastikplane aus dem danebenliegenden Anbau, in dem ein schnittiger Sportwagen stand – ein Oldtimer und offenbar sein Auto. Aus der Tür schauten sie auf den Hof in den strömenden Regen hinaus. Der Wind hatte etwas nachgelassen, und Sophie wies auf die runden Findlinge, die als Einfassungen rund um die Beete auf dem Hof geschichtet waren. „Wenn wir die ganz dicht aneinander auf die Plane legen, müsste es gehen.“

Autor

Allison Leigh
<p>Allison Leigh war schon immer eine begeisterte Leserin und wollte bereits als kleines Mädchen Autorin werden. Sie verfasste ein Halloween-Stück, das ihre Abschlussklasse aufführte. Seitdem hat sich zwar ihr Geschmack etwas verändert, aber die Leidenschaft zum Schreiben verlor sie nie. Als ihr erster Roman von Silhouette Books veröffentlicht wurde, wurde...
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