Sturm über Cleybourne Castle

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Ein Blick in die lockenden Augen der bezaubernden Jessica und um Richard, Duke of Cleybourne ist es geschehen! Doch die schöne Gouvernante stiehlt Richard nicht nur das Herz. Sie bringt ihm völlig überraschend auch ein Kind ins Haus, zu dessen Vormund er bestimmt wurde. Und damit stehen die Zeichen auf Sturm. Denn im Gefolge des Mündels kommt dessen geldgierige Verwandtschaft nach Cleybourne Castle - zu fast jeder Schandtat bereit! Als dann auch noch Jessicas ehemaliger Verlobter den Weg auf den Landsitz des Duke findet, ist nicht nur deren Liebe, sondern sogar ihr Leben in Gefahr ...


  • Erscheinungstag 29.12.2015
  • Bandnummer 23
  • ISBN / Artikelnummer 9783733766719
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Der Duke of Cleybourne war auf dem Weg zu seinem Stammsitz, um aus dem Leben zu scheiden.

Diesen Entschluss hatte er am Abend zuvor getroffen, als er vor dem Porträt seiner Gemahlin Caroline stand, einem Hochzeitsgeschenk seines Schwagers Devin. Eine ganze Weile war Richard in die Betrachtung des Bildes und des kleineren seines Töchterchens versunken gewesen. Dabei war ihm bewusst geworden, dass es bereits wieder Dezember war und sich der Todestag der beiden jährte.

In jenem unheilvollen Monat hatte sich die herzogliche Kutsche überschlagen, war über die vereiste Straße und die mit Raureif bedeckte Grasnarbe geglitten und durch die dünne Eisdecke in einen angrenzenden See gestürzt. Der schreckliche Unfall geschah nur wenige Tage vor dem Christfest.

Noch heute meinte Richard den schweren harzigen Duft der unzähligen Tannenzweige zu riechen, mit denen das Schloss bereits für die Weihnachtsfeier geschmückt worden war. Durch Krankheit und langsame Wiedergenesung hindurch hatte dieser Geruch in seiner Nase gehangen wie die abscheuliche Witterung des Todes, lange nachdem die Zweige entfernt und verbrannt worden waren.

Vier Jahre waren seitdem vergangen, und die meisten Menschen glaubten, der Duke habe den Kummer über diese Tragödie nun überwunden. Normalerweise trauerte man eine angemessene Zeit, nahm sich dann jedoch zusammen und kehrte wieder ins Leben zurück. Aber dazu war Richard nicht fähig gewesen. Offen gestanden hatte er es auch gar nicht gewünscht.

Nach seiner Gesundung hatte er dem Landsitz den Rücken gekehrt und sich in seinem Stadthaus in London niedergelassen. In das Schloss Cleybourne war er die ganze vergangene Zeit nicht wieder zurückgekehrt.

Gestern Abend jedoch, als er die Bilder betrachtete, hatte er gespürt, wie müde er es geworden war, sich durch die Eintönigkeit der Tage zu kämpfen, und die Erkenntnis, dass niemand ihn weiterhin dazu zwingen konnte, war ihm wie ein Himmelslicht erschienen. Es gab keine Notwendigkeit, auf diese Weise fortzufahren, bis Gott in seiner Allmacht beschloss, dass es nun endlich an der Zeit für ihn wäre. Die Cleybournes waren ein langlebiges Geschlecht und hatten nicht selten in körperlicher und geistiger Frische die achtziger und sogar die neunziger Jahre erreicht. So war also wenig Hoffnung auf eine baldige gnädige Einsicht Gottes.

Da hatte Richard denn doch mehr Zutrauen zu seinen Pistolen und seiner ruhigen Hand. Er würde selbst dafür sorgen, dass er endlich den Frieden bekam, nach dem er sich so sehnte.

Kurz entschlossen läutete er nach seinem Butler und befahl ihm, das Reisegepäck zu richten. Er wolle wieder in das Schloss ziehen, erklärte er und fühlte sich ein wenig schuldig, als er bei diesen Worten die strahlende Freude auf dem Gesicht des alten Mannes bemerkte. In Windeseile sprach sich die Nachricht unter der Dienerschaft herum, die sich all die Jahre Sorgen um ihren Herrn gemacht hatte und nun hoffte, dass die Zeit des Schmerzes endlich vorüber war. Mit frohem Mut ging auch sie ans Packen.

Das ist schließlich keine Lüge, sagte sich Richard. Bald hätte die Zeit des Schmerzes ein Ende, und zwar an dem einzig dafür passenden Ort – nämlich dort, wo seine Frau und sein Kind gestorben waren und er sie nicht vor dem Tode hatte retten können.

1. KAPITEL

Lady Leona Vesey war schön, wenn sie weinte. Und das tat sie jetzt ausgiebig. Glitzernde Tränen füllten ihre Augen und rollten dann langsam die gepuderten Wangen hinab, während sie die knochige Hand des alten Mannes umklammerte, der vor ihr im Bett lag. „Oh, liebster Onkel, bitte, bitte, stirb doch noch nicht“, flehte sie mit zitternden Lippen und halb erstickter Stimme.

Jessica Maitland, die auf der anderen Seite des Krankenbettes von General Streathern neben dessen Großnichte Gabriela stand, betrachtete die weinende Frau mit kühler Geringschätzung. Auf der besten Bühne Londons hätte sie mit dieser Vorstellung Erfolg, dachte sie. Sie musste sich eingestehen, dass Leona wirklich entzückend aussah, wenn sie in Tränen schwamm. Vermutlich hatte sie dieses Talent jahrelang perfektioniert. Nicht umsonst hieß es schließlich, dass Tränen bei Männern eine ganz besondere Wirkung hatten. Jessica ihrerseits vermied es nach Möglichkeit, zu weinen, und wenn es gar nicht anders ging, so tat sie es in ihrem Zimmer, wo niemand sie sehen konnte.

Obwohl sie selbst eine durchaus reizvolle junge Frau war, musste sie sich eingestehen, dass Lady Leona Vesey auch dann schön war, wenn sie ihre Tränen zurückhielt. Seit Jahren war sie eine der am meisten bewunderten Schönheiten der Londoner Gesellschaft, obwohl ihr der Zutritt zu den besten Familien wegen ihres zweifelhaften Lebenswandels verwehrt wurde. Wenn nun ihr Stern langsam zu sinken begann, so konnte das unstete Kerzenlicht in verdunkelten Zimmern doch immer noch weitgehend die Spuren verbergen, welche die Zeit und die Ausschweifungen in ihrem Gesicht hinterlassen hatten.

Lady Vesey besaß wohlgeformte üppige Rundungen. Aus dem tiefen Ausschnitt ihres Kleides, das besser in einem Ballsaal gepasst hätte als in das Krankenzimmer eines betagten Verwandten, quoll ihr sanft schimmernder Busen verführerisch hervor. Ihre Haut war zart und leicht honigfarben angehaucht, was hervorragend zu den aufgetürmten goldenen Löckchen und den wie Bernstein schimmernden Augen passte. Bei ihrem Anblick fühlte Jessica sich an eine gepflegte, verhätschelte Katze erinnert, obgleich Leona sich schlagartig in eine Art Löwin verwandeln konnte, wenn man sie ärgerte. Erst gestern hatte sie eines der Dienstmädchen geohrfeigt, das ihr versehentlich ein wenig Tee auf den Rock getropft hatte.

Jessica hätte Leona am liebsten auch eine Maulschelle versetzt, doch da sie nur die Gouvernante von General Streatherns Mündel war, presste sie lediglich schweigend die Lippen aufeinander. Sie führte zwar den Haushalt des Generals auf vorbildliche Weise, ungeachtet dessen stand die schluchzende Dame jedoch nicht nur im gesellschaftlichen Rang weit über ihr, sondern hatte als Frau seines Großneffen auch gewisse verwandtschaftliche Bindungen zu dem alten Herrn. Von dem Augenblick an, da Lord und Lady Vesey in das Haus gekommen waren, hatte Leona die Zügel ergriffen und Jessica wie einen einfachen Dienstboten behandelt.

„Oh, Großonkel“, stammelte sie gerade in weinerlichem Ton und tupfte sich die Tränen mit dem Taschentuch ab, „bitte, sprich doch ein Wort. Ich kann es nicht ertragen, dich in diesem Zustand zu sehen.“

Bei diesen Worten spürte Jessica, wie Gabriela an ihrer Seite zusammenzuckte. Sie wusste sofort, was das Mädchen dachte: Lady Vesey war nur eine angeheiratete Verwandte des Generals und weit davon entfernt, der Verzweiflung anheim zu fallen, nur weil der alte Herr offensichtlich an der Schwelle des Todes stand.

In den sechs Jahren, die sich Jessica nunmehr bereits im Hause des Generals aufhielt, hatten sich die Veseys nur sehr selten sehen lassen. Wenn sie denn doch einmal kamen, so war ihr Besuch immer mit der Forderung nach Geld verbunden gewesen. Zweifellos waren sie auch ausschließlich aus diesem Grunde jetzt an das Bett des Kranken geeilt. Vor einer knappen Woche hatte General Streathern die Nachricht vom Tode einer alten, sehr lieben Freundin erhalten. Mit einem lauten Schrei war er aufgesprungen, hatte sich dann an den Kopf gegriffen und war lautlos auf den Teppich gesunken. Die Diener hatten ihn in sein Bett getragen. Dort lag er seitdem wie erstarrt und scheinbar gefühllos für alle und alles um ihn herum. Schlaganfall hatte der Arzt mit einem bedauernden Kopfschütteln diagnostiziert und im Hinblick auf das vorgerückte Alter des Kranken nur wenig Hoffnung auf eine Genesung gemacht. Jessica war fest davon überzeugt, dass die Veseys nur hergekommen waren, damit der General sie in seinem Testament nicht überging.

Trotzdem hatte sie sich die ganze Zeit bemüht, ihre Antipathie gegenüber Lord und Lady Vesey zu unterdrücken. Schließlich waren sie neben dem General die einzigen Verwandten von Gabriela. Vermutlich würde Lord Vesey die Vormundschaft über das Mädchen zugesprochen werden, wenn der alte Herr seine letzte Reise antreten sollte, was von Tag zu Tag wahrscheinlicher schien.

Jessica hielt sich immer wieder vor, dass ihre Abneigung gegenüber Lady Vesey vor allem auf deren sinnlicher Schönheit beruhte, denn sie selbst war während der Schulzeit hoch aufgeschossen und ihrer eigenen Meinung nach dünn wie ein Besenstiel gewesen mit einer wilden Mähne fuchsroten Haares. Mund und Augen waren für das strenge, schmale Gesicht viel zu groß. Sie hatte alle anderen Mädchen und selbst viele Jungen überragt und sich deshalb neben all den sanften, zierlichen und schon leicht gerundeten Mitschülerinnen hoffnungslos unweiblich gefühlt. Und selbst als auch ihr Körper voller und reifer geworden war, das Gesicht weichere Züge bekommen und die Haarfarbe sich in ein warmes Rot verwandelt hatte, spürte sie immer noch leise Stiche von Neid und Hilflosigkeit gegenüber Frauen wie Leona Vesey, die ihre üppige Weiblichkeit wie eine Waffe einsetzten.

Hinzu kam das Vorurteil, dessen Ursache die Briefe von Viola Lamprey waren, der einzigen Freundin, die ihr nach dem Skandal um Jessicas Vater die Treue gehalten hatte. Viola war seit drei Jahren die Gemahlin von Lord Eskew und stand damit an der Spitze der Londoner Gesellschaft. Die beiden jungen Frauen hatten all die Jahre über miteinander korrespondiert, und Viola liebte es besonders, die Freundin mit ihren geistreichen und humorvollen Beschreibungen des ton, wie sich die oberen Zehntausend selbst zu nennen pflegten, zu amüsieren.

Lord und Lady Vesey waren sehr oft der Gegenstand des Klatsches gewesen. Es hieß, er habe eine gefährliche Schwäche für ganz junge Mädchen, während sie über zehn Jahre eine allgemein bekannte „geheime Affäre“ mit Devin Aincourt unterhielt. Vor ein paar Monaten waren Violas Briefe voll gewesen von den Geschichten über Aincourts überraschende Heirat mit einer reichen amerikanischen Erbin, die zurzeit in London umliefen, und ebenso von der gleichermaßen plötzlichen Beendigung der langjährigen Beziehungen durch Aincourt, nicht durch Lady Vesey. Die Damen der Londoner Gesellschaft waren darüber hoch befriedigt, denn Leona erfreute sich unter ihnen keiner großen Beliebtheit. In der Vergangenheit hatte sie nur zu gern demonstriert, wie leicht sie jeder von ihnen den Ehemann oder den Verehrer ausspannen konnte.

Jessica war sich durchaus bewusst, dass sie Lady Vesey nicht auf Grund der Gerüchte beurteilen durfte. Schließlich war sie selbst vor zehn Jahren der Gegenstand boshaften Geredes gewesen. Deshalb hatte sie sich bei der Ankunft der Veseys bemüht, Leona völlig vorurteilsfrei zu betrachten. Aber es wurde ihr sehr bald klar, dass der Klatsch eher zu glimpflich mit Lady Vesey umgegangen war. Leona Vesey war selbstsüchtig, eitel und launisch. Gegenüber all jenen, die ihrer Meinung nach einen niedrigeren Rang einnahmen, benahm sie sich verletzend geringschätzig, wohingegen sie bei Menschen vor Liebenswürdigkeit überfließen konnte, von denen sie glaubte, dass sie ihr von Nutzen sein konnten – vorzugsweise natürlich Männer. Obwohl das Ehepaar erst drei Tage im Haus war, konnte Jessica es jetzt schon kaum ertragen, mit den beiden im selben Raum zu sein.

Wieder spürte sie eine unterdrückte Bewegung bei Gabriela und fürchtete, das Mädchen werde seinem Ärger gegenüber Lady Vesey Luft machen. Rasch legte sie den Arm um seine Schulter und warf ihm einen warnenden Blick zu, denn sie machte sich Sorgen um die Zukunft von General Straetherns Mündel. Sollte der General wirklich sterben und Lord Vesey Gabrielas Vormund werden, so wäre ihr Leben schon schwer genug. Sie musste sich nicht auch noch Leona zur Feindin machen.

„Oh, bitte, bitte, Onkel“, erklang in diesem Augenblick wieder die zitternde Stimme, und Leona beugte sich über die starre Gestalt des Kranken, der in dem trüben Kerzenlicht bleich wie Wachs wirkte. „Sag mir doch noch ein Abschiedswort.“

Unvermittelt hoben sich die Lider des Alten. Leona stieß einen leisen Schrei aus, bevor sie entsetzt zurückwich. Mit seinen scharfen Habichtaugen starrte der General sie an.

„Was, zum Teufel, machst du denn hier?“, fragte er mit deutlicher Verärgerung, obwohl seine Stimme leiser und kratziger als sonst klang.

„Nun, lieber Onkel“, erwiderte Leona, die ein wenig die Fassung wiedererlangt hatte, immer noch etwas atemlos, „Vesey und ich kamen hierher, weil wir von deiner Krankheit gehört hatten und an deiner Seite sein wollten.“

Eine ganze Weile blickte der alte Herr sie schweigend an, bevor er spöttisch sagte: „Es erscheint mir wahrscheinlicher, dass ihr Angst um euren Anteil an meinem Vermögen hattet. Ich habe aber Neuigkeiten für euch. Ich werde noch nicht sterben. Und selbst wenn ich es tun würde, hinterließe ich nicht einen roten Heller für dich und deinen Lüstling von Ehegatten.“

„Aber Onkel …“ Lord Vesey, der hinter seiner Frau gestanden hatte, rang sich ein gequältes Lachen ab. „Du gibst immer ein falsches Bild von dir ab. Die meisten kennen ja deine Vorliebe für kleine Scherze nicht …“

„Mit dir habe ich überhaupt nicht gesprochen“, unterbrach der General ihn barsch. Er schien mit jeder Minute kräftiger zu werden. „Verdammt und zugenäht! Niemand hat euch eingeladen. Ihr seid eine schreckliche Landplage.“

„Oh, Großonkel!“, platzte Gabriela heraus. „Du bist ja wieder ganz der Alte! Wir hatten solche Angst, du würdest sterben.“

Der General wandte sich um und sah nun das Mädchen an der anderen Seite des Bettes, mit Jessica an seiner Seite. Lächelnd nickte er ihm zu.

„Na, glaubst du wirklich, so etwas würde ich tun?“, fragte er und streckte die Hand nach Gabriela aus.

Dem Mädchen schossen die Tränen in die Augen. Es beugte sich vor und ergriff seine Hand. „Wir sind ja so froh, dass es dir wieder besser geht, denn wir hatten uns große Sorgen gemacht.“

„Das glaube ich dir gern, Gaby.“ Der Kranke drückte Gabrielas Hand mit dem Rest der ihm verbliebenen Kraft. „Aber nun musst du dich nicht mehr fürchten. Noch atme ich.“

Dann ließ er den Blick zum Fußende des Bettes wandern, wo der Arzt und der Gemeindepfarrer standen und ihn verblüfft anstarrten. „Ihr Verdienst ist das nicht, da bin ich sicher“, sagte er missmutig. „Verschwindet – alle beide. Ihr seht aus wie zwei lauernde Krähen. Aber ich sterbe noch nicht.“

„General, Sie dürfen sich jetzt nicht aufregen“, erwiderte der Arzt in betont beruhigendem Ton. „Sie sind fast eine Woche lang bewusstlos gewesen.“

„Nein, das bin ich nicht. Vergangene Nacht bin ich aufgewacht, aber wieder eingeschlafen.“

„Es muss der Klang von Lady Veseys Stimme gewesen sein, der Sie ins Leben zurückgerufen hat“, stellte der Vikar mit einem bewundernden Blick auf Leona fest.

„So, so“, versetzte der General. „Nun, Babcock, Sie waren schon in jungen Jahren ein Narr, und es besteht keine Hoffnung, dass sich das im Alter noch ändern wird. Die Stimmen dieses Gesindels sind eher dazu geeignet, mich ins Jenseits zu befördern, als mir wieder Leben einzuhauchen.“

„Was?“, rief Leona empört und stemmte die Hände in die Hüften. „So etwas höre ich gern! Wir sind Hals über Kopf von London aufgebrochen und in dieses gottverlassene Nest gefahren, weil wir hörten, dass du krank bist. Und das soll nun der Dank dafür sein?“

„Ich habe euch nicht darum gebeten“, stellte der General sachlich fest. „Niemand hat euch darum gebeten. Ihr seid gekommen, weil ihr gehofft habt, dass etwas dabei für euch herausspringen würde. Geld war doch der einzige Grund, weshalb ihr je einen Fuß in dieses Haus gesetzt habt. Beim letzten Mal habe ich ausdrücklich gesagt, dass ihr euch nicht wieder sehen lassen sollt. Ihr seid wahrhaftig dickfellig, so bald aufs Neue hier wieder aufzutauchen. Ich danke Gott, Leona, dass du nicht meine Blutsverwandte bist, und wäre froh, wenn ich das auch von diesem Nichtsnutz sagen könnte, den du geheiratet hast.“ Er beendete seinen Redeschwall und warf seinem Großneffen einen zornigen Blick zu. „Und nun verlasst diesen Raum, alle beide. Ich will eure Gesichter nicht wieder sehen.“

„Vielleicht sollten wir doch lieber in unsere Zimmer gehen“, schlug Lord Vesey seiner Frau halblaut vor. Er war jetzt deutlich blasser als noch kurz zuvor.

„In eure Zimmer? Wohnt ihr etwa hier?“ Die Wangen des Generals hatten sich gefährlich gerötet.

„Nun ja, natürlich“, erwiderte Leona. „Wo sollten wir denn sonst bleiben?“

„Ich habe euch doch gesagt, dass ihr in diesem Hause nicht willkommen seid“, fuhr der Kranke sie an und versuchte, sich aufzurichten.

„Bitte, beruhigen Sie sich, Herr General!“ Der Arzt eilte an das Bett und drückte den alten Herrn sanft auf das Lager zurück. „Wenn Sie nicht vorsichtig sind, können Sie schnell einen zweiten Schlaganfall bekommen.“

„Ach, der Teufel soll den Schlaganfall holen!“ General Streathern starrte den Arzt ärgerlich an, hatte aber nicht die Kraft, sich ihm zu widersetzen. „Ich will dieses Pack aus meinem Hause haben, verstehen Sie!“

„Aber Herr General …“, protestierte der Pfarrer. „Lord Vesey ist Ihr Großneffe und Lady Vesey …“ Erschrocken hielt er inne, als der Kranke ihn durchdringend anblickte.

„Das ist mein Haus“, sagte der General kalt, „und ich bestimme, wer sich hier aufhalten darf und wer nicht. Versuchen Sie nicht, mir zu erklären, wen ich hier dulden muss.“

„Nein, nein, natürlich nicht, Herr General“, erwiderte der Vikar mit einem gezwungenen Lächeln. „Ich wollte keineswegs anmaßend sein. Es ist nur … Ihre Verwandten haben eine lange Reise hinter sich. Wo sollen sie sonst bleiben?“

„Wenn sie Ihnen so sympathisch sind, dann nehmen Sie die beiden doch bei sich auf.“

Reverend Babcock lachte nachsichtig, was den ohnehin erzürnten alten Herrn noch mehr aufbrachte. „In Lapham nebenan gibt es einen Gasthof“, sagte der General bissig. „Sollen sie dort Quartier nehmen, wenn sie die Unverschämtheit besitzen, hier zu bleiben. Aber ich lasse mich nicht von ihrem Gewimmer belästigen und erlaube ihnen auch nicht, meine Hausmädchen zu terrorisieren. Ich weiß, dass er jeden nur möglichen Versuch unternimmt, sie in dunkle Ecken zu drängen, während diese Dame wie ein Geier auf sie losgeht und bei jeder Gelegenheit ohrfeigt. Wenn man einem alten Mann, der auf der Schwelle des Todes gestanden hat, nicht seine Ruhe gönnt, dann weiß ich nicht, in was für einer Welt wir leben.“

„Natürlich sollen Sie Ihre Ruhe haben“, erwiderte der Arzt beschwichtigend und warf den Veseys einen eindringlichen Blick zu. „Mylord …“

„Ja, ja, selbstverständlich.“ Lord Veseys Lächeln wirkte mehr wie die Grimasse eines Clowns. „Wir tun ja alles, damit der General sich wohl fühlt. Lady Vesey und ich werden umgehend aufbrechen.“ Er nahm Leonas Hand und verließ eilig den Raum.

General Streathern wandte den Kopf zu Jessica. „Sorge dafür, dass sie auch wirklich gehen, Jessica.“

„Selbstverständlich, Herr General“, erwiderte sie lächelnd. „Mit dem größten Vergnügen.“ Sie sah sich im Zimmer um und fuhr dann fort: „Gabriela, Herr Pfarrer, sollten wir den General nicht mit dem Arzt allein lassen?“

Der Geistliche war offensichtlich nur zu gern bereit, das Zimmer zu verlassen. Vielleicht hoffte er, noch einen Blick auf Lady Vesey werfen zu können. Gabriela indes sprang munter neben Jessica die Treppe zur Halle hinab und begleitete jede Stufe mit einem unaufhörlichen fröhlichen Geplauder.

„Ach, Miss Jessica, ist es nicht wunderbar! Ich war schon fast sicher, dass der Großonkel sterben würde. Doch ich hätte wahrhaftig wissen müssen, dass er zäher und stärker ist als irgend so ein alter Schlaganfall.“

Jessica nickte Gabriela freundlich zu. Mit ihren vierzehn Jahren versprach sie bereits, eine Schönheit zu werden. Obwohl ihr Körper noch schlank und knabenhaft war, verriet ihr geschmeidiger Gang eine sich langsam entfaltende Grazie. Ihre Haut war zart und frisch, ihr Gesicht lebhaft und wohlgeformt mit großen, leuchtend grauen Augen und einer lustigen Stupsnase.

Obwohl Jessica froh war, ihren Schützling so vergnügt zu sehen, konnte sie dennoch eine leichte Beunruhigung nicht unterdrücken. Im Augenblick mochte es scheinen, als wäre der General wieder ganz der Alte. Wahrscheinlich würde er fürs Erste auch seine frühere Kraft wieder erlangen. Doch im Gegensatz zu Gabriela war Jessica nicht entgangen, dass die linke Seite seines Gesichtes sich nicht bewegt hatte, während er sprach, und auch seine linke Hand hatte sich nicht mehr richtig um Gabrielas Finger geschlossen. Da er tagelang bewusstlos gewesen war, musste man zumindest davon ausgehen, dass sein Schwächezustand noch länger anhalten würde. Hinzu kam, dass er hoch betagt war. Menschen dieses Alters waren besonders anfällig für Fieber und Erkältungen, zumal wenn sie bereits durch eine andere Krankheit entkräftet waren.

Deshalb machte sie sich große Sorgen um den alten Herrn, nicht nur, weil sie ihn sehr gern hatte, sondern auch weil sie durch diesen Zwischenfall gemerkt hatte, wie gefährdet Gabriela doch war. Eine minderjährige Waise wie das Mädchen konnte leicht in die Vormundschaft solcher Leute wie den Veseys geraten. Seit Gabrielas achtem Lebensjahr hatte Jessica für sie gesorgt, war ihre Gefährtin, Lehrerin und Vertraute gewesen, und sie liebte sie wie eine jüngere Schwester. Doch in den Augen der Welt war sie nichts anderes als eine bezahlte Angestellte, und jeder, dem nach General Streatherns Tod die Vormundschaft zugesprochen werden würde, konnte dieses Arbeitsverhältnis sofort und entschädigungslos beenden. Über diese Tatsache hatte sich Jessica bereits vor der Krankheit des Generals Gedanken gemacht.

In der Halle trennten sich die beiden, und Gabriela begab sich mit dem Versprechen, ihre seit Tagen vernachlässigten Hausaufgaben jetzt schnellstens zu erledigen, in ihr Zimmer. Jessica aber ging in die Küche, um Pierson, den Butler, von der wundersamen Genesung des Generals und seiner Anweisung zu informieren, die Veseys auszuquartieren. Sie wusste, dass keine andere Nachricht den Alten glücklicher machen konnte.

Wie erwartet, strahlten Piersons Augen voller Freude bei der guten Botschaft, und er versicherte eifrig, er werde umgehend zwei Dienstmädchen – nicht nur eines – hinaufschicken, um den unerwünschten Gästen beim Packen zu helfen, und Lord und Lady Vesey dann persönlich zur Kutsche begleiten.

Da Jessica ihren Auftrag somit zu aller Zufriedenheit erledigt hatte, machte auch sie sich auf den Weg zum oberen Stockwerk, in dem rechts und links neben der Schulstube die Schlafräume von ihr und Gabriela lagen. Als sie dabei an den Zimmern der Veseys vorüberging, hörte sie ein dumpfes Krachen und Splittern, begleitet von Leonas schriller, ärgerlicher Stimme, der Lord Veseys zwar leisere, aber nicht minder wütende folgte. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, während sie auf Zehenspitzen weiterging.

Nach etwa einer halben Stunde verabschiedete sich der Arzt von dem Kranken, und kurze Zeit später verließen auch Lord und Lady Vesey das Haus. Humphrey, der langjährige Diener des Generals, wich für den Rest des Tages nicht von der Seite des Krankenbettes und ließ sich selbst während der Nacht nur für kurze Zeit von Jessica oder dem Butler vertreten.

In den folgenden Tagen schlief der General oft und lange, wachte nur hin und wieder auf, weil er hungrig war. Zunächst stärkte er sich nur mit einer Tasse Hühnerbrühe, später dann mit etwas Haferschleim, bis er schließlich Suppe mit etwas Handfestem darin, wie er sagte, verlangte. Mit jedem seiner Wünsche hob sich die Stimmung im Hause. Offensichtlich näherte sich der Kranke von Tag zu Tag seiner gewohnten Verfassung.

Jeden Morgen und jeden Abend besuchte Jessica mit ihrem Schützling den alten Herrn und konnte dabei die deutliche Verbesserung seines Zustandes beobachten. Nicht nur um Gabrielas willen war sie sehr glücklich über diese Fortschritte. Nachdem ihr Vater seinerzeit in Unehren aus der Armee entlassen worden war, hatten sich die meisten ihrer Freunde und Bekannten von ihr abgewandt, und selbst der Mann, der sie angeblich liebte, hatte ihr den Rücken gekehrt. Nur General Streathern tat nichts dergleichen. Er war sogar gekommen, um ihr nach dem Tod ihres Vaters sein Beileid auszusprechen, wozu sich nur wenige seiner ehemaligen Kameraden durchringen konnten.

Nach dem Ableben des Vaters war Jessica völlig mittellos zurückgeblieben. Da sie es ablehnte, Hilfe bei dessen Verwandten zu suchen, die nach dem öffentlichen Skandal sehr verärgert gewesen waren, hielt sie sich eine Zeit lang bei dem Bruder ihrer seit langem verstorbenen Mutter auf, doch die Situation in dessen Haus wurde ihr bald unerträglich. Der Onkel hatte fünf eigene Töchter, alle bereits im heiratsfähigen Alter und kurz vor der Einführung in die Gesellschaft. Eine weitere Rivalin war das Letzte, was sie gebraucht hatten. Zudem war es Jessica nicht gewöhnt, tatenlos herumzusitzen anstatt sich im Haushalt nützlich zu machen oder ihn gar zu führen, und mit der Tante kam sie auch nicht recht aus. So packte sie also nach kurzer Zeit wieder ihre Sachen und nahm verschiedene Stellungen als Gesellschafterin oder als Gouvernante an. Aber im Allgemeinen hielt man sie für zu jung und zu attraktiv für eine solche Tätigkeit, die deshalb oft nur von kurzer Dauer war, insbesondere wenn noch ein männliches Mitglied des Hauses ihr unerwünschte Avancen machte.

Jessica sah eine ausgesprochene Ironie des Schicksals in der Tatsache, dass sie früher darunter gelitten hatte, als das Musterbild eines hässlichen jungen Entleins zu gelten, und nun auf einmal der Gegenstand von unliebsamen Aufmerksamkeiten oder gar Belästigungen seitens der Männer jeden Alters geworden war. Sie war sich bewusst, dass ihr spätes körperliches Erblühen damit zu tun haben musste. Es lag jedoch außerhalb ihrer Vorstellungswelt, dass die üppige Fülle ihres glänzenden, rot schimmernden Haares eine Verlockung für jeden Mann bedeutete oder dass sich ihre Gesichtszüge, die früher zu hart und streng waren, zu einem Ebenbild beeindruckender Schönheit gewandelt hatten. So versuchte sie, sich ihre unerwünschte Anziehungskraft damit zu erklären, dass sie nicht mehr unter dem Schutz ihres Vaters stand und damit eine leichte Beute zu sein schien. Die Männer glaubten offensichtlich, dass sie von ihrem Wohlwollen abhängig war, weil sie sich ihren Lebensunterhalt verdienen musste.

Enttäuscht und verbittert hatte Jessica deshalb ihre Bemühungen um eine Tätigkeit als Gouvernante aufgegeben und versucht, sich das nötige Geld mit Handarbeiten zu beschaffen. Sie hatte einen guten Geschmack und geschickte Finger, und als sie ihren Stolz niedergekämpft und bescheiden um Aufträge gebeten hatte, fanden sich doch zahlreiche Damen von Ansehen und Vermögen, die bereit waren, Geld für kunstvolle Stickereien auszugeben. Die Summen waren allerdings gering, und häufig blieben die Aufträge gänzlich aus, sodass Jessica vor allem im Winter oft nahe am Verzweifeln war, denn in dieser Zeit war das Leben wegen der Heizkosten besonders teuer. Sie versuchte dann, an Holz und Kohle zu sparen, doch mit klammen Fingern konnte sie die zierlichen Stickarbeiten nicht ausführen. Im November vor nunmehr sechs Jahren war sie auch noch krank geworden und hatte eine Woche lang überhaupt nicht arbeiten können, sodass sie plötzlich vor dem Nichts stand und ihr nur der Ausweg blieb, zu ihrem Onkel zurückzukehren oder die ungnädige Verwandtschaft ihres Vaters um Hilfe zu bitten.

In dieser verzweifelten Situation stand plötzlich der General wie ein Weihnachtsengel auf Jessicas Schwelle und bot ihr eine Stellung als Gouvernante und Gesellschafterin für sein Mündel Gabriela an, deren Eltern einen Monat zuvor gestorben waren. Gleich bei Antritt seiner Vormundschaft hatte der alte Herr an die junge Frau gedacht, mit welcher er über all die Jahre hinweg einen losen Kontakt gepflegt hatte und der wohl auch hinter vielen der Geschenke und Zuwendungen gesteckt haben mochte, die sie immer wieder einmal von ihren Kundinnen erhielt. Erleichtert und beglückt hatte Jessica sofort zugesagt und diese Entscheidung nie bereut.

Die Zeit im Hause des Generals war von keinem einzigen Schatten getrübt gewesen. Schnell fasste Jessica eine herzliche Zuneigung zu dem kleinen Mädchen und übernahm nach und nach auch die Führung des Haushaltes. Die Dienstboten erkannten sehr bald die Richtigkeit ihrer Ratschläge und Anordnungen und schätzten ihre vielfältigen Fähigkeiten. Der General seinerseits war äußerst zufrieden, dass er all den „Weiberkram“, wie er es nannte, auf Jessica übertragen konnte. Es schien fast, als seien die drei so unterschiedlichen Menschen eine harmonische Familie. Und so hätte sie über die Genesung ihres eigenen Großvaters nicht glücklicher sein können als über die des Hausherrn.

Nach einigen Tagen erklärte der alte Herr seinem Diener, dass er „keine verdammte Krankenschwester brauche, die die ganze Nacht neben ihm sitze und ihn anstarre“, und schickte den braven Humphrey kurzerhand ins Bett. Am anderen Morgen ließ Streathern Jessica zu sich bitten. Während sie überrascht die Treppe heruntereilte, fragte sie sich, was er wohl auf dem Herzen haben konnte.

Als sie das Krankenzimmer betrat, saß der General aufrecht in seinem Bett und schien noch besser bei Kräften zu sein als die Tage zuvor. Doch als er ihr freundlich zulächelte, bewegte sich die linke Seite seines Gesichtes immer noch nicht, und auch der linke Arm lag starr und steif auf der Decke. Sein Blick aber war munter, seine Miene lebhaft, und auf seinen Wangen lag eine gesunde Röte.

„Nun, Mädchen, du hattest mich wohl schon aufgegeben, was?“, fragte er in einem gespielt barschen Ton.

„Ich war tatsächlich sehr besorgt“, räumte Jessica ein.

„Alte Zweiflerin!“

„Sie waren schließlich eine ganze Woche lang bewusstlos, Herr General.“ Jessica hatte von ihrem Vater gelernt, immer offen die Meinung zu sagen, was der Hausherr zu ihrer Freude schätzte.

Der General lachte. „Ich kann wahrhaftig immer damit rechnen, dass du mit deiner Ansicht nicht hinter dem Berge hältst. Komm her.“ Er klopfte auf sein Bett. „Setz dich hier hin, wo ich dich ansehen kann, ohne mir das Genick zu brechen.“

Jessica kam näher und ließ sich auf der Bettkante nieder. „Jetzt bin ich natürlich sehr froh, dass meine Befürchtungen unberechtigt waren.“

„Ich auch, Mädchen, ich auch.“ Der alte Herr seufzte. „Ich muss gestehen, dass es mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt hat. Der Sensenmann sollte ruhig noch etwas fern bleiben. Doch ich weiß, dass er schon die Hand nach mir ausgestreckt hatte. Ich fühle es immer noch.“ Er zeigte auf seinen linken Arm. „Ich kann ihn nach wie vor nicht bewegen“, erklärte er kopfschüttelnd. „Es ist schon eine scheußliche Sache, wenn der Körper nicht mehr gehorchen will.“

„Das kann ich mir vorstellen. Aber jetzt geht es Ihnen ja schon viel besser, und vielleicht wird der Arm auch wieder in Ordnung kommen.“

„Hoffentlich, denn die Sache ist verdammt ärgerlich – nicht ganz so ärgerlich allerdings, wie aufzuwachen und diesen Taugenichts Vesey in meinem Zimmer vorzufinden. Es ist mir unerklärlich, dass meine Schwester einen solchen Enkelsohn hat. Damals warnte ich Gertie vor einer Verbindung ihrer Tochter mit den Veseys, aber sie hatte leider keinen Einfluss mehr auf die Entscheidung.“

„Es tut mir leid, dass sie hier waren.“

„Ist ja nicht deine Schuld, Mädchen. Ich habe Pierson jetzt gesagt, dass er sie nicht wieder hereinlassen soll, und er wird diese Anordnung ausführen. Sollte er einmal schwach werden, dann erinnere ihn an meinen Befehl.“

„Das werde ich bestimmt tun.“

„Es hat mir fast einen erneuten Hirnschlag versetzt, Vesey hier zu sehen.“ Der alte Herr schwieg und starrte auf seine Hände. Er war durch und durch Soldat und deshalb nicht gewöhnt, über Gefühle zu sprechen. „Aber mir ist bewusst geworden“, fuhr er zögernd fort, „ich könne tatsächlich sterben. Immerhin bin ich schon zweiundsiebzig Jahre alt, und meine Zeit auf Erden ist eigentlich abgelaufen. Möglicherweise habe ich immer geglaubt, ich könne das Schicksal abwehren, aber es war reines Glück bis jetzt. Als ich den Brief las und erfuhr, dass Millicent nicht mehr lebt …“

„Der Tod Ihrer lieben Freundin war sicher ein Schock für Sie.“

„Das war er, in der Tat.“ Der alte Herr nickte traurig. „Ich habe sie geliebt.“

„Natürlich.“

„Nein, nein, ich habe sie wirklich geliebt – fast vierzig Jahre lang.“

Überrascht blickte Jessica auf den General. In seinen Augen lag eine ungewohnte Zärtlichkeit.

„Sie war mit einem anderen Mann verheiratet. Kein schlechter Kerl. Ich kannte ihn. Wir lernten uns auf einem Ball bei Lady Abernathy kennen. Ich war damals fünfunddreißig und noch nicht verheiratet. Hatte keine Zeit dafür gefunden. War zu beschäftigt mit meiner Karriere und all diesen Dingen. Nachdem ich Millicent gesehen hatte, wusste ich, dass ich nun nie mehr heiraten würde. Es ist nicht leicht, mit dem Gedanken zu leben, dass einem der Tod eines guten Mannes willkommen wäre. Natürlich ist er dann auch irgendwann einmal gestorben. Doch nun waren wir inzwischen alt geworden und hatten uns daran gewöhnt, Freunde zu sein. In unserem Leben hatten wir uns eingerichtet und waren nicht mehr bereit, es aufzugeben. Es genügte uns, den Briefwechsel aufrechtzuerhalten und uns ein paar Mal im Jahr zu sehen. Aber ich hätte bis zuletzt immer noch alles für sie getan.“

Der General verlor sich in Erinnerungen, und auch Jessica schwieg, während sie versuchte, das neue Bild des harschen alten Soldaten als hoffnungslosen Liebhaber zu verarbeiten.

„Nun gut.“ Der alte Herr schüttelte den Kopf, als wolle er die Gedanken verscheuchen. „Aber dies ist nicht der Grund, weshalb ich dich herrufen ließ. Die Sachlage ist die, dass ich einen stechenden Schmerz im Kopf spürte, als ich den Brief las, in dem ich von Millicents Tod erfuhr, und das Nächste, woran ich mich erinnern kann, ist diese alberne Kuh von Leona, die dummes Zeug plapperte, als ich aufwachte. Jetzt weiß ich, wie eingebildet ich all die Jahre gewesen bin, als ich dachte, ich könnte den Tod in die Flucht schlagen wie einen feindlichen Soldaten. Niemand kann das. Es war einfach Glück, dass ich ihm noch einmal von der Schippe gesprungen bin. Beim nächsten Mal kann es ganz anders ausgehen.“

Jessica schwieg, denn es war offenkundig, dass der alte Herr recht hatte, und so war es schwer, irgendetwas Zuversichtliches zu sagen.

„Zweiundsiebzig“, fuhr der General ein wenig melancholisch fort. „Mancher würde sagen, es sei an der Zeit einzusehen, dass ich nicht unbesiegbar bin. Die Frage ist nur, was wird dann mit Gaby? Oh, was ihre materielle Absicherung anbetrifft, so habe ich in meinem Testament vorgesorgt, und ihr Vater hat ihr auch ein nettes Vermögen hinterlassen. Sie wird wohlhabend sein. Aber das ist nicht alles. Sie braucht jemanden, der sie liebt.“

„Ich werde bei ihr bleiben, Herr General, das verspreche ich Ihnen. Sie wissen doch, wie sehr sie mir ans Herz gewachsen ist.“

Als der alte Herr lächelte, bemerkte Jessica erneut voller Sorge, dass die linke Seite seines Mundes dabei starr blieb. „Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann, Mädchen. Deshalb will ich, dass du genau weißt, was zu tun ist, wenn mir etwas zustoßen sollte. In meinem Testament habe ich einen Vormund für Gabriela festgelegt. Es ist derselbe Mann, den auch ihr Vater für diesen Fall im Auge hatte. Ich kenne ihn nicht näher, aber er war ein Freund ihres Vaters und soll ein sehr ehrenhafter Mensch sein. Er wird sich um die Verwaltung ihres Vermögens kümmern und um ihr Wohlergehen. Ich habe ihm einen Brief geschrieben. Dort …“

Er wies auf einen kleinen Tisch neben seinem Bett, auf dem ein Umschlag lag, mit rotem Wachs versiegelt, das das Wappen des Generals aufwies. „Nimm ihn. Ich will, dass du Gaby zu diesem Mann bringst, wenn ich die Augen schließen sollte. Gib ihm diesen Brief und auch das Testament. Ich habe ihn darin gebeten, dich weiter als Gouvernante zu beschäftigen, weil ich dir vertraue und Gaby an dir hängt.“

„Ich werde alles genau befolgen, Herr General. Machen Sie sich keine Sorgen. Doch nun lassen Sie uns nicht mehr darüber reden. Sie werden wieder ganz gesund werden und Gabys Hochzeit erleben. Da bin ich mir sicher.“

„Das hoffe ich auch. Aber ich habe noch nicht alles gesagt. Wenn Gaby erst in der Obhut ihres neuen Vormundes ist, besteht kein Grund mehr zur Sorge. Er ist ein mächtiger, einflussreicher Mann – der Duke of Cleybourne. Gegen ihn wird Vesey nichts ausrichten können. Bis dahin jedoch fürchte ich meinen Großneffen.“

„Lord Vesey, Ihren Großneffen? Aber wenn jemand anderes als Gabrielas Vormund vorgesehen ist, besteht doch keine Gefahr mehr von seiner Seite.“

„Nun, das will noch nichts besagen bei diesem Menschen.“ Der General runzelte die Stirn. „Er ist zutiefst schlecht, und seine Frau ist nicht viel besser. Ich traue ihm zu, dass er versucht, Gabys Vormundschaft an sich zu reißen, denn ich habe ihm keinen Penny hinterlassen. Deshalb wird er hinter dem Vermögen der Kleinen her sein. Und diese Hexe Leona ist in der Lage, die Männer um den Finger zu wickeln. Keinem von beiden kann man Vertrauen schenken.“ Sorgenvoll blickte er Jessica an. „Ich beleidige deine Ohren nicht gern mit den dunklen Seiten des Lebens, Mädchen, aber du musst das ganze Ausmaß der Gefahr kennen. Der Mann ist ein Lüstling, und ich habe gehört, dass er eine unselige Neigung zu … zu ganz jungen Mädchen hat … Mädchen in Gabys Alter.“

Erschrocken riss Jessica die Augen auf. „Wollen Sie damit sagen, Herr General, dass Sie glauben … dass er …“

„Ich weiß nicht, wie tief dieser Mensch bereits gesunken ist, aber ich halte alles für möglich. Gehen wir also davon aus, dass es auf alle Fälle sicherer ist, wenn Gabriela auch nicht einen einzigen Tag unter seiner Kontrolle bleibt.“ Eindringlich blickte der General Jessica an. „Dein Vater war einer der besten Soldaten, die je unter meinem Kommando standen.“

„Ich danke Ihnen“, flüsterte Jessica mit heiserer Stimme, denn plötzlich schnürte ihr irgendetwas die Kehle zu.

„Ich rechne damit, dass er dich in seinem Geist erzogen hat.“

„Ich hoffe und bete, ihm Ehre zu machen“, erwiderte Jessica und fügte dann in festerem Ton hinzu: „Sie können sicher sein, dass ich Gabriela von Lord Vesey fern halten werde.“

„Sehr gut.“ Erleichtert lehnte sich der Kranke in die Kissen zurück. „Ich danke dir, Jessica. Wenn ich sterbe – ob heute oder später – wird er angestürzt kommen wie ein Aasgeier. Bring Gaby fort, sobald das Testament verlesen worden ist. Packe noch heute, damit ihr jederzeit zur Abreise bereit seid. Hast du mich verstanden?“

„Gewiss, Herr General. Ich werde keine Zeit versäumen, das schwöre ich Ihnen. Sofort nach Eröffnung des Testamentes werde ich mit ihr das Haus verlassen, selbst wenn wir uns das Gepäck später nachschicken lassen müssten.“

Der alte Herr nickte zufrieden. „Du bist ein vernünftiges, energisches Mädchen, und ich weiß, dass ich dir vertrauen kann. Bringe sie zu dem Duke of Cleybourne. Sein Landsitz liegt in Yorkshire in der Nähe von Hedby. Es sind gerade einmal zwei Tagereisen mit der Kutsche.“

„Ich werde alles tun.“ Jessica ergriff die Hand des Generals. „Aber lassen Sie uns Gott bitten, dass dieser Fall so bald nicht eintritt und Sie Gaby noch als glückliche Ehefrau erleben werden.“

„Gottes Wille geschehe.“

Es war weit nach Mitternacht. Alle Bewohner des Hauses schliefen fest und ruhig. Plötzlich wurde lautlos eine Hintertür geöffnet, und eine schwarz gekleidete Gestalt huschte hindurch. Einen Augenblick hielt der Mann inne, um zu lauschen. Als sich nichts regte, schlich er vorsichtig durch die Halle und stieg dann die Dienstbotentreppe in den oberen Stock empor. Dort blieb er erneut stehen und horchte nach allen Richtungen, bevor er auf Zehenspitzen den Gang entlang bis zu der Tür ging, die er gesucht hatte. Ohne das leiseste Geräusch öffnete er sie und spähte hindurch. Offensichtlich war niemand bei dem Kranken, weder der Diener noch eine Pflegerin.

Der Fremde trat über die Schwelle, schloss leise die Tür hinter sich und ging dann quer durch den Raum bis zum Bett. Dort blickte er eine Zeit lang auf den Schlafenden. Der General wirkte so zerbrechlich, dass dem Eindringling Zweifel aufstiegen, ob sein Vorhaben wirklich notwendig war. Schließlich wäre der alte Herr ohnehin beinahe gestorben. Es bestand immer noch die Möglichkeit, dass er sich nicht wieder erholen und dann keine Gefahr mehr darstellen würde.

Während der Fremde noch überlegte, öffnete der Kranke die Augen, so als habe er die Anwesenheit des ungebetenen Gastes gespürt. „Du?!“, krächzte er. „Was zum Teufel machst du denn hier? Habe ich dir nicht gesagt …“

„Ja, ja, ich weiß“, erwiderte der Jüngere leichthin. „Ich sollte Sie nie mehr mit meiner Gegenwart belästigen. Aber ich bin der Ansicht, dass es besser wäre, wenn wir miteinander redeten. Die Situation hat sich schließlich verändert.“

„Ja, das ist richtig.“ Der General richtete sich auf und lehnte sich in die Kissen. Es war ein etwas mühsames Unterfangen für ihn, was dem Eindringling nicht entging.

„Ich wollte sichergehen, dass Sie nicht irgendetwas äußerst Törichtes zu tun beabsichtigen.“

„Du meinst, die Wahrheit ans Licht zu bringen? Wie kommst du darauf, dass ich davon Abstand nehmen könnte?“, zischte der alte Herr wütend und unbedacht. „Ich habe jetzt keinen Grund mehr, Stillschweigen zu bewahren.“

„Nun, das würde Ihnen große Probleme verursachen. Man würde mit Recht fragen, warum Sie die Geschichte nicht schon vor Jahren aufgedeckt haben, als sie geschehen war. Es würde Ihren Ruf ruinieren und Ihren Namen in den Schmutz ziehen.“

„Vielleicht muss es eben so sein“, murmelte der Kranke müde.

„Sie können so etwas mit Leichtigkeit sagen, da Sie ohnehin an der Schwelle des Grabes stehen. Ich aber habe noch viele Jahre zu leben und deshalb nicht die geringste Lust, das mit einem Skandal belastet zu tun.“

„Ein Skandal wäre noch das kleinere Übel.“

„Da bin ich anderer Meinung. Es steht dann Ihr Wort gegen meines, und Sie sind ein alter Narr, der gerade einen Schlaganfall erlitten hat. Jeder wäre bereit zu glauben, dass Sie nicht mehr richtig im Kopf sind.“

„Oh, sie würden mir glauben müssen“, erwiderte der General mit hasserfüllter Verachtung. „Ich habe nämlich Beweise.“

Die Augen des Fremden wurden kalt wie Eis. Einen Augenblick lang starrte er den alten Herrn schweigend an. „Es betrübt mich außerordentlich, das hören zu müssen“, sagte er schließlich.

Rasch zog er ein Kissen aus dem Bett und presste es auf das Gesicht des Kranken. Der General versuchte sich zu wehren, war jedoch von seiner Krankheit zu sehr geschwächt. Nach kurzem Kampf versiegte sein Widerstand. Der Eindringling wartete noch eine ganze Zeit, bis er wagte, das Kissen hochzunehmen. Nachdem er sich von dem Erfolg seiner Tat vergewissert hatte, legte er den alten Herrn mitsamt dem Kissen sorgsam wieder auf das Bett zurück, sodass es aussah, als sei der Tod friedlich im Schlaf eingetreten.

Aufmerksam schaute der Eindringling sich im Zimmer um. Dabei durchfuhr ihn wie ein Messerstich der Gedanke, dass die Gefahr selbst jetzt nicht beseitigt war, wenn der General wirklich Beweise in der Hand gehabt hatte. Mit zusammengebissenen Zähnen starrte er zornbebend auf die reglose Gestalt in dem Bett. Der alte Narr hatte ihn so aufgebracht, dass er unüberlegt gehandelt hatte. Dabei hatte er versäumt, den Dummkopf zuvor dazu zu zwingen, ihm die Art und Weise seiner Beweise und deren Versteck zu verraten.

Hastig ging er zu dem Schreibtisch und begann, die Schubladen herauszuziehen. Dabei wurde ihm bewusst, wie wenig Aussicht bestand, das Gewünschte zu finden. Zunächst war noch offen, ob diese Beweise wirklich existierten oder ob der General ihn nur hatte ins Bockshorn jagen wollen. Sollte er jedoch die Wahrheit gesagt haben, so blieb immer noch ungeklärt, woraus diese Beweise bestanden. War es ein Gegenstand? Ein Blatt Papier? Was es auch immer sein mochte, in jedem Fall würde der General es gut versteckt haben. Vermutlich in einem Safe. Doch als sich der ungebetene Besucher im Zimmer umsah, konnte er nichts dergleichen entdecken. Wahrscheinlich befand sich der Tresor im Studierzimmer des Generals im Erdgeschoss oder im Rauchsalon – vielleicht auch im Esszimmer, damit das kostbare Silber sofort weggeschlossen werden konnte. Danach zu suchen war im besten Fall langwierig und in einem Haus voller Menschen, von denen immer einer aufwachen und ihn entdecken konnte, nahezu ausgeschlossen.

Noch während der Fremde darüber nachdachte, hörte er, wie der Türknopf gedreht wurde. Mit einem Sprung war er in der Ecke neben dem riesigen Schrank und hielt erschrocken den Atem an. Schlurfende Schritte näherten sich dem Bett. Der flackernde Schein einer Kerze fiel auf die reglose Gestalt. Der Mann im Schlafrock, der den Leuchter in der Hand hielt, mochte etwa so alt wie der General sein. Vermutlich handelte es sich um den Kammerdiener. Der Alte betrachtete den scheinbar Schlafenden eine Zeit lang, ging dann auf die andere Seite und beugte sich tief über das bleiche Gesicht. Schließlich brach er in lautes Wehklagen aus. „Oh nein, oh nein, oh, mein Gott!“

Leise vor sich hin jammernd, verließ er eilig den Raum.

Der Eindringling folgte ihm in fliegender Hast, spähte durch die Tür und beobachtete, wie der Diener weinend durch die Halle lief und mit zitternder Stimme unaufhörlich rief: „Er ist von uns gegangen! Er ist von uns gegangen! Der General ist tot!“

Kaum war der Alte außer Sicht, setzte sich auch der Fremde in Bewegung. Mit raschen lautlosen Schritten durchquerte er die Eingangshalle in die entgegengesetzte Richtung und schlüpfte durch eine Seitentür, wo er im Dunkel der Nacht verschwand.

2. KAPITEL

Die Kutsche verlangsamte ihre Fahrt, bevor sie schließlich anhielt. Jessica schob die Vorhänge zur Seite, um den Grund für den Aufenthalt festzustellen. Doch als sie erkannte, was vor ihnen lag, erübrigte sich diese Frage. Der Kutscher hatte den Wagen vor einem wuchtigen, düsteren Gebäude zum Stehen gebracht. Es war ein Bauwerk aus dunkelgrauen Steinen und stammte offensichtlich aus einer lange zurückliegenden Zeit häufiger Fehden. Im Laufe der Jahrhunderte waren immer wieder Anbauten hinzugekommen, sodass das Ganze jetzt eine einzige Ansammlung von Steinmauern, Brustwehren und normannischen Wachttürmen war. An jeder Seite des offenen Eingangstores brannte eine Laterne, ohne dass deren Licht die Dunkelheit wesentlich erhellt hätte. Das Schloss wirkte öde und irgendwie bedrückend. Cleybourne Castle.

Dennoch konnte man es sich gut als Landsitz einer alten und einflussreichen Familie vorstellen. Unwillkürlich stiegen Jessica bei seinem Anblick Bilder von Kämpfen und Belagerungen auf. Im Geiste sah sie riesige Steinschleudern vor den Mauern und hinter den Zinnen Soldaten, die mit Armbrüsten auf die Angreifer zielten. Schwieriger hingegen war es, sich dieses Haus als einen Ort vorzustellen, an dem ein halbwüchsiges Mädchen, das soeben seinen letzten Verwandten verloren hatte, willkommen war.

Jessica seufzte. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, die Anweisungen des Generals überstürzt auszuführen, wie sie es getan hatte. Aber sie war so betroffen gewesen, als der alte Diener jammernd von einem Zimmer zum anderen gelaufen war, um den Tod des Hausherrn zu verkünden, dass sie sich sofort darangemacht hatte, alles für die Abreise zu Gabrielas neuem Vormund vorzubereiten. General Streatherns Ableben, das seinen nunmehr geradezu prophetisch wirkenden Worten unmittelbar gefolgt war, hatte sie so durcheinander gebracht, dass sie seinen Erklärungen und Anweisungen jetzt eine gespenstische Bedeutung beimaß. Hatte der alte Herr etwa geahnt, dass ihn der Tod so rasch ereilen würde? Und hatte er vielleicht gar noch ganz andere Dinge vorausgesehen – Dinge, die ihn darauf bestehen ließen, dass sie Gabriela so schnell wie möglich aus der Zugriffsmöglichkeit von Lord Vesey brachte?

Den Rest der Nacht hatte sie das schluchzende Mädchen in ihren Armen gewiegt, bis Gaby schließlich in einen unruhigen Schlaf gesunken war. Sie selbst hatte in dem gepolsterten Schaukelstuhl neben dem Bett nur ein wenig vor sich hin gedöst und dabei an den General gedacht, der so freundlich zu ihr gewesen war, nachdem sich alle Welt von ihr abgewandt hatte. Dabei flossen nun auch ihre Tränen in einem nicht enden wollenden Strom. Seit dem Tod ihres Vaters hatte sie nicht mehr so geweint.

Am anderen Morgen hatte sie den Butler von General Streatherns Anweisungen in Bezug auf Gabriela in Kenntnis gesetzt, und der alte Mann hatte sogleich zwei Hausmädchen damit beauftragt, Kleidung und Wäsche und sonstige notwendigen Kleinigkeiten für die Reise zusammenzupacken. Seiner Miene und seinem Eifer war anzumerken, dass er der weisen Entscheidung seines Herrn Beifall zollte und froh war, das Mädchen bald in Sicherheit zu wissen.

Inzwischen war Jessica der traurigen Pflicht nachgekommen, das Begräbnis vorzubereiten und die Adressen der Freunde und Bekannten zusammenzustellen, die von dem traurigen Ereignis benachrichtigt werden sollten. Dabei gab ihr der Gedanke einen Stich durchs Herz, dass die Veseys, die sie ja leider davon nicht ausnehmen konnte, sehr erfreut über diese Mitteilung sein würden. Nachdem sie die Briefe mit der Todesanzeige fertig gestellt hatte, verfasste sie noch ein Schreiben an den Duke of Cleybourne, in dem sie ihm die Situation erläuterte, während die Dienstboten mit betrübten Mienen schwarzen Krepp über den Türen befestigten, die Türgriffe umhüllten und die Spiegel zur Wand drehten. Jeden freien Augenblick aber verbrachte Jessica mit der trauernden Gabriela, um sie zu trösten.

Das Mädchen war blass und müde, aber ruhig, und unterdrückte seine Tränen bis zum letzten Moment der Beerdigung. Mit Kummer im Herzen beobachtete Jessica Gabys Verhalten, denn die Kleine hatte in ihrem kurzen Leben wahrhaftig bereits mehr Lasten zu tragen gehabt, als einer Vierzehnjährigen zuzumuten war. Mit acht Jahren hatte sie beide Eltern verloren, und nun musste sie sich auch noch von dem einzigen Verwandten trennen, der wie ein Großvater für sie gewesen war. Alles, was ihr nun noch blieb, waren Jessica und jener Fremde, der ihr Vormund werden sollte.

Trotz Gabrielas Schmerz und Trauer konnte Jessica indes nicht darauf verzichten, ihr den Grund für die überstürzte Abreise zu erklären. Natürlich erwähnte sie dabei nichts von Lord Veseys unzüchtiger Neigung zu jungen Mädchen, um das Kind nicht in Verwirrung zu bringen und zu erschrecken. Aber es war nicht nötig, den raschen Aufbruch zu rechtfertigen. Sobald Gabriela erfuhr, dass es geschehen sollte, um sie von Lord Vesey fern zu halten, drängte sie selbst auf Eile.

„Ich hasse ihn!“, stieß sie heftig hervor. „Ich weiß, dass es Unrecht ist. Er ist viel älter als ich und verdient meinen Respekt. Aber er jagt mir Angst ein, weil er mich so … so ansieht wie eine lauernde Schlange.“

„Das ist verständlich“, erwiderte Jessica, „und entschuldigt deine Abneigung. Im Übrigen ist er wirklich ein schlechter Mensch. Davon war auch dein Großonkel überzeugt. Falls du Lord Vesey wieder begegnest, sieh zu, dass du nie allein mit ihm in einem Raum bist, sondern gehe lieber schnell hinaus.“

„Das verspreche ich.“

Bei der Trauerfeier vergoss Leona wieder Unmengen ihrer melodramatischen Tränen, und Jessica fragte sich vergeblich, was sie damit bezwecken mochte, da der General doch tot war. Glaubte sie, den Notar, der das Testament eröffnen würde, damit beeindrucken zu können? Oder wollte sie sich nur nicht die Gelegenheit zu einer pathetischen Szene entgehen lassen?

Jessica selbst schluckte tapfer ihre Tränen hinunter und hielt die ganze Zeit Gabrielas Hand. Um des Mädchen willens musste sie stark sein. Aber immer wieder überwältigten sie die Erinnerungen an die Herzlichkeit und Wärme, die der General ihr entgegengebracht hatte, sodass am Ende doch noch dicke Tränen lautlos über ihre Wangen liefen.

Später versammelten sich dann die Angehörigen nebst dem Butler und der Haushälterin, um der Testamentseröffnung durch General Streatherns Anwalt, Mr Cumpstone, beizuwohnen. Es überraschte Jessica nicht, dass der alte Herr Gabriela sein gesamtes Vermögen hinterlassen hatte und den Veseys nicht ein Penny zugesprochen worden war. Er hatte es ihr ja am Abend vor seinem Tode bereits angekündigt. Sie selbst erhielt zu ihrem Erstaunen das hölzerne Intarsienkästchen, das der General besonders geliebt hatte und das all seine Erinnerungsstücke enthielt, sowie eine bestimmte Geldsumme. Verwirrt starrte sie den Notar an und spürte dabei zugleich die wütenden Blicke der Veseys. Dabei war es kein großer Betrag im Vergleich zu Gabrielas Erbe. Lady Vesey würde es kaum als Taschengeld betrachten. Aber bei kluger Verwaltung war es dennoch genug, um Jessicas Unterhalt für den Rest ihres Lebens zu sichern.

Nie mehr wäre sie gezwungen, zu sparen und zu knausern. Nie mehr wäre sie auf fremde Hilfe angewiesen wie in den Jahren nach dem Tod ihres Vaters. In diesem Moment verspürte Jessica eine tiefe Liebe und Dankbarkeit für den Verstorbenen.

Wie zu erwarten, protestierten Lord und Lady Vesey lauthals gegen den Inhalt des Testamentes.

„Ich bin sein leiblicher Großneffe!“, schrie Lord Vesey aufgebracht. „Hier muss ein Fehler vorliegen. Er würde doch nicht seinem Butler und seinem Kammerdiener und dieser … dieser …“, verächtlich wies er auf Jessica, „etwas hinterlassen, ohne auch mich zu bedenken. Schließlich bin ich sein nächster Verwandter!“

„Nun, es ist ja offensichtlich“, fügte Leona hinzu, während sie vergeblich versuchte, Jessica mit ihren Blicken zu durchbohren, „warum er der jungen Dame Geld vermacht hat. Die Art der Dienste, die sie für den Alten erbracht hat …“

„Aber Lady Vesey“, fiel der Notar ihr entsetzt ins Wort, „wie können Sie so etwas über den General sagen! Oder über Miss Maitland!“

„Ganz einfach“, erwiderte Leona zornbebend. „Weil ich nicht so ein ahnungsloser Kleinstädter bin wie Sie.“

„Ich war viele Jahre lang mit General Streathern befreundet, und ich kenne ihn gut.“ Ärgerlich runzelte Mr Cumpstone die Stirn. „Deshalb weiß ich genau, dass seine Beziehung zu Miss Maitland über jeden Verdacht erhaben war.“

„Aber er stand unter ihrem Einfluss“, rief Leona, während ihr hübsches Gesicht sich zu einer Grimasse verzerrte. „Sie und dieses Balg“, sie wies mit dem Finger auf Gabriela, „haben den Alten dazu gebracht, dass er uns von dem Erbe ausschließt.“

„Ganz recht, so war es“, bestätigte Lord Vesey. „Unzulässige Einflussnahme! Er war ein alter, schwacher Mann und wusste wahrscheinlich gar nicht mehr, was er tat. Ich werde diese Sache vor das Gericht bringen.“

„Nun gut, Lord Vesey.“ Seufzend legte der Notar die Papiere zusammen. „Sie können das natürlich tun. Aber bedenken Sie, dass Sie dabei Ihr Geld zum Fenster hinauswerfen. Der General war bis zu seinem Schlaganfall im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Das werden viele respektable Männer unserer Stadt bezeugen können. Die Zeugen bei der Testamentsabfassung waren Sir Roland Winfrey und der Ehrenwerte Mr Ashton Cranfield, die den General zu diesem Zwecke aufgesucht hatten. Sie können ebenfalls bestätigen, dass der Verstorbene genau wusste, was er tat, und so werden Sie wohl kaum jemanden finden, der das Wort dieser Gentlemen Lügen strafen würde.“

Lord Vesey zischte ärgerlich, sagte aber nichts mehr. Jessica hatte noch nie eine hohe Meinung von seinem Verstand gehabt. Doch selbst er hatte wohl eingesehen, dass es aussichtslos war, gegen solch angesehene Männer zu Felde ziehen zu wollen. Nach kurzem Zögern verließ er also mit seiner Frau das Haus des Generals, wobei Jessica inständig hoffte, dass es die letzte Begegnung mit diesen beiden unangenehmen Zeitgenossen gewesen war.

Eingedenk des Versprechens, das sie dem General gegeben hatte, suchte sie noch am selben Nachmittag die letzten Habseligkeiten zusammen, packte das kostbare Kästchen, das ihr der Verstorbene vermacht hatte, sorgsam in ihren Koffer und nahm tränenreichen Abschied von den Dienstboten, denen sie hoch und heilig versprechen musste, ihnen so bald wie möglich Gabrielas neues Zuhause und ihren Vormund in einem ausführlichen Brief zu beschreiben. Dann bestieg sie mit ihrem Schützling die Kutsche und winkte noch lange zurück.

Sie fuhren die ganze Nacht hindurch und hielten nur an den Poststationen neben der Landstraße an, um die Pferde zu wechseln. So gut es ging, versuchten sie zu schlafen, wurden aber immer wieder durch einen Ruck oder ein heftiges Rumpeln geweckt. Obwohl der gut gefederte und mit weichen Polstern ausgestattete Wagen komfortabel war, war die Fahrt dennoch anstrengend. Deshalb waren Jessica und Gabriela froh, wenn sie hin und wieder einmal bei einem kurzen Aufenthalt dem gleichförmigen Rütteln der Kutsche entfliehen und sich die Beine vertreten konnten.

Als sie schließlich am zweiten Abend ihrer Reise endlich vor den Toren des herzoglichen Schlosses angelangt waren, konnte Jessica sich trotzdem nicht gegen ein Gefühl der Bestürzung erwehren. Das festungsartige Gebäude sah nicht wie ein Ort aus, an dem Gäste mit offenen Armen empfangen wurden.

„Sind wir da?“ Gaby rieb sich die Augen und blickte dann ebenfalls aus dem Fenster. Bei dem Anblick der düsteren Mauern stieß sie einen überraschten Schrei aus. „Oh, Jessica, schauen Sie, es sieht aus wie aus einem Buch … Wissen Sie, wie aus den Fantasiegeschichten, die ich eigentlich gar nicht hätte lesen dürfen, wenn es nach meinem Großonkel gegangen wäre. Man denkt, hier müssten Räuber und Gespenster wohnen.“

„Und mindestens ein vom Teufel besessener Mönch“, fügte Jessica lächelnd hinzu. „Wollen wir es tatsächlich wagen, um Einlass zu bitten?“

Gabriela kicherte. „Oh ja, es ist doch furchtbar interessant!“

Erfreut über die erstaunlich gefasste Haltung des Mädchens, befahl Jessica dem Kutscher, durch die Einfahrt in den Schlosshof zu fahren. Sie hoffte, dass der Duke of Cleybourne nicht zu ungehalten über ihre späte Ankunft sein würde. Es war zweifellos nicht die günstigste Zeit, um in ein fremdes Haus einzudringen, doch der Duke würde sicher Verständnis für die Dringlichkeit der Angelegenheit aufbringen. Zum wiederholten Male stellte sie mit Bedauern fest, dass es weder von Gabrielas Vater noch von dem General eine gute Idee gewesen war, für das Mädchen einen Vormund von so hohem Rang und Namen zu bestimmen. Vielleicht war er so hochmütig und lehnte es ab, sie beide zu empfangen? Jessica war zwar in gehobenen Kreisen aufgewachsen – der Bruder ihres Vaters war Baron und ihr Großvater mütterlicherseits Baronet gewesen – aber das war natürlich kein Vergleich zu einem Duke, dem höchsten Adelsrang nach dem König. Einige Angehörige der königlichen Familie waren ebenfalls selbst Dukes. Jessica fürchtete deshalb, dass der neue Vormund sie wegschicken könnte, weil er sie für ungeeignet hielt, das Mündel eines Duke zu erziehen und in den höfischen Umgangsformen zu unterweisen. Aber sie hatte darüber natürlich nicht mit Gaby gesprochen, um das Mädchen nicht unnötig zu beunruhigen.

Polternd rollte die Kutsche durch das breite Einfahrtstor und dann in den mit Feldsteinen gepflasterten Hof. Offensichtlich gehörte das Tor früher zu der äußeren Festungsmauer, denn es war mit schweren Eisengittern versehen, die nachts verschlossen werden konnten. Aber in heutiger Zeit unterzog man sich dieser Mühe wohl nicht mehr. Mit einem eleganten Bogen lenkte der Kutscher den Wagen vor die Freitreppe an der Haustür und sprang dann vom Bock, um den Damen beim Aussteigen zu helfen.

Das Wohngebäude war genauso beeindruckend wie die gesamte Anlage. Die ausgetretenen Stufen führten zu einer schweren, kunstvoll geschnitzten Eichentür empor. Jessica nahm ihren ganzen Mut zusammen, stieg, gefolgt von ihrem Schützling, die Treppe empor und schlug mit dem schmiedeeisernen Klopfer energisch gegen die Tür. Augenblicklich wurde von einem sehr überrascht wirkenden Lakaien geöffnet.

„Sie wünschen?“

„Ich bitte um Entschuldigung für unsere späte Ankunft. Mein Name ist Jessica Maitland, und das ist Gabriela Carstairs. Wir möchten zum Duke of Cleybourne.“

Der junge Mann starrte die fremden Besucherinnen wortlos an. „Zum Duke?“, fragte er schließlich ungläubig.

„Ja, natürlich“, erwiderte Jessica kopfschüttelnd, „zum Duke. Miss Carstairs ist die Großnichte von General Streathern. Ihr Vater war ein enger Freund des Duke.“

„Oh, ich verstehe.“ Der Lakai machte zwar nicht den Eindruck, die Zusammenhänge tatsächlich begriffen zu haben, aber er ließ die beiden schließlich eintreten.

„Bitte, nehmen Sie Platz. Ich werde Seine Gnaden von Ihrer Ankunft benachrichtigen.“

Das ist nun wirklich kein besonders herzlicher Empfang, dachte Jessica, während ihre Beunruhigung wuchs. Was sollte sie tun, wenn die Post sich verspätet und der Duke ihren Brief noch gar nicht erhalten hatte? Sie waren so schnell gereist, dass sie möglicherweise den Eilboten mit ihrem Schreiben überholt hatten.

Der Lakai blieb eine ganze Weile weg. Als er endlich zurückkehrte, war er in Begleitung eines älteren Mannes, der auf Jessica zuging. „Ich bedaure außerordentlich, Miss … Miss Maitland, nicht wahr? Mein Name ist Baxter, und ich bin der Butler. Ich fürchte, es ist keine passende Zeit, um Seiner Gnaden die Aufwartung zu machen. Wenn ich mich nicht täusche, ist es bereits neun Uhr und damit keine Besuchszeit mehr.“

„Ich habe ihm einen Brief geschrieben“, entgegnete Jessica stirnrunzelnd. „Hat er ihn nicht erhalten? Ich habe ihm darin den Grund für unser Eintreffen in seinem Hause dargelegt.“

„Ah … ja … ich bin mir nicht ganz sicher. Es ist zwar ein Schreiben gekommen, aber ich weiß nicht, ob es der Duke bereits zur Kenntnis genommen hat. Es scheint mir, dass Sie nicht erwartet worden sind.“

„Wenn er meinen Brief nicht erhalten hätte, wäre es sehr schade. Wenn er ihn jedoch bekommen, aber nicht gelesen hat, so sollte er es so schnell wie möglich nachholen, denn es würde die Situation klären. Alles Weitere würde ich ihm dann erläutern. Ich gebe zu, dass es ihm etwas seltsam erscheinen mag, aber ich muss ihn unbedingt noch heute sprechen. Bitte, gehen Sie zu ihm und sagen Sie ihm, dass ich ihn unter allen Umständen sehen muss. Miss Carstairs und ich haben eine weite und anstrengende Reise hinter uns. Miss Carstairs ist übrigens sein Mündel.“

Ungläubig betrachtete Baxter das junge Mädchen. „Sein Mündel?“

„Ja.“ Jessica legte all ihre Entschlossenheit in dieses eine Wort.

Wortlos verneigte sich der Butler und entfernte sich rasch. Nach wenigen Minuten kehrte er zurück und hob bedauernd die Schultern. „Es tut mir sehr leid, Madam, aber Seine Gnaden beharrt auf seinem Standpunkt. Er … hm … pflegt nur wenige gesellschaftliche Beziehungen und schlägt Ihnen vor, morgen mit Mr Williams, seinem Verwalter, zu sprechen.“

„Mit seinem Verwalter?“, rief Jessica ärgerlich. Sie war müde und hungrig, und ihre Kleider waren von der Reise staubig. Sie wünschte sich im Augenblick nichts weiter, als sich gründlich zu waschen und in ein Bett zu sinken, um sich nach Herzenslust auszuschlafen. Und dieser eingebildete Duke besaß nicht einmal so viel Anstand, sie zu empfangen. Nach dem Tode ihres Vaters hatte sie sich zwar an die vielfältigen Arten von Beleidigungen und Demütigungen durch die Reichen und Mächtigen gewöhnen müssen. Aber das hier war noch schlimmer, denn es verletzte nicht nur sie, sondern auch Gabriela.

Besorgt musterte sie das blasse und ängstliche Gesicht ihres Schützlings. Offensichtlich fürchtete die Kleine, dass sie ihrem neuen Vormund nicht zusagte und dass er sich möglicherweise weigern würde, die Vormundschaft zu übernehmen, oder – was noch unerfreulicher wäre – hart und streng mit ihr umgehen könnte. Als sie sah, wie Gabriela ihre Hände im Schoß verkrampfte, wurde Jessicas gerechter Zorn noch mehr angeheizt.

„Es ist sehr bedauerlich, dass es Ihrem Herrn unzumutbar erscheint, eine Waise zu begrüßen, die in seine Obhut gegeben wurde“, versetzte sie aufgebracht. „Aber ich fürchte, das wird ihm auch nicht viel nützen, denn ich bestehe darauf, mit ihm zu sprechen. Wir sind fast zwei Tage gereist, um nach Cleybourne Castle zu kommen, und ich habe nicht die Absicht, zu dieser Stunde ins Dorf zu fahren und mir im Gasthof ein Zimmer zu suchen.“

Als er ihren gereizten Blick bemerkte, trat der Butler verlegen von einem Fuß auf den anderen. „Ich bedaure das alles ja unendlich, Miss, aber …“

„Oh, hören Sie auf! Hören Sie auf! Sagen Sie mir nur, wo ich ihn finde, damit ich ihm meine Botschaft selbst überbringen kann.“

Entsetzt riss der alte Mann die Augen auf. „Aber Sie können doch nicht …“

Aber Jessica hatte ihm schon den Rücken gekehrt. „Warte hier auf mich, Gabriela“, sagte sie zu dem verängstigten Mädchen. „Ich bin sofort zurück.“

Der Butler eilte ihr mit zitternden Händen nach. „Aber Miss, Sie können wirklich nicht … Seine Gnaden empfängt nicht mehr. Es ist schon sehr spät.“

„Ich weiß selbst, wie viel Uhr es ist. Und es ist mir, ehrlich gesagt, völlig gleichgültig, ob der Duke noch empfängt oder nicht. Ich bestehe darauf, mit ihm zu sprechen. Eher werde ich dieses Haus nicht verlassen.“ Jessica öffnete die Tür zu dem großen Salon unterhalb der Treppe. „Sie haben nur die Wahl, mir zu sagen, wo ich ihn finde, oder ich werde mich hier hinstellen und nach ihm rufen.“

„Nach ihm rufen?“ Der alte Mann sah aus, als könnte er jeden Augenblick in Ohnmacht fallen. „Miss Maitland, bitte …“

Aber Jessica hielt bereits die Hände wie einen Trichter vor ihren Mund. „Hallo! Hallo!“, rief sie aus Leibeskräften. „Ich suche den Duke of Cleybourne!“

Der Butler griff sich ans Herz. „Nicht doch, Miss. Lassen Sie das. Es gehört sich nicht.“

„Und es gehört sich für den Duke nicht, die Wünsche eines verstorbenen Freundes zu ignorieren und einem vierzehnjährigen Mädchen, das gerade seinen letzten Angehörigen verloren hat, zu sagen, es solle die Nacht in einem Gasthof verbringen und morgen mit seinem Verwalter sprechen! Ich mag mich vielleicht unschicklich aufführen, aber ich bin nichtsdestoweniger ein anständiger Mensch.“

Entschlossen wandte sie sich zu dem Korridor, der von der Halle in den Seitenflügel führte. „Hallo! Hallo!“, rief sie erneut.

Irgendwo am Endes des Ganges wurde eine Tür geöffnet, und ein Mann trat heraus. Er war hoch gewachsen, hatte einen Wust störrischer schwarzer Haare auf dem Kopf und Augen von nahezu derselben Farbe. Seine Backenknochen traten deutlich hervor, und die Wangen über dem kantigen Kinn wirkten eingefallen. Seine zwanglose Bekleidung bestand lediglich aus einer bequemen Hose und einem am Hals geöffneten Hemd. Mit ärgerlich gerunzelter Stirn blickte er den Korridor entlang.

Autor

Candace Camp
<p>Ihren ersten Roman hat Candace Camp noch als Studentin geschrieben. Damals hat sie zwei Dinge gelernt: Erstens, dass sie auch dann noch schreiben kann, wenn sie eigentlich lernen sollte, und zweitens, dass das Jurastudium ihr nicht liegt. So hat sie ihren Traumberuf als Autorin ergriffen und mittlerweile über siebzig Romane...
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