Stadt, Land, Millionär

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In Wickham Falls ist Jessica zu Hause, nie würde sie aus dem idyllischen Städtchen wegziehen! Was ihre neue aufregende Beziehung mit dem gut aussehenden Sawyer in Gefahr bringt. Denn der IT-Millionär ist nur einen Sommer lang hier. Danach will er zurück nach New York City …


  • Erscheinungstag 02.01.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751521253
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Wer will den Börsengang bis zum Herbst verschieben?“, fragte Elena.

Zwei der drei Softwareingenieure am Tisch hoben die Hand, darunter auch Sawyer Middleton.

Damit hatte sich das Thema vorerst erledigt, denn sie brauchten eine Stimmenmehrheit, um eine börsennotierte Firma werden zu können. Wäre die Entscheidung anders ausgefallen, hätte Sawyer sich schon einmal innerlich darauf vorbereitet, seinen Anteil an ihrer Internetfirma zu verkaufen.

Er trank einen Schluck aus seinem großen Kaffeebecher. Das Meeting hatte heute Morgen um sechs begonnen und dauerte inzwischen fast vier Stunden. Er hätte dringend eine Pause nötig, wusste jedoch, dass die anderen das Meeting durchziehen wollten. Sie wollten noch klären, ob alle bis zum Tag der Arbeit eine bezahlte Auszeit nehmen würden oder nicht.

Die sechzehn Angestellten der Softwarefirma betrachteten sich als erweiterte Familie und verbrachten mehr Zeit miteinander als mit ihren eigenen Familienangehörigen. Für Sawyer waren Siebzigstundenwochen normal, seitdem er keine Freundin mehr hatte.

Als sein Handy vibrierte, warf er einen Blick auf das Display und erblickte den Namen seiner Schwester. Stirnrunzelnd stand er auf. „Sorry, Leute, aber ich muss da rangehen.“ Während er das Zimmer verließ, fragte er leise: „Was ist los, Rachel?“

„Dad hatte letzte Nacht einen Herzinfarkt. Ich bin gerade bei ihm im Krankenhaus.“

Sawyer keuchte erschrocken auf. „Wie geht es ihm?“

„Die OP ist gut verlaufen. Er hatte zwei verstopfte Arterien. Im Moment liegt er noch auf der Intensivstation.“

Obwohl Sawyer und Henry Middleton wie Hund und Katze waren, beschloss er sofort hinzufahren – wenn schon nicht seinem Vater zuliebe, dann zumindest wegen seiner Mutter und Schwester. „Wie geht es Mom und den Jungs?“

„Mom ist ziemlich durch den Wind. Colin und Dylan sind gerade mit den Pfadfindern zelten und kommen erst heute Abend zurück. Sie wissen also noch nichts, und das soll auch so bleiben, bis sie wieder zu Hause sind. Wir wollen ihnen den Ausflug nicht verderben.“

„Ich komme, sobald ich einen Flug kriege.“

„Schreib mir eine Nachricht, wenn du beim Krankenhaus ankommst. Danke, Sawyer.“

„Keine Ursache. Dad und ich sind zwar nicht immer einer Meinung, aber er ist immer noch mein Vater.“ Sawyer beendete das Telefonat und kehrte in den Konferenzraum zurück. „Ich muss nach Hause, mein Vater hatte einen Herzinfarkt. Keine Ahnung, wann ich wieder hier bin.“

Thom stand auf. „Mach dir keine Gedanken deswegen, Saw. Wir haben den Börsengang ohnehin verschoben und nehmen uns alle ab Monatsende frei. Tut mir leid, dass dein Urlaub ausgerechnet mit einem Krankheitsfall in der Familie starten muss.“

Die beiden Männer klopften ihm tröstend den Rücken. Elena küsste ihn auf eine Wange. „Geh nach Hause und pack deine Sachen. Ich rufe im Reisebüro an und bitte Shirley, dir einen Flug und einen Mietwagen zu buchen. Sie wird dich auf deinem Handy benachrichtigen, sobald sie die Abflugzeiten hat.“

Sawyer nickte. „Danke, Elena.“

„Halt uns auf dem Laufenden“, sagte Darius.

Sawyer lächelte gezwungen. „Mach ich.“

Anderthalb Stunden später ging Sawyer in New Jersey als einer von sechs Passagieren an Bord eines Privatjets. Die erste Zwischenlandung würde Charleston in West Virginia sein, wo Sawyer in einen Mietwagen steigen und nach Wickham Falls fahren würde.

Eine Flugbegleiterin brachte ihn zu seinem Sitzplatz. „Sobald wir die richtige Flughöhe erreicht haben, werden wir das Mittagessen servieren. Sie finden die Speisekarte in der Tasche an der Rückenlehne vor sich.“

Sawyer lächelte höflich. „Danke, aber ich will nichts essen.“

Er hatte Schlaf dringender nötig als Essen. Inzwischen war es über drei Jahre her, dass er zuletzt in Wickham Falls gewesen war. Als er das Haus verlassen hatte, in dem er aufgewachsen war, hatte sein Vater ihm verboten, je wieder einen Fuß über die Schwelle zu setzen, und Sawyer hatte sich daran gehalten. Trotzdem fühlte er sich manchmal schuldig und warf sich vor, seine Mutter, seine Schwester und seine beiden Neffen im Stich gelassen zu haben.

Er schloss die Augen, als der Jet über die Startbahn raste, und schlug sie erst wieder auf, nachdem das Flugzeug abgehoben hatte. Danach stellte er seine Rückenlehne zurück und schlief ein. Als der Pilot die Flugbegleiter anwies, alles für die Landung vorzubereiten, kam es ihm so vor, als wären sie gerade erst gestartet. Sanft setzte der Flieger auf einer Landebahn in Charleston auf, wo ein Chauffeur Sawyer abholte und ihn zum Mietwagenverleiher brachte.

Es war Mitte Mai – Sawyers Lieblingsjahreszeit in West Virginia. Alles grünte und blühte, und es war schon warm genug, um ein kurzärmeliges Hemd zu tragen. Er verstaute sein Gepäck in seinem gemieteten Jeep und fuhr gen Süden nach Wickham Falls. Der vertraute Anblick der Berge versetzte ihn zurück in seine Kindheit, in der er oft im See gebadet und geangelt hatte und Indianerpfade zu erkunden wusste.

Sawyer war froh über jeden Tag gewesen, an dem sein Vater auf See war, egal, ob bei Regen oder Sonnenschein. Dann summte seine Mutter bei der Hausarbeit nämlich immer fröhlich vor sich hin, das Haus war von Kuchenduft erfüllt, und seine jüngere Schwester und deren Freundinnen kicherten unbefangen über jede Kleinigkeit. Doch kaum war Henry Middleton nach Hause zurückgekehrt, zerplatzte diese Stimmung.

Eine Stunde später bog Sawyer auf den Besucherparkplatz des Johnson County Medical Centers und benachrichtigte Rachel, dass er angekommen war. Sie schrieb zurück, dass sie sich gerade im Schwesternzimmer befand und ihn an der Rezeption abholen würde.

Als Sawyer den Eingangsbereich betrat und seine Schwester sah, verstärkten sich sofort seine Schuldgefühle. Rachel war noch schmaler als bei ihrer letzten Begegnung, und sie hatte es sich schon damals nicht leisten können abzunehmen. Sie versank also förmlich in ihrem rosafarbenen Anzug. Als sie näher kam, sah er die dunklen Schatten unter ihren blaugrauen Augen. Offensichtlich arbeitete sie zu viel und schlief zu wenig.

Er nahm sie in die Arme und küsste sie auf das dunkelrote Haar. „Hey, kleine Schwester.“

„Ich hätte nicht vor heute Abend mit dir gerechnet!“, sagte Rachel Phelan lächelnd.

„Ja, ich hatte das Glück, schon vorher einen Flieger zu bekommen.“

Rachel machte sich von Sawyer los und musterte ihn eingehend. „Es ist zwar gerade keine Besuchszeit, aber ich kann dich trotzdem zu ihm bringen. Er nimmt allerdings noch Schmerzmittel.“

„Ich besuche ihn, sobald er aufwacht.“

Rachel runzelte die Stirn. „Warum kannst du ihm nicht einfach verzeihen, dich rausgeworfen zu haben?“

„Es geht nicht ums Verzeihen. Er ist, wer er ist, und ich bin, wie ich bin. Ich werde bleiben, bis Dad entlassen wird, und dann kehre ich nach New York zurück.“

„Das kann noch Wochen dauern. Kannst du es dir denn leisten, so lange von deiner Firma wegzubleiben?“

Er legte eine Hand auf den Rücken seiner Schwester und führte Rachel Richtung Ausgang zum Jeep. „Hast du schon vergessen, dass ich mein eigener Chef bin?“

Rachel schüttelte den Kopf. „Mein Wagen steht auf dem Angestelltenparkplatz. Ich habe heute eine Doppelschicht, weil die Kinderkrankenschwester einen Notfall in der Familie hatte.“

„Lass dein Auto stehen. Ich bringe dich rechtzeitig zu deiner nächsten Schicht zurück. Du siehst total erschöpft aus. Wann hast du eigentlich das letzte Mal acht Stunden am Stück geschlafen?“

„Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, um ehrlich zu sein. Wenn ich morgens nach Hause komme, bringe ich erst einmal die Jungs zur Schule, bevor ich ins Bett gehe, aber oft kann ich nicht einschlafen, weil Mom und Dad sich wegen irgendwelcher Nichtigkeiten streiten.“

Sawyer half Rachel auf den Beifahrersitz und streifte sein Jackett ab. „Willst du nicht endlich dort weg?“

„Nein, ich will nicht nach New York.“

„Ich rede gar nicht von New York. Ich könnte dir helfen, hier in der Gegend ein Haus zu kaufen.“

Rachel wartete, bis Sawyer um den Jeep herumgegangen war und sich hinters Steuer gesetzt hatte. „Nein, ich will mir nicht noch mehr Geld von dir leihen.“ Sie war nach ihrer Scheidung aus ihrem Mietshaus ausgezogen und wieder bei ihren Eltern eingezogen, um finanziell einigermaßen über die Runden kommen zu können.

Sawyer startete den Motor und legte den ersten Gang ein. „Ich habe das Glück, eine Menge Geld zu verdienen. Warum sollte ich meiner Schwester und meinen Neffen nicht unter die Arme greifen? Außerdem habe ich dir schon einmal gesagt, dass du mir das Geld nicht zurückzuzahlen brauchst.“

„Ich bin nicht dein Wohltätigkeitsprojekt, Sawyer!“

Er presste die Lippen zusammen und erzählte ihr mit keinem Sterbenswörtchen, dass er Bankkonten auf die Namen ihrer Söhne eingerichtet hatte, weil er nicht wollte, dass ihr Ex womöglich noch ganz damit aufhörte, Kindesunterhalt zu zahlen. Sawyer nagte nicht gerade am Hungertuch. Das viergeschossige Fabrikgebäude gegenüber von Enigma4For4 war seine bisher größte Ausgabe gewesen. Er bewohnte die oberen zwei Stockwerke und vermietete den ersten Stock und das Erdgeschoss an eine Kunstgalerie und ein Architekturbüro.

Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass Rachel ihn neugierig musterte. „Was ist?“

„Hast du eine Freundin?“

Er schüttelte den Kopf.

„Was ist aus dem Mädchen geworden, mit dem du länger als nur zwei Monate zusammen warst?“

Er verzog das Gesicht. „Wir haben uns vor einem halben Jahr getrennt.“

„Was ist passiert?“

Sawyers Griff festigte sich um das Lenkrad. „Sie wollte ein Baby, und ich habe ihr gesagt, dass ich noch nicht bereit dazu bin, Vater zu werden.“

„Und wann bist du bereit? Mit vierzig? Fünfzig?“

„Sehr witzig!“

„Das ist kein Spaß. Du bist dreiunddreißig und mehr denn je davon entfernt, eine Familie zu gründen. Magst du Frauen überhaupt, abgesehen davon, dass du gern mit ihnen schläfst?“

„Ich kann dir versichern, dass ich Frauen sogar sehr mag! Nur nicht die, die mich zu etwas zwingen, wozu ich noch nicht bereit bin.“

„Willst du damit sagen, du würdest eine Frau, die das nicht tut, sofort heiraten?“

„Nicht unbedingt, ich müsste sie schon auch lieben.“

„Dann besteht also tatsächlich die Möglichkeit, dass du mich eines Tages zur Tante machst?“, fragte Rachel lächelnd.

Er erwiderte ihr Lächeln. „Wer weiß? Aber das kann noch eine Weile dauern.“

„Warum willst du eigentlich keine Kinder?“

Sawyer biss die Zähne zusammen. „Ich habe nicht gesagt, dass ich keine Kinder will. Ich will nur nicht so ein Vater werden wie Dad!“

Rachel seufzte ungeduldig. „Hast du nicht selbst gesagt, dass ihr total unterschiedlich seid? Das heißt doch, dass du nie so werden kannst wie er.“ Sie zögerte einen Moment. „Außerdem ist er gar nicht mehr derselbe, seitdem du weggegangen bist.“

„Wie meinst du das denn?“

„Er ist irgendwie umgänglicher geworden. Und wenn er Mom anblafft, dann blafft sie zurück.“

Sawyer musste lächeln. „Wunder geschehen doch immer wieder. Ich dachte mir schon, dass sie es irgendwann satthaben würde, sein Fußabtreter zu sein.“

„Sie hat gesagt, mit fünfundfünfzig habe sie die Nase gestrichen voll.“

Sawyer hätte gern mit eigenen Augen gesehen, wie seine Mutter sich gegen ihren Mann zur Wehr setzte. „Sieht so aus, als hättet ihr Besuch“, stellte er fest, als er einen alten grauen Ford hinter dem roten Pick-up seines Vaters parken sah.

„Das ist Jessica. Sie war vorletztes Jahr die Klassenlehrerin der Jungs. Wahrscheinlich ist sie hier, um die Bücher für die Sommerferien vorbeizubringen, um die ich sie gebeten habe. Ich will nicht, dass die Jungs den Anschluss verpassen, weißt du.“

Sawyer parkte seinen Jeep neben dem SUV und stellte den Motor aus. „Ich dachte, sie seien gut in der Schule.“

„Sind sie auch, eben nur nicht in Sprachen. Ich liege ihnen ständig in den Ohren, dass sie mehr lesen sollen und sich weniger Computerspielen widmen sollen.“

„Das Spielen lässt sich leicht beschränken. Du kannst den Internetzugang für sie sperren. Ich könnte dir zeigen, wie …“ Er verstummte, als die ehemalige Lehrerin seiner Neffen aus ihrem Wagen stieg und auf die Beifahrertür zuging.

Fasziniert starrte er Jessicas schlanke, in einer dunkelblauen Strumpfhose steckende Beine an, die in farblich passenden Seidenpumps endeten. Sein Blick wanderte höher zu ihrem hautengen ärmellosen schwarzen Kleid mit etwas ausgestelltem Rock. Rachel stieg aus und umarmte die junge Frau.

Jessicas schwarzes kurz geschnittenes Haar glänzte in der Sonne. Als sie sich zu Sawyer umdrehte und ihm zulächelte, blieb ihm buchstäblich die Luft weg. Beim Militär hatte er viele schöne Frauen aus verschiedenen ethnischen Gruppen mit den unterschiedlichsten Hauttönen kennengelernt, doch Jessica hatte etwas an sich, das ihn in seine Teenagerzeiten zurückversetzte.

Er konnte den Blick gar nicht von ihrem dunklen Gesicht mit den großen schwarzen Augen, der zauberhaften Stupsnase und den vollen, orangerot geschminkten Lippen losreißen. Sie sah aus wie eine dunklere Version von Salma Hayek.

Mit ungelenken Bewegungen stieg er aus dem Wagen. Erst als seine Brust zu schmerzen begann, wurde ihm bewusst, dass er die Luft anhielt.

Rachel hakte sich bei Jessica ein und drehte sich zu ihm um. „Sawyer? Ich möchte dir Jessica Calhoun vorstellen.“

Jessicas Lächeln wurde breiter, als sie ihm eine Hand hinhielt. „Freut mich, Sie endlich persönlich kennenzulernen. Rachel spricht ständig von Ihnen.“

Sawyer schüttelte ihr die Hand. Alles an ihr war sinnlich, sogar ihr Parfüm und ihre sexy Stimme. „Ich hoffe doch, sie erwähnt vor allem Gutes?“

Jessica zögerte einen kurzen Augenblick. „Sie betet Sie förmlich an.“

Er richtete den Blick auf Rachel, die verlegen errötete. „Ich bete meine kleine Schwester auch an.“

„Darf ich bitte meine Hand zurückhaben?“, fragte Jessica lächelnd.

Sawyer war gar nicht aufgefallen, dass er diese noch festhielt. Hastig ließ er die Finger fallen. „Sorry.“

„Das mit Ihrem Vater tut mir leid.“

Er nickte, weil ihm keine passende Antwort einfiel. Hätte sein Vater nicht einen Herzinfarkt erlitten, wäre er in diesem Moment bestimmt nicht hier.

Jessica drehte sich um, öffnete die Beifahrertür ihres SUVs und nahm einen Baumwollbeutel heraus. Sie gab ihn Rachel. „Hier sind die Bücher für Dylan und Colin. Würde es Ihnen etwas ausmachen, den Picknickkorb aus dem Kofferraum zu holen, Sawyer?“

„Kein Problem.“ Er ging zur Rückseite des Wagens und griff nach dem zugedeckten Picknickkorb. „Wohin soll ich ihn bringen?“

„Ins Haus.“

„Was ist da drin?“, fragte Rachel.

„Ich habe ein paar Gerichte für deine Mutter gekocht. Solange euer Vater im Krankenhaus ist, hat sie bestimmt nicht viel Zeit für so etwas.“

Rachel sah Jessica genervt an. „Das ist völlig überflüssig!“

Jessica zog irritiert die Augenbrauen zusammen. „Fang bitte nicht schon wieder damit an, Jessica. Deine Mutter weiß längst Bescheid. Was für eine Freundin wäre ich denn, wenn ich euch nicht in dieser Krisensituation unterstützen würde? Ich wollte die Sachen nur kurz vorbeibringen, weil ich noch zur Verabschiedung einiger Kollegen muss. Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Sawyer!“, rief sie ihm hinterher.

Sawyer, der bereits auf dem Weg ins Haus war, blieb stehen und drehte sich wieder um. Er schenkte ihr sein charmantestes Lächeln. „Ganz meinerseits.“ Er stand immer noch an derselben Stelle, als Jessica davonfuhr.

„Pass bloß auf, Bruderherz, nicht dass du dich noch in Jessica verliebst“, neckte Rachel ihn. „Du hast sie ja angestarrt, als wärst du kurz vorm Verhungern.“

„Weil sie absolut umwerfend aussieht.“ Er ging weiter zum Haus, Rachel auf den Fersen.

„Ich dachte immer, du stehst auf große, schlanke Blondinen. Korrigier mich, falls ich mich irre, aber bisher warst du noch nie mit einer Frau mit anderen kulturellen Wurzeln zusammen.“

„Du irrst dich tatsächlich. Seitdem ich in New York lebe, war ich mit allen möglichen Frauen zusammen.“

Rachel musterte ihn aufmerksam. „Du hast dich irgendwie verändert.“

Sawyer wollte gerade widersprechen, als die Haustür aufging und seine Mutter auf die Veranda trat. Er wusste, dass seine Abwesenheit ihr mehr Kummer bereitet hatte als Rachel oder seinen Neffen.

Er stieg die Stufen zur Veranda hoch, stellte den Picknickkorb auf einen Tisch und nahm Mara Middleton in die Arme. Bis auf ein paar graue Haarsträhnen mehr hatte sie sich nicht sehr verändert.

Sie erwiderte seine Umarmung. „Wie lange wirst du bleiben?“, fragte sie.

Sawyer küsste sie auf die Stirn. „Wie lange brauchst du mich denn?“

Mara hob das Gesicht. Tränen standen in ihren grauen Augen. „Du machst dich doch nicht gerade über mich lustig, oder?“, fragte sie.

Er küsste sie wieder, diesmal auf beide Wangen. „Nein, Mom. Ich bleibe so lange, wie du mich brauchst.“

„Mir wäre es am liebsten, wenn du ganz nach Wickham Falls zurückkommen würdest.“

Sawyer wollte so lange bleiben, bis er sich wieder mit seinem Vater versöhnt hatte. Dann würde er leichteren Herzens nach New York zurückkehren können. „Daraus wird nichts, das sage ich dir gleich, aber ich kann zumindest den Sommer über hier sein.“

„Na ja, besser als nichts. Und jetzt lass dich erst mal ansehen. Facetime ist nicht das Gleiche, wie dir von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen.“ Mara ließ eine Hand über sein Gesicht gleiten. „Du siehst gut aus.“

„Du auch.“

Als er spürte, dass die Verandadielen unter seinem Gewicht nachgaben, sah er sich stirnrunzelnd um. Sein Blick fiel auf zwei Fensterläden, die sich aus ihren Scharnieren gelöst hatten. Außerdem konnten sie alle dringend einen neuen Anstrich gebrauchen.

„Lass uns reingehen und das Essen verstauen, das Jessica vorbeigebracht hat“, schlug Mara vor. „Sie hat uns angeboten, für uns zu kochen, solange Rachel und ich uns im Krankenhaus abwechseln.“

„Echt?“

Mara nickte. „Bist du schon so lange weg, dass du ganz vergessen hast, dass man sich hier in Notzeiten gegenseitig unterstützt?“

Sawyer lächelte gezwungen. „Sieht ganz so aus.“

Mara öffnete die Fliegengittertür und hielt sie auf, damit Sawyer den Picknickkorb in jenes Haus tragen konnte, in das er nie wieder einen Fuß hatte setzen wollen – dies hatte er sich vor drei Jahren geschworen.

2. KAPITEL

Jessica war erst zehn Minuten unterwegs, als Rachels Handynummer auf dem Bildschirm ihres Navis auftauchte. Sie tippte auf die Bluetooth-Taste auf ihrem Lenkrad. „Ja?“, fragte sie munter.

„Ich kann nicht fassen, was du alles für uns gekocht hast!“, hörte sie Rachels Stimme durch den Lautsprecher. „Wann hast du denn Zeit gehabt, um Kartoffelsalat und Pasteten zu machen?“

„So aufwendig war das gar nicht. Ich hatte noch Hähnchen übrig, also habe ich Pasteten daraus gemacht, weil Colin und Dylan sie so gern essen.“

Jessica teilte sich jeden Wochentag während des Schuljahrs strikt für bestimmte Aufgaben ein. Samstags putzte sie und kochte für die ganze Woche vor. Obwohl sie allein lebte und schon seit Jahren keine feste Beziehung mehr gehabt hatte, fühlte sie sich nie einsam – erst recht nicht, seitdem sie einen schwarz-weißen Hund aus dem Tierheim geholt hatte.

Rachels Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Du verwöhnst meine Jungs. Wenn du so weitermachst, komme ich vielleicht noch in Versuchung, sie in den Sommerferien bei dir abzugeben.“

Jessica lachte. „Warum nicht? Dann bringe ich ihnen bei, ihr eigenes Obst und Gemüse anzubauen. Und sie spielen bestimmt gern mit Bootsy.“

Rachel zögerte einen Moment. „Ich weiß, du kannst die Leier nicht mehr hören, aber du solltest allmählich heiraten und Kinder bekommen, damit du aufhörst, anderer Leute Kinder zu verwöhnen.“

„Daraus wird nichts, meine Liebe, bis ich einem Mann begegne, dem ich genug vertrauen kann, um mich überhaupt erst einmal in ihn zu verlieben. Außerdem habe ich doch schon ein Baby, das mich jeden Morgen weckt und meine komplette Aufmerksamkeit einfordert, kaum dass ich einen Fuß vor die Tür setze.“

„Ein Hund ist kein Ersatz für einen …“

„Lass es gut sein!“, unterbrach Jessica ihre Freundin ungeduldig. Ein spannungsgeladenes Schweigen folgte. „Tut mir leid, Rachel, ich hätte dich nicht so anblaffen sollen, aber du weißt doch genau, warum ich Männern gegenüber so misstrauisch bin. Ich würde eher ein Kind adoptieren, als mich noch einmal auf einen Mann einzulassen.“ Sie fuhr über eine Bahnschwelle.

„Eines Tages wirst du darüber hinwegkommen müssen – dein Verlobter hat dir blöderweise vorgeworfen, dass du gegen den Mann ausgesagt hast, der deine Zimmergenossin vergewaltigt hat!“

„Du klingst wie meine damalige Therapeutin.“

Rachel lachte. „Das liegt eben daran, dass wir uns gegenseitig therapieren.“

Jessica und Rachel waren befreundet, seitdem Rachel Elternsprecherin in Jessicas Schulklasse gewesen war. Sie hatten ein sehr offenes Verhältnis. „Stimmt. Manchmal fällt es mir nun mal schwer zu vergessen. Der Mann, den ich geliebt habe und den ich heiraten wollte, hat mir vorgeworfen, das Leben seines besten Freundes zu ruinieren – unglaublich!“

„Wenn sein Collegefreund ihm wichtiger war als du, dann bist du ohne ihn sowieso besser dran.“

„Das weiß ich jetzt auch.“

„Ich habe es auch geschafft, Mason zu verzeihen, dass er nicht für mich und unsere Kinder da ist. Ich habe nach unserer Scheidung einfach gemerkt, dass ich es allein durchaus schaffen werde.“

Jessica bog auf die Autobahnauffahrt. Da dieses Jahr gleich mehrere Kollegen in Rente gingen, fand die Abschiedsfeier in einem Hotel außerhalb der Stadt statt. „Das hast du doch schon.“

„Noch nicht ganz.“

„Wie meinst du das?“

„Bitte erzähle das niemandem weiter, noch nicht einmal meiner Mutter, aber Sawyer überweist mir jeden Monat Geld, um Masons Kindesunterhalt aufzustocken. Inzwischen habe ich sogar etwas Geld für Notzeiten zurückgelegt. Als ich meinem Bruder gesagt habe, dass er mir nicht mehr so viel Geld zu überweisen braucht, hat er nur gesagt, es gehöre sich nicht, über Geld zu reden.“

Autor

Rochelle Alers
Seit 1988 hat die US-amerikanische Bestsellerautorin Rochelle Alers mehr als achtzig Bücher und Kurzgeschichten geschrieben. Sie hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter den Zora Neale Hurston Literary Award, den Vivian Stephens Award for Excellence in Romance Writing sowie einen Career Achievement Award von RT Book Reviers. Die Vollzeitautorin ist Mitglied der...
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