Schönes Leben noch!

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"Auf Nimmerwiedersehen!" Die Worte von damals klingen Jill noch in den Ohren, als sie das Ortschild von Los Lobos wiedersieht. Ein untreuer Ehemann und ein verlorener Job lassen ihr allerdings keine andere Wahl, als an den Ort ihrer Kindheit zurückzukehren. Genau die gleiche Idee hatte auch MacKenzie Kendrick, ihre erste große Liebe. Der ehemalige Undercover-Cop ist vollkommen ausgelaugt und hofft, in dem verschlafenen Nest wieder zu Kräften zu kommen. Doch so verschlafen ist Los Lobos gar nicht. Ehe sie sich versehen, haben Jill und Mac mehr Drama in ihrem Leben als zu Großstadtzeiten. Mafiabosse, Sozialarbeiter, wütende Expartner und eine ziemlich aufgeweckte Achtjährige sorgen dafür, dass das zarte Pflänzchen der Liebe zwischen ihnen erst einmal starke Wurzeln ausbilden muss, bevor es richtig erblühen kann.


  • Erscheinungstag 20.03.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783955769864
  • Seitenanzahl 352
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
Someone Like You
Copyright © 2004 by Susan Macias Redmond
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto

Published by arrangement with
HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l

Titelabbildung: fcscafeine / GettyImages
Lektorat: Daniela Peter
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN eBook 9783955769864

www.harpercollins.de

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1. KAPITEL

I ch sehe aus wie ein Freak.“ Shelley ließ sich auf einen Stuhl fallen und versteckte das Gesicht in den Händen. „Ich sollte mich nur noch im Schutz der Dunkelheit nach draußen wagen, um keine kleinen Kinder zu erschrecken.“

Jill Strathern setzte sich neben ihre Assistentin und tätschelte ihr den Rücken. „Du bist kein Freak.“

„Stimmt.“ Shelley hob den Kopf und schniefte. „Das wäre eine Beleidigung für alle Freaks.“ Sie schluchzte.

„Das lässt sich alles ändern“, erinnerte Jill sie. „Du bist ja nicht für den Rest deines Lebens durch Narben entstellt oder so.“

„Meine Seele schon.“

„Ich denke, du wirst dich wieder vollständig erholen.“

Dessen war Jill sich sogar ganz sicher. Shelley war am Vorabend ganz aufgeregt direkt von der Arbeit zu ihrem Termin bei einem neuen, absolut angesagten Friseur gegangen. Sie hatte sich dezente Strähnchen färben und ein paar Stufen schneiden lassen wollen. Am Ende war sie mit einer verpfuschten Dauerwelle, ordinären orangefarbenen Strähnen und einem Schnitt herausgekommen, der sich nur als … unglücklich beschreiben ließ.

„Weißt du was? Ich habe eine tolle Idee.“ Jill stand auf, ging hinter ihren Schreibtisch und blätterte durch ihre Rollkartei. „Ich weiß genau, wer das wieder hinbiegen kann.“

Shelley sah auf. „Wer denn?“

„Anton.“

Zum ersten Mal an diesem Morgen atmete Shelley tief durch, und in ihren geröteten Augen schimmerte Hoffnung auf. „Anton? Du kennst ihn?“

Anton war – wie Madonna – so bekannt, dass er keinen Nachnamen brauchte. Zweifarbige Strähnchen und ein Styling kosteten bei ihm so viel wie ein Kleinwagen, aber die Reichen und Schönen schworen auf seine magischen Hände.

„Ich bin seine Anwältin“, erwiderte Jill grinsend. „Und jetzt werde ich ihn anrufen und ihm sagen, dass wir einen Haarnotfall haben. Ich bin sicher, dass er das wieder hinkriegt.“

Fünfzehn Minuten später hatte Shelley einen Termin für den frühen Nachmittag. Jill meinte, sie könne die Stunden einfach nachholen, indem sie die nächsten Tage früher käme.

„Du bist die Beste“, sagte Shelley und drehte sich im Gehen an der Tür noch einmal um. „Wenn ich jemals irgendwas für dich tun kann, lass es mich wissen. Das ist mein Ernst. Eine Niere spenden. Dein Baby austragen. Egal, was.“

„Du könntest dir die Mandanteninfo ansehen, die ich dir auf den Tisch gelegt habe“, antwortete Jill lachend. „Das ist das Erste, was morgen ansteht.“

„Natürlich. Mach ich sofort. Danke.“

Leise lachend wandte Jill sich wieder ihrem Computer zu. Wenn sich doch nur alle Probleme so leicht lösen ließen.

Zwei Stunden später sah sie von der Arbeit auf. Kaffee. Eine nette kleine Starthilfe, die meinem Gehirn zu funktionieren hilft. Sie stand auf und machte sich auf den Weg zu der zentral gelegenen Kantine, in der riesige Kannen voll flüssiger Energie warteten.

Auf dem Rückweg machte sie einen Abstecher zur anderen Seite des Gebäudes, wo ihr Ehemann sein Büro hatte. Er war ebenfalls Anwalt im dritten Jahr. In den letzten Wochen hatten sie beide so viel gearbeitet, dass sie einander kaum gesehen hatten. In ihrem Kalender stand für den Mittag kein Termin. Wenn es bei Lyle genauso aussah, könnten sie zusammen essen.

Seine Sekretärin war nicht da und seine Tür geschlossen. Jill klopfte nur einmal kurz, dann ging sie hinein. Sie bewegte sich leise, um ihn nicht zu stören, falls er telefonierte.

Und tatsächlich war er beschäftigt – wenn auch nicht mit Telefonieren. Jill blieb mitten im Raum stehen. Sämtliche Luft schien ihr aus der Lunge zu weichen, und die Kaffeetasse fiel auf den Teppich. Jill merkte gar nicht, dass sie sie losgelassen hatte, aber sie spürte, wie die warme Flüssigkeit gegen ihre Beine spritzte.

Ihr Ehemann, mit dem sie seit drei Jahren verheiratet war, mit dem sie zusammen lebte, zusammen arbeitete und für den sie kochte, stand neben seiner Anrichte. Sein Jackett hing über dem Stuhl, seine Hose baumelte um seine Knöchel, und er war vollends damit beschäftigt, seine Sekretärin zu vögeln. So beschäftigt, dass er Jill nicht einmal hatte reinkommen hören.

„Oh ja, Baby“, keuchte Lyle. „So ist es gut.“

Dafür sah die Frau sie. Sie wurde blass und schob Lyle schnell von sich.

Später sollte Jill sich an die Stille erinnern und daran, dass die Zeit langsamer zu verstreichen schien. Später sollte sie die Zettel vor sich sehen, die auf den Boden flatterten, als die Sekretärin sich von der Anrichte hochrappelte und die Unterhose hochzog. Später sollte sie den Wunsch verspüren, Lyle umzubringen. Doch im Augenblick konnte sie ihn nur ungläubig anstarren.

Das passiert in Wirklichkeit gar nicht, sagte sie sich. Er ist mein Ehemann. Er sollte doch mit mir schlafen.

„Nächstes Mal klopfst du besser an“, sagte er nur und bückte sich, um nach seiner Hose zu greifen.

Hab ich doch, dachte sie. Sie war viel zu perplex, als dass sie irgendetwas hätte fühlen können. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte hinaus.

Neunundvierzig Stunden und achtzehn Minuten später kam Jill zu dem Entschluss, dass Lyle es nicht wert war, sich lebendig zu begraben. Aber sie wollte sich unbedingt an ihm rächen. Nur hatte sie leider keine Ahnung, wie genau das aussehen sollte. Also gab sie sich vorerst mit der Vorstellung zufrieden, wie Lyle am Rand eines verlassenen Highways lag und nach Luft rang, während sie mit angenehmen einhundertvierzig Kilometern pro Stunde an ihm vorbeirauschte. Die Vorstellung, dass ihr zukünftiger Exmann wie ein überfahrenes Tier dalag, gefiel ihr.

„Dieser verlogene, hinterhältige Scheißkerl“, murmelte sie, während sie sich dem Ende der Freewayausfahrt näherte, vom Gas ging und in westliche Richtung abbog.

Der verlogene, hinterhältige Scheißkerl war im Augenblick in San Francisco und zog in den Raum um, der eigentlich ihr Juniorpartner-Büro hätte werden sollen. Mit Fenster. Ohne Zweifel würde er das Ereignis feiern, das eigentlich ihre Beförderung hätte sein sollen. Er würde seine Sekretärin ausführen und sie anschließend mit einem Wein aus der Sammlung verführen, die sie zusammengestellt hatte. Und dann würde er sie in das Bett tragen, dass bis vor Kurzem noch ihnen gehört hatte.

Ja, es stimmte. Jills Tag hatte sich von schlecht zu absolut beschissen entwickelt. Nicht genug, dass sie ihren Ehemann in flagranti erwischt hatte. Nein. Am Nachmittag war sie auch noch gefeuert worden.

„Ich hoffe, Lyle fängt sich eine Geschlechtskrankheit ein und sein Big Willie fällt ab“, sagte sie laut, ehe sie sich korrigierte: „Na ja, ‚Big‘ Willie ist ein bisschen übertrieben. Auf seinen winzigen Freund braucht er sich nun wirklich nichts einzubilden. Die meisten Orgasmen habe ich dir eh vorgespielt, du verlogener, hinterhältiger Dreckskerl.“

Viel schlimmer als ihr höchstens durchschnittliches Liebesleben fand sie nur, dass sie für ihn gekocht hatte. Wenn sie daran dachte, wie oft sie sich aus wichtigen Meetings geschlichen hatte, damit Lyle beim Nachhausekommen ein selbst gekochtes Abendessen genießen konnte, bekam sie Zahnschmerzen.

Am liebsten hätte sie die Fenster heruntergekurbelt und in die salzige Luft hinaus geschrien, dass sie ihren Ehemann hasste und es nicht erwarten konnte, endlich von ihm geschieden zu werden. Dass sie sich wünschte, sie wäre ihm niemals begegnet, hätte sich niemals in ihn verliebt und ihn niemals geheiratet. Aber es gab keinen Grund, die Möwen auf dem Bürgersteig oder die zwei alten Männer zu erschrecken, die im Park Dame spielten.

Der einzige Lichtpunkt in Jills ansonsten pechschwarzer Situation war, dass Shelleys Haare jetzt filmstarmäßig toll aussahen. Daran sollte ich mich hochziehen, dachte Jil. Sie musste an einer roten Ampel halten und sah sich zum ersten Mal, seitdem sie San Francisco verlassen hatte, um. Sah sich wirklich um.

Gott, sie war wieder an dem Ort, an den sie nie hatte zurückkehren wollen. Anscheinend ist meine Pechsträhne noch längst nicht vorbei, dachte sie, als sie begriff, dass sie die einzige Person auf dem Planeten war, die tatsächlich nach Hause zurückkehren konnte.

Los Lobos in Kalifornien war ein kleiner touristischer Küstenort, in den die Leute jeden Sommer strömten, um hier ihre Ferien zu verbringen. Im Treats ’n Eats gab es selbst gemachtes Eis, in Polly’s Pie Parlor bekam man selbst gemachten Kuchen, und Bill’s Mexican Grill verkaufte die besten Fajitas im ganzen Bundesstaat. Die Einheimischen schlossen nie ihre Haustüren ab, außer in der Hochsaison. Der Pier war nationales Kulturgut, und das Halloween-Kürbis-Festival am Strand gehörte zu den größten Events des Jahres. Für einige war das hier das Paradies; für Jill war es, als wäre sie in die Hölle verbannt worden. Auch dafür würde Lyle bezahlen müssen.

Wenigstens war das Haus, in dem sie aufgewachsen war, in den Besitz der Denkmalschutzbehörde übergegangen, was ihr die Erniedrigung ersparte, wieder in ihrem alten Zimmer zu wohnen. Ihrem einstigen Zuhause wurde wieder zu seiner ursprünglichen viktorianischen Schönheit verholfen, und so zog Jill vorübergehend bei ihrer Tante Beverly ein.

Beim Gedanken an das warme Lächeln und das mit Potpourri überfüllte Haus der älteren Frau trat Jill aufs Gas. Sie fuhr durchs Stadtzentrum – wenn man es überhaupt so nennen konnte – und kam am südlichen Ende heraus. Nachdem sie mehrmals abgebogen war, hielt sie vor einem zweigeschossigen Haus aus den 1940ern. Das Dach über der breiten Veranda wurde von zwei steinernen Säulen gestützt. Mehrere verwitterte Rattanmöbel standen auf der Veranda und boten einen Platz, von dem aus man alles beobachten konnte, was um einen herum geschah. Jill befand sich momentan eher in einer „Ich igele mich ein und lecke meine Wunden“-Stimmung, aber das würde vorbeigehen. Und dann säße sie sicher gern in dem alten Schaukelstuhl neben der Hollywoodschaukel.

Sie parkte vor dem Haus und stieg aus. Anscheinend hatte Tante Bev aus dem Fenster geschaut, denn sie kam aus dem Haus und lief die Treppe hinab.

Beverly Antoinette Cooper, die von ihren Freunden Bev genannt wurde, war in wohlhabende Verhältnisse geboren worden. Zwar besaß ihre Familie keine märchenhaften Reichtümer, aber eben doch genug, dass sie niemals einen Job hätte annehmen müssen – auch wenn sie nach ihrem Collegeabschluss einige Jahre als Lehrerin gearbeitet hatte. Die zierliche rothaarige Frau mit dem breiten Lächeln war die jüngere von zwei Schwestern. Sie war nach Los Lobos gekommen, als ihre Schwester Jills Vater geheiratet hatte, und geblieben.

Jill war dankbar, sie zur Tante zu haben. Beverly urteilte oder kritisierte nicht vorschnell. Meistens verteilte sie Umarmungen, Zuneigung und manchmal auch merkwürdige Ratschläge. Sie bezeichnete sich selbst als Medium mit übersinnlichen Kräften – allerdings stand ein objektives Urteil darüber noch aus.

Seit Jill ihren untreuen Ehemann und seine Sekretärin auf seiner Anrichte ertappt hatte, hatte sie sich nicht mehr so gut gefühlt wie in diesem Moment. Sie ging um das Auto herum und blieb vor ihrer Tante stehen. „Da bin ich.“

Ihre Tante lächelte. „Heißes Gefährt.“

Jill sah zu dem glänzenden BMW 545. „Ist nur ein Mittel zum Zweck“, erwiderte sie achselzuckend.

„H-hm. Gehört er Lyle?“

„In Kalifornien gilt die Regelung der Zugewinngemeinschaft“, sagte Jill trocken. „Da er den Wagen nach unserer Heirat angeschafft hat, gehört er mir genauso wie ihm.“

„Du hast ihn mitgenommen, weil du wusstest, dass es ihn stinksauer machen würde.“

„Stimmt genau.“

„Das ist mein Mädchen.“ Ihre Tante sah sich Jills Hemd an und zog die Augenbrauen hoch. „Hast unterwegs wohl was gegessen, hm?“

Jill blickte an dem maßgeschneiderten Hemd aus hundert Prozent ägyptischer Baumwolle herunter, das sie zu ihrer Jeans trug. Die Ärmel reichten ihr bis weit über die Finger. Sie hätte gut zweieinhalb Mal in das Kleidungsstück reingepasst. Es gehörte Lyle und war eines seiner Lieblingsteile. Er hatte es für den Schleuderpreis von fünfhundert Dollar in Hongkong bestellt. Von diesen Hemden besaß er insgesamt vier. Die anderen drei lagen in ihrem Koffer.

„Ja, einen Burrito“, antwortete sie und rieb sich über den rotbraunen Fleck unter der rechten Brust. „Könnte scharfe Soße sein. Ich habe unterwegs bei Taco Bell angehalten.“

„Bitte sag mir, dass du im Auto gegessen hast“, sagte Bev verschmitzt. „Lyle hat es doch noch nie leiden können, wenn man im Auto isst.“

„Jeden Bissen“, meinte Jill.

„Sehr gut.“

Bev breitete die Arme aus. Jill zögerte nur eine Sekunde, bevor sie sich in die Umarmung der kleineren Frau stürzte. Zwei Tage lang hatte sie sich zusammengerissen und sich um die Logistik gekümmert, die es brauchte, um ihr Leben neu zu ordnen. Sämtliche Gefühle hatte sie sorgfältig weggepackt, um sie erst im richtigen Moment herauszulassen. Dieser Moment schien jetzt gekommen zu sein.

Ihr Gesicht wurde heiß, ihre Brust zog sich zusammen, und ein Zittern durchlief ihren Körper.

„Ich habe ihn mit ihr erwischt“, flüsterte sie. Ihre Stimme war vor Schmerz und unterdrückten Tränen ganz belegt. „Im Büro. Es war so ekelhaft. Er hat sich noch nicht mal ausgezogen – seine Hose hing ihm um die Knöchel, und er sah so lächerlich aus. Warum hat sie nicht von ihm verlangt, sich auszuziehen?“

„Einige Frauen haben eben keine Selbstachtung.“

Jill nickte. „Wenigstens hat er sich bei mir immer ausgezogen.“

„Ja, natürlich.“

„Aber das war nicht das, was mich am meisten verletzt hat“, fuhr sie fort, und ihre Augen fingen an zu brennen. „Er hat mir die Beförderung geklaut. Ich habe die ganze Zeit so dafür geackert, und am Ende bekommt er meine Beförderung und ich werde gefeuert.“

Die Tränen brachen aus ihr heraus. Sie versuchte noch, sie zurückzuhalten, doch es war zu spät. Sie brannten ihr auf der Haut und tropften auf die Schulter ihrer Tante.

„I…ich v…verstehe wirklich n…nicht, warum ich v…viel mehr wütend bin als v…verletzt“, presste sie schluchzend hervor. „Warum mache ich mir mehr Gedanken um meinen Job als um meine Ehe?“

Das war eher eine rhetorische Frage. Jill hatte das Gefühl, dass sie beide die Antwort bereits kannten.

„Willst du sein Auto demolieren?“, fragte ihre Tante.

Jill richtete sich auf und wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. „Später vielleicht.“

„Ich habe Kekse gebacken. Lass sie uns verputzen.“

„Das hört sich gut an.“

Bev nahm ihre Hand und führte Jill zum Haus. „Ich habe ein bisschen recherchiert. Ich glaube, ich könnte Lyle mit einem Fluch belegen. Würde dir das helfen?“

Mit jedem Schritt spürte Jill, wie ihr Schmerz ein klitzekleines Bisschen erträglicher wurde. Los Lobos mochte nicht ihrer Vorstellung von einer schönen Stadt entsprechen, aber das Haus ihrer Tante war schon immer ein behaglicher Hafen gewesen.

„Ein Fluch wäre gut. Können wir ihm eitrige Beulen verpassen?“

„Wir können es zumindest versuchen.“

Zwei Stunden später hatten Jill und ihre Tante fast ein Dutzend Double-Chocolate-Chip-Kekse verdrückt und mehrere Brandys getrunken.

„Ich will aber nichts Boshaftes tun“, sagte Jill und war ziemlich stolz, dass sie das Wort „boshaft“ noch so deutlich über die Lippen bekam – obwohl der Weinbrand ihr Blut erhitzt und ihr Gehirn in Brei verwandelt hatte. „Statt den BMW einfach zu zerkratzen, parke ich ihn vielleicht lieber neben dem Baseballplatz der Highschool. Die fehlgeschlagenen Bälle könnten ihm ein paar hübsche Beulen verpassen.“ Sie kicherte. „Ist das nicht eine superduper Idee?“

Ihre Tante seufzte. „Du bist betrunken.“

„Worauf du wetten kannst. Und ich fühle mich verdammt gut, wenn ich das mal so sagen darf. Hätte ich gar nicht gedacht. Ich dachte, ich wäre noch tagelang deprimiert. Ich meine, hier als Anwältin zu arbeiten …“ Sie verzog das Gesicht und merkte, wie sich ihre gute Laune davonmachte. „Okay, das kommt auf die Nichtdran-denken-Liste. Nicht an meinen neuen Job hier denken – auch wenn ich den Begriff nur lose verwende. Das mache ich ja nur so lange, bis ich einen richtigen Job finde. Und nicht an Lyle denken. Aber die Scheidung ist ’ne gute Sache. Ich will sie unbedingt. Ich möchte unsere Ehe ungeschehen machen.“ Sie griff nach dem nächsten Keks. „Können wir ihn vaporisieren? Wäre das theoretisch Mord?“ Sie seufzte. „Vergiss es. Ich weiß, dass es Mord wäre. Ich möchte kein Berufsverbot erteilt bekommen. Das wäre so deprimierend, das kann ich gar nicht in Worte fassen.“

Kekskrümel fielen auf ihr Hemd, direkt neben den frischen, noch feuchten Brandyfleck. Sie fegte die Krümel mit der Hand weg und schmierte sich die Schokolade in den Stoff.

„Ich muss mich mal frisch machen“, sagte sie und legte den angebissenen Keks auf den Tisch. „Ich habe heute Morgen vor meiner Abfahrt aus San Francisco nicht geduscht.“

Während sie das sagte, griff sie in ihre lockigen Haare. Nach ihrer Dusche am Vortag hatte sie keine Lust gehabt, die übliche Prozedur aus trockenföhnen, Glätteisen und Siebenundvierzig-Dollar-Sprühhaarkur durchzuführen, um ihre unmöglichen Haare zu bändigen. Das Ergebnis ihrer Trägheit war ein Haarbüschel, das an die Frisur von Frankensteins Braut erinnerte, nachdem sie mit den Fingern in eine Steckdose gefasst hatte. Auf der Attraktivitätsskala rangierte sie gefährlich nahe an der Null.

Jill hievte sich hoch. Durch den Schlafmangel der letzten zwei Tage und den Brandy fingen die Rosen auf der Küchentapete an, sich zu drehen.

„Das kann nicht gut gehen“, murmelte sie.

„Nach dem Duschen wird es dir besser gehen“, versicherte ihre Tante ihr. „Du weißt doch noch, wo alles ist, oder?“

„H-hm. Oben.“ Allein beim Gedanken daran, die Stufen hochzusteigen, wurde ihr schwindelig.

Im selben Moment, in dem es an der Haustür klopfte, fing der Kurzzeitwecker zu piepsen an und signalisierte, dass die nächste Ladung Kekse aus dem Backofen geholt werden konnte. Bev erhob sich von dem runden Tisch neben dem Fenster und gab Jill mit einer Handbewegung zu verstehen, zur Tür zu gehen.

„Sieh nach, wer es ist. In deinem jetzigen Zustand traue ich dir nicht zu, mit heißen Backblechen zu hantieren.“

„Klingt nach einem guten Plan.“

Jill ging den Flur entlang und stieß dabei nur ein Mal gegen die Wand. Sie kam sich vor wie ein Autoskooter und musste kichern. Noch immer von der Vorstellung amüsiert, öffnete sie die Tür.

Es gab nur eine Handvoll Dinge, die ihre derzeitige Situation hätten verschlechtern können: der Tod oder Unfall eines geliebten Menschen, der Gedanke, dass sie in Los Lobos hängen bleiben und nie wieder in einer Anwaltskanzlei in der Großstadt arbeiten würde, und Mackenzie Kendrick zu begegnen, während sie selbst wie ein Haufen Katzendreck aussah.

Die Chancen standen eins zu drei, dachte sie und starrte den Mann an, der auf der Türschwelle stand. Kann mich jetzt bitte einfach ein Blitz treffen?

Anscheinend nicht. Sie starrte in dunkelblaue Augen und musterte die auf schmerzhafte Weise vertrauten attraktiven und markanten Gesichtszüge. Er sah älter aus, aber so erging es ja jedem. Er verursachte bei ihr immer noch Gänsehaut und brachte ihr Herz dazu, wie ein Squashball zu hüpfen. Aber vielleicht lag das ja auch nur am Brandy.

Nach allem, was sie zuletzt gehört hatte, war Mac Kendrick nach Los Angeles gezogen und beim Los Angeles Police Department im Eiltempo die Karriereleiter emporgeklettert. Als sie Mac zum letzten Mal gesehen hatte, war sie achtzehn gewesen und er auf Heimaturlaub von der Armee zu Hause. Sie war in seinem Schlafzimmer aufgetaucht, hatte ihr Kleid zu Boden fallen lassen und sich ihm splitternackt angeboten – und er hatte sich urplötzlich übergeben.

Erinnerungen wie diese Nacht ließen das Ende ihrer Ehe in einem neuen Licht erscheinen.

„Mac“, sagte sie betont fröhlich und in der Hoffnung, nicht manisch zu klingen.

Er zog die Augenbrauen zusammen, wodurch sich rings um seine Augen kleine Falten bildeten. Jill musste sich anstrengen, damit ihr bei dem köstlichen Anblick kein Seufzer entfuhr. Ihr fielen gerade wieder die Flecken auf dem riesigen Hemd ein, das sie trug, als sich sein Gesichtsausdruck erhellte.

„Jill?“

Sie winkte zaghaft mit den Fingern. „H-hm. Hi. Ich, äh …“ Besuche meine Tante hätte nicht der Wahrheit entsprochen, und sie wusste, dass sie zu betrunken war, um zu lügen. Vielleicht sollte sie den Grund für ihren Aufenthalt in der Stadt lieber umschiffen. „Was machst du hier?“

„Ich lebe hier.“

Sie blinzelte. „In der Stadt? Hier? In Los Lobos?“

„Ich bin der neue Sheriff.“

„Wieso?“

Er lächelte. Die kurvige Linie seines Mundes ließ ihren Magen Purzelbäume schlagen.

„Weil es mir hier gefällt“, erwiderte er.

„Tja, jedem das Seine.“

Eine ganze Weile sah er sie einfach nur an. Dann berührte er ihre Oberlippe. „Du hast da ein paar Krümel.“

„Was? Oh. Die Kekse.“ Sie griff nach einer Ecke des Hemdes und wischte sich damit über den Mund. Ein kurzer Blick verriet ihr, dass in den Krümeln Schokolade gewesen war. Na super.

„Mac? Bist du es?“ Bev kam zu ihnen. „Du willst bestimmt noch mal alles besprechen. Komm doch rein. Jill, geh zur Seite und lass Mac rein.“

Jill gehorchte. Irgendwann zwischen dem ersten und dem dritten Brandy hatte sie ihre Schuhe weggeschleudert, weshalb sie nun barfuß auf dem glänzenden Holzfußboden stand. Da dieses Gefühl sie zu sehr an ihre letzte Begegnung mit Mac erinnerte, beeilte sie sich, ihn ins Wohnzimmer zu führen, wo immerhin Teppichboden lag.

Sie hörte seine donnernden Schritte, als er ihr folgte, gemischt mit dem fröhlichen Geplapper ihrer Tante, die über den warmen Nachmittag und den hübschen Sonnenaufgang sprach. Bev war ganz groß im Sonnenaufgängeansehen. Angeblich reinigte das erste Morgenlicht ihre übersinnlichen Kräfte.

Jill ging zum Schaukelstuhl und sank hinein. Der Stuhl schaukelte vor und zurück, wodurch die Zimmerecken gerade so weit hochklappten, dass sie am liebsten gekichert hätte. Vielleicht ist es gut so, dachte sie, während sie sich in das dicke Kissen kuschelte. Sie hatte sich immer gefragt, was geschähe, wenn sie Mac wiedersähe. Nach der katastrophalen letzten Begegnung hatte sie sich vor dem gefürchtet, was sie oder er sagen würde. Oder wie er sie ansähe. Aber der Alkohol schien dem Ganzen den Schrecken zu nehmen. Und falls er sie bemitleidete – nun ja, war ihr Leben nicht auch bemitleidenswert?

„Du bist also der Sheriff“, sagte sie, nachdem er sich auf das Sofa gegenüber vom Fenster gesetzt hatte und Bev verschwunden war, um Getränke zu holen. Jill war sich irgendwie sicher, dass ihre Tante Mac keinen Brandy anbieten würde.

„Seit Kurzem. Ich habe erst vor zwei Wochen angefangen.“

„Warum?“

„Weil wir uns auf dieses Datum geeinigt haben.“

Sie wollte sich eine Haarsträhne hinters Ohr stecken und erstarrte, als ihre Finger den Mopp aus Stahlwolle ertasteten. Oh … mein … Gott. Sie hatte völlig vergessen, wie sie aussah. Was nun?

Sie stöhnte stumm und begriff, dass ihr keine andere Möglichkeit blieb als durchzuhalten und zu hoffen, dass er nichts bemerkt hatte.

„Ich meinte, warum hast du den Sheriff-Posten angenommen?“

Er sah sie aus seinen dunkelblauen Augen an. Obwohl ihre Organe zu schmelzen anfingen, sagte sie sich, dass er vermutlich nur versuchte herauszufinden, warum sie Schokoladenspuren auf der Wange hatte. Sie rieb sich über die Haut und hüllte sich in die angenehme Wolke der Gleichgültigkeit, die der Alkohol aufgebaut hatte.

„Ich wollte eine Veränderung“, antwortete er. „Außerdem kann Emily hier prima die Sommer verbringen.“

Emily? Wie hoch standen die Chancen, dass das der Name seines geliebten Bernhardiners war? Bei null, entschied sie. Ihre Pechsträhne ging also noch weiter.

„Deine Frau?“, fragte sie mit einem Lächeln und einem Gesichtsausdruck, der – hoffentlich – von höflichem Interesse zeugte.

„Seine Tochter.“

Das kam von Bev, die gerade wieder ins Wohnzimmer kam. Sie stellte ein Tablett mit Keksen und drei Gläsern Milch auf den Tisch.

„Macs kleines Mädchen ist acht.“

Jill versuchte zu verstehen, was sie da hörte. All die Jahre hatte sie sich vorgestellt, dass er diverse Frauen um sich scharte, von denen keine so war wie sie. Aber nicht ein Mal hatte sie ihn als Vater gesehen.

„Sie verbringt den Sommer bei mir“, sagte er und nahm sich einen Keks. „Bev hat sich bereit erklärt, sich tagsüber um sie zu kümmern.“

Jill drehte den Kopf zu ihrer Tante. Sogleich neigte sich der Raum stark zu einer Seite, bevor er sich wieder auf der normalen Achse einpendelte. Zwei Gedanken beherrschten ihren Kopf. Erstens, dass Mac nicht verheiratet war. Jedenfalls nicht mit der Mutter seiner Tochter. Der zweite Gedanke war etwas beunruhigender.

„Du magst doch gar keine Kinder“, erinnerte sie ihre Tante. „Deshalb hast du doch deinen Job als Lehrerin an den Nagel gehängt.“

Bev reichte ihr ein Glas Milch. „Ich mag sie nicht, wenn sie in Rudeln auftreten“, korrigierte sie. „Vielleicht habe ich zu oft ‚Herr der Fliegen‘ gelesen – ich hatte immer das Gefühl, Kinder könnten sich jeden Moment in kleine Monster verwandeln. Aber einzeln betrachtet mag ich sie.“ Sie lächelte Mac zu. „Ich bin mir sicher, dass Emily ein kleiner Engel ist.“

Mac schien von Bevs Theorie über Kinder und ihre Verwandlungsfähigkeit leicht irritiert. „Was?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, sie ist ein ganz normales Kind.“

Da schwingt doch irgendwas in seiner Stimme mit, dachte Jill. Sie nahm sich einen Keks und biss hinein. So etwas wie … Wehmut. Oder war das schon wieder ihr durch Weinbrand verschleiertes Gehirn?

Sie nippte an der Milch, schluckte und hätte beinahe gewürgt. „Ich kann nicht“, sagte sie und schob das Glas zu ihrer Tante. „Nach dem Brandy gefällt das meinem Bauch überhaupt nicht.“

„So ein Unsinn. Du musst dir einfach nur einreden, du würdest einen Brandy Alexander trinken. In zwei Durchgängen.“

„Ach so. Okay.“

Mac sah sie an. „Du hast getrunken?“

Er verzog missbilligend den Mund. Ein schneller Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es kurz nach drei Uhr nachmittags war.

„In New York ist es schon nach fünf, und ich hatte einen schlechten Tag.“

Eigentlich eine schlechte Woche; wahrscheinlich sogar ein schlechtes Leben.

„Keine Sorge. Jill ist keine Trinkerin. Sie ist gerade nur ein wenig neben der Spur. Wann kommt Emily an?“

„Gegen fünf. Ich bringe sie dir morgen Vormittag. Eigentlich wollte ich an ihrem ersten Tag hier nicht arbeiten, aber ich muss bei Gericht erscheinen.“

„Mach dir keine Sorgen“, erwiderte Bev. „Ich freue mich schon darauf, den Sommer mit ihr zu verbringen. Wir werden eine Menge Spaß haben.“

Jill erwog, Mac vor der „Gabe“ ihrer Tante zu warnen und davor, wie sie sich manchmal von normal in total merkwürdig verwandelte. Aber warum sollte sie ihn beunruhigen? Außerdem gelang es Bev immer, einem anderen Menschen das Gefühl zu geben, sich besonders und geliebt zu fühlen, und vielleicht war das etwas, das jedes achtjährige Mädchen brauchte.

Mac stand auf und murmelte etwas davon, dass er jetzt nach Hause gehen müsse. Jill versuchte, wach zu bleiben, um ihn zu fragen, wo genau das war. Sein Haus. Nicht, dass sie weitere mitternächtliche Besuche plante … Ein erniedrigender Vorfall dieser Art reichte für das ganze Leben. Solange sie in der Hölle von Los Lobos gefangen war, würde sie Mac so gut es ging aus dem Weg gehen. Sie würde in allen Bereichen als Anwältin arbeiten, die hier gefragt waren, sich um die kleinen Problemchen der Leute kümmern und gleichzeitig ihren aufpolierten Lebenslauf an alle Großkanzleien im gesamten Staat schicken.

Und in ihrer Freizeit würde sie ihre Rache planen. Eine gemeine, hartherzige, befriedigende Rache, die ihren Schweinehund von Exmann in ein zitterndes Häufchen Elend verwandeln würde. Bei dem Gedanken lächelte sie, und im nächsten Moment spürte sie etwas Kaltes, Nasses auf ihr Bein tröpfeln.

„Ach du je.“

Ihre Tante klang besorgt, und Jill hätte sie gern gefragt, was los war, aber sie konnte weder ihre Augen öffnen noch sprechen. Irgendetwas wurde ihr aus der Hand genommen.

„Wie viele Brandys hatte sie denn?“, fragte ein Mann.

Mac, dachte Jill vernebelt. Der leckere, sexy Mac. Als Dreizehnjährige hatte sie sich in ihn verliebt. Aber er hatte sie nicht bemerkt. Nicht so richtig, jedenfalls. Er war nett und freundlich gewesen, aber auf eine distanzierte, brüderliche Art.

Und das nur, weil sie keine Brüste hatte. Keine richtigen Brüste – im Gegensatz zu ihrer besten Freundin Gracie. Nein, Jill hatte das, was Gracies Mom als „dezente Kurven“ beschrieben hatte. Aber Jill wollte es nicht dezent. Sie wollte große, sexy Möpse, die einem sofort ins Auge sprangen.

Sie spürte, wie sie den Stuhl herunterrutschte. Dann war sie plötzlich hoch in der Luft. Es war wie treiben oder fliegen oder beides.

„Aufs Sofa?“

„Ja. Ich hole eine Decke. Sie muss einfach nur ein bisschen schlafen.“

„Oder weniger trinken“, sagte ein Mann mit einem Lachen in der Stimme. „In ein paar Stunden wird sie sich hundeelend fühlen.“

Das wäre ja nichts Neues, dachte Jill, während sie sich in das Kissen kuschelte, das ihr unter den Kopf geschoben wurde. Sie fühlte sich schon seit zwei Tagen hundeelend. Aber das hier war irgendwie besser. Es war warm und gemütlich, und sie fühlte sich wieder sicher. Kurz bevor sie einschlief, schwor sie sich, dass alles anders wäre, wenn sie aufwachte.

Gegen Viertel vor fünf gab Mac es auf, so zu tun, als würde er nicht auf die Uhr schauen. Er dachte sich, dass es sich mit einem Bier in der Hand viel leichter warten ließe, aber das würde er nicht tun. Nicht, wenn Emily gleich käme. Nicht nach allem, was er verbockt hatte.

Er hätte gern jemand anderem die Schuld gegeben, mit dem Finger auf ihn gezeigt und gesagt, dass er nicht für das alles verantwortlich war. Aber das ging nicht. Denn er hatte jeden Schritt ganz bewusst gemacht. Er konnte nicht mal Carly die Schuld geben. Seine Exfrau war verständnisvoller und nachsichtiger gewesen, als er es verdient hatte.

Da sie gut organisiert war und keinen Grund dafür sah, ihn unnötig warten zu lassen, kam sie fünf Minuten zu früh an. Er sah den Volvo in seine Auffahrt einbiegen und war draußen, noch bevor die Insassen ihre Türen geöffnet hatten.

„Hey Mäuschen“, sagte er, als Emily ausstieg.

Seine Tochter war zierlich und blond, hatte große blaue Augen und ein Lächeln, das den Himmel erhellte. Nur, dass sie momentan nicht lächelte. Stattdessen zitterten ihre Mundwinkel, und sie sah ihm nicht in die Augen. Sie presste Elvis, ihr ramponiertes Stoffnashorn, gegen ihre Brust und starrte unverwandt auf den Boden.

Er hatte sie seit knapp zwei Monaten nicht gesehen und konnte sich nur mit aller Kraft davon abhalten, sie fest und innig zu umarmen. Er hätte ihr gern gesagt, dass er sie lieb hatte, dass sie gewachsen und noch hübscher geworden war, dass er jeden Tag an sie gedacht hatte. Doch stattdessen steckte er die Hände in die Taschen seiner Jeans und wünschte, er könnte die Zeit zurückdrehen und alles anders machen.

„Hallo, Mac.“

Er hob den Blick und sah Carly an. Die zierliche, geschmackvoll gekleidete Frau mit dem kinnlangen goldblonden Bob ging um das Auto herum auf ihn zu.

„Du siehst gut aus“, begrüßte er sie und bückte sich, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben.

Sie tätschelte seinen Oberarm. „Du auch. Süßes kleines Städtchen. Hier bist du also aufgewachsen?“

„Ja.“

„Und? Wie fühlt es sich an, zurück zu sein?“

Die letzten beiden Wochen hatte er zwischen Hoffnung und drohendem Unglück geschwankt. Es stand einfach zu viel auf dem Spiel.

„Gut“, erwiderte er mit gespielter Zuversicht. „Kommt, wir bringen erst mal das Gepäck rein.“ Er wandte sich Emily zu. „Dein Zimmer ist oben, Mäuschen. Willst du es dir mal ansehen?“

Sie sah ihre Mom um Erlaubnis bittend an. Als Carly nickte, flitzte Emily ins Haus.

„Sie hasst mich“, sagte er tonlos.

„Sie liebt dich, aber sie hat ein bisschen Angst. Sie hat dich wochenlang nicht gesehen, Mac. Du bist an beiden Wochenenden nicht wie versprochen gekommen. Du hast ihr das Herz gebrochen.“

Er nickte und schluckte die aufsteigende Schuld hinunter. „Ich weiß. Es tut mir leid.“

Er ging zum Kofferraum und wartete darauf, dass Carly ihn öffnete.

„Entschuldigen funktioniert bei einer Achtjährigen nicht“, erklärte sie ihm. „Du bist ohne ein Wort aus ihrem Leben verschwunden, und jetzt musst du dich ihr beweisen.“

Das war nichts Neues für ihn. Die Frage war nur, wie? Wie eroberte ein Vater das Vertrauen seiner Tochter zurück? War das überhaupt möglich? Oder hatte er die magische Grenze bereits überschritten und es war zu spät?

Er hätte Carly gern nach ihrer Meinung gefragt, aber er befürchtete, dass er seinen Kredit bei ihr schon längst ausgereizt hatte.

„Du hättest das nicht zu tun brauchen.“ Er hob die beiden Koffer aus dem Auto.

Carly nahm eine Kühlbox. „Ich weiß. Ein Teil von mir hätte dir am liebsten den Rücken gekehrt, aber du hast sie immer mehr geliebt als alles andere.“ Sie schloss den Kofferraum und starrte ihn an. „Ich möchte dir glauben, Mac. Ich gönne dir diese Chance. Aber mach ja keinen Fehler. Wenn du auch nur ein Mal Mist baust, werde ich deinen Hintern in den Gerichtssaal schleifen und dafür sorgen, dass du deine Tochter nie wieder siehst.“

2. KAPITEL

J ill erwachte im Dunkeln vom Läuten der Standuhr im Flur. Sie zählte zehn Schläge. Sie schob die Decke beiseite und stemmte sich vorsichtig in eine sitzende Position.

Ihre Gedanken rasten, während sie versuchte sich zu erinnern, wo sie war und warum sie auf einem Sofa lag. Stück für Stück kamen die Bilder zurück: wie sie bei Tante Bev angekommen war und in großzügigen Mengen Brandy getrunken hatte.

Die Stille im Haus verriet ihr, dass ihre Tante bereits ins Bett gegangen war. Das war keine große Überraschung. Wer bei Sonnenaufgang munter sein wollte, musste zeitig schlafen gehen. Jill war eher eine Freundin des Sonnenuntergangs, auch wenn sie ihn heute verpasst hatte. Sie hatte ja erst mal ihren Rausch ausschlafen müssen.

„Morgen ist auch noch ein Sonnenuntergang“, sagte sie sich und verkrampfte sich vorsichtshalber in Erwartung tödlicher Kopfschmerzen oder Doppelbilder. Nichts von beidem kam. Eigentlich fühlte sie sich sogar ziemlich gut.

„Kein schlechter Anfang.“

Sie ging ins Gästezimmer und lächelte beim Anblick der zurückgeschlagenen Bettdecke und der aufgeschüttelten Kissen. Ihre Tante hatte ihr sogar ein Tablett mit Wasser, einem Glas und einer Packung Alka-Seltzer hingestellt.

„Wirklich eine erstaunliche Frau.“

Jill ignorierte das Bett und ging zu ihrem Koffer. Sie schnappte sich ihren Kulturbeutel, ging ins Badezimmer und stellte die Dusche an.

Zwanzig Minuten, ein Einschamponieren und einmal Pfirsich-Bodylotion auftragen später fühlte sie sich praktisch normal. Sie schwankte zwischen Pyjama und Jogginghose und entschied sich schließlich für Letztere. Die Haare in einen Handtuchturban gewickelt und einen grobzinkigen Kamm in der Hand ging sie nach unten und raus auf die hintere Terrasse.

Die Holzkonstruktion war fast genauso breit wie die Veranda vor dem Haus und auch fast genauso möbliert. Hier standen eine alte Hollywoodschaukel, ein Tisch und ein Stuhl aus Rattan, eine Bank, ein paar elektrische Insektenvernichter und ein Spalier, über das sich Drillingsblumen rankten.

Jill überquerte die Terrasse und setzte sich auf die Stufen, die zum Rasen führten. Der Abend war angenehm kühl. An dem klaren Himmel funkelten Abertausende von Sternen, die sie in der Großstadt nicht sehen konnte. Vermutlich gab es Leute, die der Ansicht waren, das Kleinstadtleben würde durch Sachen wie Sterne und unverschlossene Türen perfekt gemacht. Diese Leute waren natürlich vollkommen auf dem Holzweg.

Sie nahm das Handtuch ab und griff nach dem Kamm. Im gleichen Augenblick ging die Hintertür des Hauses zu ihrer Linken auf und jemand kam heraus.

Jill erstarrte mit erhobenem Arm. Selbst im dämmrigen Licht der Terrasse erkannte sie den großen, breitschultrigen Mann. Mac.

Da es unwahrscheinlich war, dass er um diese Uhrzeit noch bei einem Nachbarn zu Besuch war, musste sie davon ausgehen, dass er direkt neben ihrer Tante wohnte. War das nicht mal wieder typisch für sie und ihr verkorkstes Leben? Ganz bestimmt war er mit seiner Frau hier eingezogen und mit …

Nebulöse Erinnerungen kamen hoch. Irgendetwas von einem Kind. Eine Tochter vielleicht? Aber keine Frau. Oder jedenfalls nicht die Mutter des Kindes. Oder war das reines Wunschdenken ihrerseits gewesen? Mit Grauen fiel ihr wieder ein, dass sie vor seinen Augen ohnmächtig geworden war.

Sie wollte aufstehen und heimlich ins Haus zurückschleichen, aber bei der Bewegung knarrte ein verräterisches Brett. Mac drehte sich um und kam auf sie zu. Jill blickte an sich hinab: ein Schlabber-T-Shirt und Jogginghose. Wow! Ein echter „Bin ich nicht sexy?“-Look. Vermutlich hätte die Tatsache, dass sie keinen BH trug, provokant sein können – aber dazu hätte es Brüste gebraucht, die größer waren als Spiegeleier.

„Wie geht es dir?“, erkundigte er sich beim Näherkommen.

Seine Stimme donnerte durch die Stille der Nacht. Ihr Klang schien an ihrer Haut zu reiben wie Samt an Seide. Alles in ihr zog sich zusammen, und sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.

„Äh, besser“, brachte sie über die Lippen. „Ich hab das einfach gebraucht.“

„Das Nickerchen, den Brandy oder das Ohnmächtigwerden?“

„Vielleicht alles drei.“

Er blieb vor ihr stehen, lehnte sich an das Geländer und lächelte leicht schief.

„Erinnerst du dich überhaupt noch an irgendetwas von dem, was heute Nachmittag passiert ist?“

Sie hatte so eine Ahnung, dass er nicht von ihrer Fahrt von San Francisco hierher sprach. Die Frage bereitete ihr Unbehagen.

„Wieso? Habe ich irgendwas Denkwürdiges gemacht, bevor ich, ähm, ohnmächtig geworden bin?“ Hatte sie sich etwa übergeben? Oder etwas noch Schlimmeres? Gab es überhaupt etwas Schlimmeres, als sich zu übergeben?

„Nö. Du bist ziemlich still geworden, hast deine Milch ausgekippt und weg warst du.“

Stumm stöhnte sie. „Klingt bezaubernd.“ Sie dachte daran, wo sie aufgewacht war. „Wie bin ich aufs Sofa gekommen?“

Aus dem halben Lächeln des Mannes wurde ein breites Grinsen. „Gern geschehen.“

Er hatte sie getragen? Sie hatte tatsächlich in Macs Armen gelegen und konnte sich nicht daran erinnern? Ihr Leben konnte unmöglich noch ungerechter werden.

„Ähm, danke. Das war wirklich nett von dir.“

Eigentlich wollte sie wissen, ob er diesen Moment genossen hatte. Ob er mehr darin gesehen hatte als eine lästige Pflicht. Ob er in den letzten zehn Jahren überhaupt mal an sie gedacht hatte.

Er ging zur Treppe und setzte sich auf die unterste Stufe. Sein Oberschenkel war faszinierend dicht an ihren nackten Zehen. Wenn sie ihren Fuß zwei Zentimeter bewegte, würden sie sich berühren. Jill fuhr sich mit dem Kamm durch die immer noch nassen Haare und schluckte einen frustrierten Seufzer hinunter. Man hätte meinen sollen, sie wäre inzwischen erwachsener und reifer, aber da irrte man sich offenbar.

„Dann lebst du also wieder in der Stadt“, sagte sie in Ermangelung einer geistreicheren Bemerkung.

Er zeigte auf das Haus links neben ihnen. Auf das, aus dem sie ihn hatte rauskommen gesehen. „Gleich nebenan.“

„Mit deiner Tochter?“, fragte sie in der Hoffnung, sich richtig zu erinnern.

Die Belustigung verschwand aus seinem Gesicht. Was blieb, waren Anspannung und … Schmerz?

„Emily.“

„Es wird ihr in Los Lobos bestimmt gut gefallen. Es ist ein toller Ort für Kinder. Vor allem im Sommer.“ Jill hatte erst angefangen, sich über die Einschränkungen des Kleinstadtlebens zu beklagen, als sie ins College gekommen war.

„Hoffentlich. Ich habe sie eine ganze Weile nicht gesehen. Nach der Scheidung …“ Er zuckte die Achseln, was nicht gerade viel erklärte.

„Gab es danach Probleme mit ihrer Mutter?“, fragte sie.

„Nein. Carly war toll. Es war meine Schuld. Ich war eine Zeit lang nicht da. Das hat Emily verletzt. Sie ist doch noch ein Kind, das hatte ich vorübergehend vergessen. Ich möchte ein gemeinsames Sorgerecht, aber dieses Privileg muss ich mir erst verdienen. Und genau darum geht es in diesem Sommer.“

Nach seiner Antwort hatte sie noch mehr Fragen als zuvor, aber sie wollte ihn nicht bedrängen.

„Ich hoffe, dass alles gut klappt“, sagte sie.

„Ich auch. Em bedeutet mir mehr als alles andere.“ Das Lächeln kehrte zurück. „Deine Tante hat mir angeboten, sich tagsüber um sie zu kümmern. Meinst du, ich sollte mir das noch mal überlegen?“

„Weil ich gesagt habe, dass sie keine Kinder mag?“

Er nickte.

Jill schüttelte den Kopf. „Das Unterrichten hat ihr keinen großen Spaß gemacht, aber als ich ein Kind war, fand ich sie immer toll.“ Natürlich war da noch die Sache mit den übersinnlichen Fähigkeiten, aber vielleicht war es besser, wenn Mac das alleine herausfände.

„Gut zu wissen“, meinte er.

„Deine Tochter ist vorhin angekommen, nicht wahr? Ist alles gut gelaufen?“

Er blickte zu seinem Haus. „Ja, schon. Carly hat sie von L.A. hergefahren und sie später ins Bett gebracht. Ich brauchte mich nur im Hintergrund zu halten. Die Feuerprobe kommt erst morgen früh.“

„Du liebst sie“, sagte Jill. „Damit ist schon viel gewonnen.“

„Hoffentlich.“

Sie wollte gerade näher auf das Thema eingehen, als ihr einfiel, dass sie absolut keine Erfahrung in Sachen Kinder hatte. Nicht dass sie keine gewollt hatte. Aber der verlogene, hinterhältige Scheißkerl war der Meinung gewesen, sie sollten warten, und aus Gründen, die von ihrer Warte aus völlig unersichtlich gewesen waren, hatten sie das auch getan. Nun war sie natürlich froh darüber – Kinder hätten die Scheidung nur verkompliziert.

„Und warum bist du in der Stadt?“, fragte Mac. „Machst du hier Urlaub? Mein letzter Stand ist, dass du Anwältin für Körperschaftsrecht in San Francisco bist.“

Jill riss unwillkürlich die Augen auf. Er wusste etwas über ihr Leben? Hatte er sich erkundigt? Hatte er an sie gedacht? Gab es …

Blitzschnell schlug sie eine mentale Tür vor diesen Gedanken zu. Es bestand kein Zweifel daran, dass Mac einfach nur Kleinstadt-Tratsch aufgeschnappt hatte. Nichts, weswegen sie aufgeregt sein müsste.

„Das war ich auch bis vor Kurzem“, antwortete sie. „Ich habe für eine auf Körperschaftsrecht spezialisierte Kanzlei in San Francisco gearbeitet. Ich stand kurz davor, Juniorpartner zu werden.“ Sie machte weiter damit, sich die feuchten Haare zu kämmen.

„Du sprichst in der Vergangenheit?“

„Jupp. Mein Exmann in spe hat meine Entlassung erwirkt. Außerdem hat er mir meine Beförderung geklaut, sich mein Büro mit Fenster unter den Nagel gerissen und sich in unserem Appartement breitgemacht.“ Sie zerrte an einer verknoteten Strähne. „Auch wenn er die Wohnung nicht behalten wird. Sie gehört uns beiden. Ach ja, betrogen hat er mich auch. Ich habe ihn dabei erwischt, und glaub mir, diesen Anblick würde ich liebend gern aus meinem Gehirn löschen.“

„Das ist eine Menge für einen einzigen Tag. Wie hat er das mit der Entlassung geschafft?“

„Das versuche ich noch herauszufinden. Ich habe für die Kanzlei viele Mandanten an Land gezogen. Mehr als die anderen angestellten Anwälte. Aber als sie mich gefeuert haben, durfte ich mit keinem der Seniorpartner sprechen, um zu erfahren, was los war. Ich habe einige E-Mails und Briefe geschrieben, also mal abwarten. Auf jeden Fall bleibe ich vorübergehend in Los Lobos und übernehme die Kanzlei von Dixon and Son.“

„Und darüber bist du nicht besonders glücklich.“

„Kein bisschen.“ Sie versuchte sich einzureden, dass sie wenigstens als Anwältin arbeiten könnte, aber sie konnte sich nicht recht überzeugen.

„Ich nehme an, dass Mr Dixon gar keinen Sohn hat.“

„Offenbar nicht. Oder er hatte keine Lust, das Familiengeschäft weiterzuführen. Also mache ich das.“ Sie setzte den Kamm ab und rang sich ein Lächeln ab. „Ich bin eine kleine Prozessanwältin. Und in meiner Freizeit werde ich die Rache an Lyle planen.“

„Deinem Ex?“

„H-hm.“

„Falls du für diese Rache das Gesetz brechen musst, will ich nichts davon wissen.“

„Na gut. Aber wahrscheinlich werde ich ohnehin nichts Illegales tun. Ich will schließlich nicht meine Lizenz verlieren.“ Was die Möglichkeiten stark einschränkte. Trotzdem kein Problem. Sie müsste einfach etwas kreativer sein.

„Hat eigentlich die Sommersaison der Softball League schon begonnen?“, erkundigte sie sich.

Mac nickte. „Klar. Es sind jedes Wochenende Spiele.“

„Gut. Ich denke, ich werde den Wagen neben dem Übungsplatz parken. Da fliegen doch sicherlich eine Menge Bälle durch die Gegend.“

Er zuckte zusammen. „Gehört ihm der 545 Lyle?“

„Theoretisch gehört er uns beiden. Er hat ihn schließlich während unserer Ehe hinzugewonnen.“

„Wenn ich du wäre, würde ich mir das notieren, um es dem Richter zu sagen.“

„Das werde ich auch.“

Er lachte leise.

Jill zog die Knie zur Brust und seufzte. Das war nett – es machte Spaß. Mit sechzehn wäre ein nächtliches Gespräch mit Mac die Erhörung ihrer Gebete gewesen. Und mit achtundzwanzig war es auch nicht so schlecht.

„Warum hier?“, fragte er. „Du hättest dir doch überall einen Job suchen können.“

„Danke für das Vertrauensvotum. Mein Aufenthalt hier ist nur vorübergehend. Eigentlich ist die Sache auf dem Mist meines Vaters gewachsen.“

Mac starrte sie an. „Er hat es vorgeschlagen?“

„Oh ja. Als ich ihm erzählte, was passiert ist, hat er mir von der Stelle in der hiesigen Kanzlei erzählt. Man sollte meinen, dass er sich heute, da er auf der anderen Seite des Landes lebt, weniger in die Angelegenheiten der Stadt einmischt als früher, aber nein. Es ist, als lebte er noch immer gleich um die Ecke und nicht in Florida.“

„Ja, er mischt immer noch kräftig mit“, bestätigte Mac. „Richter Strathern hat mir auch von der freien Stelle bei der hiesigen Polizei erzählt.“

Jill wusste nicht, was sie mehr überraschte – dass ihr Vater in Kontakt mit Mac stand oder dass Mac so förmlich von ihm sprach. Sie kannten einander schon seit Jahren. Mac war quasi im Haus ihres Vaters aufgewachsen. Natürlich stellte die Tatsache, dass Mac der Sohn der Haushälterin war, ihre Beziehung auf eine andere Ebene. Auch wenn ihr solcherlei Dinge völlig schnurz waren. Als Teenager hatte sie sich nur dafür interessiert, wie süß Mac war und dass ihr Herz jedes Mal, wenn er sie anlächelte, herumflatterte wie ein Kolibri.

„Dann ist mein Dad also schuld, dass wir beide hier sind“, stellte sie fest. „Auch wenn es dir hier gefällt.“

„Vielleicht wächst die Stadt ja mit dir.“

„Wie eine Warze? Nein, danke.“

Sie befühlte ihre Haare und merkte, dass sie angefangen hatten zu trocknen. Binnen Minuten würden sie sich in einen wilden, wolligen Mopp verwandeln, weshalb sie schnell anfing, sie zu einem losen Dutt zusammenzudrehen.

„Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass du solche Locken hattest“, sagte er, während er ihr zusah.

Jill musste daran denken, wie sie am Nachmittag ausgesehen hatte – ein fleckiges, betrunkenes, krauses Durcheinander. „Meine Haare haben ihren eigenen Kopf. Ich bändige sie mit einer Kombination aus eisernem Willen und kleinen Helfern: Föhn, Glätteisen und einer Sammlung von Flaschen und Tiegeln. Gib mir Strom, mein Werkzeug und eine Stunde, und du siehst glatte, perfekte Haare.“

„Warum machst du dir solche Arbeit?“

So was konnte nur ein Mann fragen. „Um meine Mähne zu bändigen, damit sie einigermaßen normal aussieht.“

„Locken sind doch sexy.“

Vier einfache Worte, bei denen ihr Magen Luftsprünge vollführte und ihr Mund trocken wurde. Am liebsten hätte sie den Kopf geschüttelt und ihre Locken stolz zur Schau gestellt. Am liebsten hätte sie auf dem Rasen getanzt und dem Himmel verkündet, dass Mac ihre Haare sexy fand.

„Vor allem, wenn sie so lang sind wie deine.“

Das wurde ja immer besser.

„Danke.“

Huh, sie klang ja so lässig. Gut, dass er ihre Hormone nicht sehen konnte, die sich in einer Reihe aufgestellt hatten und einen Freudentanz vollführten.

Mac stand auf. „Das war schön, Jill, aber ich muss zurückgehen und nach Emily sehen. Ich möchte nicht, dass niemand da ist, wenn sie aufwacht.“

„Na klar.“

Sie verkniff sich einen Seufzer des Bedauerns und konnte sich gerade davon abhalten, ihm zu sagen, wie gern sie sich noch ein bisschen mit ihm über ihre sexy Haare unterhalten würde. Vielleicht ja beim nächsten Mal.

Sie winkte Mac hinterher, drehte sich dann um und steuerte auf die Hintertür zu. Als sie die Finger auf die Türklinke legte, erstarrte sie.

Vielleicht ja beim nächsten Mal? Hatte sie das wirklich gedacht? Nein, nein, nein, nein, nein. Es gab weder ein dieses Mal noch ein nächstes Mal noch ein irgendwann einmal. Mac stand hier – Kleinstadtsheriff will sich mit Kind versöhnen. Und sie stand da – Hai aus Großstadt-Anwaltskanzlei. Sie wollte sich freischwimmen. Und nicht in Los Lobos gefangen sein. Sie wollte fettes Geld und eine noch fettere Rache an dem verlogenen, hinterhältigen Scheißkerl. Knackige Männer, die nebenan wohnten, gehörten nicht zu ihrem Plan. Und falls sie doch in Versuchung geriete, brauchte sie nur daran zu denken, was beim letzten Mal geschehen war, als sie sich besagtem Mann an den Hals geworfen hatte.

Er hatte ihren nackten Körper ein Mal angesehen und sich übergeben. Das war eine schmerzhafte Lektion gewesen – und sie täte gut daran, das nicht zu vergessen.

Emily Kendrick kniff ihre Augen so fest wie möglich zusammen – so lange, bis ihr das ganze Gesicht wehtat und sie dachte, sie würde sich die Augäpfel zerquetschen. Sie biss fest die Zähne zusammen, zog die Schultern hoch und hielt die Luft an, bis das Brennen nachließ. Dann entspannte sie sich.

Okay. Besser. Sie würde nicht weinen. Nicht hier. Auch wenn sie nicht genau wusste, warum sie dachte, dass sie ihren Gefühlen besser nicht nachgäbe. Es war ja nicht so, dass ihr jemand verboten hätte zu weinen. Der Befehl kam tief aus ihr – aus diesem unheimlichen, dunklen Ort, der immer größer wurde, wenn sie an den Sommer mit ihrem Dad dachte. Wenn sie daran dachte, dass ihre Mom weggefahren war und seit langer, langer Zeit nichts mehr in Ordnung war.

Von unten hörte sie Geräusche. Irgendetwas schepperte auf dem Herd. Früher hätte sie bei dem Gedanken, dass ihr Dad etwas kochte, gekichert. Manchmal hatte er das gemacht. Sonntagmorgens etwa oder wenn sie krank gewesen und er bei ihr zu Hause geblieben war. Dann hatte er lustige Sachen gemacht, wie zum Beispiel getoastete Käsesandwiches, die er in Bootform geschnitten hatte, oder Karamellpopcorn, das sie zusammen in den Ofen geschoben hatten. Er hatte ihr immer erlaubt, ihm zu helfen. Er hatte …

Das Brennen kam wieder. Emily atmete tief ein und verdrängte die Tränen mit purer Willenskraft. Sie würde nicht über früher nachdenken. Nicht an die Zeit denken, als noch alles gut gewesen war und ihr Dad sie in die Luft geworfen und ihr gesagt hatte, dass er sie lieb hatte, während ihre Mom die ganze Zeit gelacht hatte. Sie würde weder daran denken noch daran, wie sie und ihre Mom eines Tages fortgegangen waren und ihr Dad sie nicht mal gesucht hatte.

Sie ging zu dem Bett, das sie sorgfältig gemacht hatte, und nahm Elvis. Das zerschlissene Nashorn lag genauso in ihren Armen wie immer, und sogleich ging es ihr ein bisschen besser.

„Mommy hat uns allein gelassen“, murmelte sie dem kahlen Fleck hinter seinem Ohr zu – der Stelle, der sie immer ihre Geheimnisse anvertraute. „Sie ist gestern Abend gefahren, nachdem sie mich ins Bett gebracht hat, und ich bin wütend auf sie.“

Emily wollte nicht wütend auf ihre Mom sein, aber wütend sein war ungefährlich. Im Augenblick war sie gern wütend, denn wenn sie wütend war, machte sie sich nicht so viele Gedanken.

„Wir müssen den ganzen Sommer hierbleiben. Und wir müssen die Tage bei irgendeiner alten Frau verbringen, weil mein Dad arbeiten muss. Er ist der Sheriff.“

Sie wusste nicht, was es hieß, der Sheriff zu sein. Vorher war er Polizist gewesen. Es hatte ihr gefallen, wie er in seiner Uniform ausgesehen hatte – so groß und mutig –, und sie hatte gewusst, dass er sie immer beschützen würde. Aber dann hatte er sie gehen lassen, und das durften Daddys eigentlich gar nicht. Eigentlich mussten Daddys immer bei ihren kleinen Mädchen sein.

Ich will hier nicht sein, dachte Emily und starrte die Zimmertür an. Sie hatte ihre Mutter angefleht, zu Hause bleiben zu dürfen. Sie hatte versprochen, brav zu sein und ihr Zimmer aufzuräumen und nicht zu viel fernzusehen, aber es hatte nicht funktioniert. Ihre Mutter hatte sie hergebracht und allein gelassen.

Emilys Magen knurrte. Sie hatte Hunger, weil sie vor dem Schlafengehen nicht so viel gegessen hatte.

Langsam und vorsichtig öffnete sie die Tür und trat auf den Flur. Das Haus war zwar alt, aber schön. Groß, zweistöckig und mit vielen großen Bäumen ringsherum. Ihre Mom hatte ihr erzählt, dass der Ozean ganz nah sei und dass ihr Dad mit ihr am Strand spielen würde. Die Vorstellung hatte Emily gefallen, aber das hatte sie nicht gesagt.

Die Stufen knarrten, als sie nach unten ging. Sie konnte ihren Dad immer noch in der Küche hören. Sie roch gebratenen Speck und … Pfannkuchen? Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Sie klammerte sich immer fester an Elvis, bis sie Angst hatte, sie würde ihn wie einen Luftballon zum Platzen bringen. Zögerlich blieb sie an der Küchentür stehen.

Die Küche war groß und hatte viele Fenster. Ihr Dad stand am Herd. Er sah so groß und stark aus – genauso wie sie ihn in Erinnerung hatte. Fast wäre sie zu ihm gerannt, um sich von ihm hochheben und knuddeln zu lassen. Sie sehnte sich so sehr danach, von ihm in den Arm genommen zu werden. Sie sehnte sich danach, von ihm zu hören, dass sie für immer und ewig sein bestes Mädchen sein würde.

Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und ihr Magen fühlte sich nicht länger leer an, sondern flau. Und als ihr Dad aufsah und sie anlächelte, hatte sie das Gefühl, ihre Füße wären am Boden festgeklebt.

„Hey, Mäuschen, wie hast du geschlafen?“

„Ganz gut“, flüsterte sie.

Sie wartete auf eine Umarmung oder ein Zwinkern oder irgendetwas, das ihr verriet, dass sie immer noch sein bestes Mädchen war. Sie beugte sich vor, um ihn sagen zu hören, dass er sie lieb hatte und wie sehr er sich freute, dass sie zusammen waren. Dass er sie vermisste und jeden Tag nach ihr gesucht hatte, sie aber nicht hatte finden können.

Aber er sagte nichts. Stattdessen zog er an dem Tisch in der Mitte des Zimmers einen Stuhl vor.

„Setz dich. Ich habe Pfannkuchen gemacht. Die hast du doch immer so gemocht, nicht wahr? Ach ja, und Speck.“

Emily fühlte sich von innen ganz kalt. Als wäre der dunkle, unheimliche Fleck in ihr gefroren. Sie wollte keine Pfannkuchen, sie wollte ihren Dad.

Er wartete, bis sie saß, und schob den Stuhl an den Tisch. Emily legte Elvis neben ihr Gedeck auf den Tisch und wartete ab, während ihr Dad drei Pfannkuchen auf ihren Teller legte. Danach kam der Speck. Sie sah von dem Essen zu dem Glas Orangensaft zu ihrer Rechten.

Lustig, dass sie überhaupt keinen Hunger hatte. Sie spürte sowieso überhaupt nichts.

„Hier sind noch ein paar Erdbeeren“, sagte er und stellte links von ihr eine Schüssel mit den aufgeschnittenen Früchten auf den Tisch.

Emily straffte die Schultern und schob den Teller vorsichtig weg. „Nein, danke“, sagte sie mit so leiser Stimme, dass sie sich fragte, ob sie anfing, sich aufzulösen.

„Was? Hast du denn gar keinen Hunger?“

Am liebsten hätte sie sich Elvis geschnappt und ihn ganz fest gehalten, aber dann wäre Ihr Dad wahrscheinlich darauf gekommen, dass sie Angst hatte und traurig war. Stattdessen ballte sie die Hände so fest zu Fäusten, dass sich ihre Fingernägel in die Haut bohrten.

„Es ist die falsche Farbe“, sagte sie und gab sich Mühe, etwas lauter zu sprechen. „Ich habe lila Sachen an.“

Er sah sich ihr T-Shirt und ihre Shorts an. „Das heißt?“

„Wenn ich Lila anhabe, kann ich nur lila Sachen essen.“

Sein Mund verzog sich zu einer geraden Linie, und er kniff leicht die Augen zusammen. Jetzt sah er nicht mehr glücklich aus, und sie bekam Angst. Aber sie gab nicht nach. Es ging einfach nicht.

„Seit wann denn das?“, erkundigte er sich. „Seit wann stimmst du dein Essen auf die Farbe deiner Kleidung ab?“

„Seit einer Weile.“

„Verstehe.“

Es war erst kurz nach acht Uhr morgens, und Mac war jetzt schon müde. Verflucht noch mal – er wollte nicht, dass Emily diesen Kampf gewann. Das hier war gewissermaßen ein Präzedenzfall, der ihn in die eine oder die andere Ecke drängen würde.

„Warte hier“, sagte er zu seiner Tochter. Er verließ die Küche und ging zu dem kleinen Zimmer im vorderen Teil des Hauses.

In dem schmalen Raum hatte er sich ein Büro eingerichtet, indem er einfach einen Schreibtisch zwischen zwei Einbaubücherregale geschoben hatte. Er nahm das Telefon und wählte Carlys Nummer. Hätte sie ihn nicht vor Emilys Spleens warnen können? Sie hatte schließlich einen ganzen Abend Zeit gehabt. War es wirklich so schwer zu sagen: „Ach ja, Mac, das Kind isst übrigens nur Sachen, die farblich zu seinen Klamotten passen“?

Immer noch wütend hätte er beinahe nicht wahrgenommen, dass ein Mann abnahm.

„Hallo?“

„Was?“ Mac wollte gerade sagen, dass er sich verwählt hatte, doch dann begriff er, dass das vielleicht gar nicht stimmte. „Ist Carly da?“

„Ja. Ich hole sie.“

„Hier spricht Mac“, fügte er hinzu – auch wenn er nicht genau wusste, weshalb.

„Einen Moment, bitte.“

Er hörte, wie der Hörer abgelegt wurde. Dann vernahm er murmelnde Stimmen, die aber so leise waren, dass er nichts verstehen konnte. Anscheinend hatte Carly einen Freund, und dieser Freund war über Nacht geblieben. Mac dachte kurz darüber nach und schüttelte den Kopf. Von ihm aus konnte sie mit der gesamten NFL schlafen, solange sie es nicht vor seiner Tochter tat.

„Mac? Was ist los?“

„Warum hast du mir nicht gesagt, dass sie nichts isst, das nicht zu ihren Klamotten passt?“

Aus mehreren hundert Kilometern Entfernung hörte er seine Exfrau seufzen. „Tut sie das nicht? Das tut mir leid. Ich hatte gehofft, dass sie damit aufhört. Wir haben darüber gesprochen.“

„Du und Emily, ihr habt darüber gesprochen. Aber mir hast du kein Sterbenswörtchen gesagt.“

„Stimmt. Das hätte ich tun sollen.“

„Wie lange geht das schon so?“

„Seit ungefähr sechs Wochen. Ich habe mit der Kinderärztin gesprochen. Sie hält es für möglich, dass Emily auf die Art ein bisschen Kontrolle über ihr Leben gewinnen will. Und vielleicht uns dazu bringen will, das zu tun, was sie möchte. Sie hatte weder bei der Scheidung ein Mitspracherecht noch bei deinem Umzug. Sie bestraft uns.“

„Kann sie nicht einfach nur einen Trotzanfall kriegen und fertig?“

„Wem sagst du das?“

Er setzte sich auf eine Ecke seines Schreibtischs. „Also gut. Wie funktioniert das Ganze? Gestern Abend hat sie ja auch gegessen.“

„Klar. Sie hatte rote Sachen an. Und ich habe Spaghetti mitgebracht, einen Salat aus roten Blättern und zum Nachtisch Erdbeertörtchen. Welche Farbe trägt sie jetzt gerade?“

„Lila. Ich habe Pfannkuchen und Speck gemacht. Bislang hat sie nichts davon angerührt.“

„An Lila-Tagen sind Blaubeeren ganz gut. Obwohl … als ich letzte Woche bei der Ärztin war, meinte sie, dass der Hunger sie irgendwann zwingen würde, das zu essen, was wir ihr auftischen, solange wir nicht nachgeben.“

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