Romana Gold Band 51

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VERWECHSLUNGSSPIEL IN DER TOSKANA von DIANA HAMILTON
Die Anstellung als Gesellschafterin für den italienischen Millionär Cesare Saracino ist alles, was Milly sich je erträumt hat - und doch kann sich dem Zauber des Anwesens und des Hausherrn nicht länger hingeben. Denn sie weiß: Die heißen Küsse gelten nicht ihr, sondern ihrer Zwillingsschwester!

DER ITALIENISCHE TRAUMPRINZ von LUCY GORDON
Ein Leben in Rom mit Prinz Gustavo - für Joanna wäre es der Himmel! Doch er lässt sie sitzen! Jahre später führt das Schicksal sie erneut zusammen. Sofort flammt die Leidenschaft wieder auf. Aber Joanna hat geschworen, sich nicht noch einmal das Herz brechen zu lassen ...

STÜRMISCHE NÄCHTE IN FLORENZ von CHANTELLE SHAW
Diese Frau ist eine Hochstaplerin! Davon ist Bruno Di Cesare fest überzeugt. Um die blutjunge Innenarchitektin Tamsin als Betrügerin zu entlarven, engagiert der attraktive Adlige sie für die luxuriöse Neueinrichtung seiner toskanischen Villa. Ein gewagter Plan - mit ungeahnt stürmischen Folgen …


  • Erscheinungstag 14.06.2019
  • Bandnummer 51
  • ISBN / Artikelnummer 9783733745134
  • Seitenanzahl 444
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Diana Hamilton, Lucy Gordon, Chantelle Shaw

ROMANA GOLD BAND 51

1. KAPITEL

Cesare Saracino forderte den Taxifahrer auf, zu warten. Dann schwang er die langen Beine aus dem Wagen und ging über das nasse Pflaster auf die kleine altmodische Metzgerei am Ende der fast menschenleeren schmalen Straße zu. Seine Miene drückte Entschlossenheit aus.

Die Adresse von Jilly Lees Mutter herauszufinden war überhaupt kein Problem gewesen. Der Privatdetektiv hatte sie ihm bereits einen Tag nach Aufnahme seiner Recherchen übermittelt. Doch Cesare konnte sich nicht vorstellen, dass Jilly Lee hierher zurückkehren würde, nicht in dieses Apartment über der Kleinstadtmetzgerei in der Nähe von Wales, wo überhaupt nichts los war. Sie, die Glanz und Pracht und die Gesellschaft großzügiger Männer brauchte, die sie bewunderten.

Jilly Lee war bestimmt nicht hier. Aber ihre Mutter wusste vermutlich, wo sie sich aufhielt, seit sie heimlich aus der Villa verschwunden war. Dafür würde sie büßen. Er würde sie finden und zwingen, in die Toskana zurückzukehren, und Wiedergutmachung verlangen. Außerdem würde er sie zwingen, sich auf den Job zu konzentrieren, statt auf Betrügereien und die Suche nach einem reichen Mann.

Er verzog verbittert die Lippen. Es war zu befürchten, dass Jilly Lee sowieso eines Tages in der Villa nicht mehr gebraucht wurde. Seine Großmutter wurde zusehends schwächer, obwohl sie sich, wie er sich widerwillig eingestand, seit der Ankunft der jungen Frau sichtlich erholt und wieder Freude am Leben gewonnen hatte.

„Es sind keine ernsthaften Erkrankungen festzustellen“, hatte der Spezialist, den Cesare auf Wunsch des Hausarztes hinzugezogen hatte, vor drei Monaten erklärt. „Aber Ihre Großmutter ist über achtzig und verwitwet. Wie lange lebt sie schon allein?“

„Seit dreißig Jahren.“

„Wahrscheinlich sind die meisten ihrer Freundinnen und Bekannten schon gestorben. Sie wird immer gebrechlicher, weil sie nichts mehr hat, worauf sie sich freuen kann.“

Cesare war der Meinung gewesen, dass seine Großmutter sich nicht gehen lassen dürfe und mehr Abwechslung brauche. Deshalb hatte er vorgeschlagen, eine Gesellschafterin einzustellen.

„Denkst du dabei an eine ältere Frau, die mir vorliest, während ich sticke? Und die sich über die Jugend von heute beklagt, mir etwas vorjammert und mich langweilt mit Geschichten aus ihrer eigenen Vergangenheit?“, hatte sie ihn gefragt und dabei seine Hand gestreichelt und ihn liebevoll angelächelt. „Nein, das ist nichts für mich.“

„Es muss aber jemand im Haus sein, der dir Gesellschaft leistet. Du sollst nicht mehr so oft allein sein.“

„Allein bin ich doch gar nicht bei dem vielen Personal. Maria kann mir Gesellschaft leisten.“

„Unsere Haushälterin hat genug Arbeit und bestimmt keine Zeit, mit dir im Garten zu sitzen, spazieren zu gehen und dergleichen.“

Seine Großmutter sah ihn spöttisch an. „Unsere Gärtner sind doch ständig im Garten. Sie können mir helfen, wenn ich wirklich einmal hinfallen sollte – falls du dir deswegen Sorgen machst.“

Er nahm ihre Hände. „Ich versuche, mehr Zeit hier in der Villa zu verbringen, aber ich muss sehr oft geschäftlich ver­reisen, wie du weißt. Natürlich mache ich mir Sorgen um dich. Du hast mich als Zwölfjährigen aufgenommen und mich großgezogen, was sicher nicht leicht für dich war, denn ich war in den ersten Jahren recht schwierig. Jetzt kann ich für dich sorgen. Eine Gesellschafterin muss doch nicht unbedingt in deinem Alter sein.“

Den Text für die Anzeige hatte er daraufhin selbst aufgesetzt und ein außergewöhnlich hohes Gehalt in Aussicht gestellt. Bei den Vorstellungsgesprächen war er dabei gewesen, und ihm war sogleich aufgefallen, dass seine Großmutter, als Jilly Lee hereingekommen war, zum ersten Mal Interesse gezeigt hatte.

Die junge Frau kam ihm irgendwie bekannt vor. Vielleicht hatte er sie in dem Nachtclub in Florenz gesehen, in dem er mit einem amerikanischen Kunden gewesen war. Der Mann hatte sich an dem Abend unbedingt amüsieren wollen. Ob die Frau, an die er sich zu erinnern glaubte, wirklich Jilly Lee war, konnte Cesare jedoch nicht sagen. Die jungen Frauen in den Nachtclubs, die auf der Suche nach einem Mann waren, sahen alle ziemlich gleich aus. Sie hatten langes blondes Haar, rot geschminkte Lippen und trugen kurze, knappe Outfits, um ihre Silikonbrüste und die endlos langen Beine zu zeigen. Mit seinen vierunddreißig Jahren hatte er mehr als genug solcher jungen Damen kennengelernt. Er kannte sich mit ihnen aus. Das hatte dazu geführt, dass er in gewisser Weise ziemlich zynisch geworden war, wie seine Großmutter ihm manchmal vorhielt, ohne ihn zu kritisieren.

Ms. Lee hatte langes blondes Haar, doch sie trug es mit einem schwarzen Samtband im Nacken zusammengebunden, und ihr blaues Kleid war keineswegs zu kurz, obwohl es ihre üppigen Rundungen nicht verbarg.

Wie schon bei den drei anderen Bewerberinnen, die sich vorgestellt hatten, überließ er es seiner Großmutter, die Fragen zu stellen. Er mischte sich nur ein, wenn Klärungsbedarf bestand.

Auf den ersten Blick schien Jilly Lee die ideale Besetzung zu sein. Sie war fünfundzwanzig, wirkte keineswegs langweilig und war somit für seine Großmutter durchaus akzeptabel. Sie war Engländerin, sprach jedoch recht gut Italienisch, und sie hatte ausgezeichnete Referenzen von einem Londoner Kosmetiksalon. Eine Zeit lang war sie durch Italien gereist, hatte die Sprache gelernt, mal hier, mal da gearbeitet, um ihre Ersparnisse aufzustocken, und hatte sich nie lange an einem Platz aufgehalten. Jetzt wollte sie sich dauerhaft in diesem schönen Land niederlassen, wie sie erzählte.

Nur selten blickte sie Cesare an, während sie charmant und locker plauderte. Seine Großmutter war von ihr sehr eingenommen und bat schließlich die junge Frau, sie und Cesare kurz allein zu lassen. Dann erklärte sie so aufgeregt und lebhaft wie schon lange nicht mehr: „Sie gefällt mir, sie ist jung, temperamentvoll und sehr schön. So jemanden brauche ich um mich. Schade, dass du dich beharrlich weigerst, zu heiraten und eine junge Frau ins Haus zu bringen, die mich aufheitert und durch die ich wieder Freude am Leben bekomme. Als Engländerin kann Ms. Lee mir helfen, meine Kenntnisse in dieser Sprache aufzufrischen. Früher habe ich genauso gut Englisch gesprochen wie du, aber ich bin ganz aus der Übung. Sollen wir uns für sie entscheiden? Was meinst du?“

Er zögerte einen Augenblick. Auf den ersten Blick schien sie in Ordnung zu sein, doch er hatte ein ungutes Gefühl, irgendetwas störte ihn. Leicht ungeduldig zuckte er die Schultern und behielt seine Bedenken für sich. Seine Großmutter musste mit der jungen Frau zurechtkommen, nicht er. Zum ersten Mal seit vielen Monaten wirkte sie wieder fröhlich und interessiert. Offenbar hatte sie den Lebenswillen noch nicht ganz verloren und würde sich nicht selbst aufgeben.

„Wenn du glaubst, sie sei die richtige Gesellschafterin für dich, dann soll es mir recht sein.“

Für seine Großmutter tat er alles, denn er hatte ihr viel zu verdanken. Sie war der erste Mensch gewesen, der ihm echte Zuneigung entgegengebracht hatte. Seine Eltern hatten sich nicht gut verstanden, sie hatten aus Vernunftgründen geheiratet. Sein Vater war ein Workaholic und nur selten zu Hause gewesen. Um sich für die mangelnde Aufmerksamkeit und Zuneigung zu entschädigen, war seine Mutter mit dem vielen Geld allzu verschwenderisch umgegangen und hatte wechselnde Liebschaften gehabt.

Cesare nahm an, dass sie den Schein hatten wahren wollen und sich deshalb nicht scheiden ließen. In den Kreisen, in denen sie sich bewegten, war sowieso alles nur leerer und schöner Schein. Bei einer der seltenen gemeinsamen Reisen waren sie schließlich beim Absturz ihres Privatjets ums Leben gekommen. Als einziges Kind erbte Cesare das riesige Vermögen, ein Firmenimperium, das sich unter anderem aus verschiedenen petrochemischen Unternehmen und Luxushotels zusammensetzte und dem Handel mit Kunstgegenständen und Edelsteinen gewidmet war.

Seine Großmutter hatte ihm in jeder Hinsicht geholfen und ihn schon während der Schulzeit und später während des Studiums auf die vor ihm liegende verantwortungsvolle Aufgabe vorbereiten lassen. Bis zu seiner Volljährigkeit wurde das Firmenimperium von den Managern geleitet, die sein Vater noch eingesetzt hatte und die seiner Großmutter regelmäßig Bericht erstatten mussten.

Aus all diesen Gründen und weil er sie sehr gern hatte, konnte er ihr keinen Wunsch abschlagen. Doch er hatte vorsichtshalber hinzugefügt: „Ich möchte mich persönlich davon überzeugen, dass mit ihr alles in Ordnung ist, und werde deshalb in den ersten Wochen ihrer Tätigkeit häufiger zu Hause sein und versuchen, meine Termine auf später zu verschieben.“

Zorn überkam ihn jetzt, als er den Durchgang neben dem Laden betrat. Jilly Lee hatte seine Großmutter dazu gebracht, ihr uneingeschränkt zu vertrauen und sich auf sie zu verlassen. Doch als Cesare der jungen Frau hatte klarmachen müssen, dass er nicht mit ihr schlafen wollte und im Traum nicht daran dachte, sie zu heiraten, hatte sie sich aus dem Staub gemacht. Und dann musste er auch noch feststellen, dass sie seiner Großmutter ziemlich viel Geld gestohlen hatte.

Aber er würde dafür sorgen, dass sie alles zurückzahlte. Mit grimmiger Miene drückte er auf die Klingel.

Milly Lee knipste die Deckenlampe an und zog die Vorhänge zu. An diesem Apriltag hatte es von morgens bis abends geregnet, was ziemlich deprimierend war. Genauso deprimierend war die kleine Wohnung, in der Milly nicht länger als unbedingt nötig bleiben wollte. Nach dem Tod ihrer Mutter hätte sie sich gern sogleich eine erschwinglichere Unterkunft gesucht, aber dann hätte ihre Zwillingsschwester Jilly nicht gewusst, wie und wo sie sie erreichen konnte. Nachdem Jilly den Job in Florenz aufgegeben hatte, hatte Milly nichts mehr von ihr gehört.

Das war typisch für Jilly. Sie war gedankenlos. Doch früher oder später würde sie sich melden. Irgendwann erinnerte sie sich immer an ihre Familie. Leider wusste Jilly noch nicht, dass ihre Mutter gestorben war. Bis ihrer Zwillingsschwester einfiel, sich zu Hause zu melden, musste Milly wohl oder übel das Apartment behalten.

Während sie sich eine Strähne des blonden Haares aus der Stirn strich, schlug sie die Abendzeitung auf, die sie sich auf dem Nachhauseweg von der Arbeit gekauft hatte. Optimistisch fing sie an, die Stellenangebote durchzulesen. Sie brauchte einen neuen Job, denn an diesem Morgen hatte ihre Chefin Manda verkündet, dass sie den Blumenladen verkaufen würde. Sie und ihr Mann wollten endlich Nachwuchs haben, und da sie schon sechsunddreißig war, wurde es langsam Zeit.

„Du fängst am besten gleich an, dir eine andere Stelle zu suchen“, hatte Manda ihr geraten. „Falls du irgendwo sofort anfangen kannst, brauchst du keine Kündigungsfrist einzuhalten. Die kurze Zeit komme ich auch allein zurecht.“

Als es an der Haustür läutete, hob sich Millys Stimmung. Ihre beste Freundin Cleo hatte versprochen, heute Abend vorbeizukommen und eine Flasche Wein mitzubringen. Sie wollten über Cleos Hochzeit sprechen, auf der Milly Brautjungfer spielen sollte.

Milly lief die Treppe hinunter, froh darüber, dass ihre Freundin zwei Stunden früher als geplant hatte kommen können, und öffnete die Tür. Zu ihrer Überraschung stand ein ungemein attraktiver Fremder vor ihr.

Ein seltsames Gefühl drohenden Unheils beschlich sie, das sich noch verstärkte, als es in den dunklen Augen des Mannes triumphierend aufleuchtete. Auch sein Lächeln wirkte eher triumphierend als freundlich.

„Durch die Verkleidung lasse ich mich nicht täuschen, Jilly, aber ob Sie es glauben oder nicht, das schlichte Outfit, die dezentere Aufmachung und die neue Frisur stehen Ihnen gut“, sagte er mit tiefer Stimme.

Es überlief Milly kalt. Der Fremde hielt sie offenbar für ihre glamouröse Zwillingsschwester. Jilly würde jedoch niemals in Jeans und einem einfachen Wollpullover herumlaufen. Im Gegensatz zu ihrer Schwester, deren Haar beinah bis zur Taille reichte, trug Milly das silberblonde Haar schulterlang. Sie schüttelte den Kopf und wollte dem Mann erklären, dass es sich um einen Irrtum handelte. Doch dazu kam sie nicht, denn er ging an ihr vorbei in den Flur und fuhr fort: „Sie hätten wissen müssen, dass Sie sich vor mir nicht verstecken können. Niemand wagt es ungestraft, mich und meine Angehörigen zu betrügen. Sie werden dafür büßen.“

Oh nein, was hatte Jilly jetzt schon wieder angestellt? Der Fremde blieb an der Treppe stehen und drehte sich zu Milly um. Er trug einen eleganten Anzug, hatte breite Schultern und lange Beine und wirkte so Furcht einflößend, dass es Milly die Sprache verschlug. Das dunkle Haar, in dem Regentropfen glitzerten, war perfekt geschnitten, und er hatte regelmäßige Gesichtszüge. Wenn seine Lippen nicht so sinnlich gewirkt hätten, hätte man ihn als kühl bezeichnen können. Mit den dunkelbraunen Augen sah er Milly durchdringend an.

„Meine Großmutter vermisst Sie schon, und ich werde verhindern, dass sie sich Ihretwegen aufregt. Ich habe behauptet, Sie hätten wegen einer dringenden Familienangelegenheit nach England zurückkehren müssen. Sie werden dasselbe sagen.“ Er verzog angewidert die Lippen. „Wenn es nach mir ginge, würden Sie die Villa nicht mehr betreten. Aber meiner Großmutter zuliebe bestehe ich darauf, dass Sie morgen mit mir in die Toskana zurückfliegen und weiterhin ihre Gesellschafterin spielen, jedoch mit einer Einschränkung: Sie werden nicht mehr mit ihr nach Florenz zum Einkaufen fahren und sich nichts mehr von ihr bezahlen lassen. Ist das klar?“

Aus zusammengekniffenen Augen betrachtete er ihr blasses Gesicht und fuhr, ohne eine Antwort abzuwarten, fort: „Als Alternative kann ich Ihnen anbieten, Sie anzuzeigen. Da ich mich selbst um die Finanzen meiner Großmutter kümmere, ist mir Ihr Betrug aufgefallen. Haben Sie wirklich geglaubt, es würde niemand merken? Die gefälschten Unterschriften auf den Schecks, die Sie vorgelegt haben, waren gerade mal gut genug, um einem Bankangestellten, der sie nur flüchtig prüft, nicht aufzufallen, weil er wusste, dass Sie die Gesellschafterin meiner Großmutter sind. Außerdem war ihm bekannt, dass sie lieber bar statt mit der Kreditkarte bezahlt. Aber mir ist die Fälschung natürlich sofort aufgefallen.“

Milly wurde noch blasser. Vor lauter Entsetzen stand sie wie erstarrt da, und das Herz klopfte ihr bis zum Hals. In ihrem Kopf drehte sich alles. Während sie sich die Anschuldigungen anhörte, versuchte sie, die Zusammenhänge zu begreifen. Den Irrtum aufzuklären war wahrscheinlich keine gute Lösung, denn offenbar steckte ihre Zwillingsschwester in ernsthaften Schwierigkeiten. Da der Mann ihr mit einer Anzeige drohte und ihr Betrug und Diebstahl vorwarf, hielt Milly es für besser, ihm nicht zu verraten, dass er nicht Jilly vor sich hatte.

Ehe sie sich zu der ganzen Sache äußerte, musste sie wissen, wie sie Jilly helfen konnte. Sie wünschte, es wäre nur ein böser Traum, doch leider war es Wirklichkeit.

Schließlich ging der Fremde mit großen Schritten und geschmeidigen Bewegungen wieder zur Tür und öffnete sie. Sogleich drang die feuchte und kühle Luft herein. „Morgen früh um sechs werden Sie abgeholt. Wenn Sie wieder versuchen, zu verschwinden, werde ich Sie finden. Darauf können Sie sich verlassen.“ Sein Blick wirkte kühl und hart. „Und falls Sie sich nicht an meine Anweisungen halten, werde ich Sie anzeigen und dafür sorgen, dass Sie verurteilt werden. Natürlich möchte ich es meiner Großmutter ersparen, zu erfahren, dass die Frau, die sie eingestellt und der sie vertraut hat, nur eine schäbige kleine Betrügerin ist. Wenn Sie mich jedoch dazu zwingen, bin ich bereit, ihr die Wahrheit zu sagen.“

2. KAPITEL

„Er kann dich doch nicht zwingen!“, rief Cleo empört aus. Milly wünschte sich verzweifelt, die Freundin hätte recht. Aber sie liebte ihre Zwillingsschwester und konnte es mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren, Jilly im Stich zu lassen. Als Cleo mit Stoffmustern, Brautmodeheften und einer Flasche Wein gekommen war, hatte Milly immer noch wie betäubt auf der Treppe in dem zugigen Flur gesessen.

Während Cleo den Wein einschenkte, hatte Milly angefangen zu erzählen. „Du bist verrückt, so zu tun, als wärst du Jilly. Ruf ihn an und sag ihm, wer du wirklich bist. Wie heißt er eigentlich, und in welchem Hotel übernachtet er?“

Milly zuckte die Schultern und drehte das Weinglas mit den Fingern hin und her. „Woher soll ich das wissen? Ich konnte ihn doch nicht nach seinem Namen fragen. Dadurch hätte ich mich verraten. Er hält mich für Jilly. Sie war offenbar die Gesellschafterin seiner Großmutter. Außerdem hatte ich keine Gelegenheit, ihn zu fragen, wo er übernachtet. Er hat mich gar nicht zu Wort kommen lassen. Und ich war auch viel zu schockiert. Wie hätte ich da noch einen einzigen klaren Gedanken fassen können? Er hat mir ununterbrochen gedroht …“

„Und genau deshalb musst du ihm die Sache erklären“, warf Cleo ein. „Du hast nichts mit ihm zu tun. Jilly muss selbst geradestehen für alles, was sie getan hat.“

Obwohl Milly sich eingestand, dass Cleo recht hatte, erwiderte sie: „Ich bin ihretwegen sehr beunruhigt. Der Mann ist offenbar sehr zornig. Wenn ich ihm die Wahrheit sage und er die Suche nach Jilly fortsetzen muss, verliert er wahrscheinlich bald die Geduld und schaltet die Polizei ein. Mit ihm ist nicht zu spaßen, befürchte ich. Ich traue ihm zu, dass er sie anzeigt.“ Ihr verkrampfte sich der Magen bei dem Gedanken. „Jilly ist sehr eigensinnig, aber sie war immer ehrlich. Sie ist keine Betrügerin. Vermutlich handelt es sich um ein Missverständnis.“

„Ist es deiner Meinung nach ein Zeichen von Ehrlichkeit, dass sie deine Mutter überredet hat, das Haus mit einer Hypothek zu belasten und das Sparkonto deines verstorbenen Vaters aufzulösen, um diesen verrückten Schönheitssalon zu eröffnen?“, entgegnete Cleo scharf. „Als sie Konkurs gemacht hat, ist sie einfach verschwunden und hat deine Mutter mit dem Schuldenberg alleingelassen, sodass sie das Haus aufgeben und in diesem schäbigen Apartment zur Miete wohnen musste.“

Das hörte sich so an, als wäre Jilly wirklich sehr egoistisch. Millys schöne grüne Augen schienen plötzlich ganz dunkel zu werden. Der Fairness halber fügte sie insgeheim hinzu, dass ihre Mutter mit Jillys Plänen einverstanden gewesen war, denn es hatte ihr die Möglichkeit eröffnet, wieder in der Nähe ihrer Lieblingstochter zu sein. Durch ihre offene, charmante Art bezauberte Jilly alle, und jeder hatte sie gern. Milly hingegen war ruhig und zurückhaltend. Sie hatte nicht so viel Mut und Temperament wie ihre Zwillingsschwester, deshalb war sie zufrieden damit gewesen, im Hintergrund zu stehen.

Als ihr Vater völlig überraschend an einem Herzinfarkt gestorben war, waren sie und Jilly achtzehn gewesen. Ihre Mutter war nach seinem Tod sehr verzweifelt und erschüttert und fühlte sich hilflos. Ihr Mann Arthur hatte alle Entscheidungen allein getroffen und in der kleinen Familie ein strenges Regiment geführt. Nach seinem Tod hatte Jilly ihre Mutter dazu überredet, ihr die Ausbildung als Kosmetikerin zu bezahlen. Sie hatte von zu Hause weggehen können und beinah die ganzen Ersparnisse der Familie ausgegeben. „Ich zahle dir alles zurück, sobald ich genug Geld verdiene“, hatte Jilly versprochen.

Ihre Mutter hatte nicht Nein sagen können, denn Jilly konnte jeden um den Finger wickeln. Milly musste arbeiten gehen. Sie nahm die Stelle in dem Blumenladen an und kümmerte sich um die Finanzen der Familie. Da das große frei stehende Haus mit den sechs Zimmern in der Nähe von Ashton Lacey im Unterhalt zu teuer geworden war, sorgte Milly dafür, dass es verkauft wurde. Im selben Ort kauften sie eine Doppelhaushälfte mit vier Zimmern.

Als Jilly nach bestandener Prüfung zurückgekommen war, hatte sie fantastisch ausgesehen. Dank der Besuche im Solarium war sie leicht gebräunt. Zu den engen weißen Jeans trug sie eine grüne Seidenbluse, die die Farbe ihrer Augen betonte und sie wie funkelnde Edelsteine wirken ließ.

Zwei Tage blieb sie und ließ sich von ihrer Mutter, die fasziniert von ihrer schönen Tochter war, in jeder Hinsicht bedienen. Dann fuhr sie nach London zu einem Bewerbungsgespräch. Man hatte ihr angeblich eine gute Stelle in einem Kosmetiksalon mit angeschlossener Schönheitsfarm angeboten. Den Job hatte sie bekommen, was sowieso niemand bezweifelt hatte. Aber ihre Mutter wurde immer mürrischer und lächelte nur noch selten. Obwohl Milly sich sehr bemühte, sie aufzuheitern, konnte sie ihr die Lieblingstochter nicht ersetzen.

Eines Tages kam Jilly zurück und verkündete zum Erstaunen aller: „Ich habe den Job gekündigt und will hier in Ashton Lacey einen Schönheitssalon eröffnen. Warum soll ich irgendwo als kleine Angestellte arbeiten? Lieber bin ich selbstständig und streiche den Gewinn selbst ein.“

„Woher hast du das Geld?“, fragte Milly. „Es kostet doch sehr viel, ein Geschäft zu eröffnen.“

Jilly lächelte sie nachsichtig an. „Du warst schon immer ein Spielverderber, Schwesterherz.“ Mit zuckersüßem Lächeln wandte sie sich an ihre Mutter. „Du kennst doch das Sprichwort, ‚Wer nicht wagt, der nicht gewinnt‘, oder, Mom? Ich sehe es auch so. Du könntest eine Hypothek auf das Haus aufnehmen und Dads Sparkonto auflösen. Zusammen machen wir dann das Geschäft auf. Jeder von uns beiden ist mit fünfzig Prozent daran beteiligt oder du mit sechzig und ich mit vierzig, wenn dir das lieber ist. Du wirst es nicht bereuen und sehen, wie gut es läuft. Nachdem ich zwei Jahre als Angestellte in dieser Branche gearbeitet habe, kenne ich mich bestens aus. Wir können reich werden dabei. Die Hypothek haben wir rasch zurückgezahlt, und das Geld wird nur so hereinströmen. Sag Ja, Mom. Gleich morgen fangen wir an, geeignete Geschäftsräume zu suchen.“

Natürlich war ihre Mutter einverstanden. Die Freude darüber, dass ihre Lieblingstochter zurückkommen würde, machte sie blind für die Risiken, die mit der Geschäftseröffnung und dem Schuldenmachen verbunden waren. Allzu gut erinnerte Milly sich daran, dass sie sich wie ein Miesmacher gefühlt hatte, als sie auf die Gefahren hingewiesen hatte.

Nach zwei Jahren hatte Jilly Konkurs anmelden müssen. Es gab in Ashton Lacey keine Kundschaft für einen Schönheitssalon. Dazu war der Ort zu klein. Und genau das hatte Milly vorhergesagt. Die wenigen Kundinnen, die gekommen waren, erschienen selten ein zweites Mal.

Das Haus war verkauft worden, um die Gläubiger zu befriedigen, und Jilly ging nach Italien, um dort ihr Glück zu machen, ohne ihrer Mutter zu helfen, eine andere Unterkunft zu finden. Milly mietete für sie beide das Apartment über der Metzgerei.

Zuerst schickte Jilly ab und zu eine Ansichtskarte. Sie fand eine Stelle in einem Nachtclub in Florenz und mietete sich eine kleine Wohnung hinter dem Palazzo Vecchio. Sie lernte interessante Leute kennen, hatte viel Spaß und konnte ihre Sprachkenntnisse verbessern, wie sie schrieb. Leider verdiente sie noch nicht genug, um zu helfen, die Schulden zurückzuzahlen. Sogar eine Telefonnummer, unter der sie fast immer nachmittags zu erreichen war, gab sie an. Ungefähr achtzehn Monate später traf die letzte Nachricht von ihr ein.

Ich glaube, ich habe es geschafft. Ich bin auf dem Weg nach oben. Wenn ich die Möglichkeiten, die sich mir bieten, nutze – was ich tun werde –, kann ich Dir bald das ganze Geld zurückzahlen, liebste Mom. Sogar mit Zinsen! Ich schreibe Dir bald ausführlicher und gebe Dir auch meine neue Adresse an.

Danach hatten sie nichts mehr von ihr gehört.

„Jilly wollte immer alles richtig machen, sie wollte unserer Mutter das Geld zurückzahlen“, verteidigte Milly ihre Schwester. „Sie hatte solche verrückten Ideen und war fest davon überzeugt, Erfolg zu haben. Wie sie aber glauben konnte, als Gesellschafterin ein kleines Vermögen zu verdienen, ist mir rätselhaft.“

„Wahrscheinlich wollte sie das Geld stehlen“, stellte Cleo spöttisch fest, und Milly hätte sie am liebsten geohrfeigt.

„Es muss sich um ein Missverständnis handeln, das weiß ich genau.“

Cleo schüttelte den Kopf. „Nach allem, was dieser Mann zu dir gesagt hat, erscheint mir das wenig plausibel. Deine Schwester ist offenbar wieder einmal weggelaufen, und ich verstehe nicht, warum du sie immer noch verteidigst.“

Sekundenlang war Milly sprachlos und blickte die Freundin zornig an. Doch dann wurde ihr bewusst, dass Cleo aufrichtig um sie besorgt war, und sie atmete tief ein. „Du kannst natürlich nicht nachvollziehen, wie nahe sich Zwillinge stehen. Als wir Kinder waren, hat sie sich sehr um mich gekümmert und mir geholfen. Unser Vater war sehr streng und … ziemlich schwierig. Wenn ich etwas falsch gemacht hatte, hat sie die Schuld auf sich genommen und die Strafe, die unser Vater ihr auferlegte, tapfer ertragen. Dafür habe ich sie sehr geliebt, und sie kann sich auf mich verlassen.“

„Es tut mir leid.“ Cleo streichelte ihr die Hand. „Ich kann den Mund nicht halten, das ist mein Problem. Es gefällt mir aber nicht, dass du mit diesem Mann, der dich oder besser gesagt die Frau, für die er dich hält, verachtet, in die Toskana fliegen willst. Was meinst du, wie reagieren er wird, wenn er herausfindet, dass du ihn zum Narren gehalten hast?“

„Das wird er nicht herausfinden“, versicherte Milly ihr im Brustton der Überzeugung. „Jilly und ich sind eineiige Zwillinge. Sie wirkt zwar glamouröser als ich, weil sie sich anders kleidet und viel Make-up benutzt. Das ist jedoch kein Problem. Sie hat genug Sachen zurückgelassen und hat bestimmt nichts dagegen, wenn ich sie mir ausleihe. Wenn ich mich so zurechtmache wie sie, merkt er den Unterschied nicht. Und solange er mich für Jilly hält und ich alles tue, was er von mir verlangt, ist sie in Sicherheit. Ich gehe davon aus, dass auch eine Gesellschafterin ab und zu einen freien Tag hat. Den werde ich nutzen, sie zu suchen. Vielleicht hat sie alles hingeworfen, weil sie es leid war, nach der Pfeife einer alten Dame zu tanzen. Hinsichtlich des Geldes muss es sich um ein Missverständnis handeln. Jedenfalls hat sie bestimmt keine Ahnung, dass der Enkel der alten Dame hinter ihr her ist. Wenn ich sie finde, kann sie zurückgehen und ihm alles erklären.“

„Meinst du, du wirst sie finden?“

„Das muss ich“, erwiderte Milly mit Nachdruck. „Wenigstens weiß ich, dass ihr nichts zugestoßen ist. Wir haben uns große Sorgen gemacht, als wir so lange nichts von ihr gehört haben. Obwohl ich versucht habe, meine Mutter zu beruhigen, und sie daran erinnert habe, dass Jilly nie gern geschrieben und während ihrer Ausbildung in London auch nur einige wenige Ansichtskarten geschickt hat, war ich zutiefst beunruhigt. Sie hatte uns nicht mitgeteilt, wie sie so viel Geld verdienen wollte. Und da ich weiß, wie eigensinnig und leichtfertig sie ist, habe ich mir alles Mögliche vorgestellt. Zumindest brauche ich mir jetzt deswegen keine Sorgen mehr zu machen. Sie war bei dieser netten alten Dame gut aufgehoben. So.“ Milly sprang unvermittelt auf und ignorierte das Unbehagen, das sie beschlich. „Hilf mir dabei, Jillys Sachen durchzusehen, und sag mir, was ich einpacken soll. Ihre Dessous brauche ich nicht, ich nehme meine eigenen und auch meine Nachthemden mit. Darin sieht er mich ja nicht.“

„Okay, wenn es unbedingt sein muss.“ Cleo folgte ihr in Jillys Schlafzimmer. „Aber ich bin von dir enttäuscht. Du sollst meine Brautjungfer sein, schon vergessen?“

Milly drehte sich zu ihr um und umarmte sie. „Du heiratest doch erst in drei Monaten. Bis dahin bin ich längst wieder hier“, versprach sie zuversichtlich.

Doch als sie einige Stunden später im Bett lag und nicht einschlafen konnte, fragte sie sich, ob sie vielleicht zu viel versprochen hatte. Was wollte sie machen, wenn von Jilly jede Spur fehlte? Milly hatte schon alle Brücken hinter sich abgebrochen. Sie hatte Manda angerufen und erklärt, sie würde nicht mehr kommen, weil sie einen anderen Job gefunden hätte. Dann hatte sie dem Vermieter drei Monatsmieten im Voraus überwiesen, damit sie die wenigen Sachen, die sie besaß, und die Möbel noch in der Wohnung lassen konnte.

Morgen würde sie mit diesem einschüchternd wirkenden Fremden, der sie für eine Betrügerin hielt und sie mit Argusaugen beobachtete, so als befürchtete er, sie würde mit dem Familienschmuck verschwinden, nach Italien fliegen.

Irgendwie hatte sie das Gefühl, über ihre Zukunft nicht mehr selbst bestimmen zu können. Und das machte sie ganz mutlos.

3. KAPITEL

Ängstlich beobachtete Milly die große Eingangstür des exklusiven Hotels auf dem Land, in dem der Fremde offenbar übernachtet hatte. Wenigstens wusste sie jetzt, wie er hieß. Als der Chauffeur pünktlich um sechs erschienen war, hatte er erklärt: „Ms. Lee, Signor Saracino hat mich gebeten, Sie abzuholen.“

Jetzt war der Mann in dem Hotel verschwunden und würde jeden Moment mit diesem Signor Saracino herauskommen und sie beide zum Flughafen fahren. Milly verkrampfte sich der Magen. Am liebsten wäre sie aus dem Wagen gesprungen und schnell wie der Blitz über die Einfahrt zurück auf die Straße gelaufen. Aber sie musste an ihre Schwester denken, die sie unbedingt finden und vor dem Zorn dieses Mannes beschützen wollte. Offenbar war er zu allem entschlossen und nicht bereit, nachzugeben.

Schließlich erblickte sie ihn und drehte sich rasch um. Er wirkte so stark, hart und rücksichtslos, dass ihr das Herz vor Angst bis zum Hals schlug. Ihre Hände, die sie nervös im Schoß rang, wurden feucht, und sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Würde sie die Sache auch wirklich durchstehen?

Sie musste es Jilly zuliebe schaffen, eine andere Wahl hatte sie nicht. Falls dieser Mann erfuhr, dass er auf eine Täuschung hereingefallen war, würde er noch zorniger werden und vielleicht ganz andere Maßnahmen gegenüber Jilly ergreifen.

Signor Saracino warf ihr nur einen flüchtigen Blick zu, während der Chauffeur das Gepäck im Kofferraum verstaute, und stieg zu ihrer Erleichterung vorn ein. Wahrscheinlich wollte er nicht neben ihr sitzen, weil er befürchtete, sich zu beschmutzen oder zu infizieren. Milly betrachtete es als gutes Omen.

Je mehr Abstand er wahrte, desto sicherer war sie vor Entdeckung. Gesellschafterin für jemanden zu spielen würde ihr nicht schwerfallen. Natürlich erwartete man, dass sie sich auskannte und genau wusste, was sie tun musste. Doch das Problem ließ sich bestimmt lösen.

Glücklicherweise fiel bei der Passkontrolle am Flughafen niemandem auf, dass der Vorname in ihrem Pass nicht mit dem auf dem Ticket übereinstimmte. Auch das hielt Milly für ein gutes Omen.

Nachdem sie eingecheckt hatten, sah der Mann sie aufmerksam an. In seinen dunklen Augen blitzte es spöttisch auf, als er sie von oben bis unten musterte. Wieder verkrampfte sich ihr der Magen. Sie zwang sich, seinen kühlen Blick unerschrocken zu erwidern, und sagte sich, es sei völlig unmöglich, dass er merkte, die falsche Frau mitgenommen zu haben.

Jillys cremefarbenes Leinenkostüm mit dem kniefreien Rock wirkte sehr elegant. Und da er Milly am Abend zuvor sogar in ihrem eigenen bescheidenen Outfit für ihre Schwester gehalten hatte, würde er jetzt erst recht keinen Verdacht schöpfen. Darüber, dass sie das Haar kürzer trug als Jilly und kaum Make-up benutzte, machte er sich offenbar keine Gedanken.

Dennoch zitterte sie beinah vor Angst, als er scharf erklärte: „Wenigstens haben Sie aufgehört, sich zu verkleiden. Das war sowieso sinnlos. Wahrscheinlich sind Sie jetzt wütend darüber, dass ich Sie aufgespürt habe und von Ihnen verlange, weiterhin die Gesellschafterin meiner Großmutter zu spielen, unentgeltlich natürlich.“ Er zuckte so gleichgültig die Schultern, als wäre ihm egal, ob sie wütend war oder nicht. Hart fügte er hinzu: „Sie werden ihr erzählen, Sie hätten plötzlich wegen einer dringenden Familienangelegenheit nach Hause fliegen müssen. Ist das klar?“

Ihr sank der Mut, und sie nickte nur. Erst jetzt begriff sie, dass man ihr kein Gehalt zahlen würde. Ihre Kreditkarte wollte sie auch nicht benutzen, denn nachdem sie die Miete für drei Monate im Voraus bezahlt hatte, hatte sie fast nichts mehr auf dem Konto und wollte es nicht überziehen. Und das bedeutete, sie würde in der Freizeit, falls man ihr diesen Luxus überhaupt gewährte, ihre Schwester nicht suchen können.

Milly versuchte sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen und so zu reagieren, wie Jilly es in der Situation getan hätte. „Etwas Freizeit gestehen Sie mir aber noch zu, oder?“, fragte sie betont selbstbewusst. „Oder werden Sie mich in meinem Zimmer einsperren, wenn Ihre Großmutter mich nicht braucht, Signor Saracino?“

Verächtlich zog er eine Augenbraue hoch. „Gut, dass Sie sich entschlossen haben, wieder die formelle Anrede zu benutzen. Ich habe jedoch nicht vergessen, wie Sie mich genannt haben, als Sie zu mir ins Schlafzimmer gekommen sind.“ Dann drehte er sich um und ließ Milly einfach stehen, denn in dem Moment wurde ihr Flug aufgerufen.

Schockiert über das, was sie soeben gehört hatte, folgte Milly ihm. Dass er ihre Frage nicht beantwortet hatte, war in dem Moment unwichtig.

Als sie auf ihren Plätzen in der ersten Klasse saßen, bemühte sie sich, die Gedanken zu ordnen. Mit einem flüchtigen Seitenblick stellte sie fest, dass Signor Saracino sich in irgendwelche Dokumente vertiefte, die er aus dem Aktenkoffer gezogen hatte. In den schlanken gebräunten Fingern hielt er einen Kugelschreiber, und er schrieb ab und zu etwas an den Rand der Seiten.

Rasch wandte sie sich wieder ab. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, während sie zu der Erkenntnis kam, dass Jilly und dieser Mann ein Liebespaar gewesen waren.

Aber warum bin ich so entsetzt darüber, es ist doch nichts Neues, fragte Milly sich sogleich. Ihre Schwester hatte immer wieder irgendwelche Affären gehabt.

„Ich habe da etwas laufen“, so nannte sie es. Keine dieser Affären hatte länger als zwei Monate gedauert. Jilly war ein rastloser Mensch und langweilte sich rasch.

War es dieses Mal anders gewesen? Hatte Jilly sich in den attraktiven Mann verliebt? Das könnte ich verstehen, er sieht wirklich ausgesprochen gut aus und hat eine faszinierende Ausstrahlung, dachte Milly.

Hatte Jilly geglaubt, er würde ihre Liebe erwidern? Hatte sie vielleicht erwartet, er würde sie heiraten? Das erklärte, warum sie in der letzten Nachricht an ihre Mutter geschrieben hatte, sie würde das Geld bald zurückzahlen können, wenn sie die Möglichkeiten nutzte, die sich ihr böten. Zweifellos war dieser Mann sehr reich, und das war wahrscheinlich für Jilly ausschlaggebend gewesen, die Stelle als Gesellschafterin der älteren Dame anzunehmen. Unter normalen Umständen hätte Jilly sich für diesen Job nie interessiert. Vermutlich hatte sie in der Nähe des Mannes sein wollen, den sie liebte und der sie heiraten würde, wie sie gehofft hatte.

Hatte er ihr das Herz gebrochen und ihr klargemacht, dass er keineswegs beabsichtigte, sie zu ehelichen? War sie deshalb spurlos verschwunden?

Das kam Milly plausibel vor, aber sie würde es erst genau wissen, wenn sie ihre Schwester gefunden hatte. Der Gedanke, dass dieser kaltherzige Mann Jilly enttäuscht hatte und sie jetzt auch noch wegen eines dummen Fehlers verfolgte, machte Milly zornig. Sie schwor sich, ihre Schwester zu finden und dafür zu sorgen, dass sich alles aufklärte. Mehr denn je war sie entschlossen, Jilly zu helfen. Das war sie ihr schuldig.

„Schnallen Sie sich an! Wir landen gleich.“ Signor Saracino stieß Milly mit dem Ellbogen an, und sie schreckte aus dem Schlaf auf.

Sein verächtlicher und ungeduldiger Tonfall störte sie sehr. Dass sie neben diesem so gereizt und hart wirkenden Mann hatte einschlafen können, fand sie erstaunlich. Da sie aber in der vergangenen Nacht kein Auge zugetan hatte, war es verständlich. Sie unterdrückte ein Gähnen und tat, was er gesagt hatte.

„Aus irgendeinem mir unverständlichen Grund hält meine Großmutter große Stücke auf Sie“, erklärte er spöttisch, nachdem sie Pisa hinter sich gelassen hatten und auf den kurvenreichen Straßen der Toskana unterwegs waren. „Seit Ihrem Verschwinden ist sie sehr unruhig und mürrisch. Sie werden alles vermeiden, was sie aufregen könnte. Haben Sie das verstanden?“

„Natürlich.“

Er warf ihr einen merkwürdigen Seitenblick zu. „Nehmen Sie sich zusammen. Sie tun gerade so, als wäre das alles eine Strafe. Dabei sollten Sie dankbar sein, so glimpflich davonzukommen. Nur weil meine Großmutter Sie sehr gern hat, habe ich Sie noch nicht angezeigt. Das können Sie mir glauben.“

Milly atmete tief ein. Wie sie es schaffte, sich zu beherrschen und den Mann nicht zu ohrfeigen, wusste sie selbst nicht. Vor lauter Zorn errötete sie. Wenn Jilly ihn jetzt hören könnte, würde sie ihn bestimmt nicht mehr lieben. Da Milly jedoch befürchtete, sich zu verraten, wenn sie auf seine verächtliche Bemerkung einging, schwieg sie lieber.

Normalerweise hätte sie die Fahrt in dem offenen Sportwagen durch die wunderschöne Landschaft genossen. Die Sonne schien, es war warm, doch Milly betrachtete die vielen Weinberge und die Zypressen, die die Straßen säumten, mit mäßigem Interesse. Sie wurde immer nervöser und gereizter, und als sie schließlich von der Straße abbogen und durch das schmiedeeiserne Tor die Einfahrt entlang auf die beeindruckende Villa zufuhren, hatte sie das Gefühl, die Anspannung nicht mehr ertragen zu können.

Würde es ihr gelingen, den alles entscheidenden Test zu bestehen und sich Signor Saracinos Großmutter gegenüber nicht zu verraten? Zu Hause in England war Milly noch überzeugt gewesen, es sei alles sehr einfach, sie brauche nur Jillys Kleidung zu tragen, und jeder würde sie für ihre Schwester halten. Doch die Begegnung mit seiner Großmutter war sicher das Schwierigste und Riskanteste an der ganzen Sache.

Ich muss gut aufpassen und darf nichts Falsches sagen, ermahnte sie sich, während sie ausstieg, nachdem Signor Saracino mit grimmiger Miene vor der breiten Eingangstür angehalten hatte. Wie aus dem Nichts tauchte ein relativ kleiner Mann neben ihm auf, und er reichte ihm die Autoschlüssel.

„Stefano wird Ihr Gepäck auf Ihr Zimmer tragen“, verkündete Signor Saracino an Milly gewandt. „Warten Sie in der Eingangshalle. Ich will meine Großmutter erst darauf vorbereiten, dass Sie mit mir zurückgekommen sind.“

Statt auf ihn zu warten, werde ich die Gelegenheit nutzen und mich mit der Umgebung vertraut machen, nahm sie sich vor. Sie schwieg jedoch und ging ihm voraus in die mit Marmorfliesen ausgelegte Eingangshalle. Dann blickte sie hinter Signor Saracino her, dessen eleganter hellgrauer Anzug die breiten Schultern, die schmalen Hüften und die langen Beine betonte. Zielstrebig eilte er auf eine der vielen mit Schnitzereien verzierten Holztüren zu. Schließlich atmete Milly tief ein und folgte Stefano die Treppe hinauf. Insgeheim gratulierte sie sich dazu, dass sie es wagte, Signor Saracinos Befehl nicht zu befolgen und zu erkunden, wo sich Jillys Zimmer befand. Sie wollte sich die Peinlichkeit ersparen, später so tun zu müssen, als könnte sie sich nicht mehr erinnern, wie sie in ihr Zimmer gelangte.

Den Weg prägte sie sich genau ein und zählte die Türen, die rechts und links von dem mit Holztäfelung verkleideten Flur abgingen.

Die erste Hürde habe ich genommen, dachte sie, als Stefano die dritte Tür rechts öffnete. Beim Betreten des Raums war sie entzückt. Es war das schönste Zimmer, das sie jemals gesehen hatte. Wände und Decke waren mit hellem Holz verkleidet, ein weicher cremefarbener Teppich bedeckte den Fußboden, und die alten Möbel waren bestimmt sehr wertvoll. Auf dem breiten, sehr bequem wirkenden Himmelbett lag eine rosenholzfarbene Tagesdecke.

Während Stefano Millys Gepäck auf die Truhe stellte, fragte er: „Benutzen Sie nicht die schöne Reisetasche, die die Signora für Sie gekauft hat?“ Dabei wandte er den Blick nicht von dem alten Koffer ab, in den sie Jillys elegante Outfits gepackt hatte.

Milly zauberte ein Lächeln auf die Lippen. „Ich wollte die Reisetasche noch schonen, sie ist eigentlich zu schade, um sie zu benutzen“, improvisierte sie.

Stefanos Miene hellte sich auf, und Milly gratulierte sich insgeheim. Bis jetzt machte sie offenbar alles richtig. Doch wenige Sekunden später verschwand ihre Zuversicht. Nachdem der Mann den Raum verlassen hatte, betrachtete sie sich in dem großen Spiegel. Dass Signor Saracino auf die Täuschung hereingefallen war, war kaum zu glauben. Es stimmte, sie und Jilly sahen sich auf den ersten Blick zum Verwechseln ähnlich. Wenn man aber genauer hinsah, bemerkte man die Unterschiede. Während Jilly selbstbewusst und forsch auftrat, wirkte Milly zurückhaltend und etwas unsicher.

Rasch straffte sie die Schultern und strich sich einige Haarsträhnen aus der Stirn. Im Gegensatz zu Jilly benutzte sie kein Augen-Make-up, und sie hatte im Zimmer ihrer Schwester auch keinerlei Make-up finden können. Deshalb hatte sie sich mit dem eigenen rosafarbenen Lippenstift, den sie nur selten auftrug, begnügen müssen. Jilly hingegen schminkte die Lippen immer grellrot, tuschte die Wimpern und trug Lidschatten auf.

Es war kein Wunder, dass Signor Saracino von Verkleidung und dezenterer Aufmachung geredet hatte.

Ich muss mich mehr anstrengen, mich so bewegen wie meine Schwester, so reden wie sie und mich so benehmen wie sie, ermahnte Milly sich. Wenn sie es nicht tat, würde es früher oder später jemandem auffallen, dass etwas nicht stimmte. Bei dem Gedanken wurde Milly ganz nervös, und sie ging langsam in die riesige Eingangshalle zurück.

Dort wartete Signor Saracino schon auf sie. „Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollten hier warten“, fuhr er sie an.

Egal wie Jilly auf diesen schrecklichen Kerl reagiert hatte, Milly war nicht bereit, sich von ihm behandeln zu lassen, als wäre sie ein kleines Dummchen. „Ja, da haben Sie recht“, stimmte sie ihm betont nachsichtig zu und fügte mit ernster Miene hinzu: „Ich musste leider kurz das Badezimmer benutzen. Jetzt möchte ich mich bei Großmutter entschuldigen.“

„Für Sie ist sie nicht einfach nur ‚Großmutter‘, sondern immer noch Signora Saracino. Wenn Sie mit ihr allein sind, können Sie sie weiterhin mit Filomena anreden!“ Er verzog verächtlich die Lippen, während er Milly unsanft am Arm packte und sie in das luxuriös möblierte Wohnzimmer zog. Dass er ihr mit der Zurechtweisung sehr geholfen hatte, ahnte er nicht.

Die Türen zur Veranda standen weit offen und ließen die warme Frühlingsluft hinein. Milly beachtete die großartige Umgebung jedoch kaum und konzentrierte sich auf die ältere Dame, die in einem Sessel saß. Sie wirkte sehr zerbrechlich und strahlte übers ganze Gesicht.

„Jilly, du dummes Mädchen!“, rief sie erfreut aus und streckte die Hände aus. „Wie konntest du einfach verschwinden, ohne mir etwas zu sagen? Komm her, lass dich ansehen.“

Milly glaubte, Signor Saracinos Blick im Rücken zu spüren, und sie fühlte sich sehr unbehaglich, während sie auf seine Großmutter zuging. Wenn ich jetzt den kleinsten Fehler mache, fliegt der ganze Schwindel auf, und Filomena Saracino entlarvt mich als Betrügerin, schoss es ihr durch den Kopf.

Dann nahm die ältere Dame ihre Hände und begrüßte Milly so herzlich und liebevoll, dass sie hätte weinen können. Die Zuneigung galt nicht ihr, sondern ihrer Schwester. Jilly, diese strahlende junge Frau, brauchte nur ihren Charme spielen zu lassen, und schon flogen ihr alle Herzen zu.

„Du hast dein Haar abschneiden lassen. Warum, mein Kind?“

Milly errötete prompt, und das war etwas, was ihrer Schwester nie passierte. Milly widerstrebte es, diese freundliche und liebenswerte ältere Dame zu belügen, und hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Deshalb atmete sie tief durch, ehe sie erwiderte: „Ach, ich fand das lange Haar auf einmal sehr unpraktisch.“ Hinter ihr räusperte sich Signor Saracino, und Milly wusste natürlich, warum. Er war der Überzeugung, sie hätte ihr Aussehen verändert, um von ihm nicht so leicht gefunden zu werden.

„Es steht dir gut. So siehst du jünger aus. Stimmt’s, Cesare?“ Seine Großmutter sah ihn an.

Er antwortete nicht, aber immerhin kannte Milly jetzt seinen Vornamen. Das war wichtig, damit das Lügengebäude nicht einstürzte. Sie hatte ein schlechtes Gewissen und verachtete sich wegen des Spiels, das sie ihrer Schwester zuliebe spielte.

Signora Saracino ließ Millys Hände los und forderte sie auf: „Zieh den Sessel heran, und setz dich neben mich. Dann erzählst du mir, weshalb du so plötzlich nach Hause fliegen musstest.“

Schweigend schob Cesare einen Sessel näher zu seiner Großmutter heran, ehe er den Raum durchquerte und sich an die Kaminverkleidung aus Marmor lehnte.

Er schien völlig entspannt zu sein, doch der Eindruck täuschte. Mit Argusaugen beobachtete er Milly, ihm entging nichts. Sie ließ sich in den Sessel sinken, den er ihr zurechtgerückt hatte, und zog den Rock über die Knie. Ihr war klar, dieser Mann wollte sich vergewissern, dass sie nichts Falsches sagte, was seine Großmutter irritierte oder aufregte.

„Es war offenbar sehr wichtig“, mutmaßte Filomena. „Sonst wärst du bestimmt nicht verschwunden, ohne dich zu verabschieden und ohne mich irgendwann anzurufen.“ Ihre Stimme zitterte etwas. „Ich habe dich wirklich vermisst. Ohne dich kamen mir die Tage so grau und lang vor.“ Ihre Augen, die kurz zuvor noch geleuchtet hatten, verloren den Glanz. „Wärst du zurückgekommen, wenn Cesare nicht hinter dir hergeflogen und dich gesucht hätte?“

Was soll ich darauf antworten? überlegte Milly leicht verzweifelt.

„Reg dich bitte nicht auf, Großmutter“, mischte Cesare sich glücklicherweise ein und warf Milly einen so kühlen und verächtlichen Blick zu, dass sie insgeheim erbebte. „Ich weiß, dass Jilly dir alles erklären und dich beruhigen kann.“ An Milly gewandt fügte er hinzu: „Das stimmt doch, Jilly, oder?“

Es klang wie eine Warnung.

4. KAPITEL

Das Gurren der Tauben jenseits der Terrasse kam Milly in der erwartungsvollen Stille, die plötzlich im Raum herrschte, unnatürlich laut vor. Sie schluckte und betrachtete ihre kurzen Fingernägel. Um sie zu verbergen, ballte sie die Hände zu Fäusten, denn Jilly kannte man nur mit langen, gepflegten und lackierten Nägeln.

Eine Familienkrise zu erfinden kam für Milly nicht infrage. Sie wollte nicht mehr Lügen erzählen als unbedingt nötig. Außerdem hatte es in der letzten Zeit in ihrem Leben genug Krisen gegeben. Ihre Mutter war gestorben, ihre Schwester war verschwunden, und Cesare Saracino hatte sie gezwungen, mit ihm nach Italien zu fliegen.

Der Tod ihrer Mutter vor etwas über einem Monat war das Schlimmste gewesen, was Milly hatte passieren können. Sie war noch längst nicht darüber hinweg, und der Schmerz über den Verlust war immer noch unerträglich. Manchmal hatte sie sogar das Gefühl, es sei erst gestern geschehen. Deshalb war ihre Verzweiflung nicht gespielt, als sie flüsterte: „Meine Mutter ist völlig unerwartet gestorben.“ Und dann konnte sie sich nicht mehr beherrschen, ihr liefen Tränen über die Wangen. Dass sie Jilly nicht hatte benachrichtigen können und ihre Schwester nicht zur Beerdigung gekommen war, um ihrer Mutter das letzte Geleit zu geben, war für Milly sehr bedrückend.

„Oh, meine Liebe, das tut mir leid. Es war sicher ein Schock für dich.“ Filomena beugte sich vor und nahm Millys Hände, während sie sie mitfühlend ansah. „Ich schäme mich, dass ich mich beschwert habe. Natürlich warst du verwirrt und aufgewühlt und hast in deinem Kummer nicht daran gedacht, dich zu verabschieden oder mich anzurufen. Das kann ich gut verstehen. Verzeih mir, dass ich an deiner Absicht, zurückzukommen, gezweifelt habe.“

Milly unterdrückte ein Schluchzen und erwiderte: „Natürlich verzeihe ich Ihnen das.“ Mehr brachte sie nicht heraus.

Filomena warf ihrem Enkel einen scharfen Blick zu. „Hoffentlich hat Cesare keinen Druck ausgeübt und dich dazu gedrängt, zurückzukommen, ehe du selbst bereit dazu warst.“

Ehrlicherweise hätte Milly zugeben müssen, dass Cesare Saracino sogar großen Druck ausgeübt hatte. Aber ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr die ältere Dame fort: „Ich erinnere mich, dass du einmal erzählt hast, deine jüngere Schwester sei sehr praktisch veranlagt, etwas schwerfällig, unsensibel und fantasielos. Kommt sie jetzt allein zurecht? Ohne dich wird sie sich in der ersten Zeit nach diesem schmerzlichen Verlust sehr einsam fühlen.“

„Sie schafft das schon“, versicherte Milly ihr. Sie war wie vor den Kopf geschlagen. Dass Jilly sie als ihre kleine Schwester bezeichnete, konnte sie noch nachvollziehen. Jilly war immer die Mutigere gewesen. Doch dass diese sie als praktisch veranlagt, schwerfällig, unsensibel und fantasielos beschrieb, tat sehr weh.

Cesare stellte sich hinter den Sessel seiner Großmutter und blickte Milly nachdenklich an. Und das machte alles noch viel schlimmer.

Lächelnd schlug die ältere Dame vor: „Deine Schwester ist herzlich eingeladen, bei uns Urlaub zu machen. Vielleicht kann sie schon nächsten Monat kommen? Im Mai ist es noch nicht so heiß. Es wird euch beiden guttun, und mir wird es großen Spaß machen, zwei junge Frauen in meiner Nähe zu haben, die mir Gesellschaft leisten.“ Als Milly sie entsetzt ansah, fügte sie hinzu: „Ich erwarte natürlich nicht, dass ihr beide euch ständig um mich kümmert. Du kannst eins unserer Autos nehmen, ihr die Umgebung zeigen und mit ihr zum Einkaufen fahren. Ruf doch deine Schwester an, damit sie weiß, dass du gut angekommen bist. Sprich mit ihr über den Urlaub.“ Filomena erhob sich steif. „Ich möchte mich jetzt hinlegen und mich ausruhen. Das solltest du auch tun. Wir sehen uns beim Abendessen.“

Cesare reichte ihr den Spazierstock. Dann wandte er sich an Milly und sagte etwas auf Italienisch, was sie natürlich nicht verstand. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Sie biss sich auf die Lippe und erinnerte sich daran, dass Jilly auf einer ihrer Ansichtskarten erwähnt hatte, sie hätte ihre Sprachkenntnisse verbessert. Würde die Täuschung schon nach so kurzer Zeit auffliegen? Milly wusste nicht, was sie sagen oder machen sollte und schwieg.

„Bitte, Cesare“, half Filomena ihr, ohne es zu ahnen, aus der Klemme, „du kennst doch die Regeln. In Jillys Gegenwart sprechen wir nur Englisch.“

„Du hast recht“, räumte er sogleich ein. Mit einem angedeuteten Lächeln und einem geradezu eisigen Blick wandte er sich wieder an Milly. „Entschuldigen Sie. Ich werde meine Frage auf Englisch wiederholen. Sie können mir die Telefonnummer in England nennen, unter der Ihre Schwester zu erreichen ist. Ich stelle schon die Verbindung her, und Sie sprechen dann mit ihr.“

„Das ist nicht nötig, vielen Dank“, entgegnete Milly höflich. „Meine Schwester rufe ich später an. Sie arbeitet und ist tagsüber nicht zu Hause. Ich begleite Signora Saracino in ihr Schlafzimmer.“

Erleichtert darüber, die Schwierigkeiten mit viel Glück überwunden zu haben, begleitete sie die ältere Dame in ihre Suite im Erdgeschoss. Dann half sie ihr, sich hinzulegen, und musste ihr versprechen, sich auch bis zum Abendessen auszuruhen.

Da sich Milly den Weg zu Jillys Zimmer gut eingeprägt hatte, fand sie den Raum mühelos wieder. Sie setzte sich auf das breite Bett und stützte den Kopf in die Hände.

Zu Hause in England war es ihr nur darauf angekommen, ihre Schwester, die bestimmt völlig unschuldig war, davor zu bewahren, wie eine Kriminelle behandelt zu werden. Das Täuschungsmanöver hatte Milly schon allein deshalb für nötig gehalten, um Zeit zu gewinnen und ihre verschwundene Schwester zu finden. Sie wollte Jilly warnen und ihr die Gelegenheit geben, alles richtigzustellen.

Cesare, dieser hartherzige Mann, sollte Jilly nicht als Erster finden. Er würde gar nicht zuhören, was sie zu ihrer Verteidigung zu sagen hatte, und sie ohne zu zögern anzeigen.

Und das wollte Milly verhindern. Doch dieser Betrug machte sie ganz krank, und sie schämte sich zutiefst, dass sie sich für die fragwürdige Sache hergegeben hatte. Cesare etwas vorzuspielen machte ihr weniger aus. Er war ein gemeiner Kerl, denn er hatte ihrer Schwester das Herz gebrochen. Jilly hatte mit ihm geschlafen, weil er sie in dem Glauben gelassen hatte, er würde sie heiraten. Dann hatte er sie kaltblütig sitzen lassen. Nur deshalb war Jilly verschwunden, davon war Milly überzeugt.

Aber diese liebenswerte ältere Dame zu täuschen fand sie unverzeihlich. Es belastete Millys Gewissen, und sie nahm sich vor, reinen Tisch zu machen.

Nachdem Cesare das zweite Telefongespräch beendet hatte, drehte er sich mit dem Bürostuhl herum und blickte zu dem hohen, breiten Fenster hinaus auf den gepflegten Rasen. Die Sonne näherte sich dem Horizont, und die Schatten wurden länger. Die Hügel in der Ferne mit den terrassenförmig angeordneten ockerfarbenen Häusern und Gehöften waren in einen Dunstschleier gehüllt.

Mit gerunzelter Stirn atmete er tief ein und drehte sich wieder zum Schreibtisch um. Normalerweise beruhigte ihn der Blick aus dem Fenster, heute jedoch nicht. Schließlich nahm er das Adressbuch in die Hand.

Die Gesellschafterin seiner Großmutter gab ihm Rätsel auf. Jilly Lee war eine Betrügerin, das wusste er natürlich. Aber einiges stimmte hier nicht. Sie verhielt sich momentan sehr untypisch, war ruhig und zurückhaltend und nicht mehr so vorlaut, lebhaft und temperamentvoll wie zuvor. Auch ihre Fingernägel waren kürzer und nicht lackiert.

Dafür gab es vielleicht Erklärungen. Er hatte sie überrumpelt und gezwungen, mit ihm zurückzufliegen und das Geld, das sie gestohlen hatte, abzuarbeiten. Hinzu kam, dass sie nach dem Tod ihrer Mutter noch sehr deprimiert war. Das stand außer Zweifel. Ihr Kummer war echt und nicht gespielt.

Aber Cesare täuschte sich selten in der Beurteilung eines Menschen, und er war zu dem Schluss gekommen, dass Jilly Lee eine oberflächliche, egoistische Frau war, die zu keinen tieferen Gefühlen fähig war. Sie konnte sich doch nicht innerhalb so kurzer Zeit so grundlegend verändert haben, oder?

Da war noch etwas. Als er Italienisch mit ihr gesprochen hatte, hatte sie ihn nur verständnislos angeblickt, was sehr seltsam war, denn Jilly beherrschte die Sprache beinahe perfekt.

Seine Großmutter hatte darauf bestanden, in Jillys Gegenwart nur Englisch zu sprechen, weil sie ihre Sprachkenntnisse hatte auffrischen wollen. Doch ihre Gesellschafterin hatte mit dem Personal immer Italienisch gesprochen, genauso wie mit ihm, wenn sie mit ihm allein gewesen war.

Warum hatte sie ihn dann nicht verstanden, als er sie nach der Telefonnummer ihrer Schwester gefragt hatte? Nein, hier stimmte wirklich etwas nicht.

Das Rätsel musste gelöst werden. Er hatte zwei Privatdetektive beauftragt, einer von ihnen hatte Jilly Lees Adresse in England ausfindig gemacht, und der andere suchte in Italien nach der jungen Frau.

Aber Cesare konnte auch selbst etwas tun, um der Sache auf den Grund zu gehen. Er zog das Telefon zu sich heran, griff nach dem Hörer und wählte eine Nummer.

Während des Abendessens fühlte Milly sich nicht in der Verfassung, die schöne Umgebung, die köstlichen Gerichte, den ausgezeichneten Wein, die Kristallgläser, das kostbare Porzellan und die silbernen Bestecke gebührend zu würdigen.

Es belastete sie zu sehr, dass sie Filomena etwas vorspielte, und sie hatte sich entschlossen, ihr alles zu gestehen. Das würde sie jedoch nicht in Gegenwart dieses attraktiven und zynischen Mannes tun. Er würde in Zorn geraten und sowieso nicht hören wollen, was sie zur Verteidigung ihrer Schwester vorzubringen hatte. Filomena hingegen würde sich alles anhören, dessen war sich Milly sicher.

„Du bist heute Abend in guter Form“, stellte Cesare unvermittelt fest, nachdem er seine Großmutter, die unbekümmert und munter plauderte, eine Zeit lang beobachtet hatte.

Sie hob das Glas und antwortete: „Ja, weil meine liebe Jilly wieder hier ist, um mir Gesellschaft zu leisten und mir die Langeweile zu vertreiben.“

„Offenbar kann ich dir die Langeweile nicht vertreiben“, entgegnete er.

„Doch, natürlich kannst du das.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Aber es ist etwas anderes, mit einer Frau zu reden. Außerdem warst du meist geschäftlich unterwegs. Doch ich muss zugeben, in der letzten Zeit bist du öfter zu Hause.“ Wieder zwinkerte sie und lächelte verständnisvoll.

Hat Filomena gemerkt, dass Jilly und Cesare eine Affäre hatten, und vielleicht genau wie Jilly gehofft, die beiden würden heiraten? überlegte Milly.

Die ältere Dame hatte Jilly offenbar sehr gern. Wahrscheinlich hatte ihre Schwester wieder einmal ihren ganzen Charme aufgeboten. Auch Filomena würde es für ausgeschlossen halten, dass Jilly ihre Unterschrift auf den Schecks gefälscht hatte. Es würde bestimmt eine harmlose Erklärung für die ganze Sache geben.

Milly sah auf und begegnete Cesares durchdringendem Blick. Sein leichtes Lächeln wirkte so verführerisch, dass sich die seltsamsten Gefühle in ihr ausbreiteten, genau wie zuvor, als er zu ihr ins Zimmer gekommen war.

Er hatte kurz angeklopft und die Tür sogleich geöffnet, während Milly in ihren schlichten Dessous vor dem Bett gestanden hatte. Sie war vor Verlegenheit errötet, hatte schnell nach dem schwarzen Seidenkleid ihrer Schwester gegriffen und es vor sich gehalten. „Was wollen Sie?“, stieß sie verwirrt und verlegen hervor.

Betont ungezwungen lehnte er sich an den Türrahmen. In dem hellen Dinnerjacket und der perfekt sitzenden schwarzen Hose wirkte er ungemein sexy. Kein Wunder, dass Jilly sich in diesen herzlosen, gemeinen Kerl verliebt hat, dachte Milly, während sie das Kleid krampfhaft festhielt.

„Ich wollte Sie nur daran erinnern, dass wir meiner Großmutter zuliebe immer schon um halb acht essen – falls Sie es vergessen haben. Sie müssen sich beeilen, wenn Sie nicht zu spät kommen wollen“, erklärte er spöttisch.

„Ich habe nichts vergessen, sondern bin eingeschlafen und zu spät wach geworden“, behauptete sie. Dass sie zu viel Zeit damit verbracht hatte, alles zu durchsuchen in der Hoffnung, irgendwelche Hinweise darauf zu finden, wo Jilly sich aufhielt und was sie vorhatte, durfte er nicht erfahren. Sie hatte jedoch nichts gefunden. Nachdem sie ein heißes Bad genommen hatte, hatte sie das schwarze Kleid aus dem Schrank genommen, das jemand vom Personal zusammen mit den anderen Sachen ausgepackt hatte. Anschließend hatte sie nach unten gehen und Filomena die Wahrheit sagen wollen.

„Wenn Sie mich nicht endlich allein lassen, damit ich mich anziehen kann, komme ich noch später“, fuhr sie angespannt fort und wünschte, er würde verschwinden.

„Ich warte lieber hier auf Sie.“ Wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, betrat er das Zimmer. Mit hocherhobenem Kopf und verächtlicher Miene sah Milly ihn an. Dann ging sie rückwärts ins Badezimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

Für wen hält er sich? fragte sie sich zornig. Ihre Absicht, seiner nichts ahnenden Großmutter noch vor dem Essen die Wahrheit zu sagen, konnte sie vergessen. Doch morgen würde sie wahrscheinlich lange genug mit Filomena allein sein und in aller Ruhe mit ihr reden können, obwohl es Milly lieber gewesen wäre, sie hätte ihr Gewissen noch heute Abend erleichtern können.

Cesare ahnte offenbar noch nichts. Sonst hätte er sie längst hinausgeworfen und alle Türen hinter ihr verschlossen und verriegelt.

Mit einem Blick in einen der vielen vom Boden bis zur Decke reichenden Spiegel stellte Milly fest, dass ihre Wangen vor lauter Zorn und Frustration gerötet waren. Ärgerlich versuchte sie, den langen Reißverschluss im Rücken hochzuziehen, was ihr jedoch nicht gelang.

„Lassen Sie mich das machen“, ertönte plötzlich Cesares Stimme hinter ihr. Ohne zu zögern, zog er den Reißverschluss hoch. Als er dabei federleicht mit den Fingern ihre Haut berührte, bekam Milly eine Gänsehaut. „Ich hatte schon befürchtet, Ihnen sei etwas zugestoßen.“ Er verzog spöttisch die Lippen und musterte sie ungeniert von Kopf bis Fuß.

Milly war empört über das Verhalten dieses Mannes. Wie die meisten Outfits, die Jilly besaß, war auch dieses Kleid hauteng. Milly hingegen trug lieber weitere und unauffällige Outfits, die ihre üppigen Brüste, die wohlgerundeten Hüften und die schmale Taille nicht betonten. Zu ihrem Entsetzen zeichneten sich ihre aufgerichteten Brustspitzen deutlich unter dem feinen Material des Kleides ab.

Weshalb sie so auf ihn reagierte, wusste sie selbst nicht. Es störte sie sehr, dass sie sich nicht besser unter Kontrolle hatte.

Rasch hatte sie sich umgedreht und war an Cesare vorbei ins Schlafzimmer gegangen. Dann war sie in Jillys hochhackige Schuhe geschlüpft und ihm nach unten ins Esszimmer gefolgt.

Jetzt saß sie mit ihm und seiner Großmutter am Tisch und empfand es als sehr anstrengend, auf Filomenas Geplauder einzugehen und so zu tun, als würde sie das Essen genießen. Als es endlich beendet war, lehnte sich Cesare mit dem Glas Wein in der Hand entspannt und zufrieden auf dem Stuhl zurück.

An der Unterhaltung hatte er sich kaum beteiligt. Aber er hatte Milly aufmerksam beobachtet, sodass sie vor lauter Unbehagen am liebsten im Erdboden versunken wäre. Schließlich kam eine untersetzte und ganz in Schwarz gekleidete Frau mit dem Kaffee herein. Filomena stand auf und erklärte: „Für mich bitte keinen Kaffee mehr, Maria. Ich möchte mich nach diesem aufregenden Tag früh hinlegen.“

Sofort stand auch Cesare auf und drückte seine Großmutter wieder auf den Stuhl. „Bleib noch einen Augenblick sitzen. Ich möchte dir etwas mitteilen.“

„Etwas Angenehmes?“, fragte sie lächelnd.

„Ja, es wird dir gefallen“, antwortete er liebevoll. „Amalia kommt morgen und möchte zwei Wochen hierbleiben.“

„Amalia kommt? Ach, wie schön.“ In den Augen der älteren Dame leuchtete es auf vor Freude, und sie lächelte Milly an. „Die Contessa di Moroschini ist meine älteste Freundin. Sie wird dir gefallen.“

„Da ist noch etwas, Großmutter. Da du vollauf mit Amalia beschäftigt sein wirst, möchte ich Jilly für eine Woche mit auf die Insel nehmen, damit sie sich von den Strapazen der letzten Zeit erholen kann. Vorausgesetzt natürlich, du bist damit einverstanden.“

Vor Entsetzen war Milly sprachlos, und ihr schauderte.

„Das ist eine wunderbare Idee.“ Mit zufriedener Miene stand Filomena noch einmal auf, und Milly fühlte sich in ihrer Vermutung bestätigt. Die Signora Saracino wusste Bescheid über die Affäre ihres Enkels mit Jilly und schien zu hoffen, dass es ein Happy End geben würde. Irgendwann musste Milly sie eines Besseren belehren und ihr eröffnen, dass ihr ach so wunderbarer Enkel Jilly nur benutzt hatte und sie mit gebrochenem Herzen die Flucht ergriffen hatte. Doch das hatte Zeit bis später, sie wollte der älteren Dame die Freude über den bevorstehenden Besuch ihrer Freundin nicht verderben.

„Ich begleite Sie.“ Milly erhob sich. Sie wollte endlich reinen Tisch machen und Filomena verraten, wer sie wirklich war, ohne das schäbige Verhalten ihres Enkels zu erwähnen.

„Nein, das ist nicht nötig.“ Die ältere Dame ging zur Tür. „Ich komme allein zurecht. Trinkt ihr beide in aller Ruhe den Kaffee. Vor der Reise habt ihr sicher noch einiges zu besprechen.“

Milly setzte sich wieder hin und nahm resigniert die Tasse Kaffee entgegen, die Cesare ihr reichte. Sie wollte mit ihm nicht auf eine Insel fliegen. Jilly wäre sicher begeistert gewesen über den Vorschlag und die vermeintliche Chance, eine Versöhnung herbeiführen zu können. Milly war ratlos und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte.

Cesare trank den Kaffee aus, stellte die Tasse auf den Tisch und erklärte: „Wir fahren um halb sieben ab. Sie sollten pünktlich fertig sein.“ Dann verließ er ohne ein weiteres Wort den Raum.

Milly erbebte. Der Gedanke, mit ihm eine Woche auf einer Insel festzusitzen, ohne ihre Schwester suchen und Filomena auf ihre Seite bringen zu können, verursachte ihr Übelkeit. Wahrscheinlich würde Cesare mit ihr Italienisch sprechen wollen, und dann würde der ganze Schwindel sowieso auffliegen. Er würde herausfinden, dass sie nicht Jilly war. Und es war nicht auszudenken, was dann passieren würde.

5. KAPITEL

Das Rätsel war gelöst. Cesare wusste jetzt, warum die junge Frau ihn nur verständnislos angeblickt hatte, als er Italienisch mit ihr gesprochen hatte, und warum es ihr so peinlich gewesen war, als er in ihr Zimmer gekommen war und sie in ihren Dessous überrascht hatte. Jilly hätte eine solche Situation ohne zu zögern ausgenutzt.

Insgeheim triumphierte er, während er den Hubschrauber auf dem Landeplatz aufsetzte, der auf der westlichen Seite der kleinen Insel lag, die ihm gehörte. Von dem Felsplateau aus hatte man einen herrlichen Blick über das azurblaue Meer bis hin zur Insel Elba in der Ferne.

Er wartete, bis die Rotorblätter zum Stillstand kamen, und betrachtete Milly aus zusammengekniffenen Augen.

Was war sie doch für eine miese kleine Betrügerin. Glaubte sie etwa, sie würde damit durchkommen? Weshalb hatte sie sich überhaupt auf dieses Spiel eingelassen?

Er hatte sich entschlossen mitzuspielen und war gespannt darauf, wie weit sie gehen würde.

In verkrampfter Haltung saß Milly da. Zu dem blauen Seidentop trug sie enge weiße Jeans. Seit sie die Villa verlassen hatten, hatte sie kein Wort gesprochen. Sie hatte noch nicht einmal gefragt, wohin sie flogen. Die verführerischen Lippen hatte sie wie ein Teenager zu einem Schmollmund verzogen. Ihr wachsamer Blick verriet, dass sie auf der Hut war und ihr die Situation nicht behagte.

Wahrscheinlich befürchtete sie, dass der Schwindel aufflog und früher oder später jemand merkte, wie wenig sie mit ihrer Schwester gemeinsam hatte außer der auf den ersten Blick verblüffenden Ähnlichkeit.

Als er kurz vor dem Abflug den Anruf des Privatdetektivs aus England erhalten hatte, war Cesare zornig, aber nicht überrascht gewesen. Ihm war schon während des Flugs von England nach Pisa und auf der Fahrt in die Villa immer klarer geworden, dass diese junge Frau nicht Jilly sein konnte.

Jilly Lee hatte eine Zwillingsschwester, Milly Lee, die ihr angeblich zum Verwechseln ähnlich sah, wie der Privatdetektiv berichtet hatte. Im ersten Moment hatte Cesare dieser Betrügerin in seinem Zorn die Meinung sagen und sie einfach auf dem Flugplatz auf dem Festland stehen lassen wollen. Hätte sie doch selbst sehen sollen, wie sie nach England zurückkam. Dann aber hatte seine Vernunft die Oberhand gewonnen.

Er hatte es seiner Großmutter nicht antun wollen, ohne Milly nach Hause zu kommen. Es wäre ein harter Schlag für die ältere Dame gewesen. Sie war momentan so ausgesprochen glücklich, und er wollte ihr die Freude über den Besuch der Freundin nicht verderben. Außerdem war sie offenbar auch erfreut darüber, dass Cesare mit ihrer jungen Gesellschafterin eine Woche auf der einsamen Insel verbringen wollte. Da sie sich wünschte, er würde endlich heiraten, versprach sie sich offenbar viel von dieser Kurzreise.

Seine Großmutter war alt, gebrechlich, und er liebte sie sehr. Deshalb nahm er jede erdenkliche Rücksicht und beschloss, sie noch nicht mit diesen unerfreulichen Neuigkeiten zu belasten.

Ursprünglich hatte er auf der Insel das Rätsel, das Milly ihm aufgegeben hatte, lösen wollen. Da sich jedoch alles aufgeklärt hatte, beschloss er, sich auf ihre Kosten zu amüsieren. Sie war ihm etwas schuldig. Und wenn sie es am wenigsten erwartete, wollte er ihr ins Gesicht sagen, dass er alles wusste. Vielleicht würde sie ihm dann vor lauter Entsetzen verraten, wo sich ihre Schwester aufhielt, falls die Privatdetektive in England und Italien Jilly bis dahin noch nicht aufgespürt hatten.

„Sie können aussteigen.“ Seine Stimme klang sanft, während er mit verächtlicher Miene ihr schönes Profil betrachtete.

Die beiden Schwestern sahen sich äußerlich wirklich zum Verwechseln ähnlich. Aber Milly wirkte weicher und seltsam verletzlich, Eigenschaften, die Jilly nicht hatte. Mit dem schulterlangen blonden Haar und den wunderschönen grünen Augen sah sie beinah aus wie ein Kind. Doch ihre vollen Brüste, die schmale Taille und die wohlgerundeten Hüften hatten ganz und gar nichts Kindliches.

Die Zwillinge waren sehr schöne Frauen, hatten jedoch einen schlechten Charakter. Milly war wahrscheinlich genauso hinterhältig und berechnend wie ihre Schwester.

Sie antwortete nicht, sondern nickte nur leicht mit dem Kopf, ehe sie zögernd den Sicherheitsgurt löste.

Fühlte sie sich unbehaglich? Dazu hatte sie auch allen Grund. Vermutlich rechnete sie damit, dass er Italienisch mit ihr sprach, und dann wäre sie gezwungen, ihre Identität preiszugeben. Sie war bestimmt außer sich vor Angst und befürchtete das Schlimmste.

Als er aus dem Hubschrauber sprang und seine Füße den Boden berührten, lächelte er triumphierend. Er nahm sich vor, Milly langsam die Angst zu nehmen und sie dazu zu bringen, sich in Sicherheit zu wiegen. Erst dann würde er sie mit der Wahrheit konfrontieren. Das war nicht fair, wie er sich eingestand, doch niemand durfte seine Großmutter ungestraft betrügen. Das würde er nie zulassen.

Vor Angst schlug Milly das Herz bis zum Hals. Völlig aufgewühlt und durcheinander sah sie Cesare dabei zu, wie er ihren alten Koffer und seinen Rucksack aus dem Hubschrauber beförderte. Er hängte sich den Rucksack über die Schulter, nahm den Koffer in die Hand und ging Milly voraus über den steinigen Pfad. Sie hatte keine Wahl, sie musste ihm folgen.

Warum er mit ihr eine Woche auf der Insel verbringen wollte, konnte sie nicht sagen. Doch egal was seine Gründe waren, es verhieß nichts Gutes. Cesare hielt sie für eine Diebin, eine Betrügerin, und in ihrer Rolle als Jilly hatte sie nicht versucht, sich zu verteidigen und alles abzustreiten, so wie es Jilly zweifellos getan hätte. Stattdessen hatte Milly zu den Vorwürfen geschwiegen, weil sie es für die einzige Möglichkeit gehalten hatte, ihre Schwester davor zu bewahren, von diesem rachsüchtigen Mann angezeigt und vor Gericht gezerrt zu werden.

Sie hatte das beängstigende Gefühl, alles würde bald herauskommen und Cesare würde sie früher oder später durchschauen und wieder Jagd auf Jilly machen. Er brauchte jetzt nur mit ihr Italienisch zu sprechen, dann war alles aus. Ihr war bewusst, wie kläglich sie versagt hatte und dass sie ihrer Schwester keinen Gefallen getan hatte. Sie war so sehr in die bedrückenden Gedanken versunken, dass sie nicht auf den Weg achtete. Prompt stolperte sie, schrie leise auf und fiel der Länge nach hin. Atemlos lag sie da in der heißen Sonne und wurde Sekunden später von zwei starken Händen hochgehoben. Was für eine Demütigung!

„Sind Sie verletzt?“

Milly rang nach Atem. In ihren Augen schimmerten Tränen, sie schluckte und schüttelte den Kopf. Dann liefen ihr zwei Tränen über die Wangen. Cesares Stimme hatte sich so angehört, als wäre er um sie besorgt. Und auch als er sie aus zusammengekniffenen Augen musterte, wirkte er leicht beunruhigt.

Er legte die Hände auf ihre Schultern, eine beruhigende und tröstliche Geste, wie Milly fand. Plötzlich verspürte sie das seltsame Verlangen, sich an ihn zu schmiegen und den Kopf an seiner muskulösen Brust zu bergen.

Eine solche Schwäche durfte sie sich jedoch nicht erlauben. Er war der Gegner ihrer Schwester, und somit auch ihr Gegner. Schnell nahm sie sich zusammen und wischte die Tränen weg. Jilly würde jetzt fluchen und dann über ihr Missgeschick scherzen. Ich spiele meine Rolle ziemlich schlecht, ich muss mir mehr Mühe geben, mahnte Milly sich.

„Nein, es ist alles in Ordnung. Ich habe nicht auf den Weg geachtet.“ Sie zauberte ein Lächeln auf die Lippen, hob den Kopf und überlegte, was Jilly als Nächstes sagen würde. „Wie weit ist es noch? Gibt es hier keine Taxis oder dergleichen?“ Ihre Schwester ging nicht gern zu Fuß und benutzte bei jeder Gelegenheit ein Taxi.

Cesare verzog spöttisch die Lippen und antwortete: „Außer einem einzigen kleinen Cottage gibt es nichts auf der Insel, weder Menschen noch Straßen noch sonst irgendetwas.“ Er zog die Hände zurück, drehte sich um und schlenderte weiter über den steinigen Pfad zu dem Gepäck, das er abgestellt hatte. Dann wartete er, bis Milly ihn eingeholt hatte. „Mein Vater hat es vor vielen Jahren bauen lassen, nachdem er die Insel gekauft hatte. Er war ein Workaholic und zog sich mindestens einmal im Jahr hierhin zurück, um neue Kräfte zu tanken.“

„Sie haben sicher schöne Kindheitserinnerungen“, erwiderte Milly. Sie war verblüfft darüber, dass er überhaupt eine so persönliche Bemerkung machte, und versuchte sich unter den schwierigen Umständen so normal wie möglich zu verhalten. Was geschehen würde, wenn er sie durchschaute, wagte sie nicht sich auszumalen. Jedenfalls traute sie ihm zu, dass er sie in seinem Zorn ganz allein auf der Insel zurückließ.

Er verzog verächtlich die Lippen und erklärte: „Meine Mutter war nie hier. Sie war eine Großstädterin. Mein Vater brachte seine jeweilige Geliebte mit auf die Insel, und dabei konnte er mich nicht gebrauchen. Erst nach seinem Tod habe ich von der Existenz dieser Insel erfahren.“

Am liebsten hätte Milly ihm irgendetwas Nettes gesagt. Doch auf ihr Mitgefühl verzichtete er wahrscheinlich gern. Deshalb schwieg sie und konzentrierte sich auf den Pfad, der immer steiler wurde. Die Sonne schien heiß auf die vielen blühenden Pflanzen, deren Duft sich mit dem der Pinien und dem Geruch nach Meer vermischte. Weder die Hitze noch der steile Aufstieg schienen Cesare etwas auszumachen. Atemlos versuchte Milly, ihm zu folgen.

Wenn sein Vater keinen Hehl daraus gemacht hatte, dass er Freundinnen hatte, war er seinem Sohn kein gutes Vorbild gewesen. Man brauchte sich deshalb über Cesares Verhalten nicht zu wundern. Er schien es für normal zu halten, mit einer Frau zu schlafen und sie wegzuschicken, sobald er ihrer überdrüssig war.

Die arme Jilly, dachte Milly und betrachtete ihn. Beim Anblick seines von der leichten Brise, die vom Meer herwehte, zerzausten dunklen Haares überkam sie ein eigenartiges Gefühl. Er wirkte nicht mehr so unnahbar wie zuvor und nicht mehr wie der harte, rücksichtslose, weltgewandte Tycoon, als den sie ihn kennengelernt hatte. Es war durchaus verständlich, dass sich ihre Schwester, die bisher sehr flatterhaft gewesen war, Hals über Kopf und rettungslos in ihn verliebt hatte. Kaum eine Frau würde diesem Mann mit der faszinierenden Ausstrahlung widerstehen können.

„Wir haben es bald geschafft“, verkündete er.

Seine Stimme klang so seidenweich, dass es Milly heiß überlief. Hatte er etwa Mitleid mit ihr und wollte sie trösten? Sie blieb stehen und kniff die Augen zusammen. Sie waren oben auf dem Hügel angekommen, und vor ihnen lag ein bewaldetes Tal. Am Fuß des Hügels entdeckte Milly die kleine Bucht mit einem Sandstrand und das niedrige, weitläufige Haus. Es war das ideale Versteck für ein Liebespaar.

„Warum haben Sie mich hierher mitgenommen?“, fragte sie unvermittelt. Eigentlich wollte sie die Antwort gar nicht hören, denn sie wusste, sie würde ihr nicht gefallen. Doch die Ungewissheit zermürbte sie und zerrte an ihren Nerven.

„Warum wohl, Jilly?“

Sein Lächeln, seine ungemein verführerischen Lippen und das Leuchten in seinen schönen Augen, das erschreckend intim wirkte, verursachten ihr Herzklopfen. Sein Vater hatte dieses Haus auf der einsamen Insel bauen lassen, um ungestört mit seiner jeweiligen Geliebten zusammen sein zu können. Hatte Cesare ihr das nur deshalb erzählt, damit sie wusste, was ihr bevorstand?

Jilly und er waren ein Liebespaar gewesen, das war Milly klar. Beabsichtigte er etwa, die Beziehung wieder aufzunehmen? Sollte sie als eine Art Wiedergutmachung für den angeblichen Scheckbetrug mit ihm schlafen?

Ihr verkrampfte sich der Magen bei dem Gedanken, und die Beine drohten unter ihr nachzugeben. Das konnte er unmöglich planen. Und wenn doch? Was sollte sie dann machen?

Als er merkte, wie blass sie plötzlich wurde, musste Cesare lachen. Sie war eine schlechte Betrügerin, denn man sah ihr an, was sie dachte. Offenbar hatte sie begriffen, was er ihr hatte beibringen wollen, und war entsetzt. Wusste sie wirklich nicht, wie ihre Zwillingsschwester auf die indirekte Einladung reagiert hätte? Jilly wäre begeistert gewesen und hätte sich vor Freude auf ihn gestürzt.

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