Traummänner & Traumziele: Mittelmeer

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NUR EIN LIEBESTRAUM AM MITTELMEER?

Ein warmer Sommerabend an der Côte d’Azur: Auf dem Balkon ihrer Gästesuite genießt Laura die sanfte, nach Rosen duftende Brise. Unbeschwerte Urlaubstage könnte sie in der Traumvilla auf Cap Ferrat verbringen, wäre da nicht der Bruder ihrer Gastgeber. Ständig sucht Raoul ihre Nähe - nicht um zu flirten, sondern um sie - warum nur? - argwöhnisch zu beobachten. Trotzdem muss Laura sich eingestehen: Der attraktive Franzose lässt sie nicht kalt. Als sie erfährt, dass Raoul ihr Leben ausspioniert, ist sie zutiefst enttäuscht und reist ab. Niemals will sie ihn wiedersehen …

LIEBESTRAUM AM MITTELMEER

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HAPPY END AM MITTELMEER

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MITTELMEERTRÄUME MIT EINEM PRINZEN

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STÜRMISCHE KÜSSE AM MITTELMEER

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  • Erscheinungstag 27.05.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733787899
  • Seitenanzahl 864
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Rebecca Winters, Sabrina Philips, Raye Morgan, Marion Lennox, Barbara Mcmahon

Traummänner & Traumziele: Mittelmeer

Rebecca Winters

Nur ein Liebestraum am Mittelmeer?

IMPRESSUM

ROMANA erscheint im CORA Verlag GmbH & Co. KG,
20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Brieffach 8500, 20350 Hamburg
Telefon: 040/347-25852
Fax: 040/347-25991

© 2009 by Rebecca Winters
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V., Amsterdam

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe ROMANA
Band 1830 2010 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Sabine Robin

Fotos: Matton Images

Veröffentlicht im ePub Format im 12/2010 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86295-114-7

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

1. KAPITEL

Was für ein herrliches Anwesen, dachte Laura Aldridge, als sie am frühen Abend auf den Balkon der Gästesuite hinaustrat. Die Villa der Familie Laroche lag traumhaft schön auf einem weitläufigen Grundstück an der französischen Riviera, genauer gesagt auf der Halbinsel Cap Ferrat.

Laura sah zu dem halbmondförmig angelegten Swimmingpool hinunter, dann ließ sie den Blick über den gepflegten, riesigen Garten schweifen bis hin zum blau glitzernden Mittelmeer.

Es war ein warmer Sommertag Anfang Juli. In der Luft lag der Duft von Rosen. Laura genoss die sanfte, kühlende Brise, die ihr über das Gesicht strich und sachte mit ihrem Haar spielte.

Zum ersten Mal seit sechs Monaten konnte sie wieder frei atmen. Ihr Noch-Ehemann Theodore Stillman hatte keine Ahnung, wo sie sich gerade aufhielt. Keiner seiner zahlreichen Vertrauten und Freunde würde es ihm erzählen können. Selbst die Leute, die er angeheuert hatte, um sie zu überwachen, hatten ihre Spur verloren. Mit der Überwachung wollte er ihr zeigen, dass sie ihm gehörte und er sie zurückbekommen würde. Doch selbst die Detektive dürften unmöglich herausfinden, wohin der Helikopter sie am Vormittag gebracht hatte.

Seit sie von Ted getrennt lebte, benutzte sie wieder ihren Mädchennamen. Und seit einiger Zeit schon kämpfte sie um die Scheidung, gegen die er sich mit allen Mitteln wehrte. Schließlich wollte er im nächsten Jahr für den amerikanischen Kongress kandidieren. Er hatte ihr gedroht, mithilfe des Millionenvermögens seiner angesehenen, politisch stark ambitionierten Familie das Verfahren endlos zu verschleppen. Zweifellos hoffte er, dass sie einlenken und einen Rückzieher machen würde.

Doch da irrte er sich gewaltig. Sie würde nicht mehr zu ihm zurückkehren und beabsichtigte genauso wenig, je wieder zu heiraten. Den Ehering hatte sie bereits abgelegt, und ihr sehnlichster Wunsch war es, Ted nie mehr begegnen zu müssen. Hier in Saint-Jean-Cap-Ferrat, dem Tummelplatz der Prinzen und Fürsten, war sie vor ihm und seinen Leuten sicher. Selbst die einflussreiche Familie Stillman hatte keinen Zutritt zu dem französischen Adelsparadies.

Es war einem Zufall zu verdanken, dass sie heute zu Gast im Haus von Guy und Chantelle Laroche war. Sie hatte das Ehepaar schon vor elf Jahren in Manhattan Beach in Kalifornien kennengelernt. Damals war sie gerade mit der Highschool fertig gewesen und hatte sich bis zum Studienbeginn im Herbst etwas Geld verdienen wollen. So war sie als Rettungsschwimmerin und Babysitterin in einem Strandhotel der Extraklasse gelandet.

Eines Tages hatte ihr Boss sie gebeten, ihm einen Gefallen zu tun und einige Tage lang als Kindermädchen für den kleinen Sohn der Laroches zu arbeiten. Es war ihm sehr wichtig gewesen, denn wie er ihr erklärte, versetzte der Name Laroche in Finanzkreisen an der Côte d’Azur Berge.

Als die Laroches dann mit dem kleinen Paul nach zehntägigem Aufenthalt nach Hawaii weitergeflogen waren, hatte Laura echten Abschiedsschmerz empfunden. Chantelle und Guy waren für sie in der kurzen Zeit fast zu Freunden geworden.

Überhaupt hatte es ihr große Freude bereitet, das Ehepaar zu erleben. Die zwei waren so verliebt ineinander gewesen und verrückt nach ihrem süßen Söhnchen. Laura hatte ihnen versprechen müssen, dass sie sie besuchen würde, sollte sie je in Frankreich sein.

Anfangs hatten die beiden ihr immer wieder Karten von ihren Reisen geschrieben und ihr auch Fotos von Paul geschickt. Aber irgendwann war der Kontakt dann eingeschlafen – bis sie ihn vorgestern wieder aufgenommen hatte.

Sie war aus beruflichen Gründen in Siena gewesen, wo zweimal im Jahr der Palio, ein historisches Pferderennen, stattfand. Auf der Piazza del Campo hatte sie Touristen französisch reden hören, sodass sie sich an Chantelle und Guy erinnert und spontan versucht hatte, sie über das Laroche-Unternehmen zu erreichen, um wenigstens einmal kurz Hallo zu sagen. Zu mehr würde ihre Zeit nicht reichen, da sie in Kürze von Rom nach Amerika zurückfliegen musste.

Guy hatte natürlich erst einen Augenblick gebraucht, um zu begreifen, wer ihn anrief, dann allerdings hocherfreut geklungen. Und wie der Zufall es wollte, hielt er sich gerade mit seinem Sohn Paul bei Freunden in Siena auf, um den Palio zu besuchen. Er hatte darauf bestanden, dass sie sich trafen und sie sein Gast wäre. Dankend hatte Laura die Einladung angenommen und sich zwar gewundert, dass Chantelle offenbar nicht mit in Italien war, aber keine Fragen gestellt.

Gestern am frühen Abend hatten sie sich schließlich wiedergesehen. Es war ein bewegender Moment gewesen. Trotzdem hatte sie gespürt, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.

Guy hatte sich stark verändert. Er war nicht mehr der lebenslustige Mann von einst, sondern wirkte sehr ernst und älter als vierundvierzig. Die dunkelbraunen Haare zeigten bereits das erste Silbergrau, und die aristokratischen Gesichtszüge spiegelten eine gewisse Anspannung. Auch Paul, ein ausgesprochen hübscher Junge, schien nicht so unbekümmert, wie es ein Zwölfjähriger eigentlich sein sollte.

Nachdem Guy ihr den Stuhl an seiner Seite zurechtgerückt hatte, machte er sie mit den Leuten am Tisch bekannt. Er stellte ihr zunächst seinen guten Freund Maurice Charrière vor, dessen Frau Yvette und den Sohn Remy, der in Pauls Alter war.

Während des Abendessens verschluckte sich Guy an einem Bissen und geriet in akute Atemnot, ohne dass es jemand in der Runde anfangs mitbekam. Erst als er aufzustehen versuchte, bemerkten seine Freunde, was mit ihm los war. Sie sprangen auf und blickten ihn entsetzt an, doch keiner kannte sich mit Erste-Hilfe-Maßnahmen aus – bis auf Laura.

Seit über zehn Jahren arbeitete sie in ihrer Freizeit als Rettungsschwimmerin und bildete auch den Nachwuchs aus. Sie hatte schon viele Menschen vor dem Ertrinken bewahrt – unter anderem ihren Ehemann Ted. Ohne zu zögern eilte sie Guy zu Hilfe, indem sie die sogenannte Heimlich-Methode anwandte. Sobald Guy sich wieder halbwegs erholt hatte, bedankte er sich überschwänglich in seinem charmanten Englisch für die Lebensrettung.

„Jeder, der diese Methode kennt, hätte es machen können. Ich bin zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen“, erwiderte Laura und erntete allseits stürmischen Protest ob ihrer Bescheidenheit. Maurice erklärte sie sogar zur Heldin.

Später am Abend begleitete Guy sie zurück ins Hotel, während Paul bei Remy und dessen Eltern blieb. Als sie sich im Foyer von ihm verabschieden wollte, bat er sie, ihren Flug um einen Tag zu verschieben und morgen mit ihm nach Cap Ferrat zu kommen. Chantelle würde sie gern wiedersehen.

Beim Essen hatte er ihr erzählt, dass seine Frau vor drei Monaten mit dem Auto verunglückt war. Dabei hatte sie sich Verletzungen an den Beinen zugezogen, die inzwischen aber völlig abgeheilt waren. Eigentlich sollte sie problemlos laufen können, aber sie weigerte sich, aus dem Rollstuhl aufzustehen und ihr Leben wieder aufzunehmen. Auch wollte sie nicht mehr unter Leuten sein.

„Sie hat mir gegenüber allerdings den dringenden Wunsch geäußert, dich nach Cap Ferrat mitzubringen.“

Laura hatte ihre Arbeit in Siena erledigt. Warum sollte sie Guys Einladung ablehnen? Sie konnte ihre Heimkehr in die Staaten gut um einen Tag verschieben und von Nizza aus nach Los Angeles zurückfliegen. Und so hatte sie zugesagt.

In Guys Hubschrauber war sie heute auf dem Anwesen eingetroffen und anschließend mit einer Limousine zur Villa gefahren worden. Einem Traum von einem Haus, das geschmackvoll und edel mit Antiquitäten und äußerst reizvollem Kontrast dazu auch mit modernen Möbelstücken eingerichtet war.

Kurz nachdem eine Angestellte sie zu der Gästesuite geführt hatte, holte Guy sie ab, um sie zu Chantelle zu geleiten. Die grazile Dreiundvierzigjährige sah in ihrem Designerkleid noch immer aus, als könnte sie das Cover einer Modezeitschrift zieren. Doch schien sie ihr einst sprühendes Temperament verloren zu haben. In den braunen Augen spiegelten sich Traurigkeit, Kummer und Schmerz.

Ganz offensichtlich freute sie sich über Lauras Besuch. Und nachdem ihr Mann ihr von dem gestrigen Zwischenfall erzählt hatte, dankte sie ihr herzlich für Guys Lebensrettung. Außerdem lud sie sie ein, so lange wie möglich zu bleiben. Aber ihren Worten folgten keinerlei freundschaftliche Gesten.

Wie anders ist Chantelle früher gewesen, dachte Laura, während sie sich jetzt auf das Geländer des Balkons stützte. Es musste hart für Guy sein, mit dem veränderten Verhalten seiner Frau zurechtzukommen. Kein Wunder, dass er so ernst geworden war. Seit dem Unfall, hatte er ihr erklärt, sei Chantelle vor Angst wie gelähmt.

Laura wusste, was es hieß, Angst zu haben, und in wie vielen verschiedenen Formen diese auftreten konnte. Gleich am Anfang ihrer Ehe hatte sie Dinge über Ted erfahren, die ihre Liebe zu ihm hatten erkalten lassen. Aus Furcht vor Repressalien und vor der einflussreichen Familie Stillman hatte sie geschwiegen. Wäre sie mutiger gewesen, hätte sie sich nur wenige Monate nach der Hochzeit von Ted getrennt.

Chantelle litt offenkundig unter einer anders gelagerten Angst. Sie war nach dem Unfall vier Stunden lang in ihrem Wagen eingeschlossen gewesen, bevor man sie entdeckt und befreit hatte. Ein traumatisches Erlebnis, das die Psyche beeinträchtigte und erst einmal verarbeitet werden musste. Was alles andere als leicht war und eine Weile dauern konnte. Solche Verletzungen brauchen einfach Zeit, um zu heilen, wusste Laura aus eigener Erfahrung.

Die Situation war für Guy und seine Frau äußerst schwierig.

Vermutlich weigerte sich Chantelle, aus dem Rollstuhl aufzustehen, weil sie fürchtete, die Leute könnten glauben, sie wäre bereit, ihr Leben wieder aufzunehmen. Aber das war unmöglich, solange man psychisch noch nicht bereit dazu war.

Nachdenklich kehrte Laura ins Zimmer zurück, um kurz ihr Make-up für die Party aufzufrischen, die Guy ihr zu Ehren heute gab. Als sie gerade fertig war, klopfte jemand an die Tür der Gästesuite. Wahrscheinlich wollte sich eines der Hausmädchen erkundigen, ob sie etwas benötigte. Sie öffnete und war überrascht, als Guy in cremefarbener Leinenhose und dazu passendem seidig schimmernden Hemd vor ihr stand.

„Können wir kurz miteinander sprechen?“

„Du meinst hier?“

„Ja. Mir wäre es lieber, wenn wir ungestört sind.“

„Natürlich. Komm rein.“

Sie gingen ins Wohnzimmer der Suite, wo er sich auf einen der gepolsterten Louis-XVI-Stühle setzte. Laura nahm ihm gegenüber auf dem kleinen Sofa Platz, das mit einem edlen Jacquardstoff bezogen war.

„Ich habe gehofft, dass ich vor der Party einen Moment in Ruhe mit dir reden kann.“ Guy beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. „Sag, wäre dein Mann sehr enttäuscht, wenn du nicht gleich zu ihm nach Kalifornien zurückfliegen würdest? Ich frage aus einem bestimmten Grund.“

Laura hatte ihm bisher nichts von ihrer unglücklichen Ehe erzählt. Aber er sah sie jetzt so forschend und aufmerksam an, dass sie nicht länger damit hinterm Berg hielt. „Ich habe vor sechs Monaten die Scheidung eingereicht. Je schneller sie durch ist, umso besser.“

„Es tut mir leid, dass du solchen Kummer hast. Ich hatte keine Ahnung.“

Sein Mitgefühl bewog sie, ihm die Wahrheit zu offenbaren. „Kummer hatte ich während der zweijährigen Ehe, die sich schnell als großer Fehler herausstellte. Die Trennung war das beste Heilmittel. Mein Mann wehrt sich gegen die Scheidung und lässt mich überwachen. Er möchte mich so dazu bringen, zu ihm zurückzukehren. Doch das wird nie geschehen. Ich hoffe, beim nächsten Gerichtstermin den Saal als freie Frau zu verlassen.“

„Bitte entschuldige, dass ich offen spreche … Gibt es jemand anderen, der in den Staaten auf dich wartet?“

„Nein.“ Wenngleich es unnötig gewesen war, hatte ihr Anwalt ihr geraten, sich von jedem Mann fernzuhalten, um Ted keine Angriffsfläche zu bieten.

„Was ist nur mit den Männern in deinem Land los?“

„Es liegt nicht an ihnen, sondern an mir. Seit der Trennung von Ted bin ich ständig beruflich unterwegs gewesen und zu beschäftigt, um an jemand anderen zu denken. Aber was ist der Hintergrund deiner Frage?“

Guy seufzte. „Du hast sicher Françoise kennengelernt, oder?“

Laura nickte. Françoise war eine Frau mittleren Alters, die Chantelle tagsüber oft Gesellschaft leistete, während Guy arbeitete.

„Sie hat ab morgen für zwei Wochen Urlaub. Ich habe selbstverständlich eine Ersatzkraft engagiert. Doch hoffe ich eigentlich, dass ich dich überreden kann, deinen Besuch auszudehnen, bis Françoise wieder da ist. Immer vorausgesetzt, es ist mit deinem Job vereinbar.“

„Guy …“

„Bitte lass mich aussprechen. Als Chantelle sagte, du mögest so lange wie möglich hierbleiben, war ich überglücklich. Seit dem Autounfall hat sie sich für niemanden mehr interessiert. Dir vertraut sie. Sie ist begeistert davon gewesen, wie du dich damals in Kalifornien um Paul gekümmert hast, und dir sehr zugetan. Ihr beide habt eine gemeinsame Vorgeschichte. Sie hat zweifellos bei dir nicht das Gefühl, dass du mehr von ihr verlangst, als sie geben kann.“

Große Güte, wie verzweifelt musste Guy sein. „So gern ich auch helfen möchte … Ich bin kein Arzt.“

Er schüttelte den Kopf. „Sie hat schon den allerbesten. Mir geht es um etwas anderes. Um die Art und Weise, wie sie auf dich reagiert. Wenn du tagsüber bei ihr wärst, natürlich nicht jede Minute, könnte es gut sein, dass sie dir so vertraut wie damals in Kalifornien. Ich glaube, dass du einen Weg zu ihr finden kannst und sie es mit deiner Unterstützung vielleicht schafft, sich wieder zu öffnen. Für dieses Wunder ist mir kein Preis zu hoch.“

„Sicher, sie hat sich mir vorhin zugewandt. Doch du weißt ebenfalls, dass ein kurzer Besuch immer ein willkommener ist. Ich habe Angst, sollte ich länger bleiben, dass meine Anwesenheit sie allmählich nerven wird und sie sich völlig verschließt. Es könnte passieren, und ich möchte nicht, dass du dieses Risiko eingehst.“

„Diese Gefahr besteht nicht. Du bist ein sehr friedlicher, ruhiger Mensch, und genau den braucht sie jetzt. Damals bist du so wunderbar mit Paul umgegangen, dass sie dich sofort akzeptiert hat. Daran hat sich nichts geändert. Deshalb meine ich auch, dass du eventuell hilfreich wärst. Wenn du deinen Aufenthalt etwas ausdehnen könntest … Lass uns sehen, was geschieht.“

„Ich weiß nicht, Guy.“

„Versprich mir nur, dass du darüber nachdenkst“, bat er sie inständig. „Und natürlich würde ich dich großzügig entschädigen.“

Laura atmete scharf ein. „Ich fühle mich geschmeichelt, dass du glaubst, meine Gegenwart könnte Chantelle guttun. Aber ich würde nie einen Cent dafür nehmen.“

Sie verdiente genug, um davon zu leben. Außerdem war ihr der Gedanke unerträglich, Geld anzunehmen, das sie sich nicht wirklich erarbeitet hatte. Selbst wenn sie ein gesetzliches Anrecht darauf hatte. Ihr Noch-Ehemann war vom Gericht verpflichtet worden, ihr Unterhalt zu zahlen. Doch sie hatte bisher keinen Dollar von dem Konto abgehoben und überlegte, die aufgelaufene Summe zu spenden.

Nach ihren Erfahrungen mit Ted misstraute sie allen vermögenden, einflussreichen Männern. Sie hatte zu spät erkannt, dass er sie nicht wirklich liebte, sondern sich mit ihr schmücken wollte. Und wie sein Vater und seine Brüder hatte er nichts dabei gefunden, die Ehe zu brechen und sie zu betrügen. Allerdings schien Guy, dessen Vermögen weit größer war als das der Stillmans, aus einem anderen Holz geschnitzt.

„Soll das heißen, dass du aus Freundschaft bleiben würdest?“ Seine Augen begannen, verdächtig zu glitzern. „Gestern Abend wäre ich vermutlich erstickt, hättest du nicht so schnell gehandelt. Ich fühle mich dir jetzt näher denn je. Deshalb möchte ich dir etwas sehr Persönliches erzählen.

Chantelle und mir ist quasi ein zweites gemeinsames Leben geschenkt worden. Bis vor drei Monaten war hier in der Villa das Glück zu Hause. Aber seither hat sich vieles verändert. Wir haben uns voneinander entfernt. Sie schottet sich praktisch von mir und der Welt ab. Früher sind wir immer zusammen mit den Charrières zum Palio gefahren. Doch dieses Mal wollte sie nicht mit. Ich bin mit Paul nur dort gewesen, weil sie sich so aufregte, als ich ihr sagte, ich würde sie nicht allein lassen.“ Er seufzte tief.

„Irgendetwas stimmt mit ihr nicht und hält sie gefangen. Ihr Psychiater ist frustriert, weil er ihr bislang nicht hat helfen können. Seit dem Unfall habe ich noch kein einziges Mal mit ihr schlafen dürfen. Laura, ich liebe meine Frau. Ich würde alles tun, um sie hinter der von ihr selbst errichteten Mauer hervorzuholen. Ich befürchte, dass sie etwas Schreckliches erlebt hat, während sie auf ihre Rettung wartete. Etwas, das ihr entsetzliche Angst eingejagt hat.“

„Zum Beispiel?“

„Vielleicht hat irgendein Mistkerl sie belästigt, als sie im Auto festsaß, und sie kann sich nicht dazu bringen, es mir zu erzählen.“

Laura graute bei der Vorstellung. Das Szenario war zwar höchst unwahrscheinlich, allerdings nicht ganz ausgeschlossen. „Meinst du nicht, sie hätte es dir gesagt?“

Guy sprang auf. „Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nichts mehr“, stieß er verzweifelt hervor.

Wie sehr muss er Chantelle lieben, dachte Laura und überlegte ernsthaft, wie sie helfen konnte. Carl, ihr Boss in Los Angeles, würde ihr vermutlich noch zwei Wochen in Europa zubilligen. Sie könnte sogar einen Arbeitsurlaub daraus machen, was ihn bestimmt freuen würde.

Sie bezweifelte, dass sie bei Chantelle wirklich etwas ausrichten könnte. Wenn Guy es aber für möglich hielt, würde sie zumindest ihr Bestes versuchen, die gute Beziehung von einst wieder aufzubauen.

„Mein Chef dürfte momentan in seinem Büro sein. Ich werde ihn anrufen, und wenn er einverstanden ist, fliege ich noch nicht zurück und sehe, was ich hier bewirken kann. Chantelle war damals so nett zu mir, und wer würde sich in dieser herrlichen Umgebung nicht wohlfühlen? Ihr wohnt in einem Paradies, das nur wenige Leute auf der Welt genießen dürfen.“

Und Teds „Wachhunde“ werden mich hier nicht aufspüren, schoss es ihr durch den Kopf. Zwei Wochen lang würde sie frei atmen können, denn keiner aus der Familie Stillman hatte eine Ahnung, wo sie sich aufhielt. Welch ein Geschenk des Himmels.

Guy ging zu ihr und umfasste ihre Hände. „Du bist ein Engel, Laura. Ich weiß nicht, womit ich es verdient habe, dass sich unsere Wege ausgerechnet jetzt wieder kreuzen. Ich werde immer in deiner Schuld stehen. Egal, was du möchtest oder brauchst, es ist dein.“

„Vielen Dank.“ Sie erhob sich und begleitete ihn zur Tür. „Ich komme nach, sobald ich telefoniert habe.“

Raoul betrat das Haus seines Bruders durch den Seiteneingang, der seiner eigenen Villa auf dem weitläufigen Familienanwesen am nächsten lag. Gemächlich schlenderte er dann zu Guys bestem Freund Maurice, der im Wohnzimmer an der geöffneten Terrassentür stand.

„Hallo, Maurice. Comment ça va?“ Maurice wandte den Kopf. „Bonsoir, Raoul. Du bist schon aus der Schweiz zurück?“

„Ja, seit heute Nachmittag. Ich konnte die Angelegenheit erfreulich schnell erledigen. Als Guy vorhin das Büro verließ, sagte er, er würde eine Party geben, nannte aber keinen Grund. Kennst du den Anlass? Seit dem Unfall meidet Chantelle doch jedes gesellige Beisammensein wie die Pest.“

„Er möchte Mrs. Aldridge allen Freunden und der Familie vorstellen, weißt du, das ist die Amerikanerin, die du momentan anstarrst.“

Ja, er starrte tatsächlich eine Frau mit langen blonden Haaren an, und es ärgerte ihn, dass Maurice es bemerkt hatte. „Wer ist sie?“

„Die Frau, die ihn vorm Ersticken bewahrt hat.“

Raoul hob die schwarzen Brauen. „Wirklich?“

Die Nachricht vom Beinahetod seines Bruders passte zum heutigen Abend. Er hatte schon unerfreulich genug mit einem Anruf seiner Exfrau begonnen. Danielle war ziemlich beleidigend geworden und hatte ihm mit Selbstmord gedroht, sollte er ihrer Beziehung keine zweite Chance geben. Wie üblich hatte sie versucht, seine Aufmerksamkeit zu erheischen. Er war ihr Verhalten inzwischen leid und hatte das Telefonat abrupt beendet. Doch spürte er noch immer den Widerwillen, den sie bei ihm ausgelöst hatte.

„Ja, das hat sie.“

„Wann ist es passiert?“

„Gestern Abend beim Dinner in Siena. Guy hat sich verschluckt. Uns ist erst überhaupt nicht aufgefallen, in welchen Schwierigkeiten er steckte, und dann haben wir nicht gewusst, was wir tun sollten. Bis auf Mrs. Aldridge, die ihm das Leben gerettet hat.“

„Dem Himmel sei Dank.“ Raoul war erleichtert und zugleich etwas verwirrt. Warum hatte sein Bruder ihm vorhin im Büro nichts davon erzählt? Es war völlig untypisch für ihn. „Was macht sie hier in Cap Ferrat?“

„Guy wollte sich bei ihr bedanken und beschloss, ihr zu Ehren eine Party zu geben.“

„Und Chantelle ist damit einverstanden?“

Raoul fand das Ganze ziemlich seltsam. Sein Bruder fühlte sich für Chantelles aktuellen Zustand verantwortlich und litt unter Schuldgefühlen. Außerdem konnte man die Ehe der beiden momentan nicht gerade als stabil bezeichnen. Die Amerikanerin war eine Fremde, auch wenn sie ihn vorm Ersticken bewahrt hatte.

„Es scheint so. Und Mrs. Aldridge ist eine außergewöhnliche Frau“, fügte Maurice mit ehrfürchtig klingender Stimme hinzu, während er den Blick über Laura schweifen ließ.

Sie dürfte mindestens fünfzehn Jahre jünger sein als ich, dachte Raoul. Aber das Alter war letztlich unbedeutend, wenn eine Frau eine so wohlproportionierte feminine Figur besaß und mehr Sinnlichkeit ausstrahlte, als erlaubt sein sollte.

Man konnte es den männlichen Gästen sicher verzeihen, dass sie ihre Gespräche unterbrachen, um diese Schönheit zu betrachten. Die anwesenden Frauen hingegen gaben – wenngleich erfolglos – vor, dass sie das hinreißende Wesen in dem eleganten apricotfarbenen Seidenkleid nicht bemerkten.

Das Geschehen hätte Raoul amüsiert, wäre er von ihrer Weiblichkeit nicht selbst in den Bann gezogen worden. Die Amerikanerin schien sich ihrer Wirkung allerdings überhaupt nicht bewusst zu sein. Doch dieses Verhalten konnte nur gespielt sein. Eine so fesselnde Schönheit wusste genau um ihre Macht – diese Erfahrung hatte er am eigenen Leib gemacht.

Vor vielen Jahren hatte ihn eine solche Frau beinahe eingewickelt und er sich ihretwegen fast die Zukunft ruiniert. Er war von ihren Reizen so geblendet gewesen, dass er ihr wahres Gesicht erst sehr spät erkannte. Sie hatte ihn von vorne bis hinten belogen und gehofft, sich ihn als Ehemann Nummer drei zu angeln und ihr restliches Leben im Luxus zu genießen.

Es war ein herber Schlag für sein Ego gewesen, aber er hatte ihn überlebt und schließlich verwunden. Als er dann Danielle begegnet war, war er ihrer Faszination ganz schnell erlegen. Sie stammte aus einer guten, wohlhabenden Familie und benötigte folglich sein Geld nicht. Deshalb hatte er seine Wachsamkeit und Vorsicht aufgeben können und ihr schon bald einen Heiratsantrag gemacht.

Welch ein schrecklicher Fehler! Mit der Zeit stellte sich nämlich heraus, dass seine vermeintlich liebende Gattin ebenfalls eine große Lügnerin war. Was das Ende ihrer Ehe bedeutet hatte. Und kein Bitten und Betteln würden je wieder die Gefühle in ihm wecken, die er einst für sie empfunden hatte.

Dankend verneinte Raoul, als eines der Hausmädchen ihm ein Glas Wein anbot. Er brauchte jetzt etwas wesentlich Stärkeres. „Wie lange wird Mrs. Aldridge hierbleiben?“

„Sie hatte in Europa einen Auftrag zu erledigen“, antwortete Maurice. „Ich habe keine Ahnung, wie bald sie an ihren Arbeitsplatz zurückkehren muss.“

Unwillkürlich ließ Raoul den Blick zu ihr schweifen. Sie maß etwa einen Meter siebzig, vielleicht auch zweiundsiebzig. Eine Größe, die ihren Reiz besaß, wie ihm zum ersten Mal bewusst wurde. Erneut ärgerte er sich, weil er etwas bemerkte, das ihm gar nicht auffallen sollte.

„Was macht sie beruflich?“

„Ich weiß es nicht. Ihre Rettungstat war an dem Abend in Siena das vorrangige Gesprächsthema. Später bat uns Guy, uns um Paul zu kümmern, während er sie ins Hotel zurückbegleitete.“

Na wunderbar! Was dachte sich sein Bruder nur? Verstohlen sah er zu der Amerikanerin hin. „Woher kommt sie?“

„Aus Südkalifornien.“

Ein Model dürfte sie aufgrund der sehr weiblichen Figur nicht sein, überlegte er. Wahrscheinlich war sie irgendeine Schauspielerin, die ihre Rollen ihrer Erscheinung und der sinnlichen Ausstrahlung verdankte.

Er blickte zu seiner elegant gekleideten Schwägerin im Rollstuhl. Sie wirkte noch immer jung – und gleichzeitig sehr in sich gekehrt. Wie stark hatte sie sich nach dem Unfall verändert.

Verflixt, sie brauchte keinen zweiten seelischen Schock. Warum, in aller Welt, brachte Guy diese Mrs. Aldridge ins Haus? Je früher sie in die Staaten zurückflog, umso besser.

Bevor er Maurice noch weiter ausfragen konnte, entdeckte sein Bruder ihn und kam sogleich mit seinem Gast auf ihn zu. Raoul fand es beunruhigend, fast schon widerwärtig, wie vertraut er die Amerikanerin am Ellbogen fasste.

„Raoul, ich möchte dich mit Laura Aldridge bekannt machen. Laura, das ist mein jüngerer Bruder Raoul, das Genie unserer Familie. Laura hat mich gestern vorm Ersticken bewahrt.“

„Davon habe ich gehört“, antwortete Raoul leise und bemühte sich, gelassen zu klingen. Am liebsten hätte er Guy beiseitegenommen und ihn um eine Erklärung gebeten. Stattdessen schüttelte er Laura die Hand und bemerkte, dass sie keinen Ring trug. „Enchanté, Madame“, sagte er und betonte die Anrede.

Ihre schmale, gepflegte Hand ist so wohlgeformt wie ihr ganzer Körper, schoss es ihm durch den Kopf. Im nächsten Moment wurde ihm bewusst, wohin sich seine Gedanken verirrten, und er fluchte insgeheim.

„Warum so förmlich? Laura ist meine Lebensretterin. Ihr solltet euch duzen.“

„Guten Abend, Raoul“, erwiderte sie höflich, jedoch leicht abweisend, als ahnte sie, dass er sie begutachtet hatte.

Raoul fühlte sich ertappt, und der intelligente Ausdruck in ihren grünen Augen machte ihn zusätzlich gereizt. „Welch glücklicher Umstand für uns Laroches, dass du in deiner Freizeit Leben rettest.“

Laura lächelte Guy zuliebe. „Damit verdiene ich unter anderem meinen Lebensunterhalt.“

Obwohl es ihm missfiel, dass er körperlich auf sie reagierte, konnte er sich ihrer faszinierenden Ausstrahlung nicht entziehen. „Du bist also in der Notrufzentrale beschäftigt?“

„Laura arbeitet ab und an als Rettungsschwimmerin am Manhattan Beach in Kalifornien. Daher kennt sie auch diese Rettungsmethode von Heimlich“, erklärte Guy.

Unwillkürlich musste Raoul an die amerikanische Fernsehserie „Baywatch“ denken. Vermutlich hatten viele Franzosen begeistert verfolgt, wie Pamela Anderson und ihre Geschlechtsgenossinnen sich in die Fluten stürzten. „Ich habe nicht gewusst, dass die Heimlich-Methode bei diesen Rettungen angewandt wird“, sagte er und beobachtete, wie sich ihre grünen Augen dunkler färbten.

„Das wird sie auch nicht.“

„Wie gut, dass sie sie trotzdem beherrscht“, meinte Guy leise, während er Laura bewundernd anblickte.

Raoul hoffte, dass Chantelle diesen Blick nicht sehen konnte. In den Tagen, in denen er auf Geschäftsreise gewesen war, hatte sich in der Welt seines Bruders offenbar viel ereignet.

„Ja, fast sollte man von einem Wunder reden“, meldete sich Maurice zu Wort.

Guy nickte. „Ich möchte, dass ihr es als Erste erfahrt: Laura hat sich von der Arbeit freistellen lassen können. Sie wird die nächsten zwei Wochen, während Françoise nicht da ist, unser Hausgast sein. Ich hoffe, dass ihre Gegenwart sich positiv auf Chantelle auswirkt.“

Raoul brauchte einen Moment, um sich von dieser überraschenden Neuigkeit zu erholen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sein Bruder konnte die Frau unmöglich erst gestern Abend kennengelernt haben. Niemand, der etwas auf sich hielt, würde eine solche Einladung nach so kurzer Bekanntschaft annehmen.

Hatten Guy und sie eventuell schon vor Chantelles Unfall eine Beziehung angefangen? Wusste seine Schwägerin vielleicht sogar davon? Das würde jedenfalls erklären, warum sie sich so stark verändert hatte. Sollte sein Bruder tatsächlich eine Affäre haben, spielte er ein gefährliches Spiel, was so überhaupt nicht zu ihm passte.

Raoul schwirrte der Kopf. Konnte es sein, dass Guy bereits seit einiger Zeit insgeheim ein Verhältnis mit dieser Amerikanerin hatte? War es womöglich mit ihr abgesprochen gewesen, dass sie gestern in seiner Nähe sitzen und er einen Erstickungsanfall simulieren sollte? Hatte er sich so einen Vorwand verschafft, sie in sein Haus zu holen?

Immer hatte Raoul geglaubt, sein Bruder und Chantelle würden eine perfekte Ehe führen. Er hatte nie ein glücklicheres Paar erlebt. Hatte er sich getäuscht und Guy allen etwas vorgegaukelt?

„Wie schön, dass du einen Job hast, der dir so viel Freiheit lässt.“ Raoul beobachtete die Anspannung, die sich in Lauras fein geschnittenem Gesicht spiegelte. Seine Bemerkung hatte offenbar ihr Ziel nicht verfehlt. Sie war sichtlich beunruhigt.

„Ich habe Glück, dass mein Boss so verständnisvoll ist.“

Mit Glück hatte es wohl nichts zu tun. Sie konnte sicher jeden Mann auf der Welt so verzaubern, dass er ihr alle Wünsche erfüllte. Sogar seinen Bruder, zu dem er stets aufgeblickt hatte, unter anderem wegen seiner strengen Prinzipien.

Jetzt brauche ich wirklich einen harten Drink, dachte Raoul und schaute Guy an. „Wenn du mich bitte entschuldigst. Ich möchte Chantelle Hallo sagen.“

Vielleicht brachte die Erwähnung des Namens seiner Frau ihn zur Besinnung und veranlasste ihn, ihr seine Aufmerksamkeit zu schenken. Nein, seine Worte bewirkten leider nicht das Geringste.

Flüchtig sah er Laura an und nickte höflich zum Abschied. Noch kein weibliches Wesen hatte je zuvor eine solche Anziehungskraft auf ihn ausgeübt. Zielstrebig ging er auf das Arbeitszimmer zu, das an den Wohnraum grenzte. Er öffnete den Barschrank und schenkte sich einen Whisky ein. Hoffentlich betäubte das Getränk seine Sinne ein wenig, die beim Anblick der blonden Amerikanerin in Aufruhr geraten waren.

Außerdem würde ihm diese Stärkung helfen, seine Schwägerin halbwegs normal zu begrüßen und sich nicht zu verraten, bevor er alle Fakten kannte. Er würde Laura Aldridge überprüfen lassen. Dass ein Mann ihren Reizen erlag, konnte er gut nachvollziehen. Aber was wusste Guy tatsächlich über sie?

Raoul stürzte den Whisky hinunter und bediente sich noch ein zweites Mal. Dann schlenderte er mit seinem Glas zu der geöffneten Terrassentür und sah gedankenverloren nach draußen.

„Raoul?“

Er schreckte aus seiner Versunkenheit und drehte sich um. Maurice war ins Arbeitszimmer gekommen. „Ja?“

„Können wir kurz miteinander sprechen?“

„Natürlich. Gehen wir zum Pool“, schlug er vor, denn dort würden sie sich ungestört unterhalten können. „Worüber möchtest du mit mir reden?“

„Über deinen Bruder.“

Beunruhigte Guys seltsames Benehmen auch Maurice? Die beiden waren seit Jahren gute Freunde. „Ich mache mir ebenfalls seinetwegen Gedanken.“

„Er ist so verzweifelt. Ich fürchte, er klammert sich an einen Strohhalm.“

Wie bitte? Raoul war verwundert. Diese Antwort hatte er nicht erwartet. Bemerkte er als Einziger, was sich hier abspielte? Wenn ja, dann wohl deshalb, weil eine Frau ihn selber einmal gründlich genarrt und er seine Lektion gelernt hatte.

„Yvette glaubt, dass es wegen des Altersunterschieds zwischen den beiden nicht funktionieren kann“, fuhr Maurice fort. „Ich neige dazu, ihr zuzustimmen.“

Offenbar erkennt er die Zeichen doch, dachte Raoul. Maurice schob geschickt seine Frau, eine Freundin von Chantelle, vor, um ihn vor der Gefahr zu warnen, die diese Amerikanerin darstellte. Eine jüngere Frau sollte keinen Kontakt zu Chantelle finden können? Nein, das hatte Maurice nicht gemeint. Diskret, wie er war, hatte er ihm durch die Blume etwas anderes mitteilen wollen.

Schon aus Loyalität zu seinem Bruder sollte er dieses Gespräch nicht fortsetzen. „Letzten Endes ist es Guys Entscheidung, oder? Bitte entschuldige mich jetzt. Nach meiner Geschäftsreise brauche ich dringend etwas Schlaf. Grüß Chantelle von mir und sag ihr, dass wir uns morgen sehen.“

2. KAPITEL

Nachdem Guys Bruder gegangen war, konnte Laura wieder freier atmen. Seit der Sekunde, in der sie seinen durchdringenden Blick gespürt hatte, war sie angespannt gewesen. Raoul mochte sie nicht, aus welchem Grund auch immer.

Eigentlich hätte es ihr egal sein sollen. Doch hatte sie die Feindseligkeit verblüfft, die ihr entgegengeschlagen war. Sie hatte sie sogar aus mehreren Metern Entfernung deutlich wahrgenommen. Und die kurze Begegnung mit ihm hatte ihr Empfinden weiter bestätigt.

Zweifellos war er ein ausgesprochen attraktiver Mann. Er maß gut einen Meter neunzig und hatte widerspenstige schwarze Haare sowie ein kantiges Gesicht mit markanten Zügen. Außerdem besaß er eine ungeheuer sinnliche Ausstrahlung, der sie sich nicht verschließen konnte, sosehr sie es auch versucht hatte.

Laura mischte sich unter die Gäste und schlenderte nach einer Weile auf Chantelle zu. Mehrere Freundinnen hatten sich um sie geschart und bemühten sich, sie in die Unterhaltung mit einzubeziehen.

Aber sie reagierte nicht im Mindesten, saß teilnahmslos in ihrem Rollstuhl, als wäre sie in einer eigenen Welt. Laura setzte sich in einen Sessel ganz in der Nähe und massierte sich die Schläfen. Hoffentlich konnte sie die Kopfschmerzen noch verhindern.

„Ich kann dir eine Tablette geben“, sagte Chantelle plötzlich. „Komm mit.“

Laura staunte nicht schlecht. Ihr war überhaupt nicht aufgefallen, dass Chantelle sie beobachtet hatte. Und die warmherzige Fürsorglichkeit erinnerte sie an die Frau von einst. Vielleicht bot sich ihr hier eine Gelegenheit, etwas von der alten Vertrautheit zwischen ihnen wiederherzustellen.

„Vielen Dank, ich könnte gut eine gebrauchen.“

Sie folgte Chantelle, deren überraschte Freundinnen schnell zur Seite traten. Geschickt manövrierte sie ihren Rollstuhl zwischen den Gästen hindurch und fuhr dann in den seitlichen Flügel der Villa, wo sich die privaten Räume des Ehepaars befanden. Noch bevor Laura ihr eine Tür öffnen konnte, hatte sie es bereits selbst gemacht. Schließlich hielt sie im erlesen eingerichteten Wohnzimmer vor dem Couchtisch an, auf dem eine Medikamentenpackung lag.

„Hier, nimm. Ich habe noch mehr davon, sollte sie dir nicht reichen.“

„Herzlichen Dank.“

„Gern geschehen.“ Sie blickte Laura an. „Ich habe gesehen, wie du vorhin mit Raoul gesprochen hast. Er ist seit dem Unfall sehr besorgt um mich und kann ziemlich unfreundlich sein. Lass dich von ihm nicht verscheuchen. Er hat mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen. Ich habe Guy gebeten, dich zu uns einzuladen. Raoul bewohnt seine eigene Villa. Wer bei uns zu Besuch ist, geht ihn nichts an. Ich wünsche dir eine erholsame Nacht. Hoffentlich schläfst du gut.“

Erst wurde sie gewarnt und danach abrupt verabschiedet. „Das tue ich bestimmt. Und du hoffentlich auch. Angenehme Träume.“

Auf dem Weg ins Gästeapartment überdachte Laura noch einmal Chantelles Worte. Sie ließen keinen Rückschluss zu, ob sie ihren Schwager mochte oder nicht. Doch machten sie deutlich, dass sie geistig völlig fit war und dass es in der Familie Laroche Geheimnisse gab.

Laura hatte das Gefühl, sich in einem Kriegsgebiet zu befinden, in dem Landminen verlegt waren, die bei dem kleinsten falschen Schritt explodierten. Die nächsten zwei Wochen könnten ganz schön anstrengend werden, überlegte sie, während sie den Wohnraum der Suite betrat. Sie schenkte sich ein Mineralwasser ein und schluckte eine der Tabletten.

Nein, sie würde jetzt mit Sicherheit noch nicht schlafen können, dazu war sie viel zu angespannt. Ein paar Bahnen im Pool würden ihr bestimmt guttun.

In dem weißen Einteiler, den sie immer als Rettungsschwimmerin trug, ging sie wenig später die Stufen zum Pool hinunter. Sie warf das mitgebrachte Handtuch auf eine Liege, kühlte sich unter der Dusche etwas ab und sprang kopfüber ins Becken.

Mit einem wohligen Seufzer drehte sie sich nach dem Auftauchen auf den Rücken und bewegte einfach nur die Beine auf und ab. Das Wasser war lauwarm, und über ihr glitzerten die Sterne am wolkenlosen Abendhimmel. Sie kam sich vor wie im Paradies.

Nach einer perfekten Wende kraulte sie kraftvoll durch den Pool. Auf der zweiten Etappe spürte sie dann, wie ihre Anspannung mehr und mehr nachließ. Sie hatte das andere Ende fast erreicht, als sie plötzlich mit einem muskulösen Männerkörper kollidierte. Im nächsten Moment fühlte sie, wie sich zwei starke Arme um sie legten und sie festhielten. Überrascht schaute sie auf und sah Raoul, dessen Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt war.

„Ich … ich habe nicht bemerkt, dass du im Pool bist“, stieß sie hervor.

„Meine Villa liegt auf der anderen Seite der Hecke. Ich bin einfach ins Becken gesprungen, ohne dich im dunklen Wasser gesehen zu haben.“

Die beiden Brüder wohnten also praktisch Tür an Tür. Jetzt verstand sie Chantelles Warnung noch besser. Starr blickte sie Raoul an. Die nassen schwarzen Haare klebten ihm am Kopf.

Immer wieder berührten sich ihre Körper. Der Pool war an dieser Stelle so tief, dass sie nicht stehen konnten und sich durch Schwimmbewegungen über Wasser halten mussten.

Als sich ihre Beine miteinander verhedderten, empfand Laura plötzlich ein so großes Verlangen, dass sie kaum noch atmen konnte. Und zu allem Überfluss blieb Raoul nicht verborgen, welche Wirkung er auf sie hatte, das konnte sie in seinen dunklen Augen lesen.

Peinlich berührt von der starken Anziehungskraft, die er auf sie ausübte, befreite sie sich aus seinen Armen. Sie kraulte zurück zum anderen Ende – wo Raoul sie bereits erwartete, und zwar kein bisschen außer Atem.

„Wie wär’s mit einem Wettschwimmen über zehn Runden? Wer gewinnt, darf den Siegerpreis bestimmen.“

Er glaubte doch nicht ernsthaft, sie wäre so dumm, sich darauf einzulassen. Natürlich würde er gewinnen, und welcher Siegerpreis ihm vorschwebte, war ihr nur zu klar.

„Es war ein langer Tag. Ich bin leider zu müde, um in Bestform zu sein.“

Energisch drückte sie sich mit den Füßen vom Beckenrand ab und kraulte zurück. Dann kletterte sie aus dem Pool, nahm das Handtuch von der Liege und stieg die Stufen zum Gästeapartment hinauf. Deutlich spürte sie Raouls Blick, bis sie aus seinem Gesichtskreis verschwunden war.

Selbst die heiße Dusche half ihr nicht, sich zu entspannen. Als Raoul die Arme um sie gelegt und sie festgehalten hatte, war ihr Körper zu neuem Leben erwacht. Verflixt, sie hatte eigentlich gemeint, sie würde nie wieder so empfinden.

Sogar als sie schließlich im Bett lag, hatte sie sich noch nicht ganz beruhigt. Aber ihre Reaktion auf ihn hatte kaum etwas damit zu tun, ob sie ihn mochte oder nicht. Ihre Hormone spielten schlichtweg verrückt.

Wie unter Zwang ließ sie noch einmal die Unterhaltung im Wohnzimmer Revue passieren. Seine Fragen und Bemerkungen waren mit viel gutem Willen gerade noch höflich zu nennen. Begegnete er jedem fremden Menschen so wenig freundlich, oder stellte sie eine Ausnahme dar?

Laut Chantelle hatte er eigene Probleme. Was bis zu einem gewissen Grad vielleicht seine scharfe Art erklärte, allerdings nicht die Bissigkeit, die er ihr gegenüber gezeigt hatte. Die war gegen sie persönlich gerichtet gewesen.

Und was hatte sein Benehmen im Pool zu bedeuten? Für jemanden, der sie nicht mochte, hatte er sie eigentlich etwas zu lange festgehalten. Doch fiel es Männern leichter, nicht dem Verstand zu folgen, sondern dem Begehren. Wenn sie nur den Moment genauso gelassen betrachten könnte wie er.

Er trug keinen Ehering. Also war er vermutlich noch Junggeselle oder geschieden. Möglicherweise lebte er auch in Trennung. Dann wartete er entweder ungeduldig darauf, seine Freiheit zurückzugewinnen, oder er litt schrecklich, weil er seine Frau noch liebte. Letzteres würde immerhin seine spitzen Bemerkungen erklären. Er fühlte sich verletzt und wollte deshalb anderen wehtun.

Laura drehte sich auf die Seite und hoffte, endlich Schlaf zu finden. Von jetzt an würde sie den Pool nur noch tagsüber benutzen. Eine weitere Begegnung wie die eben, auf die sie nicht im Mindesten vorbereitet gewesen war, wollte sie auf alle Fälle vermeiden.

Einen Moment lang hatte sie gemeint, Raoul wollte sie küssen. Aber noch verrückter war, dass sie ihn nicht daran gehindert hätte. Sie hatte tatsächlich das verrückte Verlangen gehabt, seine Lippen auf ihren zu spüren und ihn zu schmecken!

Sie war nicht weltfremd. Natürlich wusste sie, dass zwischen Menschen, die sich praktisch nicht kannten, dergleichen immer wieder vorkam. Man nannte es Lust. Sie hatte schon oft davon gehört, es allerdings noch nie selbst erlebt – bis zum heutigen Abend. Nein, solche Gefühle konnte sie nicht gutheißen. Doch bestimmt war er ein toller Liebhaber, ging es ihr im nächsten Augenblick durch den Kopf. Wohin verirrten sich ihre Gedanken! Wütend über sich selbst legte sie sich auf den Bauch und zog sich das Kissen über den Kopf, als könnte sie ihre Fantasien dadurch im Keim ersticken.

Seit Laura den Pool verlassen hatte, war Raoul zwanzig Bahnen geschwommen, um erschöpft ins Bett sinken zu können. Er war eben absichtlich mit ihr zusammengestoßen, um eine Reaktion von ihr zu provozieren. Aber seine Aktion hatte sich als Bumerang erwiesen, wie er deutlich spürte.

Auch war sein Plan gescheitert, sie länger im Becken festzuhalten. Hoffentlich habe ich mich jetzt genug ausgepowert, um ohne Tablette schlafen zu können, dachte er, als er schließlich aus dem Wasser stieg.

„Raoul? Was tust du denn hier?“ Guy klang verwundert.

Natürlich war sein Bruder erstaunt, dass er diesen Pool benutzte und nicht seinen eigenen. Doch hätte er ihm umgekehrt auch gern einige Fragen gestellt. Aber die Situation war ausgesprochen misslich, da es nur einen Grund geben konnte, warum Guy hier in der Badehose auftauchte. Laura! Sie hatte aus ihnen beiden Narren gemacht.

„Paul hat sich vorhin erkundigt, ob wir ein paar Bahnen zusammen schwimmen würden.“ Das war nicht gelogen. „Als ich herkam, war er nicht mehr da. Wie hat Chantelle die Party verkraftet?“

„Ich weiß es nicht.“ Guy schlenderte auf seinen Bruder zu. „Sie hat bereits geschlafen, als ich bei ihr vorbeigeschaut habe. Ist Laura im Pool gewesen?“

Höre ich da so etwas wie Eifersucht in seiner Stimme?, überlegte Raoul. Guy wäre schockiert, würde er nur ahnen, was er gern mit Laura getan hätte. Aber er hatte sich beherrscht, und bei der Vorstellung, dass sein Bruder vielleicht ein Verhältnis mit ihr hatte, wurde er wütend. „Sie hat ein paar Runden gedreht und ist dann ins Haus gegangen.“

„Sie hat nichts über Chantelle gesagt?“

Guy klang beunruhigt, und das sollte er auch sein. Er sollte sogar hochgradig beunruhigt sein. „Warum hätte sie es sollen?“

Guy fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Sie haben während der Party den Wohnraum zusammen verlassen. Ich habe mich gefragt, worüber sie geredet haben.“

„Auf die Antwort wirst du schätzungsweise bis morgen warten müssen“, erwiderte Raoul scharf. „Du hast sie doch hierher eingeladen, damit sie Chantelle Gesellschaft leistet, oder?“, erkundigte er sich, und sein Bruder nickte.

Jetzt wäre eigentlich der Zeitpunkt für ein Geständnis gekommen. Aber Guy schwieg. Auch entdeckte Raoul nicht das kleinste Anzeichen dafür, dass er unter Gewissensbissen litt. Stattdessen spiegelte sich Enttäuschung in seinem Gesicht, die seine wahre Absicht verriet.

Sein Bruder schämte sich offenbar nicht im Mindesten.

Doch kann er in meiner Gegenwart wohl kaum in die Gästesuite gehen. Dass Guy heute Abend nicht zu Laura konnte, erfüllte Raoul in Bezug auf Chantelle mit Erleichterung und erfreute ihn rein persönlich ungemein.

Gemächlich trocknete er sich mit einem flauschigen Handtuch ab. Er beabsichtigte bestimmt nicht, vor seinem Bruder von hier zu verschwinden. Heute würde es kein trautes Beisammensein mehr geben.

„Ich bin möglicherweise morgen erst später im Büro“, sagte Guy leise.

Möglicherweise? Mit Sicherheit! Vermutlich würde man ihn in den nächsten vierzehn Tagen nur äußerst selten dort antreffen. „Ich werde auch nicht da sein. Jean-Luc möchte, dass ich mir ein Lagerhaus in Antibes anschaue. Warum kommst du nicht mit? Dann können wir gleich vor Ort entscheiden, ob wir es kaufen wollen. Da Laura jetzt bei Chantelle ist, musst du dich nicht mehr ständig sorgen, wenn du eine kurze Weile nicht in unmittelbarer Nähe bist.“ Und eventuell konnte er seinen Bruder auf der Fahrt dazu bringen, sich ihm anzuvertrauen. Sie hatten noch nie Geheimnisse voreinander gehabt.

Guy schüttelte den Kopf. „Vielleicht das nächste Mal.“ Er wandte sich um und trat tief in Gedanken versunken den Rückweg an.

Raoul blickte ihm nach. Er war innerlich zerrissen. Einerseits tat es ihm weh zu sehen, wie sehr sich Guy verändert hatte. Aber es empörte ihn auf der anderen Seite auch, dass sein Bruder womöglich eine Affäre mit dieser Amerikanerin hatte, die ihm selbst nicht mehr aus dem Sinn ging. Wie viele Männer hatte sie hier in Europa wohl schon vor Guy umgarnt?

Frauen wie sie brauchten ihren Lebensunterhalt nicht selbst zu verdienen. Höchstwahrscheinlich hatte sie überhaupt keinen richtigen Job. Die Geschichte vom verständnisvollen Boss war mit Sicherheit erfunden.

Frauen wie Laura ließen sich von ihren Opfern finanzieren. Wenn sie von einem Mann genug hatten und sich langweilten, suchten sie sich den nächsten mit einem reichlich gefüllten Bankkonto. Warum erkannte Guy das nicht?

Morgen rufe ich einen unserer Anwälte an, beschloss Raoul. Es konnte nicht schaden, die Amerikanerin überprüfen zu lassen. Vielleicht war sie nicht diejenige, die zu sein sie vorgab. Unter Umständen wurde ihr Name sogar auf beiden Seiten des Atlantiks in einem Strafregister geführt.

Nach dem Tod der Eltern vor vielen Jahren hatte Guy stets ein Auge auf ihn, den jüngeren Bruder, gehabt. Nun war die Zeit gekommen, dass er sich revanchierte. Er würde Guy vor einer Raubkatze beschützen, die mit ihren Reizen selbst aus einem Heiligen einen Sünder machen konnte.

Am nächsten Morgen geleitete ein Hausmädchen Laura zu Chantelle, die auf der Terrasse vor dem Speisezimmer saß. Von hier aus hatte man einen wunderbaren Blick auf ein Meer von Rosen, deren herrlicher Duft Laura gestern schon in die Nase gestiegen war.

Bonjour, Laura.“

Bonjour, Chantelle.“

Laura lehnte ihren Skizzenblock gegen eines der gusseisernen Beine des Glastischs, bevor sie sich Chantelle gegenüber hinsetzte. Momente später wurde ihnen das Frühstück serviert.

„Wie hast du geschlafen?“

„Bestens, sobald die Tablette gewirkt hatte. Nochmals danke. Ich sollte mir in der Apotheke selbst welche besorgen.“

„Das ist nicht nötig. Ich habe noch viele. Sag mir einfach, wenn du Nachschub brauchst.“

„Danke, das ist nett von dir.“ Laura biss in das Croissant und kaute genüsslich. „Es zergeht auf der Zunge“, meinte sie schließlich, und Chantelle lächelte sie unerwartet an.

„Ich werde es an den Küchenchef weiterleiten.“

Laura lachte. „Weißt du, dass ich mir wie im Paradies vorkomme? Euer Zuhause ist ein einziger Traum.“ Sie ließ den Blick über die prächtigen Rosen schweifen. „Du musst die besten Gärtner von ganz Frankreich haben.“

„Vor meinem Unfall habe ich mich selbst um die Pflege gekümmert. Nun muss ich den Leuten erklären, wie sie ihren Job machen sollen. Leider übersehen sie zu viel Unkraut.“

„Ich könnte in der nächsten Zeit das Jäten übernehmen.“

„Magst du denn Gartenarbeit?“

Laura nickte. „Ich habe dir doch damals erzählt, dass ich bei meiner Großmutter aufgewachsen bin. Sie hat Blumen über alles geliebt und mich schon als Kind in die Geheimnisse des Gärtnerns eingeweiht. Ich bin immer gern mit ihr draußen gewesen.“

„Lebt sie noch?“

„Nein. Sie ist vor acht Jahren gestorben. Ich habe bis zu meiner Heirat weiter in ihrem kleinen Bungalow gewohnt. Dann hat mein Mann mich überredet, das Haus zu verkaufen, und seither habe ich mich nicht mehr als Gärtnerin betätigt.“

Sie hätte nicht so schnell auf Ted gehört, wäre da nicht der Bauträger gewesen, der die Grundstücke in der Umgebung erwarb, um ein Einkaufszentrum zu errichten. Ihr Mann hatte argumentiert, dass sie vermutlich nie einen höheren Preis für die Immobilie erzielen würde.

Also hatte sie sich, wenn auch widerwillig, von ihrem Eigentum getrennt. Kurz danach war das Projekt gescheitert, und sie hatte sich des Gefühls nicht erwehren können, dass dies keine Überraschung für Ted gewesen war. Er hatte nicht gewollt, dass sie an irgendwelchen Erinnerungen festhielt.

„Wenn du wirklich Unkraut jäten möchtest, will ich dich nicht daran hindern.“

„Nur zu gern. So kann ich mich etwas nützlich machen. Aber vor allem brenne ich darauf, wieder einmal in der Erde zu wühlen.“

„Ich weiß genau, was du meinst.“

Chantelles Antwort stimmte Laura für einen Moment traurig. Offenbar sehnte sie sich danach, im Garten zu arbeiten, konnte sich jedoch nicht dazu bringen, es zu tun.

„Morgen bitte ich den Gärtner, dir Handschuhe und die nötigen Gerätschaften zu geben.“

„Danke.“

„Ich glaube, dass in jedem, der Spaß am Gärtnern hat, ein Künstler steckt. Zeigst du mir deinen Skizzenblock, wenn du zu Ende gefrühstückt hast?“

„Du kannst ihn dir gern gleich anschauen.“ Laura reichte ihn ihr.

Bedächtig schlug Chantelle ein Blatt nach dem anderen um. Als sie Laura schließlich wieder ansah, leuchteten ihre Augen wie einst. „Du hast die Atmosphäre beim Palio toll eingefangen. Die Leute … die Kostüme … die Pferde … Du bist ein echtes Genie.“

„Nein.“

„Doch, das bist du“, erwiderte Chantelle energisch. „Was machst du aus den Skizzen? Fertigst du Ölgemälde? Oder Aquarelle?“

„Weder noch. Ich habe Grafikdesign studiert und arbeite seit meinem Abschluss für eine kalifornische Firma, die Videospiele herstellt. Mein Job ist es, reizvolle Hintergründe für die Spiele zu liefern, die andere Kollegen dann entwickeln.“

„Videospiele? Etwa solche, die mein Sohn sehr zu meinem Missfallen spielt?“

„Ich fürchte, ja. Die Skizzen vom Palio werden für ein Pferderennen verwandt. Jeder Reiter muss sich durch ein Stadtviertel kämpfen und diverse Hindernisse überwinden“, erklärte Laura. „Eine meiner Aufgaben ist es, ungewöhnliche Orte zu finden, die mir als Kulisse für Videospiele geeignet erscheinen.“

„Wo bist du schon überall gewesen?“ Chantelle klang lebhaft und interessiert und erinnerte Laura erneut an die lebenslustige Frau, die sie einst gewesen war.

„Vor zwei Monaten war ich eine Woche lang in Hameln. Es ging um ein Videospiel für Kinder. Meine Großmutter hat mir früher immer Märchen vorgelesen. ‚Der Rattenfänger von Hameln‘ war eine meiner Lieblingsgeschichten. Mir ist die Idee gekommen, man könnte daraus ein Videogame entwickeln, das vergnüglich und auch nützlich ist. Die kleinen Spieler müssen verhindern, dass die Kinder dem Rattenfänger folgen, wobei sie ihre Geschicklichkeit trainieren.

Nachdem ich in Hameln fertig war, bin ich ein paar Tage in Holland gewesen. Dort habe ich Windmühlen und alte Giebelhäuser skizziert. Sie dienen als Hintergrund für ein Spiel, in dem die Spieler verhindern müssen, dass die Deiche brechen.“

„Das klingt großartig. Du bist großartig!“

„Nein. Allerdings finde ich es sehr schön, für einen Job bezahlt zu werden, den ich ausgesprochen gern mache“, erwiderte Laura. „Und natürlich arbeite ich nach wie vor als Rettungsschwimmerin. Wie du dir leicht vorstellen kannst, habe ich auch Skizzen für ein Videogame angefertigt, das unter Wasser spielt.“ Sie hatte kaum ausgeredet, als sich ein Bild von Raoul im Pool vor ihr inneres Auge schob und ihr kurz den Atem raubte.

„Wann hast du bei all den Aktivitäten noch Zeit für deinen Mann?“

Ein Schauer lief ihr über den Rücken. „Meine Ehe war nahezu von Anfang zum Scheitern verurteilt. Ted ist Anwalt und stammt aus einer Politikerfamilie. Als wir uns kennenlernten, hat er mir versichert, er würde keine politischen Ambitionen hegen. Ich habe ihm klar gesagt, dass ich mit keinem Politiker verheiratet sein möchte, und ihn lange hingehalten, bis ich überzeugt war, dass er es ehrlich meinte.

Ein paar Monate nach der Hochzeit erfuhr ich dann, dass er schon immer beabsichtigt hatte, für den Kongress zu kandidieren. Seine Versprechungen waren alle falsch gewesen. Er hat mich nicht geliebt, sondern sich nur mit mir zeigen wollen. Und das hasse ich wie die Pest.“ Laura trank einen Schluck Kaffee und fuhr dann fort: „Vor sechs Monaten habe ich herausgefunden, dass er mich betrügt, und endlich die Kraft aufgebracht, die Scheidung einzureichen. Er wehrt sich mit allen Mitteln dagegen. Aber das wird ihm nichts helfen, denn ich werde sie bekommen.“

„Bravo! Einmal ein Lügner, immer ein Lügner“, stieß Chantelle so vehement hervor, dass Laura aufhorchte.

Sprach sie etwa aus Erfahrung? Wenn ja, konnte es nichts mit Guy zu tun haben, oder? „Was Ted anbetrifft, ist es sicher richtig.“ Sie blickte Chantelle an. „Er ist so anders als dein Mann, der dich über alles liebt.“

Kaum hatte sie den Satz gesagt, veränderte sich die Atmosphäre am Tisch. Chantelle klappte den Skizzenblock zu und gab ihn ihr zurück. Hatte Guy seine Frau etwa angelogen und tief verletzt? Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen.

„Ist er schon ins Büro gefahren, oder bleibt er bei dir?“

„Er ist in seinem Arbeitszimmer und hält eine Telefonkonferenz ab.“

„Wie schön für dich, ihn zu Hause zu haben“, erwiderte Laura und wusste nicht, ob ihre Antwort Chantelle verdross. „Was hast du heute vor?“

„In einer halben Stunde werde ich massiert, und danach möchte ich hier draußen ein wenig lesen.“

„Hast du etwas dagegen, wenn ich währenddessen die Umgebung zeichne? Die wunderschöne Villa und der verwunschene Garten haben mich auf eine Idee für ein Spiel gebracht.“

„Worum wird es darin gehen?“ Chantelle klang freudig interessiert.

„Ich habe erst eine vage Vorstellung. Vielleicht können wir beide später ein Brainstorming veranstalten, damit es richtig Gestalt annimmt.“

„Ist das für dich in Ordnung?“

„Was ist in Ordnung?“

Laura zuckte zusammen, als sie die tiefe Männerstimme hörte. Sie brauchte sich nicht umzusehen, um zu wissen, wer gerade die Terrasse betreten hatte.

Bonjour, Raoul. Was ist heute nur hier los? Muss denn keiner mehr zur Arbeit? Ich hätte gedacht, dass du nach deiner Rückkehr aus der Schweiz gleich in aller Frühe ins Büro fährst. Stattdessen tauchst du hier auf, und Guy telefoniert noch in seinem Arbeitszimmer.“

Laura beobachtete, wie er um den Tisch herumging und seine Schwägerin auf die Wange küsste. In der grauen Hose und dem schwarzen Seidenhemd machte er eine blendende Figur.

„Ich muss geschäftlich nach Antibes und wollte mich erkundigen, ob du und Laura vielleicht Lust habt, mitzukommen und zu shoppen. Wir packen deinen Rollstuhl einfach in den Wagen.“

„Heute nicht. Ich habe schon andere Pläne. Doch Laura würde sich sicher freuen, etwas zu unternehmen.“

Bei dem Gedanken, mit Raoul allein zu sein, schlug ihr Herz gleich schneller. „Das ist sehr lieb gemeint von dir, Chantelle, aber ich fühle mich hier pudelwohl“, lehnte sie ab, denn schließlich zählte Guy auf sie.

„So ein Unsinn. Außerdem seid ihr nicht den ganzen Tag weg. Oder, Raoul?“

„Je nachdem.“

Laura konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er dies nur gesagt hatte, um sie zu ärgern. Zwischen ihnen hatte sich nichts geändert. Er mochte sie nach wie vor nicht, das spürte sie genau.

„Fahr mit ihm, Laura. Unterwegs fallen dir vielleicht noch mehr Ideen ein. Paul hat Freunde eingeladen. Ich werde gut damit beschäftigt sein, sie im Auge zu behalten.“

Zweifellos wollte Chantelle allein gelassen werden. Sie drängte sie förmlich ihrem Schwager auf. Hatte sie sie mit ihrer Bemerkung über Guy gekränkt? Wenn sie wollte, dass Chantelle sich ihr öffnete, sollte sie in Zukunft lieber nicht mehr das Gespräch auf Guy bringen.

„Man könnte meinen, du hättest Angst, mit mir zu kommen.“ Raoul hatte sich gesetzt und ließ sich ein Croissant schmecken. „Ich verspreche dir, dass ich dich vor Sonnenuntergang zurückbringe. Was würde wohl Mr. Aldridge sonst sagen.“

„Es reicht, Raoul! Wenn du so weitermachst, bekommt Laura noch einen falschen Eindruck.“

„Welchen Eindruck?“ Er blickte Laura an. „Stimmt das?“

Aus irgendeinem Grund genoss er es, sie zu ärgern. Und Chantelle war ihr auch keine Hilfe. Anscheinend hatte sie Spaß an dem Geplänkel. Die beiden hatten offenbar eine einzigartige Beziehung, die Dritte nicht ansatzweise verstanden.

Laura nahm ihren Skizzenblock und erhob sich. „Wann willst du aufbrechen?“

„Eigentlich sofort.“

„Dann lass mir noch einen Moment Zeit zum Umziehen.“

„Du siehst in dem weißen Top und den Shorts gut aus“, antwortete er, nachdem er sie gemächlich von oben bis unten gemustert hatte.

„Vielen Dank. Aber für einen Einkaufsbummel fühle ich mich in einem Rock wohler. Wo treffen wir uns?“

„Ich warte mit dem Wagen vor der Villa auf dich.“

„Gib mir fünf Minuten.“ Laura schaute Chantelle an. „Kann ich dir etwas aus Antibes mitbringen? Vielleicht ein Buch, das du gern lesen würdest?“

„Nein, herzlichen Dank.“

„Etwas anderes, das dir Freude bereitet?“

Chantelle lächelte sie an. „Das ist nett von dir. Doch nein, danke.“

Irgendeine Kleinigkeit werde ich schon finden, dachte Laura, während sie sich wieder Raoul zuwandte, der sie seltsam anblickte. „Ich brauche nicht lang.“

Spöttisch verzog er den Mund. „Hast du das gehört, Chantelle?“

„Nicht alle Frauen sind so unmöglich, wie du zu glauben beliebst. Eine so hübsche Frau wie Laura hat es nicht nötig, sich herauszuputzen.“

Eilig lief Laura ins Haus, um den weißen Wickelrock aus Leinen anzuziehen. Ihre Haare hatte sie vor dem Frühstück mit einem weißen Tuch zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Und da sie davon ausgegangen war, den Tag in der Villa zu verbringen, hatte sie kein Make-up aufgetragen.

Auch jetzt würde sie sich nicht damit aufhalten. Raoul würde sie so mitnehmen müssen, wie sie war. Hoffentlich schaffte sie es, ihre Aufgeregtheit vor ihm zu verbergen. Er sollte nicht erfahren, wie sehr sie auf ihn reagierte.

Nachdem sie alles Nötige in die Handtasche gepackt hatte, verließ sie das Gästeapartment. Ja, sie lag gut in der Zeit, wie sie mit einem Blick auf die Armbanduhr feststellte. Es waren erst vier Minuten verstrichen.

3. KAPITEL

Raoul staunte nicht schlecht, als er Laura erblickte. Dass eine Frau pünktlich fertig ist, erlebe ich wohl zum ersten Mal, dachte er, während er den Wagen vor der Villa anhielt.

Er war zufrieden mit sich, dass er Guy heute ein heimliches Treffen mit ihr vermasselt hatte. Raoul beugte sich seitwärts und öffnete die Beifahrertür. Ja, seine Schwägerin hatte recht, Laura sah auch ohne Make-up fantastisch aus.

Ohne sich zu zieren, stieg sie ein und legte den Sicherheitsgurt an, wobei sich ihre Arme kurz berührten. Sogleich spürte Raoul zu seinem Verdruss, wie sein Körper auf den Hautkontakt reagierte. Er schaltete in den ersten Gang und lenkte das Cabrio wortlos den gewundenen, von Zypressen gesäumten Weg entlang. Freundlich nickte er am Tor dem Wachmann zu und bog in die Küstenstraße ein.

„Wäre Chantelle mitgekommen, hätte ich einen geräumigeren Wagen genommen“, sagte er schließlich nach ein paar Minuten. „Stört dich das aufgeklappte Verdeck? Ich kann es jederzeit schließen.“

„Nein, nicht im Mindesten. Ich habe gern überallhin einen freien Blick“, erwiderte Laura, ohne ihn anzuschauen.

Raoul wunderte sich erneut. Er kannte keine Frau, die nichts dagegen hatte, wenn der Wind ihr ins Gesicht wehte. Mehr und mehr verdichtete sich sein Eindruck, dass sie keine typische Vertreterin ihres Geschlechts war.

So redete sie zum Beispiel auch nicht pausenlos. Was ihm eigentlich gefallen sollte, denn er beabsichtigte, sie heute so lange von Guy fernzuhalten, wie ihm der Sinn danach stand. Aber anstatt erfreut über seine eigene Raffinesse zu sein, ärgerte ihn die Tatsache, dass sie völlig entspannt neben ihm saß.

„Die Gegend hier dürfte sich kaum von der südkalifornischen Küste unterscheiden.“

„Oh doch, sehr sogar. Der Pazifik und das Mittelmeer lassen sich nicht vergleichen“, antwortete sie, und Raoul, der schon mehrfach in Kalifornien gewesen war, gab ihr insgeheim recht. „All die versteckt liegenden alten Bergdörfer, die ich vom Hubschrauber aus gesehen habe, verleihen der Region einen einzigartigen Charme.“

Sein Bruder hatte sie mit dem Helikopter hergebracht? Es war das erste Mal, dass er einem Gast diesen Luxus anbot. Offenbar steckt Guy ganz schön tief drin, dachte Raoul, während er beobachtete, wie Laura die langen Beine übereinanderschlug.

Tat sie es absichtlich? Unwillkürlich schweifte sein Blick zu den zierlichen Füßen in den hellbraunen Ledersandaletten. Ihre Zehennägel waren nicht lackiert. An ihr war alles natürlich. Bis jetzt hatte er noch nichts entdeckt, das ihm an ihr missfiel. Und er hatte sich sehr bemüht, etwas zu finden.

„Bist du zum ersten Mal in Europa?“

„Nein. Aber ich war noch nie an der französischen Riviera. Sie ist atemberaubend.“

Genau wie du, gestand er sich widerwillig ein. „Womit verdienst du deinen Lebensunterhalt, wenn du nicht gerade als Rettungsschwimmerin unterwegs bist?“

Laura setzte ihre Sonnenbrille auf. „Ich zeichne Landschaften für Hintergründe von Videospielen.“

Diese Antwort hatte er nun wirklich nicht erwartet. „Welche Art von Spielen?“

„Zumeist für Kinder und Jugendliche.“

„Keine Gewaltvideospiele?“

„Natürlich nicht.“

Er musste lachen, und nachdem sie ihm mehrere Spiele genannt hatte erkundigte er sich nach dem Firmennamen.

Other World Video Games. Vermutlich hast du ihn noch nie gehört.“

„Stimmt. Und wie lange arbeitest du schon für das Unternehmen?“

„Seit der Uni.“

„Hast du einen Abschluss gemacht?“

Laura nickte. „In Grafikdesign.“

„Vorhin habe ich dich mit einem Skizzenblock gesehen.“

„Ja. Er enthält Zeichnungen von Siena und dem Palio. Chantelle wollte sie gern anschauen.“

Sie beantwortete alle Fragen, ohne zu zögern. Sollte sie etwas zu verbergen haben, wusste sie es glänzend zu verstecken. Und bislang hatte sie ihm noch keine einzige Frage gestellt. Der Gedanke, dass sie ihn einfach nur ertrug, gefiel ihm nicht sonderlich.

Obwohl er sich einredete, das Ganze um Guys willen zu tun, war ihm doch irgendwie klar, dass diese Begründung nicht völlig der Wahrheit entsprach. Laura Aldridge erregte zu sehr sein Interesse, als dass er sich so leicht belügen konnte.

Heute Morgen hatte er mit Louis telefoniert und ihn gebeten, sie zu überprüfen. Der Anwalt wollte sich sofort bei ihm melden, sobald er gesicherte Informationen besaß. Und bis er von ihm hörte, würde er selbst versuchen, so viel wie möglich über sie zu erfahren. Wenn er ihr weiter persönliche Fragen stellte, wand sie sich vielleicht doch bei der einen oder anderen Antwort und verriet sich.

„Wie schaffst du es, Arbeit und Familie unter einen Hut zu bringen?“

„Gar nicht“, erwiderte Laura nach einem Moment des Schweigens.

Richtig, sie hatte lediglich Zeit, sich darauf zu konzentrieren, die Familie eines anderen zu zerstören! „Ich möchte mir hier im Hafen eine Immobilie ansehen, die wir eventuell kaufen wollen“, erklärte er, als sie Juan-les-Pins vor den Toren von Antibes erreicht hatten. „Es wird nicht lange dauern. Anschließend fahren wir über Vence in eines der Bergdörfer, die du eben erwähnt hast. Dort essen wir – wenn auch etwas verspätet – zu Mittag, und danach machen wir, wonach uns ist.“

Laura nickte zustimmend. Jetzt spürte er, dass sie doch angespannt war. Sie hatte wohl nicht damit gerechnet, ihn so lange ertragen zu müssen. Ihre Geduld neigte sich offenbar dem Ende zu. Wenn das nicht die Chance war, auf die er gewartet hatte.

Er parkte den Wagen nahe des betreffenden Lagerhauses im Schatten mehrerer Palmen. Jean-Luc stand bereits vor dem großen Eingangstor.

Kaum hatte der Immobilienmakler ihn erkannt, kam er auf das Cabrio zu. Dann fiel sein Blick auf Laura, und er starrte sie förmlich an. So ähnlich ging es auch Guy und mir ebenfalls, dachte Raoul und fühlte, wie Verlangen und Ärger gleichzeitig in ihm erwachten.

Von spontaner Lust und einer anderen Regung, die er nicht zu benennen vermochte, geleitet, beugte er sich zu ihr und küsste sie auf den Mund. Es geschah so schnell und überraschend, dass Laura keine Zeit blieb, sich zu wehren.

Im nächsten Moment wurde ihm sein zweites Motiv klar. Jean-Luc war die größte Klatsch- und Schwatzbase an der ganzen Côte d’Azur. Was er allein schon aus beruflichen Gründen sein musste. Spätestens bis morgen würde auch Guy gehört haben, dass sein Bruder etwas mit einer sexy Blondine hatte, und dann waren ihm die Hände gebunden.

Sollte Guy ihn zur Rede stellen, würde er sich quasi selbst entlarven. Natürlich wäre sein Bruder erst einmal wütend auf ihn. Aber er würde auch irgendwann einsehen, welche Opportunistin Laura war, und ihm schlussendlich dankbar sein.

Raouls Denkvermögen ließ nach, während er ihre warmen, weichen Lippen spürte. Sie schmeckte noch besser, als er ohnehin geglaubt hatte. Und so küsste er sie, bis sie sich ihm verweigerte.

„Was fällt dir ein!“, stieß sie leise hervor.

Ihre Empörung klang echt. Allerdings hatte sie einen Augenblick zu lang gebraucht, um sie zu äußern. Wie ihm nicht entgangen war, hatte sie kurz auf ihn reagiert und sich erst danach gefangen. Wenn sie mit Guy ein Verhältnis hatte, was bedeutete dann ihre Reaktion auf ihn?

Zwei Seelen stritten in seiner Brust. Eine wollte die Frage nicht beantwortet haben, denn er hatte den Kuss einen verrückten Moment lang zu sehr genossen. Der Gedanke, dass sie sich auf ihn und seinen Bruder einließ, war ihm unerträglich.

Aber du hast das Experiment doch gestartet, um herauszufinden, was für eine Frau sie ist, ermahnte er sich und lächelte. „Reg dich ab, Laura. Nach dem, was gestern im Pool fast geschehen wäre, wissen wir beide, dass du so viel nicht dagegen gehabt hast.“

Zufrieden beobachtete er, wie sie errötete, dann öffnete er die Fahrertür und stieg aus, um Jean-Luc auf Abstand zu halten. Wenn er ihn nicht mit Laura bekannt machte, würde dessen Interesse, wer diese neue Frau in seinem Leben war, nur noch brennender werden.

„Bin gleich zurück“, rief er Laura im Gehen zu.

„Oh, là, là!“ Der Makler klopfte ihm auf die Schulter, während sie auf das Lagerhaus zugingen. „Wenn Ihre Ex davon erfährt, wird sie ihr die Augen auskratzen.“

Erneut rang sich Raoul ein Lächeln ab. „Sie kann es versuchen“, erwiderte er, und Jean-Luc lachte schallend.

Danielle wäre dieser betörenden Frau mit den wunderbar weichen Lippen nicht gewachsen, das war Raoul klar. Und er wusste noch etwas anderes: Chantelle zu beschützen würde ihm zahlreiche schlaflose Nächte und kalte Duschen eintragen.

Laura zitterte noch immer. Insgeheim freute sie sich, dass Raoul gestern Abend offenbar Ähnliches empfunden hatte wie sie. Aber gleichzeitig war ihr auch angst und bange.

Was, wenn einer von Teds Detektiven herausgefunden hatte, wo sie steckte, und dem Cabrio gefolgt war? Mit einem Teleobjektiv hätte er gut ein Foto von dem Kuss schießen können. So ein Schnappschuss brächte womöglich einen Richter dazu, sich auf die Seite von Teds Anwalt zu schlagen, der das Verfahren nach besten Kräften hinauszögerte. Dann würde sie endlos auf die Scheidung warten, um die sie so hart kämpfte.

Nein, sie durfte nichts tun, das ein Scheidungsurteil irgendwie gefährdete. Doch hatte sie eben nicht verhindern können, dass sie auf Raoul reagierte. Sein unerwarteter Kuss hatte sie einfach elektrisiert. Was nicht nur in ihrer aktuellen Lage inakzeptabel war, sondern vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass Raoul sie nicht mochte.

Was bezweckte Raoul? Steckte vielleicht Chantelle dahinter? Wollte diese sie loswerden, ohne Guy in dieses Unterfangen zu verwickeln? Hatte sie deshalb ihren Schwager gebeten, einen Weg zu finden, sie aus der Villa zu lotsen? Sollte Chantelle tatsächlich nichts mehr von Guy wissen wollen, gefiel es ihr bestimmt nicht, dass er die alte Freundin zur Unterstützung ins Haus gebracht hatte. Und vorhin hatte sie sie gedrängt, allein mit Raoul wegzufahren.

Natürlich könnte sie Frankreich noch heute verlassen. Wahrscheinlich wäre das die beste Lösung. Aber sie würde Guy ihre Gründe erklären müssen, ihm schuldete sie aus Loyalität die Wahrheit. Wenn er erfuhr, was heute geschehen war und dass sie vermutete, sein Bruder würde gegen ihn arbeiten, war er sicher sehr verletzt.

Wie standen die beiden überhaupt zueinander? Eigentlich mussten sie ein halbwegs normales Verhältnis haben, sonst wäre Raoul kaum zu der Party gekommen. Wenn sie ernste Probleme miteinander hätten, würden sie nicht praktisch Tür an Tür wohnen und gemeinsam die Firma leiten, oder?

Fragen über Fragen, die sie sich nicht beantworten konnte. Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, überlegte sie, als mich irgendwie über die nächsten zwei Wochen zu retten und Raoul nach Möglichkeit zu meiden. Sollte die Situation unhaltbar werden, konnte sie immer noch mit Guy reden.

Laura war weiterhin tief in Gedanken versunken, als Raoul die Autotür öffnete und sich hinters Steuer schwang. Sie schreckte aus ihrer Selbstvergessenheit, und während sie unwillkürlich den Kopf zur Seite wandte, begegneten sich ihre Blicke.

„Du erstaunst mich.“ Er ließ den Motor an und fuhr los.

„Wieso? Weil ich nicht vor dir weggelaufen bin?“ Sie seufzte. „Mich haben schon früher Männer geküsst, die ich nicht kannte. Selbst wenn ich ihnen nicht gerade das Leben gerettet hatte. Wenn dir so viel daran lag, hättest du es gestern im Pool tun sollen. Aber vermutlich hast du dich zurückgehalten aus Angst, jemand könnte es sehen.“

Raoul funkelte sie an. „Warst du enttäuscht?“

„Ich glaube, ja.“

„Du glaubst es nur?“, fragte er zu ihrer Überraschung schelmisch, und sie musste lächeln.

Wenn dies zu seinem Spiel gehört, beherrscht er es so vortrefflich, wie er aussieht, ging es ihr durch den Kopf. Einem dermaßen attraktiven Mann war sie noch nie zuvor begegnet. Nicht dass es Kalifornien an gut aussehenden Männern mangelte. Doch keiner, Ted einbegriffen, strahlte eine solch atemberaubende Sinnlichkeit aus wie Raoul Laroche.

Laura beobachtete, wie er den Blick auf ihren Mund richtete. Dann verhärtete sich seine Miene, und er lenkte die Aufmerksamkeit wieder auf die Straße. Und von jetzt auf gleich verschwand die grundlose Heiterkeit, die sie eben empfunden hatte.

Hatte er sie auf der Fahrt nach Juan-les-Pins mit Fragen fast überhäuft, steuerte er den Wagen nun stumm durch das malerische Hinterland. Deutlich spürte Laura die Spannung zwischen ihnen, war aber fest entschlossen, das Schweigen nicht als Erste zu brechen.

Auch hinderte ihr Stolz sie daran, ihn zu bitten, er möge sie in die Villa zurückbringen. Er sollte nicht meinen, dass seine Taktik aufgegangen war und er sie mit seinem Verhalten verunsichert hatte.

Je höher sie in die Bergwelt der Seealpen vordrangen, desto atemberaubender wurde die Kulisse. Geschickt lenkte Raoul das Cabrio durch die schmalen Haarnadelkurven. Schließlich erreichten sie das Dorf Tourettes Sur Loup, das malerisch auf einem Felsplateau lag.

Kurz hinter dem Ortsschild bog Raoul auf einen Parkplatz ein, auf dem schon einige Autos standen. Er stellte den Motor ab und wandte sich ihr zu. „Hier im Dorf gibt es diverse Kunstgewerbeläden. Dein künstlerisches Auge wird auf einem Spaziergang nach dem Essen sicher etwas entdecken.“

Nein, er hatte nicht im Mindesten spöttisch geklungen. Erleichtert, dass er sie im Moment offenbar nicht herausfordern wollte, stieg sie aus, bevor er ihr behilflich sein konnte. Solange er sie nicht berührte, befand sie sich auf der sicheren Seite. Falls einer von Teds Detektiven sie aufgespürt hatte, sollte er keine Gelegenheit mehr bekommen, ein verfängliches Foto von ihr zu schießen.

Sie gingen durch das gewölbte Tor im hohen Uhrenturm und schlenderten die Hauptstraße entlang zum ältesten Teil des Ortes. „Das Dorf wurde im Mittelalter befestigt“, erklärte Raoul. „Mehr ist von den Mauern nicht übrig.“

„So etwas habe ich noch nie gesehen“, erwiderte Laura, während ihr Blick auf einem eingesunkenen, jahrhundertealten gepflasterten Weg ruhte.

Raoul führte sie in ein kleines Lokal, in dem sie sich steak aux frites schmecken ließen und ihr Essen mit der Spezialität des Hauses, tarte à l’orange, abschlossen. Gut gestärkt erforschten sie dann die Kunstgewerbeläden. Laura hätte sie am liebsten leer gekauft. Am Ende begnügte sie sich mit einem handgeflochtenen ovalen Weidenkorb, gefüllt mit Blumen, die hier in der Gegend wuchsen.

„Ich bezahle“, erklärte sie energisch, als Raoul seine Brieftasche hervorholte, und reichte der Verkäuferin das Geld.

Skeptisch sah er sie an. „Bist du sicher, dass das alles ist? Du kannst keine Blumen mit nach Los Angeles zurücknehmen.“

Obwohl er höflich geklungen hatte, konnte Laura sich des Gefühls nicht erwehren, dass er brennend auf ihre Abreise wartete. Sie hatte eine Weile völlig vergessen, dass er ihr feindselig gesonnen war, und sich einfach an diesem Sommertag erfreut. Schlagartig war dieses Gefühl nun vorbei.

„Ich möchte sie für Chantelle kaufen.“ Sie sollten ein kleines Dankeschön für die Einladung in die Villa sein. „Sie vermisst es, sich im Garten zu betätigen. Vielleicht hat sie Spaß an den Blumen.“

Laura beugte über die Blüten und atmete den süßen Duft ein. Als sie wieder aufblickte, bemerkte sie in Raouls Augen einen Ausdruck, den sie nicht deuten konnte. Dann nahm er ihr den Korb ab, und sie kehrten zum Parkplatz zurück.

Nachdem er das Geschenk hinter dem Beifahrersitz auf den Boden gestellt hatte, wo es geschützt stand, schwang er sich hinters Steuer. Und weiter ging die Fahrt durch das Hinterland der Côte d’Azur, das so herrlich und pittoresk war, wie Laura es nie zeichnerisch würde einfangen können.

„Hier ist Marcel Pagnol zu Hause gewesen“, erklärte Raoul, als sie wieder durch ein reizendes Städtchen kamen, dessen Name sie nicht aussprechen konnte. „Falls du nicht weißt, wer …“

„Ich weiß es. Hollywood hat seine Romane weltberühmt gemacht. Zum Beispiel mit der Verfilmung von ‚Die Wasser der Hügel‘“, erwiderte sie und vermutete, dass sie ihn verärgert hatte, da er heftig in einen anderen Gang schaltete.

„Du hättest die Manon spielen können. Auch sie hat die Natur geliebt.“

„Du meinst das junge Mädchen, das allen Männern im Dorf den Kopf verdreht hat? Diese Bemerkung hättest du dir sparen können.“

„Du bist diejenige, die etwas Negatives in meine Äußerung hineinliest. Ich habe nur versucht, dir in meiner anscheinend begriffsstutzigen Art ein Kompliment zu machen.“

„Gewissermaßen als Entschädigung für deinen Übergriff in Gegenwart des Immobilienmaklers?“

„Ich wollte, dass Jean-Luc glaubt, ich hätte eine Affäre mit dir.“

„Na toll“, antwortete Laura bissig. „Nichts liebt eine Frau mehr, als für das Spielzeug eines Mannes gehalten zu werden. Aber mich erstaunt, dass ein Franzose wie du, der weiß, dass er attraktiv ist und sich jederzeit jemanden anlachen kann, etwas beweisen muss.“

Lächelnd beobachtete sie, wie er das Lenkrad fester umschloss, und konnte nicht widerstehen, weiterzureden. „Wahrscheinlich ist dein Immobilienmakler recht redselig. Hoffst du, dass deine Freundin von mir erfährt? Oder deine Frau? Oder vielleicht deine Ex oder zukünftige Ex? Was die Frage aufwirft, ob es dir darum geht, von dieser Person endlich in Ruhe gelassen zu werden oder sie eifersüchtig zu machen, sollte sie mit jemand anderem zusammen sein.“

Raoul fluchte auf Französisch. „Du hast eine ganz schön spitze Zunge.“

„Die verdanke ich vermögenden Männern wie dir, die Frauen sammeln wie manche Leute Muscheln.“ Die Familie ihres Mannes zählte zu den schlimmsten!

„Wie viele sind es gewesen?“

„Tausende. Doch in Anbetracht deiner regen Fantasie dürftest du dir noch weit mehr vorgestellt haben.“ Sie lachte gequält auf. „Ich glaube, ich sollte mich besser schnell in ein Kloster zurückziehen, bevor du noch mein nächstes Opfer wirst. Das möge der Himmel verhüten, oder?“

„Das möge der Himmel verhüten“, wiederholte er missmutig, und sie fühlte sich lächerlicherweise getroffen.

„Da wir das alles nun geklärt haben, Raoul, können wir beide vielleicht die restliche kurze Fahrt zur Villa genießen. Wenn du das nächste Mal beschließt, mich irgendwohin einzuladen, solltest du dich lieber beherrschen, sonst weiß ich nämlich, dass es die reine Lust ist, die dich treibt. Lass dir gesagt sein, nichts törnt eine Frau mehr ab.“

Er sah sie an. „Wieso hast du dann reagiert, als ich dich geküsst habe?“

„Anscheinend stimmte die physische Chemie“, antwortete sie, und ihr war schon klar, was er als Nächstes fragen würde. „Ja, das passiert mir immer. Das liegt in meiner Natur. Nun weißt du, was Sache ist. Fühl dich also gewarnt.“

Laura war sicher, dass er die letzten Kilometer schneller fuhr, als es die Straßenverkehrsordnung erlaubte. Kaum hatte er das Cabrio mit quietschenden Reifen vor der Villa angehalten, stieg sie aus und holte den Korb mit den Blumen hinter dem Sitz hervor. Als sie sich umdrehte, kam Guy winkend die Stufen herunter.

Ihn zu sehen tat unendlich gut. Sie lief auf ihn zu, und er umarmte sie lächelnd. „Wie war dein Tag?“

„Die Gegend ist wirklich der Garten der Götter. Diese Blumen sind für Chantelle.“

Gerührt nahm er ihr den Korb ab. „Bringen wir sie ihr. Sie wird sich freuen.“

Ohne sich noch einmal umzublicken, ging Laura mit ihm ins Haus. Und bevor die Tür leise ins Schloss fiel, hörte man Raoul in seinem Wagen davonbrausen. Entsetzt schaute Guy sie an. „Ist er die ganze Zeit so gerast?“

Nein, sie würde ihm nicht erzählen, was heute geschehen war. „Natürlich nicht. Ich glaube, er hat es eilig, in seine Villa zurückzukehren, weil er mit dem Makler telefonieren will.“ Diese Notlüge war gestattet. „Ich möchte mich kurz frisch machen. Danach geselle ich mich zu euch.“

„Was meint er zu dem Lagerhaus?“

„Ich weiß es nicht. Er hat mir nichts gesagt. Also dann bis nachher.“

Als Laura im Gästeapartment war, beschloss sie, ihre beste Freundin in Kalifornien anzurufen. Cindy, die seit einem Jahr geschieden war, lebte im selben Apartmenthaus wie sie, und zwar in der Wohnung ihr gegenüber. Wenn eine von ihnen verreist war, sah die andere nach dem Rechten und kümmerte sich um die Pflanzen und die Post.

Sie verstanden sich prima und halfen einander wo immer möglich. So auch in Sachen Ted. Sollte ihr Noch-Ehemann in ihrer Abwesenheit bei ihr zu Hause auftauchen, notierte die Freundin die genaue Uhrzeit, damit sie ihren Anwalt informieren konnte. Es war Ted nämlich gerichtlich verboten worden, sie zu kontaktieren oder aufzusuchen, was er jedoch nach Lust und Laune ignorierte.

Cindy und sie vertrauten sich alles an und träumten manchmal gemeinsam von dem idealen Mann, den sie irgendwann kennenlernen würden. Irgendwann werde ich ihr von Raoul erzählen, überlegte Laura. Nicht, dass er ihr Wunschpartner wäre. Er war arrogant und glaubte, er hätte das Recht gepachtet, unverschämte Fragen zu stellen und versteckte Andeutungen zu machen. Gleichzeitig war er in Bezug auf sich selbst verschlossen wie eine Auster. Und trotzdem elektrisiert er mich, dachte sie, während ihr bei dem Gedanken an ihn schon wieder heiß wurde.

Rastlos wie ein Raubtier im Käfig lief Raoul in seinem Haus umher. Allerdings waren die Gitterstäbe unsichtbar. Wenn er wollte, konnte er jederzeit nach nebenan zu Laura gehen.

Was du grundsätzlich gern tun würdest, gestand er sich widerwillig ein. Auf dem Ausflug heute hatte sie sich keine Blöße gegeben. Sie hatte sich so geschickt verhalten, dass er nicht mehr wusste, was Wahrheit oder Lüge war.

Als sie eben auf Guy zugeeilt war, hatte ihm kurzfristig der Atem gestockt. Und sein Bruder hatte sie so zärtlich umarmt, als würde sie ihm viel bedeuten oder er sie vielleicht sogar lieben. Ließ sich sein Verhalten darauf zurückführen, dass sie ihm das Leben gerettet hatte? Konnte die Antwort so einfach und zugleich so kompliziert sein?

In seiner Verzweiflung rief Raoul seinen Anwalt an, aber der hatte die Kanzlei bereits verlassen. Allerdings hätte er ihm bestimmt eine Nachricht auf den Anrufbeantworter gesprochen, wenn er etwas Wichtiges über Laura herausgefunden hätte. Ich werde mich also noch ein wenig gedulden müssen.

Eine Stunde später, nachdem er geduscht und sich rasiert hatte, beschloss er, nach nebenan zu gehen und mit seinem Bruder offen zu reden. Er konnte nicht noch einen ganzen Tag abwarten.

Laura hatte gesagt, dass sie nicht zum ersten Mal in Europa war. Falls Guy schon länger ein Verhältnis mit ihr hatte, musste er ihn davon überzeugen, es schnellstens zu beenden. Chantelle würde sich nie erholen, wenn sie das Gefühl hatte, sie hätte ihren Mann an eine andere verloren.

Zweifellos war es sehr mutig von ihr gewesen, Laura auf Guys Bitte hin in der Villa willkommen zu heißen. Doch wie lange konnte seine Schwägerin den Schein wahren? Insgeheim litt sie sicher schrecklich.

Und wie lange konnte Laura unter diesem Dach bleiben, wohl wissend, dass ihre Gegenwart Chantelle entsetzliche Qual bereitete? Raoul fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Die ganze Geschichte war ein einziges Rätsel. Und immer wenn er glaubte, einen Teilstück des Puzzles gefunden zu haben und zuordnen zu können, entdeckte er, dass es irgendwie nicht passte.

Als Laura ihm vorhin erzählt hatte, sie kaufe die Blumen für Chantelle, hätte er schwören können, dass sie es aus reiner Nettigkeit tat. Wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass er aus ihr kein bisschen schlau wurde.

Raoul verließ seine Villa und traf die Familie beim Abendessen auf der Terrasse an. Der Korb mit den Blumen stand mitten auf dem Tisch, aber von Laura fehlte jede Spur.

„Hallo, Onkel Raoul.“

„Hallo, Paul.“

Chantelle sah auf. „Möchtest du mit uns essen? Dann sage ich dem Koch Bescheid.“

„Vielen Dank, ich habe keinen Hunger.“

Guy bedeutete ihm, sich hinzusetzen. „Hatte Jean-Luc recht mit dem Lagerhaus? Denkst du, wir sollten es kaufen?“

Raoul staunte nicht schlecht über die Gelassenheit seines Bruders. „Ich möchte es mir ein paar Tage überlegen.“

Guy nickte. „Danke, dass du Laura heute mitgenommen hast. Als ich ihr erzählte, wie ungern du den Fremdenführer spielst, erklärte sie, sie sei dir doppelt dankbar für die Art und Weise, wie du dich engagiert habest.“

Wenn sich das nicht nach einem wortgetreuen Zitat anhörte. Allem Anschein nach hat Laura meinem Bruder anvertraut, dass ich ihm ins Gehege gekommen bin, dachte Raoul. Am besten wartete er nun erst einmal ab, wie Guy reagierte, wenn sie beide allein waren.

Sollte er ihn mit seiner Aktion zur Vernunft gebracht haben, war es den Einsatz wert gewesen. Selbst wenn ihn ab jetzt die Erinnerung an ihren weichen, sinnlichen Mund verfolgen würde.

Chantelle trank ihren Tee aus. „Laura meinte, dass sie euren Ausflug nach Tourettes nie vergessen würde. Sie liebt die Natur, wie man an den herrlichen Blumen sieht, die sie mir geschenkt hat.“

Raoul musste an ihre Unterhaltung über Manon denken und ballte die Hand in seiner Hosentasche zur Faust. Hatte Laura etwa Chantelles Anerkennung gewonnen? Oder spielte seine Schwägerin ihnen allen etwas vor?

Er blickte in die Runde. Während Paul sein Abendessen genoss, saß Guy daneben und ließ sich nicht das Geringste anmerken. Vermutlich wusste Chantelle schon lange von seiner Affäre. Und dass Laura dem vermeintlichen Familienidyll fernblieb, war nicht verwunderlich.

„Ich hüpfe mal kurz in den Pool“, sagte Raoul und stand auf.

Vielleicht folgte sein Bruder ihm und forderte eine Erklärung. Wenn nicht jetzt, dann zu einem späteren Zeitpunkt. Und irgendwann musste auch Laura auf der Bildfläche erscheinen. Er brauchte nur abzuwarten, wie sich alles entwickelte.

Nachdem er sich bis auf die Badehose entkleidet hatte, sprang er ins Becken. Ein paar Bahnen zu schwimmen würde ihm guttun und ihm helfen, zumindest einen Teil seines aufgestauten Ärgers abzubauen.

„Hallo, Paul!“, rief er, als sein Neffe nach etwa zehn Minuten auf den Pool zuschlenderte.

„Hi.“ Paul setzte sich in Shorts und T-Shirt auf den Rand.

„Hattest du einen schönen Tag mit deinen Freunden?“

„Ja, hatte ich. Sag, wie lange ist sie weg?“

Raoul war nicht sicher, ob er seinen Neffen richtig verstanden hatte, und schwamm zu ihm. „Wer soll weg sein? Deine Mutter hat eben noch am Tisch gesessen.“

„Ich habe von Laura gesprochen.“

„Ich habe nicht mitbekommen, dass sie überhaupt fortgegangen ist.“ Er hoffte, dass sie im Gästeapartment war und Kopfschmerzen wegen ihres schlechten Gewissens hatte.

„Sie wollte mir beibringen, wie man einem Ertrinkenden das Leben rettet, aber ich schätze, sie hat es vergessen. Das Hausmädchen hat mir erzählt, dass sie Pierre gebeten hat, sie irgendwohin zu fahren, damit Papa bei Maman bleiben kann.“

Wie bitte? Raoul konnte es nicht fassen. Wollte Laura etwa zu einem anderen Mann, den sie von früher her kannte? Doch er würde herausfinden, wo sie war. Er schwang sich aus dem Becken, nahm seine Kleidung und wandte sich in Richtung seiner Villa.

Sobald Raoul in seinem Haus war, holte er das Handy aus der Tasche seiner Hose und rief den Chauffeur an. Pierre meldete sich nach dem dritten Klingeln. „Ja, Monsieur Raoul?“

„Wo sind Sie?“

„In Villefranche.“

„Und wo ist Mrs. Aldridge?“

„Sie macht einen Spaziergang im Park der Villa Leopolda.“

„Wann, schätzen Sie, wird sie wieder zurück sein?“

„Da sie gerade erst aufgebrochen ist, vermutlich nicht vor einer halben Stunde. Werde ich dringend gebraucht?“

„Nein, das kann warten. Vielen Dank, Pierre.“ Raoul trennte die Verbindung.

4. KAPITEL

Als Laura den Park verließ, stellte sie fest, dass der Chauffeur mit seiner schwarzen Limousine nicht mehr da war. Auf dem Platz stand stattdessen jetzt ein ihr unbekannter silberfarbener Luxuswagen. Aber der Mann, der in cremefarbener Leinenhose und blassgelbem Shirt lässig am vorderen Kotflügel lehnte, war ihr alles andere als fremd. Raoul!

Offenbar kann man ihm nicht entfliehen, dachte sie ärgerlich und ermahnte sich sogleich zur Ruhe. Sie hatte sich doch vorhin vorgenommen, ihm freundlicher zu begegnen.

Die Laroches durchlebten wegen Chantelle gerade eine schlimme Zeit. Vermutlich empfand Raoul jede weitere Person, die in den Kreis der Familie drang, als Störenfried, der die Situation nur noch schwieriger machte. Was sie gut nachvollziehen konnte. Wenn man ohnehin sehr angespannt war, erforderte es eine zusätzliche Anstrengung, sich einem Dritten gegenüber normal zu verhalten.

„Solltest du eine Immobilie suchen, kannst du dieses Anwesen für einhundert Millionen Dollar erwerben.“

Laura blieb etwa einen Meter von ihm entfernt stehen. „Leider verdiene ich nicht so viel Geld.“

„Eine Frau wie du hat es auch nicht nötig.“

Wenn das keine Beleidigung war! Und sie hatte sich ihm gegenüber netter geben wollen. „Soll das heißen, ich brauche nichts weiter zu tun, als dich zu bitten, es für mich zu kaufen, und schon gehört es mir?“

Raoul richtete sich zu seiner vollen Größe auf, und Laura wurde erneut bewusst, wie ungemein attraktiv er war. „Vielleicht … Für den entsprechenden Preis.“

Sie nickte. „Das ist nur recht und billig. Ich bezweifle, dass selbst König Leopolds erste Mätresse von seiner Absicht wusste, sie hier lediglich für eine Saison unterzubringen. Sie war dumm … wie alle ihre Nachfolgerinnen. An welchen Preis hast du denn so gedacht?“

Ja, es machte ihr Spaß, ihn herauszufordern. Mit Genugtuung beobachtete sie, wie sich seine Gesichtszüge verhärteten. Ihm zu zeigen, dass die Dinge nicht immer nach seiner Vorstellung liefen, erfüllte sie mit Zufriedenheit.

„Er könnte zu hoch sein.“

„Für eine Frau wie mich“, äffte sie ihn nach.

„Hör auf mit dem Spiel, Laura.“

„Was habe ich jetzt Falsches getan?“, fragte sie und bemerkte einen gewissen niedergeschlagenen Ausdruck in seinen Augen. Das ist ja fast menschlich, dachte sie, und die Erkenntnis, dass er möglicherweise doch Gefühle besaß, stimmte sie milder.

„Laut Pierre bist du zwei Stunden hier gewesen. Das ist eine lange Zeit, wenn man die Villa noch nicht einmal von innen besichtigen kann.“

„Daran war ich überhaupt nicht interessiert.“

„Irgendwie überrascht es mich nicht.“

„Ja, das wird es wohl nicht, nachdem du dir schon deine Meinung darüber gebildet hast, was für eine Frau ich bin.“

Hörbar atmete Raoul ein. „Aus welchem Grund bist du wirklich hier?“

Laura lachte auf. „Warum ich wirklich hier bin? Warum bist du es denn?“

„Weil Paul hoffte, du wärst rechtzeitig zurück, um ihm beizubringen, wie man Leben rettet.“

„Paul hat sich für die Idee begeistert, aber wir haben keine bestimmte Uhrzeit ausgemacht, sondern beschlossen, einfach zu sehen, wann sich die Gelegenheit ergibt.“

„Bist du eine geprüfte Ausbilderin?“

„Ja. Und da du ein so besorgter Onkel bist, sollst du wissen, dass ich schon Hunderte von Leuten unterrichtet habe.“

„Auch gestandene Männer?“

Herausfordernd blickte sie ihn an. „Hast du etwa Bedarf?“

„Und falls ich es hätte?“

„Ich weiß nicht. Kannst du dir mich leisten? Doch vielleicht sollte ich besser fragen, ob dein Ruf es verkraftet, wenn du dich in der Gesellschaft einer verheirateten Frau wie mir befindest?“

Wie verheiratet bist du?“

Dieses Thema scheint ihn aufzuregen, dachte sie, als sie die pochende Ader an seiner Schläfe bemerkte. „Entweder ist man verheiratet, oder man ist es nicht. Wie sieht es übrigens bei dir diesbezüglich aus?“

„Wechsle nicht das Thema.“

„Das habe ich nicht. Es ist noch immer das Gleiche. Warum willst du nicht über dich reden? Wovor hast du Angst?“ Sie lächelte ihn an. „Hat deine Frau einen Privatdetektiv engagiert, der dich auf Schritt und Tritt überwacht, um sie mit Fotos von deiner neuesten Begleiterin zu versorgen? Wie ich gehört habe, ist Erpressung hier in Frankreich noch ein sehr profitables Geschäft. Und in Anbetracht eures Vermögens … Sag mal ehrlich, Raoul, wer von euch beiden besitzt mehr? Guy oder du?“

„Weiß mein Bruder, was du hier allein gemacht hast?“

Laura konnte seinem Gedankengang nicht folgen und kam sich vor wie im Zeugenstand. „Natürlich. Er selbst hat mir vorgeschlagen, mich von Pierre herfahren zu lassen.“

Raoul funkelte sie an. „Guy würde alles für dich tun, oder?“

„Ich habe ihm das Leben gerettet.“

„Kannst du es beweisen?“

„Nein, aber seine Freunde, zum Beispiel Maurice oder Luigi, würden es dir wohl bestätigen.“

Nervös trat Raoul von einem Fuß auf den anderen, bevor er sie dann starr anblickte. „Ich gebe zu, dass ich etwas grob mit dir umgesprungen bin. Und jetzt frage ich dich zum letzten Mal. Warum bist du hergekommen?“

„Wenn ich es dir nun erzähle, wirst du mir glauben?“

„Ich möchte es zuerst hören“, erwiderte er so leise, als würde es ihm viel abverlangen, selbst diesen kleinen Spielraum zu gewähren.

„Ich wollte Skizzen von dem Anwesen machen, während sich nicht so viele Leute hier tummeln.“ Aber hauptsächlich war sie vor ihm geflohen. „Tagsüber bleiben die Besucher oft stehen, um mit mir zu reden, was mich in meiner Konzentration stört. Stellt dich die Antwort zufrieden?“

„Nein!“, stieß er kaum verständlich hervor.

Laura wurde zornig. „Weil du gehofft hast, du würdest mich mit einem Mann erwischen, um deinem Bruder dann zu sagen, er solle die durchtriebene Opportunistin vor die Tür setzen. Doch bevor du es tust, überleg dir besser, wie du es erklärst, dass ich dafür Zeit hatte.“ Sie holte den Skizzenblock aus der Umhängetasche und drängte ihn ihm auf. „Los, schau nach, du Feigling.“

Raoul schlug ihn auf und blätterte ihn langsam durch. Er enthielt rund zwanzig Zeichnungen von der Villa Leopolda und dem Park. Laura hatte zweifellos die Wahrheit erzählt, und sie schien großes Talent zu besitzen.

Schließlich klappte er den Block wieder zu und gab ihn ihr zurück. „Du bist sehr begabt.“

„Aber du magst mich nicht. Damit kann ich leben, solange du dich in den nächsten zwei Wochen von mir fernhältst. Bis jetzt hattest du damit Probleme.“ Mit diebischem Vergnügen beobachtete sie, wie er die Lippen zusammenpresste. „Vielen Männern fällt es aus welchem Grund auch immer schwer, mich in Ruhe zu lassen, wie du an dir selbst siehst. Das ist anstrengend und ermüdend. Und ich bin müde. Würdest du mich bitte zurückfahren?“

Nachdem er sie einen langen Moment prüfend betrachtet hatte, öffnete er ihr die Beifahrertür. Laura stieg ein und war froh, dass sie zu dem gestreiften Top eine lange Hose angezogen hatte. Wann immer Raoul den Blick über sie schweifen ließ, fühlte sie sich entsetzlich schutzlos und verletzlich.

Kaum hatte sie den Skizzenblock in die Tasche zurückgeschoben und diese auf den Boden gestellt, setzte sich Raoul hinters Steuer. Als sie sich gerade anschnallte, kam er ihr zuvor und umarmte sie unvermittelt.

Warm spürte sie seine frisch rasierte Wange an ihrer und atmete den frischen Duft seines Aftershaves ein. Sie ahnte, dass er sie küssen wollte, und barg das Gesicht im weichen Stoff seines Shirts.

Zärtlich biss er ihr ins Ohrläppchen. „Du weißt, dass wir dies wollen, seit wir uns gesehen haben. Warum so verschämt, Laura?“

Ja, er hatte recht, sich jedoch falsch ausgedrückt. In dem Adjektiv schwang nämlich für sie auch die Bedeutung mit, dass man ein Spiel spielte. Dass man kokettierend vorgab, schüchtern zu sein. Mit seiner Wortwahl hatte er sie, sicher unabsichtlich, blitzschnell wieder in die Wirklichkeit zurückgeholt.

Sie hob den Kopf und schaute ihn an. „Das stimmt“, meinte sie spöttisch. „Bei einer Frau wie mir erwartest du Frivolität und Freizügigkeit. Ich fürchte, damit kann ich heute nicht mehr dienen.“

Kritisch blickte er sie an. „Warum finden wir es nicht heraus?“

Schon presste er seinen Mund auf ihren und küsste sie besitzergreifend. Laura spürte, wie ihr Verlangen erwachte und mit jeder Sekunde größer wurde. Sie war auf dem besten Weg, die Kontrolle über sich zu verlieren. Wie kann dies so schnell passieren?, dachte sie voller Angst und versuchte, auf Abstand zu gehen.

„Das war ein interessantes Experiment“, sagte Raoul leise an ihren Lippen, bevor er sie aus seiner Umarmung entließ. „Da frage ich mich doch, ob du bei anderen Männern genauso stürmisch bist … Zum Beispiel bei meinem Bruder.“

Laura fuhr im Sitz hoch und war so geschockt, dass ihr einen Moment die Worte fehlten. „Ich habe gewusst, dass du mir misstraust, Raoul. Aber willst du mir erzählen, dass du mich umarmt und geküsst hast, während du gleichzeitig glaubtest, Guy und ich hätten etwas miteinander?“

Er zuckte nicht mit der Wimper. „Du ahnst nicht, wie sehr ich mir gewünscht habe, dass es nicht so ist.“

„Doch, und du glaubst es immer noch?“

„Laura …“

„Das tust du!“

Raoul schüttelte den Kopf. „Mir ist klar, dass Guy Trost bei dir sucht. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.“

„Trost zu suchen oder eine sexuelle Beziehung mit jemandem zu haben ist ein himmelweiter Unterschied.“

„Oder auch zwei Seiten ein und derselben Medaille.“

„Das stimmt, wenn man sich liebt. Aber Guy liebt Chantelle.“

„Sie will ihn nicht mehr.“

„Also nimmst du an, dass er sich mir zugewandt hat?“ Laura fühlte sich zutiefst verletzt. „Ich möchte zurück in die Villa. Ist das zu viel verlangt, oder soll ich einfach aussteigen und zu Fuß hingehen?“

Wortlos ließ er den Motor an und lenkte den Wagen vom Parkplatz auf die Straße. Auf der ganzen Rückfahrt herrschte Schweigen, was Laura nur recht war. Sie hatte es gründlich satt, ihm Rede und Antwort zu stehen.

Sobald sie die Villa erreicht hatten und er das Auto anhielt, wollte sie die Tür öffnen. Doch offenbar hatte er die Zentralverriegelung aktiviert.

Ärgerlich sah sie sich um und bemerkte, dass er entspannt im Sitz lehnte. Nein, sie würde sich nicht täuschen lassen. Er konnte bei der geringsten Provokation wieder gemein werden.

„Da wir beide nun die Gelegenheit hatten, uns zu beruhigen, erzählst du mir vielleicht den wahren Grund, warum du Guys Einladung angenommen hast.“

„Ich bin zu müde für ein weiteres Verhör.“

„So ein Pech, denn ich will eine Antwort. Selbst du musst einräumen, dass das Ganze höchst ungewöhnlich ist. Während du angeblich arbeitest, triffst du in Siena auf meinen Bruder. Am nächsten Tag kommst du in sein Haus und avancierst bis zum Abend zur Interimsgesellschafterin seiner Frau.“

„Du wolltest bestimmt ‚höchst verdächtig‘ sagen“, erwiderte sie und setzte sich so hin, dass sie ihn anblicken konnte. „Was es vermutlich ist … wenn man etwas paranoid ist und in verrückten Bahnen denkt. Es ist offensichtlich, dass dich jemand sehr verletzt und für dein Leben gezeichnet hat. Deshalb werde ich auch keine Fragen mehr beantworten. Es wäre sinnlos. Und nun lass mich aussteigen.“

„Ich bin noch nicht fertig mit dir“, meinte Raoul ungerührt.

Lauras Geduld war erschöpft. „Auf deine Verantwortung“, stieß sie hervor und wollte hupen, um den Wachmann zu alarmieren. Aber Raoul war schneller und hielt sie fest.

„Bringen wir doch das zu Ende, was wir vor ein paar Minuten unterbrochen haben. So spät am Abend gibt es keine Zuschauer. Du brauchst dir also keine Gedanken zu machen, dass ich etwas anderes beabsichtige, als mich mit dir zu amüsieren.“

Schon presste er seinen Mund auf ihren und erstickte jeden Protest. Begierig drängte er ihre Lippen auseinander, und Laura konnte nicht anders, als den Kuss zu erwidern. Sein Mund sowie seine Hände, die ihre Arme streichelten, und seine ungeheure Sinnlichkeit entfachten in ihr ein so gewaltiges Feuer, wie sie es noch nie erlebt hatte.

Wie konnte dies möglich sein? Sie kannte ihn erst seit zwei Tagen. Du musst dem ein Ende bereiten, dachte sie und wollte sich aus seinem Griff befreien. Aber Raoul zog sie nur noch näher zu sich – und dieses Mal tönte die Hupe laut durch den stillen Abend.

Momente später erschien Guy, gefolgt von Paul, auf der Haustürschwelle, und das Licht aus der Halle fiel nach draußen und ins Wageninnere. Aufstöhnend rutschte Laura auf den Beifahrersitz zurück, aber Raoul hielt sie weiter am Handgelenk fest.

Guy war inzwischen die Stufen heruntergekommen, um ihr die Tür aufzumachen, was ihm natürlich nicht gelang. Und Laura schaffte es genauso wenig, Raoul ihre linke Hand zu entreißen.

Seelenruhig drückte er auf einen Knopf am Armaturenbrett, und schon öffnete sich surrend das Seitenfenster. Danach beugte er sich hinüber zu seinem Bruder, wobei seine Schulter ihre Brust berührte.

„Entschuldige den Lärm, Guy. Es war keine Absicht. Hoffentlich ist Chantelle dadurch nicht gestört worden.“

„Es ist noch keiner im Bett“, erwiderte Guy mit leichter Verzögerung. „Was ist mit Pierre?“

„Ich habe ihn bei der Villa Leopolda getroffen und ihm gesagt, dass ich Laura zurückfahren würde.“

Nachdenklich betrachtete Guy seinen Bruder, bevor er dann Laura anblickte. „Hast du einige Zeichnungen machen können?“

„Ja. Das Licht war perfekt.“

„Maman möchte sie gern sehen. Die Villa Leopolda ist einer ihrer Lieblingsorte. Darf ich sie ihr bringen?“

„Natürlich, Paul.“ Laura holte den Skizzenblock aus der Tasche und reichte ihn ihm. „Sie kann sie ruhig bis morgen behalten.“

„Ich würde sie mir gern vorher anschauen, wenn du nichts dagegen hast, Paul“, meinte Guy, und sein Sohn gab den Block an ihn weiter. Und während er ihn durchblätterte, schüttelte er ein ums andere Mal den Kopf. Schließlich blickte er Laura wieder an. „Du bist nicht nur ein Engel, sondern dazu noch ein Genie.“

Nach Raouls Kreuzverhör war Guys Freundlichkeit Balsam für ihre Seele und trieb ihr Tränen in die Augen. „Nein, das bin ich bestimmt nicht. Aber trotzdem vielen Dank.“

Es herrschte einen Moment lang peinliches Schweigen, und Laura war versucht, Raoul auffliegen zu lassen. Doch wegen Paul entschied sie sich dagegen. Letztlich war das Ganze eine Angelegenheit, die nur sie beide anging.

Da Raoul sie immer noch festhielt, blieb ihr nichts anderes übrig, als Guy denken zu lassen, was er ohnehin dachte: nämlich dass Raoul und sie sich geküsst und dabei versehentlich auf die Hupe gedrückt hatten.

„Wie ich gehört habe, Paul, wolltest du vorhin den ersten Unterricht in Lebensrettung haben. Es tut mir leid, dass ich nicht da war. Nenn mir einen Termin, und dann fangen wir an.“

„Okay. Dürfen meine Freunde es auch lernen?“

„Natürlich.“

„Vielen Dank.“

Guy lächelte sie an. „Mach dir keine Gedanken wegen der Tür, wenn du ins Haus kommst. Ich gehe noch nicht schlafen und werde später abschließen.“

Laura spürte, wie Raoul ihr Handgelenk noch etwas fester umschloss, als wollte er sie erinnern, dass sie ihm nicht entfliehen konnte. „In Ordnung. Ich sehe euch dann morgen früh.“

Sobald Vater und Sohn in der Villa verschwunden waren, meinte er: „Die Tatsache, dass du Guy nichts erzählt hast, verrät, dass du bereit bist, fast alles in Kauf zu nehmen, um die zwei Wochen hierzubleiben. Sei gewarnt, ich werde jeden deiner Schritte überwachen.“

Laura lächelte. „Ich sagte ja bereits, dass Männer die Angewohnheit haben, um mich herumzustreichen, ob es mir gefällt oder nicht.“

Raoul funkelte sie an. „Du bist auf diese chemische Reaktion aus.“

„Und du, Mistkerl?“

„Ich würde lügen, wenn ich es leugnete.“ Er hauchte einen Kuss auf die Innenfläche ihrer Hand und ließ sie dann endlich los.

Selbst diese kurze Berührung hatte sie elektrisiert. Erleichtert hörte sie, dass er die Zentralverriegelung deaktivierte. Nun konnte sie endlich vor ihm flüchten.

Raoul wartete, bis sie im Haus verschwunden war, bevor er davonfuhr. Ja, Guy verstand es glänzend, seine wahren Gefühle zu verbergen. Dennoch war eines klar: Laura verfolgte irgendein bestimmtes Ziel, denn sie hatte seinem Bruder kein Sterbenswörtchen von seinem Verhalten erzählt.

Dabei hatte er sich einiges zuschulden kommen lassen. Je reizvoller er sie gefunden hatte, umso aggressiver war er ihr gegenüber geworden. Er war sicher nicht stolz auf sein Benehmen. Noch nie zuvor hatte er eine Frau so behandelt, selbst nicht Danielle zu ihren schlimmsten Zeiten. Laura Aldridge hatte irgendwie Besitz von ihm ergriffen.

Sollte sie seinem Bruder tatsächlich in Siena das erste Mal begegnet sein, konnte er gut nachvollziehen, warum Guy ihrer Faszination erlegen war. Aber es blieb ihm ein Rätsel, warum er sie in die Villa gebracht hatte. Es sei denn, er möchte Chantelle eifersüchtig machen, damit sie um ihn kämpft, überlegte er.

War das Guys Plan, und Laura half ihm wissentlich oder unwissentlich dabei? Eigentlich konnte er es sich nicht vorstellen. Nein, diese Theorie ist letztlich nicht haltbar, überlegte er, während er sein Haus betrat.

Er ging direkt ins Badezimmer, wo er die Medikamente aufbewahrte. Er hatte starke Kopfschmerzen, die nur noch heftiger wurden, wenn er daran dachte, was sich in der Villa seines Bruders abspielte.

Natürlich war ihm nicht entgangen, wie Guy und Laura sich angesehen hatten, nachdem er ihre Zeichnungen – zu Recht – gelobt hatte. Ihr tränennasser Blick hatte seinen Bruder in die Knie gezwungen. Sie hat ihn so eingewickelt, dass ich nicht überrascht wäre, würde er sich am Ende von Chantelle scheiden lassen, ging es ihm durch den Kopf.

Große Güte, wohin verirrten sich seine Gedanken! Er musste und wollte daran glauben, dass die Schwierigkeiten der beiden nur vorübergehend waren. Nie hätte er für möglich gehalten, dass irgendetwas diese Bilderbuchehe erschüttern könnte.

Doch er hatte sich auch nicht vorstellen können, dass es überhaupt eine solche Frau wie Laura gab. Sie war so bezaubernd, dass Jean-Luc sich vorhin kaum mehr eingekriegt hatte.

„Sie ist die Frau meiner kühnsten Fantasien. Was bist du für ein Glückspilz, Raoul.“

Den Männern in Tourettes war es wie Jean-Luc ergangen. Sie hatten Laura mit Blicken verschlungen. Ja, Männer träumten, und ganz gelegentlich passierte es, dass sie eine Frau sahen, die ihre Träume noch übertraf.

Doch eine Frau wie Laura – vielleicht mehrmals geschieden und aus finanziellen Gründen weiterhin mit ihrem derzeitigen Mann zusammen – wusste nichts von Treue. Aber Geld würde sie bei der Stange halten. Und das Vermögen seines Bruders wohl bis in alle Ewigkeit!

Chantelle ließ keine Nähe mehr zu. Deshalb war Guy sicher an einem Punkt angelangt, an dem er einen Fehler machen konnte, der die Familie zerstörte. Möglicherweise waren Laura und er noch kein Paar. Ich werde jedenfalls nicht danebenstehen und abwarten, bis sie es werden, schwor sich Raoul.

Und dir ist auch klar, warum nicht. Weil du sie nämlich selbst willst. Er verzog das Gesicht wegen seiner eigenen Schwäche und zuckte zusammen, als das Handy in der Hosentasche klingelte. Als er auf dem Display sah, wer der Anrufer war, meldete er sich.

„Hallo, Louis. Was hast du herausgefunden?“

„Bis auf eine wichtige Information noch nicht sehr viel. Der Pass von Mrs. Aldridge lautet auf den Namen Laurel Aldridge Stillman.“

Stillman? Sie hatte hinsichtlich ihres Namens also gelogen.

„Sie ist neunundzwanzig Jahre alt und lebt in Santa Barbara, Kalifornien, 302 Fair Oaks Drive. Ich kontaktiere dich wieder, sobald ich mehr weiß.“

„Merci, Louis. Bis dann.“

Laura hatte nicht ihren richtigen Namen genannt, was nur bedeuten konnte, dass ihre Ehe in Schwierigkeiten steckte. Seine eigene Ehe war aufgrund von Lügen gescheitert. Spielten Lügen in Lauras Fall auch die entscheidende Rolle?

Mal schauen, ob ich im Internet etwas über sie erfahre, dachte Raoul und ging in sein Arbeitszimmer. Kaum hatte er den vollen Namen in den Computer eingegeben, lieferte ihm die Suchmaschine zahllose Treffer. Er überflog die Liste. Ein Eintrag stach besonders hervor: theodorestillman.com.

Er klickte den Link an, und Momente später erschien ein Foto auf dem Bildschirm. Es zeigte Laura und einen blonden Mann auf einem Floß. Und der Kommentar darunter lautete:

Mr. Theodore M. Stillman, der Sohn des früheren Kongressabgeordneten William Stillman und Enkel des verstorbenen Gouverneurs von Kalifornien Richard Stillman, ist hier mit seiner hübschen Frau Laurel Aldridge Stillman zu sehen, während sie sich bei einer Floßfahrt auf dem Colorado River eine kleine Atempause von ihrem dicht gedrängten Arbeitsprogramm gönnen. Ted, wie er von seinen Brüdern aus der Kanzlei Stillman, Stillman and Stillman genannt wird, beabsichtigt, sich im nächsten Jahr für den Sitz im Kongress zu kandidieren, den sein Vater einst innehatte. Für Wahlkampfspenden klicken Sie bitte hier.

Raouls Blutdruck stieg an. Vergebens suchte er nach einer Datumsangabe und rief dann andere Websites auf. Sie zeigten zumeist ein Bild von Laura bei einem Mittagessen oder Galadiner, und immer wirkte sie sehr verschlossen neben ihrem stets lächelnden Ehemann.

Am Ende seiner Recherche kam er zu einer Seite, die das Manhattan Beach Police Department ins Netz gestellt hatte. Darauf war ein Foto von Laura zu sehen, die in einem schlichten Sommerkleid strahlend neben dem Polizeichef stand. Der Kommentar darunter lautete:

Chief Jose Garcia zeichnet die Rettungsschwimmerin Laura Aldridge für ihre unermüdlichen treuen Dienste aus. In den letzten zehn Jahren hat niemand in Manhattan Beach mehr Leben gerettet als sie. Vierundsechzig Menschen können sich glücklich schätzen, dass diese junge Frau zur Stelle war an jenem Tag, an dem sie in Not gerieten.

Und er hatte sie vorhin noch gefragt: „Kannst du es beweisen?“

5. KAPITEL

„Hi, Cindy. Was ist los?“, fragte Laura zwei Tage später beunruhigt. Sie hatte gerade Unkraut gejätet, als das Handy in der Tasche ihrer Shorts klingelte. Irgendetwas musste passiert sein, wenn die Freundin sie um diese Uhrzeit anrief. Hier in Cap Ferrat war es jetzt kurz vor neun am Morgen, in Kalifornien allerdings fast Mitternacht.

„Sehr viel. Rate mal, wer eben den Hausmeister dazu gebracht hat, ihm deine Wohnungstür aufzuschließen?“

Ted! „Ich könnte dir vor Freude um den Hals fallen, Cindy.“

„Du bist also nicht bestürzt?“

„Nein, vor einigen Monaten wäre ich es noch gewesen. Doch inzwischen … Diese Aktion kann eigentlich nur eines bedeuten: Teds Lakaien müssen meine Spur verloren haben, als ich im Hubschrauber hergeflogen wurde. Bestimmt hat der Gute geglaubt, mein Boss würde ihn belügen, als er ihm sagte, ich sei noch in Europa. Also hat er beschlossen, sich Zugang zu meinem Apartment zu verschaffen, um mich versuchsweise dort abzupassen.“

„Warum gibt er nicht einfach auf?“

„Das verbietet ihm der Stolz. Er wäre der erste geschiedene Stillman“, erklärte Laura. „Mein Anwalt wird begeistert sein, wenn er hört, was geschehen ist. Mit diesem Verstoß gegen die einstweilige Verfügung dürfte Ted sein Schicksal besiegelt haben.“

„Das freut mich.“

„Und mich erst.“

„Wie läuft es mit Chantelle? Machst du Fortschritte?“

„Ich habe sie dazu bewegen können, mir im Garten Gesellschaft zu leisten, während ich Unkraut jäte. Zurzeit dürfte sie allerdings noch am Frühstückstisch sitzen. Wir unterhalten uns über die Geschichte der Provence. Sie kennt sich fantastisch gut aus. Ich habe schon sehr viel von ihr gelernt. Aber leider stelle ich noch keine Veränderung in ihrem Verhalten gegenüber Guy fest. Es tut mir in der Seele weh, denn er ist immer so lieb zu ihr. Nachher werde ich ihr vorschlagen, dass wir gemeinsam irgendwohin zum Mittagessen fahren, doch habe ich keine große Hoffnung, dass sie zustimmt.“

„Weißt du, du klingst trotz allem glücklicher, als ich dich je erlebt habe.“

Laura setzte sich auf den Rasen. „Seltsamerweise bin ich es auch. Hier ist es wie im Paradies. Ich sitze gerade im Gras, bin von prächtig blühenden Rosen umgeben und blicke hinunter aufs blaue Mittelmeer. Die Sonne lacht am Himmel, und die Luft ist erfüllt vom Blumenduft.“

„Das hört sich echt himmlisch an, nach einem Garten Eden ohne Schlange“, erwiderte Cindy.

„Das habe ich nicht gesagt. Guy hat einen Bruder.“

„Ist er älter oder jünger?“

„Jünger.“

„Attraktiv?“

Laura schloss für einen Moment die Augen. „Stell dir Adonis zehn Jahre älter vor. Und selbst dann wirst du ihm nicht gerecht.“

„Große Güte …“

„Stimmt genau.“

„Laura …“

„Ja, er zieht mich magisch an.“

„Wie wunderbar.“

„Ja und nein. Ich weiß nicht, ob er verheiratet, liiert oder solo ist. Und er hält mich für eine Art Mata Hari. Wenn wir Zeit zusammen verbringen, ist es, als würden wir uns mit Worten duellieren.“

„Wieso das?“, fragte Cindy.

„Das ist eine lange Geschichte.“

„Nur zu, ich habe die ganze Nacht Zeit.“

Laura streckte sich im Gras aus und schloss wieder die Augen. Sie erzählte ihrer Freundin von dem Ausflug nach Tourettes und der Begegnung vor der Villa Leopolda. Seither hatte sie Raoul nicht mehr gesehen, und sie vermisste die Wortgefechte mehr, als sie sich eingestehen mochte. Auch unterbreitete sie Cindy all ihre Theorien darüber, warum er sich so herzlos zeigte.

„Vielleicht ist er wie du unglücklich verheiratet, und es frustriert ihn, dass er sich zu dir hingezogen fühlt, aber nicht frei ist“, erwiderte die Freundin schließlich. „Wieso erkundigst du dich nicht bei Chantelle nach seinem Familienstand, den er dir offenbar nicht sagen will?“

„Ja, das könnte ich. Nur möchte ich nicht, dass sie denkt, ich wäre aus irgendeinem anderen Grund hier, als für eine Weile ihre Freundin zu sein. Sie muss erst erneut lernen, mir zu vertrauen. Wenn sie meint, ich würde ein anderes Ziel verfolgen, verliere ich eventuell den Boden, den ich inzwischen bei ihr gewonnen habe.“

„Das ist ein Argument. Warum fragst du dann nicht Guy?“

„Letztlich aus dem gleichen Grund“, antwortete Laura. „Die Laroches sind sehr verschwiegen. Er hat mir lediglich das erzählt, was ich unbedingt wissen muss.“

„Wie wäre es, wenn du es über Paul herauszufinden versuchst?“

„Nein. Er versteht sich prima mit seinem Onkel. Die beiden haben ein sehr enges Verhältnis. Ich bin sicher, dass sich Raoul durch Paul über mich auf dem Laufenden hält. Ich will ihm nichts liefern, das er gegen mich verwenden kann. Vor zwei Tagen hat der Junge ihm berichtet, ich sei in der Limousine weggefahren. Das Ende vom Lied war, dass Raoul mich aufgespürt und abgeholt hat.“

„Klingt irgendwie aufregend.“

„Was es gewesen wäre, würde ich nicht glauben, dass er etwas im Schilde führt. Und das tut er. Deshalb will ich Paul auch nichts fragen, das ihn nicht persönlich betrifft. Es könnte sonst ganz schön heiter werden. Ich versuche, nicht in Schwierigkeiten zu geraten und mich um meine eigenen Angelegenheiten zu kümmern.“

„Was du mir erzählst, ist viel spannender als der Vampirroman, den ich gerade lese.“

Laura lachte herzhaft. „Raoul wäre ein toller Vampir.“

„Laut deiner Beschreibung wäre er ein toller …“

„Sag es nicht, Cindy. Ich kann mir solche Gedanken nicht leisten.“

„Aber ganz fremd sind sie dir nicht, wie mir deine Stimme verrät.“

„Es liegt an der traumhaften Umgebung.“

„Und was beabsichtigst du in puncto Raoul zu machen?“

Laura legte den Arm über die Augen. „Nichts.“

„Soll heißen, dass du den Dingen einfach ihren Lauf lässt?“

„Genau. Und jetzt habe ich dich lange genug wach gehalten. Du brauchst deinen Schönheitsschlaf. Wir sehen uns in rund zehn Tagen. Vorher rufe ich dich noch mal an. Pass auf dich auf.“

„Du auch.“

Laura beendete die Verbindung, blieb aber noch auf dem Rasen liegen, um das Telefonat Revue passieren zu lassen. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass sich eine Wolke vor die Sonne schob. Wie komisch, noch vor ein paar Minuten ist der Himmel strahlend blau gewesen, dachte sie und nahm den Arm von den Augen.

Ihr stockte einen Moment der Atem, denn Raoul stand vor ihr. Eigentlich sollte er im Büro sein! Hatte er womöglich etwas von dem Gespräch mit Cindy mitbekommen?

Laura spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Zweifellos machte er in dem hellgrauen Anzug eine ausgezeichnete Figur. Trotzdem beunruhigte es sie, dass sie sofort wieder auf ihn reagierte.

Eilig erhob sie sich. Und obwohl sie sich in der ärmellosen pinkfarbenen Bluse und den weißen Shorts hinlänglich bekleidet fühlte, erbebte sie, als er den Blick über sie schweifen ließ.

„Ich schätze, du hast mich gesucht.“

„Chantelle sagte, du bist irgendwo hier draußen. Wenn ich dich das nächste Mal nicht finden kann, sehe ich besser unter den Blumen nach. Auch meinte sie, dich hätte irgendetwas fasziniert?“

„Ja, ich habe vorhin im Beet etwas Interessantes entdeckt. Ich wollte es ihr zeigen, doch sie hat telefoniert. Dann habe ich selbst einen Anruf erhalten und es bis gerade vergessen.“

„Von deinem Boss?“

„Nein, von meiner besten Freundin Cindy. Wir leben beide in einem Apartmenthaus und sind Flurnachbarinnen. Sie kümmert sich in meiner Abwesenheit um meine Wohnung.“ Laura wusste, was er dachte, und beschloss, seine grenzenlose Neugier zu befriedigen. „Es ist nicht einmal halb so groß wie die Gästesuite hier.“

Ein Lächeln spielte um seinen Mund. „Aber es gehört dir.“

„Richtig.“

„Wo ist das Ding, das du gefunden hast?“

„Gleich hier.“ Sie ging zu der Stelle, wo sie es hingelegt hatte, und reichte es ihm. „Ich habe es im Haus gesäubert. Vielleicht ist es eine Anstecknadel gewesen, denn das Gesicht eines bezaubernden kleinen Jungen ist darauf zu sehen.“ Wie schön wäre es, selbst ein Kind zu haben, dachte Laura unvermittelt. Es würde Raouls markante Züge tragen … Wohin verirrten sich ihre Gedanken! Wenn das kein Unsinn war!

Raoul betrachtete sie einen langen Moment, bevor er den kleinen Gegenstand begutachtete. „Wo genau hast du es entdeckt?“

„Nahe der Sonnenuhr.“

„Ich muss die Universität darüber informieren. Es handelt sich gewiss um ein antikes Stück. Wahrscheinlich gibt es auf dem Gelände noch mehr.“ Er händigte es ihr wieder aus und blickte sie an. „Rettungsschwimmerin, Künstlerin und jetzt auch noch Archäologin. Du besitzt offenbar Talente ohne Ende, oder?“

Höre ich da einen Anflug von Leichtigkeit?, fragte sie sich und musste lächeln. Oder hatte sie sich doch getäuscht? „Hast du mit Chantelle gefrühstückt?“

„Nein. Ich komme gerade von einem frühen Geschäftstermin. Wieso?“

„Ich hoffe, dass sie gut geschlafen hat und ich sie dazu bewegen kann, mit mir irgendwo auswärts zu Mittag zu essen.“

„Chantelle wird das für niemanden tun“, erwiderte er kategorisch. „Nicht einmal für dich.“

Laura runzelte die Stirn. „Ich weiß deine Ermutigung zu schätzen.“

„Wenn immer ich dir ein Kompliment zu machen versuche, verstehst du es falsch. Ich wollte damit nur sagen, dass sie dich mag. Sollte überhaupt jemand sie dazu bringen können, das Anwesen zu verlassen, dann du.“

„Vielen Dank.“

„Als ich sie eben fragte, ob sie mich begleiten wolle, erklärte sie, sie habe Kopfschmerzen. Da ich das Gegenteil nicht beweisen kann, muss ich eben allein losziehen.“

Laura strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Wenn du dich mit einer Abfuhr schon schwertust, stell dir nur mal vor, wie schlimm es erst für deinen Bruder sein muss.“

Kurz kniff er den Mund zusammen. „Eine Frau, die ihren Mann nicht mehr begehrt, versetzt der Ehe den Todesstoß.“

Er hatte geklungen, als würde er aus leidvoller Erfahrung sprechen. Und so aberwitzig es in Anbetracht seines kränkenden Verhaltens war, das er ihr gegenüber an den Tag legte, hätte Laura ihn gern getröstet. Doch sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

„Gibt es einen bestimmten Grund, warum du mit mir reden wolltest?“

„Ja. Der Sohn eines guten Freundes nimmt dieses Jahr an der Tour de France teil. Ich habe ihm versprochen, morgen bei der Etappe nach ihm Ausschau zu halten. Da das amerikanische Team das Rennen wohl insgesamt gewinnen wird, möchtest du vielleicht mitkommen, und wir feuern unsere jeweiligen Länder an.“

Obgleich sie sicher war, dass er sie nicht ohne Hintergedanken einlud, wurde sie ganz aufgeregt. Es wäre wundervoll, den Tag mit ihm zu verbringen und etwas zu unternehmen, das nichts mit den Problemen hier in der Villa zu tun hatte.

Eventuell würde er fernab von seiner Familie entspannter sein und sich ihr ein wenig mehr öffnen. Außerdem hatte sie schon immer die Tour de France live erleben wollen.

„Wir würden am Nachmittag mit dem Hubschrauber nach Alpe d’Huez fliegen. Ich habe in dem Bergstädtchen Zimmer reserviert. Morgen verfolgen wir dann vor Ort, wer von den Fahrern zuerst den Gipfel erreicht. Anschließend fliegen wir nach Bourg d’Oisons, um unten dabei zu sein, wenn der Sieger die Ziellinie überquert. Wenn möglich, mache ich dich mit Alain Garonne bekannt.“

„Ich … ich muss erst m…mit Guy reden“, stieß sie hervor. Sie war so begeistert von der Aussicht, mit Raoul zusammen zu sein, dass ihr die Beine zitterten.

„Wenn du darauf bestehst“, erwiderte er gleichmütig.

„Er hat mich gebeten, Chantelle eine Freundin zu sein. Ich möchte nicht, dass er meint, ich würde seine Gastfreundschaft ausnutzen.“

„Ja, gewiss. Er frühstückt gerade mit Chantelle, falls du ihn jetzt fragen möchtest.“

Sie nickte und folgte Raoul ums Haus herum zur Terrasse, wo Paul sich inzwischen zu seinen Eltern gesellt hatte. Sie setzten sich ebenfalls dazu, und kaum hatte Laura das Thema angeschnitten, erkundigte sich der Junge, ob er auch mitkommen dürfe.

„Du hast heute Nachmittag einen Zahnarzttermin“, erinnerte ihn seine Mutter und wandte sich Laura zu. „Raoul hat sich früher leidenschaftlich für die Tour interessiert. Er wird dich bestimmt mit Statistiken langweilen. Aber wenn du ebenfalls ein Fan bist, wird es wahrscheinlich ein aufregendes Erlebnis.“

Guy wünschte ihr viel Spaß, wirkte aber niedergeschlagen und gedankenverloren.

„Ich hole dich um drei Uhr ab“, sagte Raoul und stand auf. „Pack eine Jacke ein. In den Bergen kühlt es abends ab.“

„Okay. Bis dann.“ Laura wunderte sich über den fast schon triumphierenden Ausdruck in seinen dunklen Augen, bevor er sich umdrehte und verschwand.

6. KAPITEL

„Sie können die Verbindungstür in dieser Seite abschließen“, erklärte das Zimmermädchen, das sie zu der Suite in der Mansarde geführt hatte, und warf Laura einen unfreundlichen Blick zu. „Oder auch nicht“, fügte es unverblümt hinzu, bevor es erneut Raoul ansah. Seit sie im Hotel Auberge eingetroffen waren, hatte die junge Frau sich überschlagen, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

In Alpe d’Huez wimmelte es nur so von Touristen aus aller Herren Länder, die wegen der Tour angereist waren. Doch wo immer Raoul und sie hingingen, hatte er das Interesse irgendeiner Frau erregt. Er war mindestens zehnmal angelächelt und mit verführerisch klimpernden Wimpern zu einer der offenbar zahllosen Partys eingeladen worden. Keines der weiblichen Wesen hatte sich daran gestört, dass er in Begleitung war. Alle schienen zu meinen, sie könnten ihn nach besten Kräften umgarnen.

„Sobald du dich frisch gemacht hast, suchen wir uns ein Restaurant und essen etwas“, sagte er.

„Ich brauche fünf Minuten.“

Raoul ließ den Blick über die mokkabraune Leinenhose und den cremefarbenen Pulli schweifen, bevor er Laura in die Augen sah. Sogleich bekam sie weiche Knie.

„Wir treffen uns unten in der Lobby.“

Sie nickte und schloss die Tür hinter ihm. Danach lehnte sie sich einen Moment dagegen. Er hatte keine Ahnung, was seine Nähe mit ihr machte. Gab es auf der Welt einen attraktiveren Mann als ihn?

Sie war sicher, dass er ursprünglich mit jemand anderem hatte herfliegen wollen. Doch dann war sie in der Villa seines Bruders aufgetaucht, und er hatte seine Pläne geändert.

Höchstwahrscheinlich hielt er sie für eine Schmarotzerin, die Guy nur ausnutzte. Ihre Anwesenheit im Haus seines Bruders musste ihm so sehr gegen den Strich gehen, dass er sie nach Alpe d’Huez mitgenommen hatte. Vermutlich beunruhigte ihn die Vorstellung, sie könnte versuchen, noch länger als die geplanten zwei Wochen zu bleiben. Und egal, was sie sagte, er würde ihr nicht glauben.

Seine Meinung über sie stand fest, und sie würde sie nicht ändern können. Also sollte sie diesen Ausflug genießen und sich die Freude daran von seinen spöttischen, manchmal auch beleidigenden Bemerkungen nicht verderben lassen.

Die unbeschwerten Tage fern von Ted war ohnehin schon bald wieder vorbei. Allerdings hatte sie gute Chancen, endlich von ihm geschieden zu werden, da er massiv gegen die einstweilige Verfügung verstoßen hatte. Nun würde ihm wohl selbst seine einflussreiche Familie nicht mehr helfen können.

Und sie wollte schnellstmöglich geschieden werden. Ja, ich wünsche es mir sehnlicher denn je, erkannte sie und gestand sich ein, dass dies vor allem mit Raoul zusammenhing.

Nicht, dass sie sich irgendeine Art von Beziehung mit ihm erhoffte. Dies war völlig ausgeschlossen. Er mochte vielleicht ungebunden sein, aber nicht wirklich frei. Sie wusste nichts Genaues, doch musste er von einer Frau so tief verletzt worden sein, dass er noch immer damit zu kämpfen hatte.

Chantelle hatte etwas in dieser Richtung angedeutet und sie vor Raoul gewarnt. Er lehnte sie ab und begegnete ihr bisweilen sogar mit Verachtung. Allerdings gab es ebenfalls andere Momente …

Dass sie trotz seiner Feindseligkeit so stark auf ihn reagierte, zeigte ihr, dass sie durchaus noch beziehungsfähig war. Sie musste nur den richtigen Mann finden.

Laura löste das Band von ihrem Pferdeschwanz und ging mit dem Kulturbeutel ins Bad, um die Haare zu bürsten. Anschließend steckte sie sie zu einem lockeren Knoten zusammen. Auf Make-up konnte sie verzichten. Ihr Teint war so sonnengebräunt, als hätte sie stundenlang am Strand als Rettungsschwimmerin gearbeitet.

Eines nicht mehr allzu fernen Tages werde ich für diesen Job nicht mehr die nötige Kondition besitzen, überlegte sie nicht zum ersten Mal. Die Zeit blieb nicht stehen. Im nächsten Monat feierte sie ihren Dreißigsten. Wenn sie sich nicht beeilte, würde sie vielleicht das Beste in ihrem Leben versäumen – einen liebenden Mann und Kinder.

Energisch schob sie den Gedanken beiseite und legte neuen Lippenstift auf. Wenn sie daran dachte, dass ihre biologische Uhr tickte, wurde sie zu emotional. Nein, heute wollte sie nicht daran denken.

Sie brauchte einen freien Kopf, um Raoul gegenübertreten zu können. Prüfend sah sie noch einmal in den Spiegel. Ja, sie war bereit für das nächste Gefecht mit Raoul, der sie körperlich anzog wie kein zweiter.

Mit Liebe hatte das nicht das Geringste zu tun! Damit sich diese entwickeln konnte, mussten zwei Menschen sich erst einmal mögen. Und man musste eine Beziehung aufbauen, die auf Vertrauen, gegenseitigem Verständnis und Respekt beruhte. Davon konnte zwischen ihnen kaum die Rede sein!

Nachdem Laura die Verbindungstür abgeschlossen hatte, nahm sie ihre Handtasche und verließ das Zimmer. Auf der Treppe nach unten kam ihr ein großer blonder Mann entgegen, der dem Logo auf seinem Pulli nach ein Fan des amerikanischen Teams war.

Die geröteten Wangen und der glasige Blick verrieten ihr, dass er wohl schon eine Weile gefeiert hatte. Er stützte die Hand gegen die Wand, sodass sie in dem schmalen Flur nicht an ihm vorbeikonnte.

„Hallo, hallo …“ Er strahlte sie an, als hätte er gerade in der Lotterie gewonnen. „Habe ich Halluzinationen, oder bist du die hübscheste Frau, die ich je gesehen habe?“

Unverhohlen betrachtete er sie und verbarg nicht, was er dachte. Aber dieses Verhalten von Männern war sie gewohnt. Was sollte sie jetzt tun? Entweder kehrte sie ins Zimmer zurück und wartete, bis der alkoholisierte Typ verschwunden war. Oder sie machte sich den Weg frei und nahm in Kauf, dass er möglicherweise die Treppe hinunterfiel.

Während sie noch überlegte, tauchte plötzlich Raoul hinter ihm auf und wandte bei ihm den Polizeigriff an. „Geh nach unten, Laura. Ich bin gleich bei dir.“

Sie schob sich an den beiden vorbei. Obwohl der junge Mann groß und kräftig war, stellte er für Raoul keine Herausforderung dar. Kaum hatte sie die Rezeption erreicht, gesellte er sich auch schon zu ihr.

„Ist alles in Ordnung?“

Laura musste lachen, als ihr die Ironie der Situation klar wurde. Zum ersten Mal zeigte sich Raoul um ihr Wohlbefinden besorgt. Doch konnte er nicht ahnen, dass die einzigen Momente, in denen sie sich in letzter Zeit bedroht gefühlt hatte, die Augenblicke mit ihm gewesen waren. Fragend blickte er sie an, wartete zweifellos auf eine Erklärung.

„Hättest du die wütende Miene des Typen gesehen, als du ihn in den Polizeigriff genommen hast, würdest du verstehen, was mich amüsiert hat. Vielen Dank.“

„Wie oft am Tag passiert dir das?“

Oh nein, nicht schon wieder! „Einhundert- bis zweihundertmal. Aber augenscheinlich habe ich es bislang überlebt.“

„Wüsste ich es nicht besser“, erwiderte er, „würde ich glauben, dass du dich zum Schutz in der Villa versteckst.“

Laura schaute beiseite. Guy hatte sie in sein Haus eingeladen und sie gebeten, Chantelle zu helfen. Einzig aus dem Grund war sie dort und nicht, um für Ted unauffindbar zu sein. Das war lediglich ein schöner Nebeneffekt.

Trotzdem kam diese Unterhaltung gewissen Wahrheiten gefährlich nahe, die sie ihm nicht enthüllen wollte. Am besten ließ sie Raoul weiter das Schlimmste von ihr denken. „Kennst du einen besseren Ort?“

„Gehen wir essen und reden darüber.“

Das klang nicht gut. Konnte es sein, dass er im Auftrag von Chantelle handelte? Hatte sie ihn gebeten, sie hierher zu bringen, um ihr zu sagen, dass sie in der Villa nicht erwünscht wäre? Hoffte Chantelle, dass sie schnellstens ihre Sachen packte und abreiste?

Die Vorstellung tat entsetzlich weh. Sie wollte der einst lebenslustigen Frau so gern helfen, ihr Problem zu bewältigen. Konnte es sein, dass alle Laroches, mit Ausnahme von Paul, eine Rolle in einem Familiendrama spielten? Auch Guy? Hatte er vielleicht von Anfang an gewusst, dass dieses Experiment scheitern würde, es aber vor sich selbst geleugnet?

Draußen auf der Straße herrschte fröhliches Treiben. Die Leute lachten und feierten. Auch sah Laura mehrere Liebespaare, die sich miteinander ihres Lebens freuten.

Die Atmosphäre dieses Sommerabends weckte eine seltsame Wehmut in ihr, die sie nicht zuordnen konnte. Und dieser melancholische Schmerz wurde durch den unnahbaren Mann neben ihr nur verstärkt, denn seine pure Gegenwart erfüllte sie mit glühendem Verlangen.

„Worauf hast du Appetit?“

Laura blickte zu dem Bistro auf der anderen Straßenseite. Er sollte bloß nicht meinen, sie wollte von ihm in ein Fünfsternerestaurant eingeladen werden. „Wie wär’s mit Cola und Pizza?“

„Das kannst du doch jeden Tag haben.“

„Nach dem Krabbensalat heute Mittag habe ich keinen großen Hunger. Aber wir können hingehen, wohin immer du möchtest.“

Raoul zuckte die Schultern. „Eine Pizza ist okay.“

Sie hatten Glück, denn als sie das Lokal betraten, wurde gerade ein Tisch frei. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung, und manche Leute tanzten zu der lauten Musik, die eine Unterhaltung fast unmöglich machte.

Die Pizza war nicht schlecht, doch in der Cola fehlten die Eiswürfel, weshalb sie ziemlich scheußlich schmeckte. Alles in allem habe ich nicht gerade eine gute Wahl getroffen, dachte Laura, als sie aufgegessen hatte, und sah zu Raoul hinüber. Er lächelte sie so gewinnend an, dass ihr Herz einen Schlag aussetzte.

„Du hast gewusst, wie unerfreulich es hier ist.“ Sie warf eine zusammengeknüllte Papierserviette nach ihm, die er zu ihrer Überraschung auffing. „Ich habe dieses Lokal nur ausgesucht, weil …“

„Weil du beweisen wolltest, dass du jemand anderes bist, als du tatsächlich bist.“

Mit wenigen verletzenden Worten hatte er den einzigartigen Augenblick zerstört. Die Dämonen, von denen Chantelle gesprochen hatte, waren wieder einmal zum Vorschein gekommen. Aber Laura fühlte sich momentan davon überfordert.

„Wie schön, dass du mich so gut kennst. Dann wird es dir sicher nichts ausmachen, wenn ich dir die Rechnung überlasse.“ Sie erhob sich, um aus seiner Nähe zu entfliehen, doch er hielt sie fest.

„Ich weiß zufällig, dass du Besseres verdienst als dieses Bistro oder das Auberge.“

Laura verstand rein gar nichts mehr. Einmal sagte er Hü und nur Sekunden später Hott. Was sollte das? Sie wurde aus ihm nicht schlau.

„Seit unserer Begegnung im Pool haben wir nicht mehr zusammen getanzt. Und du musst zugeben, dass es sehr kurz war.“ Er streichelte mit dem Daumen die Innenfläche ihrer Hand.

Die zärtliche Berührung ging ihr durch und durch. „Ja“, antwortete sie leise, wollte ihn ausnahmsweise einmal nicht bekämpfen. Und wie hätte sie es auch tun können, da er die Arme um sie gelegt hatte und sie an sich zog. „Ich habe so lange nicht mehr getanzt, dass ich vergessen habe, wie es geht.“

„Dann machen wir es wie alle anderen hier und bewegen uns einfach nur im Takt der Musik“, erwiderte er dicht an ihren Lippen.

Sein Mund war so verlockend nah, dass Laura ihm nicht widerstehen konnte – oder wollte. Sie begannen, sich im Rhythmus zu wiegen, während sie sich eng aneinanderschmiegten. Ihre Körper bildeten eine perfekte Einheit, als wären sie füreinander geschaffen. Und mit jedem neuen Musikstück vertieften sie den Kuss.

„Raoul“, stieß Laura irgendwann hervor, als ihr Verlangen fast unerträglich wurde.

„Leugne es, so sehr du willst. Aber zwischen uns ist es von Anfang an so gewesen“, sagte er und küsste ihren Hals.

Ihr war, als würde es nur sie beide geben, bis sie einen Amerikaner sagen hörte: „Es sieht ganz so aus, als bräuchten die zwei ein Zimmer.“

„Haben wir nicht ein Glück, dass es gleich auf der anderen Straßenseite ist“, flüsterte Raoul ihr ins Ohr. „Komm, lass uns von hier verschwinden.“

Eng umschlungen schlenderten sie zum Hotel zurück. Laura war in einer solchen Hochstimmung, dass es sie nicht mehr kümmerte, ob Teds Detektive Fotos von ihnen schossen.

Auch Raoul schien seine Dämonen im Griff zu haben, die ihn vorhin dazu getrieben hatten, so gemein zu sein. Nichts war mehr wichtig außer der süßen, ungestillten Leidenschaft, die sie beide erfüllte.

Kaum hatte er seine Zimmertür hinter ihnen geschlossen, hob er Laura hoch und trug sie zum Bett. Sie legte ihm die Arme um den Nacken und zog ihn mit sich auf das Bett. In dem schummrigen Licht der Nachttischlampe verklärten sich seine markanten Gesichtszüge zu denen eines geheimnisvollen Prinzen.

Bevor Laura sich jedoch ihrem brennenden Verlangen hingab, musste sie noch eine Sache herausfinden. „Ich habe dich nicht früher gefragt, weil ich nicht dachte, dass du und ich …“ Sie verstummte und setzte dann erneut an. „Ich dachte nicht, dass wir …“

„… ein Liebespaar würden?“

Sie errötete. „Ja. Ich weiß so wenig von dir. Bist du solo? Oder geschieden? Du hast es nie erwähnt.“

Zärtlich ließ er den Daumen über eine ihrer Augenbrauen gleiten. „Du weißt es wirklich nicht? Obwohl du Gast in Guys Villa bist?“

„Nein. Das Thema ist nie zur Sprache gekommen.“

„Warum hast du dich nicht erkundigt, ob ich vielleicht verheiratet bin?“

Laura seufzte insgeheim auf. „Ich hielt es nicht für nötig.“

„Warum nicht?“

„Weil ich nicht glaube, dass du jetzt hier mit mir wärst, wenn du verheiratet wärst. Trotz der Art und Weise, wie du mich zuweilen behandelst, sagt mir mein Gefühl, dass du ein Ehrenmann bist.“

Sein Blick verschleierte sich. „Ich bin seit einem Jahr von meiner Frau Danielle geschieden. Was aber nicht zwangsläufig heißt, dass ich ein Ehrenmann bin. Sonst wäre ich wohl nicht kurz davor, mit Mrs. Theodore Stillman zu schlafen, oder?“

Von einer Sekunde auf die andere war der Zauber des Abends gebrochen. Laura rollte sich auf die andere Bettseite, sprang auf und stürmte aus dem Raum. Im Nu hatte sie den Schlüssel aus der Handtasche gefischt, ihr eigenes Zimmer geöffnet und dann die Tür von innen verschlossen. Es dauerte nicht lang, bis Raoul gegen die Verbindungstür klopfte.

„Mach auf, Laura. Es wird Zeit, dass wir uns ernsthaft unterhalten.“

Ihr war übel, und sie zitterte am ganzen Körper. Wie lange kannte er schon ihren richtigen Namen? „Warum hast du mir nicht erzählt, dass du Kontakt mit meinem Mann hattest?“

„Ich hatte keinen Kontakt mit ihm, sondern habe dich überprüfen lassen.“

„Warum?“

„Um meine Familie zu beschützen.“

Laura war fassungslos. Er betrachtete sie nur als Bedrohung. „Endlich mal eine ehrliche Antwort von dir, Raoul. Mein Schwiegervater hat mich bereits gründlich durchleuchten lassen, bevor er seinem Sohn erlaubt hat, mich zu heiraten. Ihr zwei habt eine Menge gemein. Wenn man über viele Generationen Geld und Macht besitzt, vergisst man vermutlich seine Menschlichkeit.

Sollte dir Guy etwas bedeuten, rate ich dir, ihm nicht zu sagen, was du getan hast. Es könnte sich als Bumerang erweisen. Dein Bruder ist der netteste, wunderbarste Mensch, den ich kenne, und falls du es noch nicht bemerkt hast, er liebt dich sehr. Gute Nacht, Raoul.“

Raoul fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Waren denn alle Frauen Lügnerinnen? Eben noch hätte er geschworen, sie beide würde ein tiefes, echtes Gefühl verbinden. Und doch war Guy alles, woran Laura Stillman denken konnte.

Sein armer, umgarnter Bruder war in eine verheiratete Frau verliebt, die durch ihren Mann ein Vermögen besaß. Louis hatte sich umfassend informiert. Die Gegend, in der sie wohnte, war ähnlich exklusiv wie viele Adressen in der Nähe von Cap Ferrat.

Warum reiste sie unter ihrem Mädchennamen durch Europa und gabelte reiche Männer auf? Sie war die Ehefrau eines mehrfachen Millionärs, der aussah wie der junge Robert Redford. Offenbar kannte sie keine Scham.

Während Raoul noch versuchte, die Bilder vor seinem inneren Auge von Laura und ihrem Mann in leidenschaftlicher Umarmung zu vertreiben, klingelte das Telefon. Er verzog das Gesicht. Offenbar hatte sie zu große Angst, sich ihm direkt zu stellen, und deshalb zum Hörer gegriffen.

Während er zum Apparat auf dem Nachttisch ging, rang er um Beherrschung. „Laura?“

„Wer ist Laura?“

Danielle! Welch perfektes Timing für einen ihrer verzweifelten, nach Aufmerksamkeit heischenden Anrufe.

„Leg nicht gleich wieder auf, mon amour. Ich habe mich an eine heiße Nacht in Alpe d’Huez erinnert, die wir einst während der Tour de France im Hotel Citadel verbracht haben. Ich dachte, dass du möglicherweise dieses Jahr wieder in Alpe bist. Als man mir sagte, du seiest nicht im Citadel abgestiegen, habe ich etwas herumtelefoniert.

Wieso wohnst du im Auberge? Dich unters gemeine Volk zu mischen ist nicht deine Art. Hast du eine Ahnung, wie sehr ich dich vermisse? Ich weiß, dass es falsch war, was ich getan habe. Aber wie kannst du das wegwerfen, was wir einmal hatten?“

„Es ist zu spät, Danielle.“

„Nein, ist es nicht. Oh Raoul, ich liebe dich noch immer so sehr. Bitte lass mich dir zeigen, wie es wieder zwischen uns werden kann. Gib uns eine zweite Chance …“

Danielle klang ein wenig wie früher, trotzdem berührte ihn ihre Reue nicht. Vor fünf Tagen war etwas geschehen, das ihn stark verändert hatte. Eine neue Frau war in sein Leben getreten. Unwillkürlich blickte er zur Verbindungstür und spürte, wie sein Puls hämmerte, während er auf Lauras nächsten Schritt wartete.

„Es ist zu spät.“ Viel zu spät. „Adieu, Danielle.“

Raoul hängte auf und unterband so ihren wütenden Protest. Und bevor sie ihn ein weiteres Mal anrufen konnte, nahm er den Hörer wieder ab und legte ihn neben den Apparat.

Er könnte jetzt nach unten in die Bar gehen. Doch egal, wie viel er trinken würde, er würde Lauras Lüge nicht vergessen.

Laura konnte vor Weinen nicht schlafen. Als es endlich Morgen wurde, waren ihre Augen zugeschwollen. Gezwungenermaßen setzte sie ihre Sonnenbrille auf, bevor sie um halb neun mit ihrem Köfferchen das Zimmer verließ.

Sie hatte Raoul nicht mehr gesehen oder gesprochen, seit er gestern Abend die Bombe hatte platzen lassen. Nun war klar, welches Ziel er verfolgt hatte, und von ihrer Seite aus gab es nichts mehr mit ihm zu reden. Sie würde den heutigen Tag mit Anstand hinter sich bringen und Raoul danach bis zu ihrem Rückflug in die Staaten bestmöglich meiden.

Im Frühstücksraum herrschte kein Betrieb. Die meisten Gäste suchten sich wohl draußen schon einen guten Platz, um das Rennen zu beobachten. Laura nahm sich ein Stück Baguette sowie ein Glas Orangensaft vom Büfett und ließ sich an einem der Tische nieder. Eigentlich hatte sie keinen Hunger, sollte aber vernünftigerweise etwas essen.

Während sie auf dem trockenen Brot herumkaute, erschien Raoul auf der Bildfläche. Er trug Jeans und ein dunkelblaues Hemd, dessen Kragen geöffnet war. Schnell blickte sie weg.

Wortlos ergriff er ihr Köfferchen und stellte es mit seinem zur Rezeption, wo man das Gepäck im Auge behalten würde, bis sie es später wieder abholten. Dann ging er zum Büfett, organisierte sich ein Stück Baguette und einen Kaffee und setzte sich anschließend auf den Stuhl ihr gegenüber. Er tunkte das Brot in die Tasse und ließ es sich schmecken. Offenbar war mit seinem Appetit alles in Ordnung.

„Wenn du fertig bist, stellen wir uns an die Straße und tun das, wozu wir hergekommen sind“, erklärte er.

Laura hätte sich ohrfeigen mögen. Selbst nach allem, was passiert war, sehnte sie sich noch immer nach ihm, wohingegen er die Ruhe in Person schien. Im nächsten Moment bemerkte sie eine kleine Wunde an seinem Kinn. Er musste sich beim Rasieren geschnitten haben. Also war er doch nicht so gleichmütig, wie er wirkte. Der Gedanke hatte etwas Tröstliches.

Wie ein altes Ehepaar, das sich nichts mehr zu sagen hatte, verließen sie schließlich gemeinsam, aber mit deutlichem Abstand zueinander das Hotel. Draußen waren die Bürgersteige schon voller Menschen. Aber Laura war viel zu erschöpft und deprimiert, um die Atmosphäre zu genießen oder sich an dem herrlichen Bergpanorama zu erfreuen.

Sie fanden noch einen guten Platz am Straßenrand, und um Raoul nicht einfach nur starr anzublicken, beobachtete sie die Leute um sie her. Sie beide waren wahrscheinlich die Einzigen weit und breit, die sich nicht aufgeregt unterhielten.

Nach einer halben Stunde kamen die ersten Wagen in Sicht, die vor den Tourteilnehmern herfuhren. Sogleich wurde es ringsum lauter. Kurz darauf setzte ein Gejohle und Gebrüll ein, denn die ersten fünf Radler tauchten auf.

Sie sahen verschwitzt und abgekämpft aus. Von allen Seiten hielt man ihnen Wasserbecher hin und ließ ihnen manchmal kaum noch genügend Raum für eine freie Fahrt. Schließlich strampelten sie auch an Laura und Raoul vorbei. Nein, keiner von ihnen gehörte zum französischen oder amerikanischen Team.

Ein paar Minuten nachdem die Vorhut die Bergkuppe erreicht hatte, traf auch das Peloton ein. Und eine Sekunde lang konnte Laura in dem bunten Feld sogar den Träger des gelben Trikots ausmachen.

„Ich gehe schon mal vor zum Hubschrauberlandeplatz“, sagte Laura, als das Spektakel vorüber und der Fahrertross außer Sichtweite war.

Raoul nickte. „Ich komme mit unserem Gepäck nach.“

Ohne ein weiteres Wort schritt sie in zügigem Tempo los und den Berg hinunter. Es tat gut, sich zu bewegen. Am liebsten hätte sie sich jetzt in einen Pool gestürzt und beim Schwimmen ausgepowert.

Als sie auf die Maschine zuging, traf auch Raoul zu ihrer Überraschung bereits ein. Und er wirkte kein bisschen außer Atem. Laura begrüßte den Piloten, stieg ein und legte den Sicherheitsgurt an.

Raoul verstaute die beiden Köfferchen und nahm dann auf dem Sitz des Kopiloten Platz. Kurz unterhielt er sich mit dem Piloten auf Französisch, bevor dieser den Hubschrauber startete. Momente später waren sie in der Luft.

Welch ein atemberaubender Blick auf die Bergwelt! Laura sah die Serpentinenstraße unter sich, jedoch nirgendwo die Rennfahrer. Offenbar nahm der Helikopter nicht Kurs auf Bourg d’Oisons, den Zielort der achten Etappe, sondern flog in entgegengesetzter Richtung.

Sie brauchte Raoul nicht zu fragen. Anscheinend hatte er beschlossen, ohne Zwischenstopp nach Cap Ferrat zurückzukehren. Es war ihr nur zu recht. Sie lehnte sich im Sitz zurück und hatte kaum die Augen geschlossen, da war sie auch schon eingeschlafen.

Als sie wieder aufwachte, war der Hubschrauber bereits gelandet und Raoul ausgestiegen. „Dein Köfferchen ist in der Limousine“, informierte er sie. „Pierre bringt dich zurück zum Haus.“

Laura bedankte sich höflich bei ihm und dem Piloten, bevor sie in den Wagen wechselte. Raoul schloss eilig die Tür hinter ihr, als könnte er sie nicht schnell genug wegfahren sehen.

Noch gestern Abend hatte ich das Gefühl, als würde ich ihm allmählich etwas bedeuten, dachte sie voller Schmerz. Wie sehr hatte sie sich getäuscht. Er hatte nur auf den richtigen Moment gewartet, um sie bloßzustellen. Sein Verhalten tat entsetzlich weh.

Dankend nahm sie vor der Villa von Pierre ihren Koffer entgegen und eilte die Stufen hinauf. Fast wäre sie in der Diele mit Guy zusammengestoßen, der den Wagen gehört hatte und sie begrüßen wollte.

„Was ist los?“, fragte er sofort, als er sie umarmt hatte und anblickte. „Du bist so blass. Ist dir der Flug nicht bekommen?“

„Ich bin nur etwas müde.“ Sie setzte das Gepäck ab.

„Du bist früher zurück, als ich gedacht habe.“

„Raoul wollte das Ende der Etappe nicht mehr verfolgen, denn sein Team war nicht auf der Siegerstraße.“ Eine andere Notlüge fiel ihr auf die Schnelle nicht ein.

Guy lächelte. „Mein Bruder ist schon immer ein lausiger Verlierer gewesen. Nun hast du ihn von seiner schlechtesten Seite kennengelernt.“

Er ahnte nicht, wie recht er hatte! „Wie geht es Chantelle?“

„Sie hat sich etwas hingelegt.“

„Und Paul?“

„Er ist mit dem Rad zu seinem Freund Giles gefahren.“

„Guy …“ Tief atmete Laura ein. „Können wir uns kurz unter vier Augen unterhalten?“

„Natürlich.“

„Wenn du gerade gearbeitet hast …“

„Nichts, was wirklich dringend wäre … Gehen wir in dein Wohnzimmer. Dort sind wir ungestört.“

Ja, die Gästesuite war der einzige Ort, wo Raoul keinen ungehinderten Zutritt hatte.

„Guy“, begann Laura, sobald sie es sich in den Sesseln bequem gemacht hatten. „Ich muss dir etwas Wichtiges sagen.“

„Ich weiß es bereits.“

„Was weißt du bereits?“ Laura war verwundert.

„Das mit Raoul und dir.“

„Es gibt kein Raoul und mich.“ Ihr Herz klopfte viel zu schnell.

„Jean-Luc scheint es zu glauben. Er hat mich heute Vormittag wegen des Lagerhauses angerufen. Da Raoul noch zögert, hat er versucht, mich zu überzeugen, dass es ein guter Kauf wäre. Bei der Gelegenheit hat er mir erzählt, er habe dich und meinen Bruder vor dem Lagerhaus gesehen.“

Von Panik erfasst, richtete Laura sich etwas im Stuhl auf. In ihrem Kopf herrschte Chaos. „Wenn du davon sprichst, dass Raoul mich geküsst hat … Er hat es nur zum Spaß getan. Chantelle hat mich gewarnt. Offenbar hat ihn an dem Tag sein kleiner Dämon geritten.“

Guy lachte leise. „Mein Bruder steckt in letzter Zeit voller Überraschungen.“

„Er ist sehr amüsant. Mit dem Kuss wollte er erreichen, dass Jean-Luc denkt, wir hätten ein Verhältnis. Er hat mit mir gewettet“, fuhr sie fort und griff zu einer erneuten Notlüge, „dass dieses Gerücht binnen Kurzem die Runde machen würde. Und er hat wohl recht behalten.“ Sie rang sich ein Lächeln ab. „Ihr alle seid so lieb zu mir, einschließlich Raoul, der so freundlich war, mir die Umgebung zu zeigen und mich zur Tour de France mitzunehmen. Es war ein tolles Erlebnis.“

„Ich freue mich, dass du eine schöne Zeit hast.“

„Die habe ich, aber uns beiden ist klar, dass ich deshalb nicht hier bin. Ich wünschte, ich könnte dir von großen Erfolgen bei Chantelle berichten. Leider ist es nicht der Fall.“

„Ich habe in den letzten Tagen eine Veränderung bei ihr festgestellt. Du hast frischen Wind in die Villa gebracht. Verlier bitte nicht den Mut.“

„Natürlich nicht. Doch ist da noch etwas, das mir Sorgen bereitet. Mein Mann Theodore Stillman lässt mich beobachten, und er hat die Mittel und die Möglichkeiten, mich hier aufspüren zu lassen. Ich möchte, dass du es weißt. Er ist Anwalt in der familieneigenen Kanzlei in Santa Barbara und verursacht eventuell Schwierigkeiten. Sollte irgendein Problem auftauchen, das Chantelle aufregen könnte, werde ich sofort verschwinden.“

„Mach dir keine Gedanken. Ich habe fähige Anwälte, die allem gewachsen sind, was die Stillmans sich möglicherweise ausdenken.“ Guy stand auf. „Möchtest du vielleicht ein verspätetes Mittagessen?“

Laura erhob sich ebenfalls. „Nein, vielen Dank. Ich glaube, ich lege mich für eine Stunde hin. Und wenn Chantelle wieder wach ist, erzähle ich ihr von der Tour.“

„Das wird sie sicher freuen. Bis dann.“ Er beugte sich zu ihr, um sich mit einem Wangenkuss zu verabschieden, als von irgendwoher Raouls tiefe Stimme an ihr Ohr drang.

„Das Hausmädchen hat mir gesagt, dass ich dich hier finden würde, Guy.“ Er kam weiter in den Wohnraum herein und funkelte Laura an. „Ich habe geklopft, aber ihr habt es nicht gehört. Entschuldigt die Störung, doch Paul hatte auf dem Rückweg von seinem Freund einen kleinen Unfall mit dem Rad. Er ist zur Untersuchung ins Krankenhaus gebracht worden. Eben hat man hier angerufen und erklärt, alles sei so weit in Ordnung und er könne entlassen werden.“

„Es geht ihm gut?“ Guy war kreidebleich.

„Ja, er ist wohlauf.“

„Dem Himmel sei Dank.“

„Möchtest du, dass ich ihn abhole? Wenn er hier ist, bevor Chantelle aufsteht, wird sie sich nicht ganz so aufregen, wenn er es ihr erzählt.“

„Lass uns zusammen hinfahren, Raoul.“ Guy blickte Laura an. „Bleibst du hier? Falls Chantelle aufwacht, bevor wir zurück sind, sag ihr, wir hätten noch etwas Geschäftliches erledigen müssen.“

„Natürlich, Guy. Doch sollte sie nicht eigentlich informiert werden? Paul ist ihr Sohn. Sie liebt ihn. Wenn sie meint, dass er sie braucht, vergisst sie möglicherweise ihre eigene Situation kurzfristig und kommt mit euch.“

Guys Augen begannen zu leuchten. „Warum habe ich nicht selbst daran gedacht? Wie gut, dass du hier bist, Laura! Ich werde sie gleich wecken. Mal sehen, wie sie reagiert.“ Er küsste sie auf die Wange und eilte davon.

7. KAPITEL

„Wenn du nichts dagegen hast, wäre ich gern allein“, wandte sich Laura an Raoul, sobald Guy gegangen war. Sie zitterte am ganzen Körper.

„Was ist, wenn ich etwas dagegen habe?“, erkundigte er sich provokant. „Hast du ihm erzählt, dass ich dich habe überprüfen lassen?“

„Warum fragst du mich überhaupt, wenn wir beide wissen, dass du mir kein Wort glaubst?“ Schmerz spiegelte sich in ihren Augen.

„Das stimmt nicht.“ Raoul fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

„Möchtest du deinen Bruder nicht begleiten? Er braucht dich.“

„Ich warte noch ein paar Minuten. Du hast ihn auf eine Idee gebracht. Sie könnte im Verbund mit seinen Schuldgefühlen wegen Chantelles Unfall bewirken, dass er bei ihr einen kleinen Erfolg erzielt.“

Laura kaute an ihrer Unterlippe, was sie zu verändern schien. Sie war plötzlich nicht mehr die selbstsichere Frau von Welt, sondern ein bezauberndes, verletzliches Wesen. Wie war sie wirklich? Vielleicht eine Mischung aus beiden?

„Warum hat Guy Schuldgefühle wegen des Unfalls?“

„Die beiden hatten an jenem Tag eine Auseinandersetzung, eine der wenigen in ihrer Ehe. Chantelle war startklar, um eine Freundin in Monaco zu besuchen. Guy, der in manchen Dingen abergläubisch ist, wollte nicht, dass sie die Route de La Turbie benutzte. Auf dieser Straße ist Fürstin Gracia tödlich verunglückt. Aber Chantelle war auf dem Ohr taub. An jenem Tag hat er ihr verboten zu fahren, doch Chantelle hat ihn ignoriert und dann den Unfall gehabt. Er ist allerdings nicht auf der Route de La Turbie passiert. Sie ist zu schnell unterwegs gewesen und hat die Kontrolle über den Wagen verloren. Er ist von der Straße abgekommen und in einem dichten Gebüsch gelandet, wo man ihn erst vier Stunden später entdeckt hat.“

Laura sank in den nächstbesten Sessel. „Wie schrecklich.“

„Ja, aus verschiedenen Gründen. Guy hat sich die Schuld an allem gegeben. Hätte er sie nicht aufgeregt, wäre sie nicht verunglückt, hat er gemeint. Als der Arzt ihr sagte, sie sei wieder völlig genesen und brauche den Rollstuhl nicht mehr, ist sie so geworden, wie sie jetzt ist.

Guy hat erst gedacht, sie würde ihm aus Rache etwas vorspielen. Aber nach zwölf Stunden wurde klar, dass irgendetwas Ernstes vorlag, das sie hinderte, wieder zur Normalität zurückzukehren. Und seither geht es mit ihm bergab, und das Gleiche gilt für seine Ehe.“

„Große Güte. Da hat ihnen die schlechte Nachricht von Pauls Unfall gerade noch gefehlt. Wie schlimm ist er verletzt?“

„Eine Wunde am linken Oberschenkel, die mit zehn Stichen genäht werden musste.“

„Autsch.“

„Er wird es wegstecken.“

„War es seine Schuld?“

„Nein. Ein Lastwagenfahrer ist beim Überholen eines Autos auf den Radweg geraten und hat ihn zu Fall gebracht.“

„Er muss fürchterliche Angst ausgestanden haben.“ Laura konnte nicht länger ruhig dasitzen und sprang auf. „Viel mehr kann eure Familie nicht verkraften.“

„Ich bin ganz deiner Meinung.“ Raoul kam näher. „Mein Bruder ist angeschlagener, als du ahnst. Was immer zwischen dir und deinem Mann abläuft, ist deine Sache. Doch wenn es Guy beeinträchtigt, wird es zu meiner Angelegenheit. Warum hast du Angst, über deinen Mann zu reden?“, erkundigte er sich mit so sanftmütig klingender Stimme, wie sie sie noch nie bei ihm gehört hatte.

Nervös fasste sie sich an den Hals. „Warum hast du noch nie von deiner Frau gesprochen?“

Ihre Antwort machte ihn wütend. „Weil es hier um Chantelle und Guy geht und nicht um mich. Bist du in Schwierigkeiten?“

„Das hängt ganz davon ab, wie du den Begriff definierst.“

„Mit anderen Worten, Guy wird dir helfen.“

Laura funkelte ihn an. „Ich fürchte, es ist nicht deine Angelegenheit. Was ich, anders als du, nicht beleidigend meine. Falls du es nicht bemerkt hast, stelle ich dir keine persönlichen Fragen.“

„Ich habe es bemerkt.“ Seine Frustration wuchs mit jeder Sekunde. „Was würdest du denn gern wissen?“ Er beobachtete, wie sie schluckte. Offenbar fühlte sie sich immer unbehaglicher.

„Nichts.“

„Du hast dir bestimmt schon Gedanken gemacht, warum ich im Grunde keinen eigenen Haushalt besitze?“

„Nicht wirklich.“

„Das ist eine Lüge.“

Laura verschränkte die Arme vor der Brust. „Da deine gemeine Ader wieder durchbricht, ist das wohl mein Einsatzzeichen, die Zehn-Millionen-Dollar-Frage zu stellen.“

Raoul lächelte sie frech an. „Schön zu wissen, dass du der Antwort einen solchen Wert beimisst.“

Sie warf den Kopf in den Nacken. „Okay, ich gebe auf. Warum habt ihr euch scheiden lassen?“

„Wegen einer Lüge, die ich ihr nie werde verzeihen können. Während unserer gesamten Ehe dachte ich, sie wünschte sich Kinder genauso sehnlich wie ich. Wir haben eine Familie geplant, nur hatte sie nie die Absicht, schwanger zu werden“, erwiderte er und bemerkte ein seltsames Flackern in ihren grünen Augen.

„Das war sehr gemein von ihr. Es tut mir leid für dich.“

„Sonst möchtest du nichts wissen?“

„Das brauche ich nicht. Eine Lüge sagt alles, oder?“

Wenn er sich nicht täuschte, schwang Schmerz in ihrer Stimme mit. „Nicht alles. Man könnte zum Beispiel noch fragen, ob ich traurig oder froh bin, dass meine Ehe zu Ende ist.“

„Wenn du traurig darüber bist, ist es tragisch. Und wenn du froh bist, spricht es für sich.“

„Wie ist es um deine Ehe bestellt?“ Wenn sie ihm jetzt nichts erzählte, wofür er durchaus Verständnis aufbrächte, würde er explodieren.

„Du meinst, ob ich im siebten Himmel bin oder auf dem Sinkflug?“

Ein Eisenband schien sich um seine Brust zu legen, sodass er kaum noch atmen konnte. „Ich denke, die Tatsache, dass du unter Guys Dach lebst, sagt eine Menge aus.“

„Womit du deine Antwort hast“, erklärte sie lächelnd.

Raoul umfasste ihre Schultern und schüttelte Laura fast heftig. „Lass das! Ich stelle dir diese Fragen nicht aus irgendeinem seltsamen Verlangen heraus, um dich zu quälen. Hat dein Mann dich misshandelt?“

Sie blickte beiseite. „Nicht körperlich.“

„Aber auf andere Weise.“

„Ja, doch möchte ich nicht darüber sprechen … Seit wann weißt du, dass ich Stillman heiße?“

„Noch nicht lange.“

Tränen traten ihr in die Augen. „Warum hast du mich nicht gleich zur Rede gestellt, anstatt mir gestern Abend eins auszuwischen?“

Eigentlich hatte er nur ergründen wollen, was sie für ihren Mann empfand. Aber er verlor mehr und mehr die Kontrolle über die Situation. Er hielt ihre nackten Oberarme umfasst und streichelte die samtige goldbraune Haut. Überdeutlich nahm er ihren weichen Körper wahr und ihren betörenden Duft.

„Die Erinnerung an gestern Abend verfolgt mich. Also lass mich anders fragen. Hast du aus Angst vor deinem Mann Guys Hilfe gesucht?“

Ihr Mund war nur wenige Zentimeter von seinem entfernt.

„Warum sollte es dich noch interessieren nach dem, was zwischen uns vorgefallen ist?“

„Weil du eine verheiratete Frau bist und ich dich unbedingt küssen muss, sonst werde ich allmählich verrückt.“ Raoul spürte, wie sie erbebte, und ihr warmer Atem strich über seine Lippen, als sie erwiderte: „Das hast du bereits mehrmals getan.“

„Nicht so …“ Begierig presste er den Mund auf ihren.

„Wir sollten das nicht …“, protestierte sie und gewährte seiner Zunge keinen Einlass.

So schnell gab Raoul nicht auf. Millimeter für Millimeter liebkoste er ihre Lippen, schließlich seufzte Laura auf, und er hatte das Ziel seiner Träume erreicht. Er ließ die Hände über ihren Rücken gleiten und zog sie fest an sich, damit er den Kuss vertiefen konnte.

Ja, sie wollte ihn genauso wie gestern Abend. Daran bestand nicht der kleinste Zweifel. Lustvoll stöhnte sie auf und beugte den Kopf zurück, als er ihren Hals mit Küssen bedeckte.

Ein solches Entzücken hatte er noch bei keiner anderen Frau empfunden. „Du bist bezaubernd, Laura. Wenn ich nur an dich denke, sehne ich mich nach dir, und erst recht, wenn ich dich ansehe. Ich will dich.“

Sie umfasste sein Gesicht und küsste ihn hingebungsvoll auf den Mund. „Es ist einzigartig, nicht wahr? Ein so brennendes Verlangen, dass man meint, man könnte nicht weiterleben, ohne es zu stillen. Aber irgendwie schaffen wir es.“ Sie hauchte ihm noch einen Kuss auf die Lippen, bevor sie sich sanft aus seinen Armen befreite.

„Wir brauchen es nicht zu tun“, erwiderte er.

„Doch, wir müssen es.“ Sie hatte sich bereits gefühlsmäßig von ihm entfernt. „Als wir uns begegneten, waren wir in unterschiedlichen Richtungen unterwegs. Wir spüren eine starke körperliche Anziehungskraft, aber das ist alles. Ich bin noch Mrs. Stillman, und ich bin hier, weil Guy mich gebeten hat, Chantelle zu helfen.“

Plötzlich wusste er nicht mehr, wie er atmen sollte. „Hast du schon mal überlegt, dass sie dich als Gefahr ansehen könnte?“

Eindringlich betrachtete sie ihn. „Durch deine Scheidung hast du eine solch zynische Sichtweise entwickelt, dass du zuweilen die Realität nicht mehr erkennst. Was schade ist, denn du bist in vielen Punkten ein wunderbarer Mensch. In den zurückliegenden Tagen habe ich herrliche Momente mit dir erlebt, wofür ich dir danken möchte. Doch hat mir Chantelle an meinem ersten Abend hier etwas geraten, und ich zitiere wörtlich: ‚Lass dich von meinem Schwager nicht verscheuchen. Er hat mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen. Ich habe Guy gebeten, dich zu uns einzuladen. Raoul hat seine eigene Villa. Wer bei uns zu Besuch ist, geht ihn nichts an.‘“

Laura deutete zur Tür der Gästesuite. „Du schaust müde aus und solltest dich bei dir besser ein wenig hinlegen und schlafen. Sonst wird noch jemand, den ich kenne, vor Ende des Tages im Krankenhaus landen. Ich rufe dich an, sobald ich etwas Neues weiß.“

Forschend blickte er sie an. „Ja, ich könnte etwas Schlaf gebrauchen. Hast du Lust, mitzukommen?“ Kess lächelte er sie an.

„Wenn das eine Einladung gewesen sein sollte, ist sie nicht gerade schmeichelhaft. Du bist zu Tode erschöpft.“

„Du meinst also, du willst mich quicklebendig?“

Seine Antwort raubte ihr für einen Moment den Atem. „Ich habe gemeint, dass der Zeitpunkt falsch ist, selbst für eine rein körperliche Übung. Wie heißt es doch so schön: ‚Es gibt eine Zeit zum Weinen und zum Lachen … eine Zeit zum Trauern und zum Tanzen.‘“

„Und für uns ist jetzt nicht die richtige Zeit?“, fragte er leise, und sie nickte. „Es ist deine Entscheidung, Laura. Ich glaube, dass zwischen uns nicht nur eine physische Anziehungskraft herrscht.“

Laura hatte keine Kraft, dieses Thema jetzt zu diskutieren.

Autor

Rebecca Winters

Rebecca Winters und ihre Familie leben in Salt Lake City, Utah. Mit 17 kam Rebecca auf ein Schweizer Internat, wo sie französisch lernte und viele nette Mädchen traf. Ihre Liebe zu Sprachen behielt sie bei und studierte an der Universität in Utah Französisch, Spanisch und Geschichte und später sogar Arabisch.

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