Skandal um Lady Amelie

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Um einem Skandal zu entkommen, flieht die schöne junge Lady Amelie aus London und zieht nach Richmond. Hier, in dem hübschen Städtchen an der Themse, begegnet sie dem Mann wieder, den sie für einen arroganten Aristokraten hält: Nicholas Elyot. Doch der elegante Lord ist gar nicht so, wie sie dachte! Das wird ihr klar, als er sie spontan beschützt, um einen weiteren Skandal zu vermeiden. Er verlobt sich sogar mit ihr, und in Amelie erwachen zärtliche Gefühle. Aber was empfindet er für sie? Nichts, muss sie leider vermuten. Denn er verlässt Richmond ohne ein einziges Wort des Abschieds


  • Erscheinungstag 13.03.2010
  • Bandnummer 51
  • ISBN / Artikelnummer 9783862953868
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL
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In einem raschen Ausfall traf die Degenklinge auf die gepolsterte Schutzweste des Gegners, dann zog Lord Elyot die Waffe zurück und senkte sie. Mit einem Lachen erkannte der Marquis of Sheen seine Niederlage an und hob salutierend einen Arm. „Gut gemacht, mein Junge“, rief er, während er seinen Degen dem Fechtmeister übergab. „Ich frage mich, ob ich dich wohl noch einmal schlagen werde.“

Der Jüngere nahm die Fechtmaske ab und entgegnete: „Nicht, wenn ich es vermeiden kann, Sir. Ich habe lange genug gebraucht, bis ich mich mit Ihrer Fertigkeit messen konnte.“ Er schüttelte seinem Vater die Hand und nahm dabei wieder einmal bewundernd zur Kenntnis, wie wendig und scharfäugig der Zweiundfünfzigjährige noch war. Dabei entging ihm allerdings, wie sehr er selbst ihm ähnelte. Jeder, der den Marquis in seiner Jugend gekannt hatte, musste zugeben, dass hier das Ebenbild des Vater stand, groß, breitschultrig, geschmeidig, mit schmalen Hüften und überaus attraktiv. Vom Kampf zerzaust, fiel ihm das dunkle, beinahe schwarze Haar ins Gesicht, und sein Mund, der so sympathisch jungenhaft lächeln konnte, ließ Frauenherzen oft genug aufgeregt klopfen.

Die beiden Herren setzten sich, um dem nächsten Kampf zuzusehen. „Sie sind doch auf der Höhe, Vater?“, fragte Lord Elyot.

Der Ältere schnaufte abfällig. „Allerdings; schlechte Gesundheit kann ich nicht als Entschuldigung für meine Niederlage anführen. Mir ging es nie besser. War mit meinen Gedanken nicht ganz bei der Sache, schätze ich.“ Der Marquis sah seinen Sohn von der Seite an. „Irgendeine Ausrede muss ich ja vorbringen.“

Lord Elyot lehnte sich zurück. „Was ich nicht von Ihnen kenne, Sir. Also, wo gibt es Probleme? In London oder Richmond?“

„In Richmond, Nick. Sagtest du nicht, du fährst heim?“

„Ja, ich muss hier noch ein paar Kleinigkeiten klären, doch morgen fahre ich zurück. Es wird Zeit, sich wieder um den Besitz zu kümmern. Immerhin bin ich seit fünf Wochen hier.“

„Was klären? Geht es um Unterröcke? Ist es immer noch diese Selina … wie heißt sie doch gleich?“

„Miss Selena wie-heißt-sie-doch-gleich …“, Nick grinste, „… verließ mich schon vor Wochen, Vater. Sie sind nicht auf dem Laufenden.“

„Und wie viele kamen denn danach?“

„Ach, ich weiß nicht. Ein paar. Aber es geht um Seton, ihn will ich nach Hause schaffen, ehe er sich in Schwierigkeiten bringt. Nein, keine Aufregung, noch ist nichts passiert, doch wenn er noch eine Weile in London bleibt … In Richmond gibt es genug für ihn zu tun. Er kann mir bei der Verwaltung über die Schulter schauen. Frische Luft wird ihm guttun. Es wird sich genug finden, ihm die Langeweile zu vertreiben.“

„Vielleicht könnte er dir bei einer Untersuchung helfen.“

„Um was geht es, Sir? Wilderer?“

„Nicht ganz so simpel. Es kamen Klagen aus dem Magistrat, jemand pfuscht in Gemeindeangelegenheiten herum.“

„Wer?“

„Ah, eben das weiß man nicht. Komm, ich erzähle dir, worum es geht, während wir uns umziehen.“

Wie jeder Adelige, der seine Stellung in der Gesellschaft ernst nahm, oblagen auch dem Marquis of Sheen, der, wie schon seine Vorfahren, in Richmond in der Grafschaft Surrey residierte, diverse Verpflichtungen, unter anderem war er Vertreter des königlichen Stallmeisters und hatte einen Richtersitz inne. Musste er aufgrund dieser Tätigkeiten seinem Besitz in Richmond fernbleiben, nahm ihm sein ältester Sohn Lord Nicholas Elyot gern die Verwaltung der Güter ab, und früher oder später würden auch die zuvor genannten Pflichten auf seinen Schultern lasten. Richmond lag flussaufwärts nur gut zwei Fahrstunden von London entfernt, und der Magistrat der kleinen Stadt bestand aus tatkräftigen, angesehenen Bürgern wie dem Pfarrer, dem Lehrer, mehreren Gutsbesitzern und selbstverständlich dem Marquis als höchster Obrigkeit.

Dem Gemeinderat oblagen Aufgaben wie die Instandhaltung und Beleuchtung der Straßen, der Brandschutz, die Verfolgung von Straftaten und die Sorge um Bedürftige, die meist im Armen-oder im Arbeitshaus landeten. Dort erhielten sie zwar Unterkunft und magere Nahrung, indes war das Leben in solchen Institutionen hart und alles andere als angenehm.

„Irgendjemand treibt ein seltsames Spiel, besticht die Aufseher des Arbeitshauses. Zwei junge Frauen haben sie schon laufen lassen – beide in anderen Umständen –, die man gerade erst aufgegriffen hatte.“

„Und man weiß nicht, wer dahintersteckt?“

„Nein. Außerdem sind auf diese Art nämlich auch zwei Schuldner und ein Kind nachts hinausgeschleust worden. Wie du weißt, spricht nichts dagegen, dass man jemandem seine Schuld ablöst, damit er wieder frei kommt, aber es sollte auf regulärem Weg geschehen und nicht, indem man Schlösser aufbricht oder einem Aufseher die Hand schmiert. Es muss aufhören!“

„Also möchten Sie, dass ich nachforsche. Könnte es jemand aus dem Magistrat sein, der den anderen grollt?“

„Unwahrscheinlich, denn die Beschwerde kommt ja vom Magistrat. Wir müssen den Täter erwischen und möglichst etwas Kompromittierendes über ihn herausfinden, womit man ihn … sagen wir … überreden kann, weitere gute Taten zu unterlassen. Ich will das nicht an die große Glocke hängen; ich wäre zufrieden, wenn wir die Sache mit einer kleinen Erpressung aus der Welt schaffen könnten. Meinetwegen, indem wir mit Strafverfolgung drohen. Immerhin ist es eine Straftat.“

„Tatsächlich?“ Nicholas lächelte.

„Ja, sicher, Entführung“, sagte der Marquis leichthin.

„Und Behinderung der Justiz natürlich.“

„Übertreiben Sie nicht ein wenig, Vater?“ „Nun … mag sein. Aber ich kann nicht zulassen, dass der

Gemeinderat verstimmt ist. Immerhin sorgen seine Mitglieder in meiner Abwesenheit dafür, dass alles ordnungsgemäß läuft. Sie sehen ihre Tüchtigkeit gern anerkannt.“

„Tüchtig sind sie bestimmt. Ich werde mich um die Sache kümmern. Wird sicher nicht viel Zeit kosten. Sie hören von mir, Sir.“ Nicholas, der sich mittlerweile umgekleidet hatte, erlaubte dem Hausdiener, die Revers und Manschetten und das schneeweiße Krawattentuch zurechtzuzupfen. Dann ließ er sich Biberhut und Handschuhe reichen und griff nach dem glänzenden Spazierstock mit dem Silberknauf.

„Sehen wir dich beim Dinner?“, fragte der Marquis.

„Ich weiß es noch nicht. Soll ich später Nachricht geben?“

„Aber sicher. Und vergiss nicht den Geburtstag deiner Schwester – in diesem Monat.“

„Himmel! Haben wir schon August?“

„Nein, mein Junge, seit zwei Tagen bereits September.“

„Wirklich? Wie alt wird sie?“ „Herrgott, Bürschchen! Was weiß ich! Frag heute Abend deine Mutter.“

Sie nickten einander verabschiedend zu und trennten sich mit einem Blickwechsel, der deutlich zeigte, dass ihre Unwissenheit bezüglich familiärer Feste nur gespielt war.

In den von edlen Materialien blitzenden Geschäftsräumen von Rundell, Bridge and Rundell herrschte eine gedämpfte, fast erhabene Atmosphäre. Die weiß beschürzten Gehilfen in ihren schwarzen Westen sprachen in ehrerbietigem Flüsterton und stimmten unter wiederholten Verneigungen in allem der wohlbetuchten Kundschaft zu, die es nicht nötig hatte, den Preis der Waren zu erfragen. Hier einzutreten war sinnlos, wenn man finanzielle Probleme hatte, denn Rundell’s war Londons elegantester, meistbesuchter Juwelier und Goldschmied. Billige Artikel gab es hier nicht, und wenn es sie gegeben hätte, wäre kein Käufer dafür gefunden worden.

Das zumindest hatte Lady Amelie Chester dem Ladies’ Magazine entnommen und beschlossen, der Hauptstadt, die sie zum ersten Mal besuchte, nicht den Rücken zu kehren, ohne diese heiligen Hallen gesehen zu haben. Seit einer Stunde ließ sie nun ihre Kalesche schon warten, und immer noch hatte sie nicht alle Kaufentscheidungen getroffen. Ihre ursprünglich lächerlich kurze Liste hatte sie längst fortgelegt und lächelte nun ihre beiden Gefährtinnen entschuldigend an, denen es das Pretiosenparadies bei Weitem nicht so angetan hatte wie ihr selbst.

Die schlicht gekleidete Frau mit dem Kaschmirschal über dem Arm erwiderte das Lächeln. „Miss Chester wird langsam zappelig, Mylady“, flüsterte sie mit einem Blick auf das kindlich in Rüschen gehüllte Persönchen, das eben hinter einer der Vitrinen verschwand.

Miss Caterina Chester, die gelangweilte siebzehnjährige Nichte der begeisterten Käuferin, hatte endlich etwas entdeckt, das ihr gefiel, jedoch besser zwischen ein paar silbernen Kandelabern hindurch betrachtet werden sollte. Zwei Herren waren nämlich eingetreten, aus deren Gespräch die junge Dame so viel hatte entnehmen können, dass die beiden verwandt und der eine um die dreißig, der andere einige Jahre jünger war. Beide waren zweifellos von hohem Rang und die attraktivsten Gentlemen, die ihr heute vor die Augen gekommen waren.

Aus den gängigen Modemagazinen wusste sie, wie ein beispielhaftes Mitglied des ton aufzutreten hatte: auf keinen Fall grell und extravagant; jedes Kleidungsstück musste perfekt sitzen, von höchster Eleganz sein und so eng geschnitten, dass es sich wie eine zweite Haut um breite Schultern, muskulöse Schenkel und schmale Hüften schmiegte. Auspolsterungen waren tabu, ebenso wie Korsetts. Was alles auf diese beiden Herren hier zutraf.

Ein ansehnliches Paar, sagte sie sich, die beiden vergleichend. Der Ältere, mit gebieterischer Haltung, war wohl in der Armee gewesen, der Jüngere dachte wahrscheinlich, dass es bessere Beschäftigungen geben müsse. Eines stand jedenfalls fest: Sie mussten reich sein, sonst wären sie nicht hier in diesem exklusiven Geschäft.

Dass sich die Aufmerksamkeit der beiden auf der Stelle Lady Amelie Chester zuwenden würde, war Caterina klar. Ihre Tante hatte an diesem Tag schon überaus zahlreiche Blicke auf sich gezogen. Wo immer sie sich befanden, was sie auch tat oder nicht tat, ständig hatten Männer gegafft, sich den Hals nach ihr verrenkt oder gar einen ungezogenen Pfiff ausgestoßen, und von Neid zerfressene Damen suchten nach Mängeln in ihrer Erscheinung, nur um enttäuscht aufgeben zu müssen.

Caterina, die die beiden nicht aus den Augen gelassen hatte, sah, dass der jüngere Herr nach dem an seiner Weste befestigten Monokel griff, es jedoch auf ein paar leise Worte seines Begleiters hin wieder fallen ließ. Dann näherten sie sich unauffällig, wie Katzen, die sich an ihre Beute anschleichen.

Mittlerweile hatte Lady Amelie, die in ihrem fast euphorischen Zustand kaum etwas um sich herum wahrnahm, eine Wahl getroffen. Erst vor Kurzem hatte sie sich einer unförmigen altmodischen Teekanne entledigt und schwebte nun im siebten Himmel, weil sie hier vor sich ein ganz entzückendes zierliches, modernes Stück sah. Noch ehe der erfreute Gehilfe seine Lobeshymnen bezüglich der hervorragenden Arbeit beendet hatte, erspähte sie einen vergoldeten Honigtopf in Form eines Bienenkorbes, dessen Deckel eine goldene Biene zierte. Zärtlich folgte sie mit ihren behandschuhten Fingern den eleganten Linien. „Wie vortrefflich!“, sagte sie begeistert.

„Ein Stück von Paul Storr, Mylady, erst gestern eingetroffen“, erklärte der Verkäufer, überbreit lächelnd. „Wir hoffen, in nächster Zeit mehr von ihm zu bekommen.“

„Nun, der Topf wird sich bei mir in Richmond wohlfühlen. Ich nehme ihn. Packen Sie ihn ein, zusammen mit dem Rest.“

Der ältere der beiden Herren trat vor. „Richmond?“, fragte er. „Ich dachte, ich kenne jeden Einwohner dort. Verzeihen Sie, Madam, wir sind einander noch nicht vorgestellt worden. Bitte, erlauben Sie, dass ich mir die Freiheit nehme, die Vorstellung selbst in die Hand zu nehmen, da für diese Aufgabe leider niemand zur Verfügung steht. Nicholas Elyot, zu Diensten, und mein Bruder, Seton Rayne.“

Der Gehilfe erkannte die Herren offensichtlich, denn er dienerte eifrig. „Einen guten Tag, Euer Lordschaft.“

„Amelie Chester.“ Amelie neigte in haarscharf korrektem Winkel den Kopf, was Caterina veranlasste, hinter der Vitrine hervorzukommen. Fasziniert sah sie zu, nicht zu stolz, ihrer Tante die eine oder andere Geste im Umgang mit Herren abzuschauen. Eines Tages werde ich das auch können, sagte sie sich. Tante Amelie lächelte weder breit, noch verhielt sie sich affektiert, wie manche Frauen, die nach männlicher Aufmerksamkeit strebten, sondern neigte nur leicht ihr hübsches Haupt mit dem Samthut, unter dessen breiter Krempe einige seidige Locken ihres vollen braunen Haares hervorlugten und die glatte, pfirsichzarte Haut und die hohen Wangenknochen betonten. Über ihren bezaubernd dunklen, mandelförmigen Augen wölbten sich feine dunkle Brauen. Sie ist perfekt, dachte Caterina, nicht ein Fleckchen an ihr bedarf der Nachhilfe durch Schönheitsmittel.

Lady Chester stand zwar kurz davor, die Halbtrauer abzulegen, trug jedoch noch dezente Farben, wie heute etwa eine dreiviertellange Pelisse aus blassviolettem Samt mit Schwanendaunenbesatz und darunter ein Tageskleid aus silbergrauer Seide. An ihrem Arm hing ein geräumiges, farblich passendes Retikül. Die einzige Zier ihrer eher schlichten Kopfbedeckung war eine silberne, auch mit Schwanendaune geschmückte Agraffe. Caterina dachte, dass die Wirkung all dessen auf die beiden Herren mindestens ebenso bemerkenswert anzusehen war wie Tante Amelies klassische Eleganz. Verstohlen nahm sie sich den auffälligen Schal ab, den sie unbedingt hatte tragen wollen, weil sie ihn für den Gipfel der Eleganz gehalten hatte, und reichte ihn Lise, der Zofe ihrer Tante.

Die Brüder lüfteten ihre Hüte und verneigten sich. „Sie residieren derzeit in London, Madam?“, fragte Lord Elyot.

Seine dunkle Stimme faszinierte Amelie. „Nein, Mylord. Wir sind zum Einkaufen hier. Wir müssen auch bald aufbrechen, Sir, die Tage werden kürzer.“

„In der Tat. Halten Sie sich schon lange in Richmond auf? Wie konnte uns das entgehen, frage ich mich?“

Endlich erhellte ein Lächeln ihr Gesicht, während sie ironisch eine Braue hob. „Ich glaube, man kann uns leicht übersehen, selbst beim Kirchgang. Meine Nichte und ich gehen seit unserer Ankunft dort kaum in Gesellschaft. Ah, darf ich vorstellen? Miss Caterina Chester.“

Endlich war Caterinas Augenblick gekommen. Sie trat vor und machte, da nun die gesamte Aufmerksamkeit der Herren ihr gehörte, den hübschesten Knicks, den sie zustande brachte. Obwohl sie die Augen hätte schüchtern gesenkt halten sollen, gewann ihr natürlicher Drang, zu sehen, welche Wirkung sie erzielte, die Oberhand.

„Mylords“, hauchte sie, während sie mit einem hastigen Blick ihrer strahlenden goldbraunen Augen das Gesicht und das lockige dunkle Haar des jüngeren Herrn in sich aufnahm. Er blickte sie jedoch nur kurz an und wandte sich gleich wieder ihrer Tante zu. Caterina seufzte innerlich.

Lord Elyot allerdings hatte bemerkt, dass eine seiner Fragen umgangen worden war, und versuchte sein Glück nun bei der jungen Dame. „Sie leben nun dauerhaft in Richmond, Miss Chester?“

„Oh ja, Mylord. Wir sind erst seit fünf Wochen und zwei Tagen dort, und es gibt immer noch so viel Neues zu sehen.“ Und zu tun, setzte Caterina in Gedanken hinzu. Abermals lugte sie hoffnungsvoll zu Lord Seton hinüber, musste jedoch feststellen, dass er ihr reichlich mit Rüschen und Bändern verziertes Tageskleid, den betressten Spenzer, den blumengeschmückten Hut und die Spitzenhandschuhe spöttisch musterte; dabei hatte sie doch geglaubt, sie sei nach dem letzten Schrei gekleidet.

„Um alles zu sehen, was London zu bieten hat, benötigen Sie Jahre“, entgegnete Lord Elyot, „doch natürlich geht das Einkaufen vor. Mein Bruder und ich suchen hier ein Geschenk zum Geburtstag unserer Schwester, allerdings fehlen uns Zeit und die rechte Vorstellung, was das Richtige wäre. Ich frage mich, Mylady …“, er wandte sich wieder Amelie zu, „… ob Sie und Ihre Nichte uns helfen könnten. Ihr Geschmack …“, fuhr er mit einem Blick auf ihre Einkäufe fort, die sich auf dem Verkaufstisch häuften, „… ist offensichtlich exquisit. Was, glauben Sie wohl, könnte unserer Schwester gefallen?“

„Da ich sie nicht kenne, ist das schwierig. Ist sie verheiratet? Und wie … wie alt wird sie?“

Die beiden wechselten einen Blick, bis schließlich Lord Seton ein paar Zahlen vorbrachte. „Also, sie ist drei Jahre älter als ich, verheiratet, hat zwei Gören … äh, Kinder …“

„Und sie ist zwei … nein, drei Jahre jünger als ich“, fügte der Ältere hinzu. „Wenn das hilfreich ist?“

Amelie unterdrückte ein Auflachen, und Caterina musste erneut sehen, welch verheerende Wirkung dieses sanft verhaltene Gurren auf die Herren hatte.

„Ein wenig“, erklärte Amelie mit einem kleinen Zwinkern. „Kennen Sie ihr Sternzeichen?“

„Hm, Anfang September? Oder eher Mitte?“

„Nein, Ende September“, sagte Lord Seton entschieden.

„Ach, dürfen wir die Auswahl des Geschenks nicht einfach ganz Ihnen überlassen? Wären Sie so freundlich? Mr. Bowyer …“, er wandte sich an den Ladengehilfen, „… wird es uns nach Richmond senden und die Kosten meinem Konto zurechnen. Wir sind ein wenig in Eile.“

Mr. Bowyer lächelte breit und zustimmend und dienerte abermals eilfertig. „Mylords.“

Amelie willigte ein, wunderte sich aber gleichzeitig, warum die Herren überhaupt den Laden aufgesucht hatten, wenn sie in Zeitdruck waren. „Natürlich“, entgegnete sie, „Miss Chester und ich werden gewiss etwas Passendes finden.“

Lord Elyot verneigte sich und sagte förmlich „Sie sind zu freundlich, Mylady. Wir stehen in Ihrer Schuld. Wir werden uns hoffentlich in Richmond sehen.“

Etwas an seinen Augen, fand Amelie, deutete darauf hin, dass er ein Mann mit Erfahrung war, dass er wusste, wie man eine Frau anschaute, um ihr das Gefühl zu geben, die einzige Person im Raum zu sein. Auch zu Caterina hatte er sich so verhalten, und sie wusste, das Mädchen hatte es durchaus wahrgenommen und sich gewünscht, der Bruder möge sie ebenfalls so behandeln.

Abermals wurden Verneigungen und Knickse getauscht, dann stürzte Caterina sich sofort in die erfreuliche Aufgabe, das Geld anderer Leute auszugeben, während die Herren sich zur Tür begaben. Ihre Stimmen trugen gut in der dezent gedämpften Atmosphäre des Ladens.

„Wieso haben wir es so eilig, Nick?“

„Weil wir noch heute nach Richmond zurück müssen. Muss mich an Vaters Stelle um ein Problem kümmern. Dringend.“

„Um was geht es?“

Nick griff nach einer Schnupftabakdose, die er interessiert betrachtete. „Ach, da hat jemand eine Schraube locker. Holt Langfinger und kleine Bälger aus dem Arbeitshaus.“ Die tiefe Stimme klang gedehnt und hörbar gelangweilt. „Wer glaubt, ein Unterrock mit ’nem Braten in der Röhre wäre es wert, gerettet zu werden, muss ja nicht ganz bei Trost sein, was, kleiner Bruder? Aber der Magistrat möchte, dass das aufhört. Na, wird uns nur einen Tag kosten. Nur sollten wir anfangen, ehe die Vagabunden erneut zur Landplage werden. Kannst mithelfen, wenn du magst.“ Er legte die Dose zurück in die Auslage. „Gehen wir! Es wird schnell genug erledigt sein.“

„Alberne Samariterspielerei! Diese selbst ernannten Wohltäter sollten alle eingelocht werden. Machen nur unnötigen Ärger!“

Als sie durch die Tür nach draußen traten, wurde ihre weitere Unterhaltung vom Lärm der Straße verschluckt, und Amelie blieb nur übrig zu tun, was ihre Nichte zuvor gemacht hatte: Zwischen den ausgestellten Waren hindurch beobachtete sie die Männer. In jäher Furcht begann ihr Herz wild zu hämmern.

Eine Schraube locker … Unterrock mit ’nem Braten in der Röhre … kleine Bälger retten … nicht ganz bei Trost …

Nicht so sehr der vulgäre Jargon versetzte Amelie in Wut, da die Männer natürlich reden konnte, wie sie wollten, wenn sie sich allein glaubten, sondern die Enthüllung, dass es da ein Problem zu lösen gab, das Richmonds Gemeinderat beunruhigte. Und zweifellos sprachen sie, ohne dessen gewahr zu sein, von ihr, Lady Chester, denn sie war der Samariter, und nie würde ihr eigenes tiefes Mitgefühl für das Elend Unglücklicher solchen vornehmen Gecken, wie diese dort es waren, verständlich sein, die nicht einmal den Geburtstag ihrer Schwester kannten oder gar, wie alt sie war. Wut, Widerwille und Enttäuschung wallten in ihr auf, als sie sich die höhnischen Stimmen vergegenwärtigte. Eben begutachteten die Männer draußen vor der Tür ihre hochelegante, mit allen modischen Accessoires versehene Kalesche und die vier ausgezeichnet aufeinander abgestimmten Apfelschimmel, den Kutscher mit seinem vielkragigen Mantel und den Lakaien in der schicken Livree. Auf jeden Fall werden sie so bald keine feineren Rösser als dieses auffallende Gespann finden, dachte Amelie, sich abwendend. Dieses Treffen war unerwartet enttäuschend ausgegangen, denn ursprünglich hatte ihr die Art der beiden gefallen. Nun würde es ihr außerordentlich schwer werden, ihnen den versprochenen Gefallen zu tun. „Caterina, Liebes, hast du etwas Passendes gefunden?“

Caterina, die sprichwörtlich knietief in teuren Silbergeräten stand, betrachtete leuchtenden Blickes ein entzückendes Gebäckkörbchen, das auch Amelie nicht verschmäht hätte.

„Hmm …“, murmelte sie. „Hübsch, aber …“

„Nun, was hältst du dann von einer großen Servierplatte? Sehr nützlich. Die kann man immer brauchen.“

Das Wort „nützlich“ löste Assoziationen aus. Wenn eine Frau etwas hasste, so waren es nützliche Geschenke – außer sie hatte es sich ausdrücklich gewünscht. Wie etwa eine Kutsche samt Gespann. Eifrig schaute Amelie sich um, auf der Suche nach dem größten, hässlichsten, geschmacklosesten „nützlichen“ Gerät in der Auslage. Allerdings stach das Gesuchte dann zuerst Caterina ins Auge: ein Teekocher mit schlangenhalsiger Tülle, deren Kessel auf den Flügeln dreier hochbusiger Sphinxen ruhte. Das monströse Teil aus massivem Silber, noch dazu mit übermäßigen Vergoldungen verziert, balancierte auf einem pyramidenähnlichen Unterbau, der wohl an den Sieg Nelsons in Ägypten erinnern sollte.

„Das sieht schrecklich teuer aus. Meinst du, die Dame trinkt Tee?“, flüsterte Caterina, der nicht bewusst war, dass sie und ihre Tante gegenteilige Ziele verfolgten.

Teuer? Umso besser, dachte Amelie schadenfroh, sagte aber nur: „Ach, jeder trinkt Tee.“

Zweifelnd fragte Caterina: „Ist es denn geschmackvoll?“

„Nun, das kommt auf die jeweiligen Vorlieben an“, entgegnete Amelie vorsichtig. „Wenn sie noch mit Familienzuwachs rechnet und häufig Besucher zu bewirten hat, ist ein so großes Teil gerade richtig.“ Und das Geschenk würde vor allem dazu dienen, ihr persönliches Ressentiment diesen unsensiblen, um nicht zu sagen inhumanen Brüdern gegenüber zu dämpfen, und sie hoffte, dass die beiden nach ihrer fragwürdigen Einführung nicht noch weitere anmaßende Annäherungen folgen lassen würden.

Da nun mit dem Kauf dieses stark überteuerten, vulgären Geschenks eine Rechnung beglichen war, galt es, um einer sehr ernsten Angelegenheit willen eiligst den Weg nach Richmond einzuschlagen. Es war keine Zeit zu verlieren. „Lise, geh, sag dem Lakaien, wir sind so weit“, erklärte Amelie.

Auf der Rückfahrt achteten sie kaum auf die bewundernden Blicke, die die schicke mokkabraune Kalesche begleiteten, denn der Vorfall, dessentwegen sie ihre Einkaufstour so abrupt abgebrochen hatte, lastete schwer auf Amelies Herz und machte ihr wieder einmal bewusst, dass, so angenehm es war, als Frau unabhängig zu sein, sie jedoch trotzdem ohne den tröstlichen Schutz eines Gatten sehr verwundbar war.

Sir Josiah Chester war ihr vor zwei Jahren erschreckend plötzlich genommen worden; und sie besaß nur wenige nahe Verwandte, die ihr während der schwersten Zeit beistehen und sie bei der Abwicklung der Erbschaft unterstützen konnten. Der Einzige, der ihr stets selbstlos zur Seite gestanden hatte, war ihr Schwager Stephen Chester, Witwer wie sie selbst. Von seinen Kindern war Caterina die Älteste, und als Dank für seine gütige Hilfe bot Amelie, als sie nach Richmond umsiedelte, ihm an, das Mädchen zu sich zu nehmen. Ursprünglich hatte sie geplant, allein zu leben, angesichts ihrer Dankesschuld und der Tatsache, dass das Mädchen mutterlos war, entschied sie anders. Zweiundzwanzig ihrer Lebensjahre hatte sie glücklich in Buxton, einer Stadt in Derbyshire, gelebt, doch in den anschließenden zwei Jahren musste sie mit brutaler Deutlichkeit lernen, auf wen sie sich verlassen konnte und wer sich als wahrer Freund erwies.

Caterinas Freude darüber, bei ihr leben zu dürfen, fand Amelie zwar schmeichelhaft, doch entsprach dieses Zusammenleben nicht ihren Wünschen, und dieser Konflikt hatte sich in den ersten zwei Wochen auch nicht zufriedenstellend lösen lassen. Caterina erwartete, sofort neue Freunde zu gewinnen und in der guten Gesellschaft Richmonds empfangen zu werden, und Amelie besaß nicht das Herz, ihr oder ihrem Vater zu erklären, dass sie sich dem Wankelmut der besseren Kreise lieber nicht aussetzen wollte und dass sie Richmond nur gewählt hatte, weil es nahe bei Kew Gardens, bei den Ausstellungsräumen der Royal Academy und einigen anderen interessanten Orten lag. Ihren heutigen Einkaufsbummel in London hatte sie nicht um ihres persönlichen Vergnügens willen unternommen, sondern er entsprang eher ihrem schlechten Gewissen, weil sie bisher nicht einmal Caterina zuliebe sonderliche Mühe hatte walten lassen, um bei den tonangebenden Familien Richmonds empfangen zu werden. Natürlich hatte Caterinas noch recht unzulängliche Garderobe die heutigen Einkäufe weitgehend bestimmt, und so saß nun Lise neben einem Berg braun eingeschlagener Pakete, von denen sie bei jedem Ruckeln der Kutsche begraben zu werden drohte. Glücklicherweise war für das unglückselige Teemonstrum anderweitig gesorgt, sonst hätte man ernstliche Verletzungen befürchten müssen.

Eine Erklärung für ihren eiligen Aufbruch aus London war nicht nötig; der sich zusehends bewölkende Septemberhimmel schien Grund genug. In Wahrheit jedoch strebte Amelie in aller Hast nach Richmond zurück, weil Lord Elyot beabsichtigte, sich mit den vom Gemeinderat beklagten Problemen zu befassen.

Heimatlose werdende Mütter wurden oft, schon in den Wehen liegend, in einen anderen Pfarrbezirk abgeschoben, damit der eigene Pfarrkreis Verantwortung und Kosten los war. Natürlich konnte man nicht zulassen, dass die Unglücklichen unter irgendeinem Busch niederkamen, denn vornehmen Bürgern durfte man einen solchen Anblick nicht zumuten, doch durch die Hetze, der die Frauen ausgesetzt waren, fand das Problem oft eine permanente Lösung, sprich, Mutter oder Kind oder beide starben.

Sir Josiah Chester hatte sein gewaltiges Vermögen nicht der Wohltätigkeit gewidmet, sondern es angelegt, sodass Amelie, die auch von ihren Eltern eine beträchtliche Summe geerbt hatte, mehr als ihr gutes Auskommen hatte. Ob nun das Zusammenspiel von Trauer, Reichtum und Kinderlosigkeit sie dazu veranlasste, sich Waisen, Obdachloser und Verschuldeter anzunehmen, hatte sie nie zu ergründen versucht; eins stand jedoch fest: Armen, elenden, glücklosen Menschen helfen zu können, versöhnte sie mit ihrer Witwenschaft.

In Buxton waren ihr als Witwe des reichen, wohlbekannten Sir Josiah kaum Hindernisse in den Weg gelegt worden, wenn sie Familien auslöste, denen wegen Verschuldung Gefängnis oder gar Schlimmeres drohte, oder Menschen Arbeit beschaffte, die wegen eines geringen Deliktes wie etwa Mundraub ins Arbeitshaus sollten. Sie bot obdachlosen Schwangeren Unterkunft und Hilfe, teils im eigenen Haushalt, und verschaffte ihnen nach der Geburt des Kindes geeignete Stellungen; sie überredete Pächterfrauen, hungernde Waisen aufzunehmen, und wendete dem örtlichen Armenhaus zur Besserung der Zustände beträchtliche Summen zu. All dies minderte ihr Vermögen kaum, steigerte ihr Wohlbefinden und ihr Selbstwertgefühl jedoch beträchtlich, und niemand stellte sich quer, solange sie nur der Gemeinde tatkräftige und finanzielle Hilfe gewährte.

Anders begegnete man ihr in der vornehmen Gesellschaft Londons. Nichts konnte die Damen vom Tratschen abhalten. Amelie war eine junge, reiche, schöne Witwe, der ihr ebenfalls verwitweter Schwager zu viel Aufmerksamkeit schenkte. Von Liebhabern war die Rede, von Rivalitäten unter den Herren. Der Ruch von Skandal lag in der Luft, sodass sie es an der Zeit fand, fortzuziehen.

Sie hatte Richmond gewählt, weil sie in der Nähe der Hauptstadt leben wollte, doch musste sie feststellen, dass der Name Sir Josiah Chester ihr keine Türen öffnete, und so musste sie, wo sie in Buxton so offen hatte helfen können, hier andere, heimliche Wege einschlagen, musste sich anonym betätigen, musste bestechen und täuschen oder gar das Geschick eines ihrer Diener einsetzen, Schlösser zu knacken. Unnötig zu erwähnen, dass sie mehr Bedienstete – und viele ohne Referenzen – besaß, als sie Beschäftigung bieten konnte.

Am vergangenen Abend war sie auf eine ältere obdachlose Frau gestoßen, deren hochschwangere Tochter ins Arbeitshaus gebracht werden sollte. Amelie hatte sofort Hilfe versprochen und war nun fest entschlossen, noch am heutigen Abend entsprechende Schritte zu unternehmen. Das Letzte, was sie dabei brauchen konnte, waren von diesem Lord Elyot bestellte zusätzliche Wachen. Welcher Teufel hatte sie bei Rundell’s nur verführt, mit diesem Laffen zu sprechen und ihm ihren Namen zu verraten?

Wieder klang ihr der hochmütig-gelangweilte, perfekt akzentuierte Tonfall des Mannes im Ohr, und sie erinnerte sich daran, wie es sie durchzuckt hatte, als er ihren Blick sanft, doch mit verheerender Selbstsicherheit festhielt. Er hatte sie nicht, wie so viele Gentlemen sonst, mit unverschämter Vertraulichkeit gemustert. Nein, es war ein sprechender Blick, verheißungsvoll und auf Erwiderung hoffend.

Nun, mein feiner Herr, dachte sie zähneknirschend, dazu wird es nicht kommen. Ich werde mich sorgsam von Ihnen fernhalten, wie von jeder Familie, die Mildtätigkeit für Zeitverschwendung hält. Hassenswerte, arrogante Menschen!

Welche Farbe hatten seine Augen?

Rasch rief sie sich zur Ordnung und zog gegen die plötzliche Kälte fröstelnd ihren Kaschmirschal enger um die Schultern.

Nach einem sowieso schon verspäteten Dinner, nach endlosem Auspacken all der Einkäufe und nach langatmigen Auslassungen über das perfekt geschlungene Krawattentuch Lord Setons verschwand Caterina endlich, mit einem romantischen Roman bewaffnet, in ihr Zimmer.

Sofort machte Amelie sich an ihre Verwandlung, und bald stand da statt der eleganten Dame eine schäbige Alte, die im Dunkeln als eine Magd oder eine Wanderarbeiterin durchgehen konnte. Am gestrigen Tag hatte sie die unglückliche junge Frau gesehen, die weinend und elend vor dem imposanten Eingang des Magistratsgebäudes an der Paradise Road stand. Das weitläufige Gemäuer im romanischen Stil wirkte allein schon durch seine gewaltige Größe einschüchternd. Amelies Anwesen lag nur einige Häuser weiter, und als sie von einer Besorgung heimkehrte, hatte sie im Vorbeigehen das Lamento einiger Weiber gehört, die beklagten, dass die arme Schwangere den langen Weg den Hügel hinauf zum Arbeitshaus gehen sollte. Der Gemeindediener hatte die Begleiterin der Frau, vermutlich ihre Mutter, fortgedrängt, doch Amelie war es gelungen, von ihr zu erfahren, um was es ging, und hatte in einem Anfall akuten Mitleids ihre Hilfe zugesagt.

Schon zuvor waren solche Rettungsaktionen durchgeführt worden, doch stets von dem einen oder anderen ihrer Bediensteten, sodass Amelie selbst bisher keine Entdeckung hatte fürchten müssen. Diese Mal hatte sie ihre Pläne für sich behalten, da die Begleiterin der Frau nur sie kannte und keinem anderen vertraut hätte.

Der Weg den Hügel hinauf würde sich ziehen, und da sie kaum in einer Kutsche vorfahren konnte, wählte Amelie als Reittier ihre Eselin Isabelle. Das war unauffälliger als ein Pferd, aber bequemer, als zu Fuß zu gehen. Während sie den holprigen, morastigen Weg hinaufritt, der fern der beleuchteten Straßen lag, sog sich ihr schwerer Schal, den sie um den Kopf geschlungen hatte, immer voller, denn inzwischen hatte es heftig zu regnen begonnen. Endlich erreichte sie das eiserne Portal mit dem Häuschen des Torhüters, aus dem das schwache Licht einer einsamen Kerze flackerte. Als sie sich von Isabelles Rücken gleiten ließ, stellte sie dankbar fest, dass sie in einer so grässlichen Nacht nicht lange zu warten brauchte, denn es näherte sich eine dunkle Gestalt in Frauenkleidern. Bald würden sie alle warm und sicher dort sein, wo das neue Leben willkommen war, anstatt nur eine Last zu bedeuten.

„Ah, da sind Sie ja“, sagte sie. „Wie geht es Ihrer Tochter?“

„Ah, ihr geht’s gut“, krächzte die Alte. „Das Kind is’ noch nich’ da.“

„Und haben Sie den Torhüter gesprochen? Er wird doch mitspielen, oder?“

„Der Türsteher im Haus will auch Geld“, brabbelte die Frau. „Wie viel ha’m Sie dabei, M’lady? Äh, wenn die Frage erlaubt is’.“

„Kommen Sie fort aus dem Regen, hierher, unter den Baum“, bat Amelie, während sie den Esel hinter sich her unter das Blätterdach zog. Dann holte sie ihr Retikül zwischen den Falten des durchnässten Umhangs hervor und wandte, es auf dem Sattel ablegend, der Alten den Rücken zu. In diesem unachtsamen Moment, in dem sie all ihre Geistesgegenwart benötigt hätte, griff die Frau blitzschnell nach dem Beutel und entriss ihn ihr. Amelie stürzte sich auf die Alte, die sich heftig wehrte, verhedderte sich jedoch in dem groben Umhang der Person. Ein kurzes Gerangel, in dem die Gegnerin sich als mit allen Wassern gewaschen erwies, dann glitt Amelie auf einer Wurzel aus und stürzte, von der anderen nachdrücklich gestoßen, das Gesicht voran in den Matsch.

Sie hatte einer Frau in Not helfen wollen und war beraubt worden! Wie demütigend und gemein! Und eine Chance vertan!

Sich mühsam aufrappelnd, rief sie: „Isabelle! Isabelle!“

Zaumzeug klirrte, dann erklang eine Männerstimme, die drängend auf das Tier einsprach.

„Hallo, hier bin ich!“, rief Amelie und versuchte, auf die Füße zu kommen, doch ihre nassen Kleider hatten sich ihr um die Beine gewickelt, sodass sie auf die Hilfe des sich nähernden Mannes bauen musste.

„Verzeihen Sie, Madam“, sagte der Mann höflich. „Erlauben Sie – reichen Sie mir Ihre Hand.“

„Wer … Wer sind Sie? Woher weiß ich, dass Sie ein Freund sind?“

„Nun, auch wenn Sie das nicht wissen – Sie können nicht die ganze Nacht dort liegen bleiben. Sehen Sie, hier ist Ihr Esel. Lassen Sie sich aufhelfen. Sind Sie verletzt?“

„Ich glaube nicht, zumindest nicht schlimm. Diese Alte ist wohl fort?“

„Ja, leider. Hat sie Sie beraubt? Was hat sie gestohlen?“

„Mein Retikül ist fort. Geschieht mir recht!“

Der Fremde half ihr hoch, ließ sie jedoch sofort los und beugte sich nieder, um, soweit es die Dunkelheit erlaubte, den Boden abzusuchen. „Leider! Nichts zu finden! Also, ich hätte nicht gedacht, dass selbst in einer so scheußlichen Nacht Räuber unterwegs sind! Soll ich den Torhüter verständigen?“

„Nein … nein, nicht nötig. Ich reite lieber gleich heim. Danke für Ihre Hilfe, Mr. …?“

„Todd, Madam. Nichts zu danken. Soll ich Sie begleiten?“

„Oh nein, danke sehr, Mr. Todd, doch ich habe es nicht weit, und Isabelle wird mich ja tragen.“

„Nun, wenn Sie meinen. Kommen Sie, ich halte das Tier, während Sie aufsteigen. So! Sie sitzen gut? Guten Abend, Madam. Ah, wie, sagten Sie gleich, ist Ihr Name?“

„Ginny“, entgegnete sie hastig, merkte aber sofort, dass ihre Aussprache mit ihrer Erscheinung nicht in Einklang stand. „Ginny Hodge. Einen guten Abend, Mr. Todd, und noch einmal danke.“ Sie tastete nach den Zügeln, stieß Isabelle die Fersen in die Flanken und konnte sich dann nur mühsam aufrecht halten, als das Tier den Rückweg über Pfützen und Schlaglöcher aufnahm. Schwankend saß sie im Sattel, und schon schmerzte ihr Körper von den Prellungen, die sie sich zugezogen hatte. Sie konnte sich nicht enthalten, das eine oder andere Mal den Kopf zu wenden, um die Finsternis zu durchforsten, doch meistens waren ihre Gedanken bei der armen Schwangeren, die sich bestimmt im Stich gelassen fühlte und nun das Schlimmste von Menschen wie ihr halten musste.

Vielleicht hätte ich nicht so freigebig mit meinen Versprechungen sein sollen und dafür argwöhnischer, was Hilfsbedürftige angeht, dachte Amelie. Im Laufe der letzten beiden Jahre hatte sie gelernt, die Welt ein wenig abgeklärter zu betrachten, trotzdem schmerzte sie nun die heutige Enttäuschung mehr als ihre blauen Flecke. Zu solchen Zeiten fehlte ihr der väterliche Rat Josiahs besonders.

Sheen Court, Richmond, Wohnsitz des Marquis of Sheen

Lord Nicholas Elyot antwortete auf das behutsame Pochen an der Tür des Studierzimmers einzig mit einem kurzen „Ja?“, legte allerdings die Feder, die er gerade zurechtschnitt, auf der lederbezogenen Schreibtischplatte ab. Die einzige Kerze flackerte im Zug, als die Tür geöffnet und gleich wieder geschlossen wurde.

„Glück gehabt, Todd?“

Mr. Todd erlaubte sich ein kleines Lächeln. „Ja, Mylord. Ich glaube, wir haben da etwas.“ Er wies ein nasses, besticktes Retikül mit weit aufgezogenen Bändern vor. „Die Frau, eine gewisse Ginny Hodge, hatte eine Pechsträhne. Bekam vorm Tor des Armenhauses von einer diebischen alten Vettel eins über, dabei verlor sie das hier, samt Inhalt.“ Er legte den Beutel auf den Schreibtisch und sah zu, wie Seine Lordschaft einige Gegenstände daraus hervorfischte: ein Parfümfläschchen aus blauem Glas mit silbernem Verschluss, ein feuchtes Spitzentaschentuch von bester Qualität und ein filigranes Visitenkartenkästchen aus Silber und Perlmutt, in der eine einzelne Karte steckte.

Diese wurde an die Augen geführt und schweigend studiert, so lange gar, dass Mr. Todd sich wunderte. Schließlich schüttelte Seine Lordschaft mit einem ungläubigen Knurren den Kopf. „Nun … nun …“, sagte er leise. „Wurde diese … Ginny Hodge verletzt?“

„Wenn, dann nicht besonders schwer, Sir. Ich bin ihr gefolgt; sie lebt in der Paradise Road, in einem der großen neueren Häuser. Sie betrat es durch den Hintereingang, obwohl sie von der Stimme und der Sprache her nicht wie eine Dienstmagd klang.“

Seine Lordschaft erhob sich, ging zu einem Tischchen und schenkte ein Glas Whisky ein, das er seinem Informanten reichte. „Hier, trinken Sie, und ziehen Sie sich rasch etwas Trockenes an. Übrigens, gute Arbeit!“

„Danke, Mylord. Soll morgen früh die Kutsche bereitstehen?“

„Nein, der Phaeton. Gute Nacht, Todd.“

„Gute Nacht, Mylord.“

Eine Silbermünze wanderte in die Hand Mr. Todds, ehe er die Tür genauso leise hinter sich schloss, wie er sie geöffnet hatte. Erst viel später jedoch löschte Lord Nicholas Elyot die einsame Kerze und erklomm, triumphierend das Retikül schwingend, die herrschaftliche Treppe zu den oberen Gemächern.

2. KAPITEL
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Bis zum Frühstück hatte Lord Elyots Überraschung sich ein wenig gelegt, und in seinem Kopf begann sich ein Plan zu formen, wie nun am besten vorzugehen wäre, da, wie er fand, die Instruktionen seines Vaters einer kleinen Korrektur bedurften. Eine Weile hörte man nur das leise Rascheln der Zeitungsblätter und gedämpftes Besteckklappern. Schließlich schob Lord Elyot seinen Teller fort, lehnte sich zurück und legte seinem Bruder dar, wie er sich den Verlauf des heutigen Tages dachte, wobei seine Vorschläge nicht die erwartete Billigung fanden.

„Nick“, sagte Lord Seton vorwurfsvoll, „wenn ich gewusst hätte, dass du mich heim nach Richmond schleppst, damit ich Kinderfrau für ein grünes Dingelchen spiele, hätte ich dir was gehustet. Du weißt, ich tue alles für dich, aber das ist doch wirklich Blödsinn!“ Mit unnötigem Nachdruck legte er seine weiße Damastserviette nieder und lehnte sich, immer noch kauend, zurück. „Verdammt! Das Mädchen ist gerade aus dem Schulzimmer entlassen.“

„Das ist kein Blödsinn“, erwiderte Lord Elyot, „ich meine es ernst. Schließlich sollst du die junge Miss ja nicht heiraten! Du sollst sie ein wenig amüsieren, während ich …“

„Während du dich mit Lady Chester amüsierst. Vielen Dank, aber ich habe eine bessere Idee. Du nimmst die Kleine mit dem Rüschenkleidchen und ich den strahlenden Diamanten. Wie klingt das?“

„Zwei Gründe sprechen für meine Version. Erstens bist du nicht ihr Typ, und zweitens reicht deine Zeit nicht dafür.

Vergiss nicht, in Kürze wirst du dich den Truppen Seiner

Majestät anschließen.“

„Ich bin nicht ihr Typ? Aber du schon, was?“

„Ja!“, war die entschiedene Antwort.

Zögerlich gestand Lord Seton sich ein, dass, wenn überhaupt ein Mann bei Lady Chester Erfolg hätte, dieser Mann sein älterer Bruder war, denn von dessen dunklem, grüblerischem Typ würde sich höchstens ein Eisblock unbeeindruckt zeigen; nicht zu vergessen, dass Nick jeder Frau das Gefühl vermittelte, sie sei die Einzige, der sein Interesse galt. Und was die Zeit anging, hatte Nick auch damit recht. Die Dame war ihm höflich begegnet, doch gewiss nicht überschwänglich. Von heute auf morgen wäre sie nicht zu erobern. „Und was bekomme ich dafür?“

Lord Elyot hatte sein Frühstück wiederaufgenommen, und seine gequälte Miene bezog sich nicht nur auf die Geschäftstüchtigkeit seines Bruders, sondern auch auf die klebrige Beschaffenheit des Marmeladentoasts, den er eben verzehrte. „Hör mal, ich tue dir einen Gefallen, Schwachkopf“, erklärte er. „Das Mädchen ist ein keckes Ding, kein Dummchen. Hat hübsche Augen; noch ist sie ein Rohdiamant, aber es müsste dir ein Vergnügen sein, ihr ein wenig Schliff zu verpassen. Bestimmt hätte sie nichts dagegen. Glaub mir, bis die Saison vorbei ist, ist sie ein Knaller, dann kannst du sie einem anderen überlassen. Du siehst, keine Verpflichtungen! Was willst du mehr, Junge?“

„Ein paar Gäule! Als Offizier brauche ich zwei oder drei ordentliche Pferdchen.“

„Was ist mit deinem Monatswechsel?“

„Das weißt du doch. Hätte ich mich sonst von dir überreden lassen, mich zur Erholung aufs Land zurückzuziehen?“

„Gut denn. Vier Pferde für deine Hilfe.“

„Für meine ungeteilte, großzügige, umfassende Hilfe. Sehen wir sie uns gleich an.“

„Die Damen werden wir uns ansehen. Heute Vormittag noch. Wir nehmen meinen neuen Phaeton, und du darfst ihn lenken.“ Zufrieden lehnte Lord Elyot sich zurück.

„Nur eins noch, Nick.“ Rayne grinste. „Woher weißt du, dass da nicht irgendwo ein Ehemann lauert?“

„Hab mich erkundigt.“

„Du verschwendest wirklich keine Zeit, was? Und was ist mit Vaters dringlicher Angelegenheit? Was hat die damit zu tun?“

„Ist in Arbeit, doch ich muss dich bitten, das absolut für dich zu behalten. Ein Wort ins falsche Ohr, und das Täubchen fliegt uns davon.“

Autor

Juliet Landon
Juliet Landon hat Anleitungen für Stickarbeiten veröffentlicht. Die Umstellung ins Romangenre war für sie kein großer Wechsel, die Anforderungen sind ähnlich: große Fantasie, einen Sinn für Design, ein Auge fürs Detail, genauso wie Liebe zu Farben, Szenen und Recherche. Und ganz wichtig, bei beidem muss man bereit sein, innere Gedanken...
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