Verführt von deiner Unschuld

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Vom ersten Moment an sprühen sinnliche Funken, als Drake der betörend schönen Helene im Palastgarten von Tierzza Avancen macht. Dabei will er sie nur aus einem Grund heiraten – aus Rache! Denn Hels Vater hat einst das Leben seiner Eltern zerstört, jetzt wird Drake ihm das Kostbarste nehmen! Doch als er Hel in die Arme schließt, durchströmt ihn ungeahnte Zärtlichkeit. Jäh fragt er sich: Ist sie etwa unschuldig an den üblen Machenschaften ihrer Familie? Oder geht er gerade einer besonders raffinierten Verführerin ins Netz?


  • Erscheinungstag 14.12.2021
  • Bandnummer 2523
  • ISBN / Artikelnummer 9783751509367
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Helene Cosima d’Tierzza, Herzogin und Erbin eines beachtlichen Vermögens, darüber hinaus Siebte in der Thronfolge von Cyrano, stand ein wenig schwankend vor der Marmorstatue, die den privaten Innenhof ihrer Familie dominierte.

Ihr silberblonder Pony fiel ihr in die Stirn und schwang leicht im Takt ihrer Bewegungen, während ihr normalerweise scharfer Blick aus saphirblauen Augen nun seltsam verschwommen das Gesicht der Statue streifte. Der gerade Schnitt des azurblauen Kleides betonte ihre elegante Größe und nicht ihre unerwartet muskulösen Arme. Unten war es leicht ausgestellt, um der Trägerin eine gewisse Bewegungsfreiheit zuzugestehen … so sie denn sehr kleine Schritte machte.

Angewidert verzog sie das Gesicht.

Heute war der eine Tag im Jahr, an dem sie ein Kleid trug, aber abgesehen davon ließ sie sich keine Vorschriften machen.

Es war auch der eine Tag im Jahr, an dem sie Alkohol trank.

Sowohl das Kleid als auch der Drink trugen zu einer untypischen Unsicherheit in ihrer Haltung bei.

Die Champagnerflöte schräg in einer Hand haltend, die Arme vor der Brust verschränkt, stand sie ebenfalls ganz untypisch alleine da. Es gab niemanden zu bewachen, und das Personal war mit den Gästen beschäftigt, die sich in einem der anderen Innenhöfe mit Meerblick versammelt hatten, dort feierten und tranken … alles im zweifelhaften Namen ihres Vaters.

Der König und die Königin, zwei ihrer beständigsten Begleiter, waren ebenso anwesend wie ihre beste Freundin in der Garde der Königin, Jenna Moustafa, die ihren Dienst alleine verrichtete, während Hel Verkleiden spielte.

Die Falte zwischen ihren Brauen vertiefte sich. Sie sollte mit ihren Freunden zusammen sein, wachsam und bereit, Moustafa zur Hilfe zu eilen, falls es nötig wurde. Zumindest wäre das eine sinnvollere Verwendung ihrer Zeit, als vor dem Bildnis ihres Vaters zu stehen und in Gedanken Streitgespräche mit ihm zu führen, die sie nach seinem Tod schlicht nicht mehr gewinnen konnte. Nicht, dass sie jemals eine Chance gehabt hatte, als er noch am Leben war. Niemand hatte eine Chance gegen Dominic d’Tierzza.

Hel würde aber nicht diejenige sein, die das Handtuch warf. Diese Genugtuung hatte ihr Vater nicht verdient.

Nicht einmal im Tod.

Also grinste sie die Statue an. „Dieses Jahr hast du dich wirklich selbst übertroffen, Papa. Schon zwei Millionen eingesammelt, dabei wurde das Essen noch nicht einmal serviert.“

Er gab keine Antwort.

Das hätte er auch nicht getan, wenn er noch gelebt hätte. Über Geld zu reden empfand er als unhöflich. Außerdem waren zwei Millionen eine läppische Summe. Zu seinen Lebzeiten hätte er an diesem Nachmittag schon vier aufgebracht – das verriet ihr seine nun unablässig hochgezogene Augenbraue.

Das entspricht nicht dem Standard des Namens d’Tierzza.

Es war nur eine Erinnerung, doch die Worte hinterließen einen sauren Nachgeschmack.

Ihr Vater war ein altmodischer Mann, selbstherrlich und leider auch hasserfüllt, wie sie als Teenager leidvoll hatte erfahren müssen. Ihm ging es ausschließlich um den Stammbaum der Familie.

Eine Tochter war ein Mittel zum Zweck, die zum Vorteil der Familie eingesetzt werden konnte, mehr nicht. Eine Frau jenseits des gebärfähigen Alters war überhaupt nichts mehr wert.

Er hatte Helene, benannt nach der schönen Ursache des Trojanischen Krieges, ermutigt, hübsch und gefügig zu sein – sie stellte einen Preis dar, den alle Männer begehrten.

Stattdessen war aus ihr eine Frau mit eigener Meinung geworden, die gelernt hatte zu kämpfen.

Sie war hinaus in die Welt gezogen, hatte sich ins pralle Leben gestürzt, Erfahrungen gesammelt und alles getan, um zu beweisen, dass Helene d’Tierzza nichts mit dem Heiratsmaterial gemein hatte, zu dem ihr Vater sie formen wollte.

Es hatte nichts genützt.

Nichts, nicht einmal, dass sie in die Königliche Garde eingetreten war, hatte gereicht … nicht, als er noch lebte und schon gar nicht jetzt, da er tot war.

Denn noch immer warf er einen düsteren Schatten auf ihr Leben. Und auf das ihrer Mutter.

Tatsächlich konnte sie es kaum fassen, dass sie eine Wohltätigkeitsveranstaltung in seinem Namen ausrichteten. An dem Erbe ihres Vaters war nichts Ehrbares … nur Kriminelles.

Sie hätte all seine Verbrechen aufzählen können.

Natürlich tat sie das nie, sondern behielt ihr Wissen für sich. Ihre Mutter und sie hielten seine schmutzige Wäsche im Dunklen verborgen. Wenn sie ab jetzt jeden Moment ihres Lebens der Gerechtigkeit widmete, könnte sie damit ihre Lügen vielleicht wiedergutmachen … und mit ganz viel Glück sogar die Lügen ihres Vaters.

Außerdem gingen die Spenden, die sie heute sammelten, an Wohltätigkeitsorganisationen im ganzen Land.

Ihrem Vater wäre das gleichgültig gewesen. Für ihn zählte nur der Name d’Tierzza. Kein anderer Name, nicht einmal der der königlichen Familie, durfte ihn in den Schatten stellen.

Doch ihr war die Spendengala wichtig. Die Menschen waren ihr wichtig. Mit ihrem Vater war sie nur dem Namen nach verwandt.

Hel wandte den Blick von der lebensgroßen Statue ihres Vaters ab und trank den letzten Schluck ihres Champagners. Sanft sprudelnd floss das edle Getränk ihre Kehle hinunter, während sie den grazilen Stil des Kristallglases betrachtete, den sie zwischen zwei Fingern kreisen ließ. Dann machte sie eine rasche Bewegung mit dem Handgelenk.

Das Glas segelte auf die Skulptur zu, vollführte während des Fluges einen perfekten Halbkreis, bevor es auf die Marmorstatue prallte und in tausend Scherben zersplitterte. Die winzigen Kristallstücke fingen das Licht ein und bildeten für einen Moment einen kleinen Regenbogen, bevor sie zu Boden klirrten.

Plötzlich hörte sie hinter sich ein Räuspern und das Geräusch von Schritten auf den Pflastersteinen. Augenblicklich hatte sie jeden Gedanken an ihren verstorbenen Vater vergessen und befand sich in Alarmbereitschaft.

Die Schritte beschleunigten sich. Hel wich nach rechts aus und ging in die Hocke, unmittelbar bevor jemand eine große Hand auf ihren Mund legte. Der Saum ihres Kleides riss, was sie ignorierte. Stattdessen drehte sie sich und trat mit der Ferse gegen das Schienbein des Angreifers.

Der Fremde schien die Bewegung vorauszusehen, denn er sprang rechtzeitig außer Reichweite und aus ihrem Blickfeld. Sie versuchte, sich aufzurichten, verlor aber wertvolle Zeit, weil das zerrissene Abendkleid ihre Bewegungsfreiheit einengte. Plötzlich packte der Unbekannte von hinten ihre Arme und hielt Hel in eisernem Griff fest. Genau aus diesem Grund weigerte sie sich sonst, Kleider zu tragen – in einer Hose wäre ihr das nicht passiert.

Sie warf den Kopf in den Nacken, um das Gesicht des Angreifers zu treffen, doch wieder schien er ihre Absicht vorauszuahnen und wich dem Stoß aus. Also hob sie die Füße an und überließ dem Fremden ihr gesamtes Körpergewicht. Ein Stöhnen entrang sich seiner Kehle, doch er hielt sie weiterhin fest. Nur der kräftige Griff lockerte sich ein wenig.

Mehr brauchte sie nicht.

Sie entwand sich seinen Händen, ließ sich auf den Boden fallen, während sie gleichzeitig mit voller Wucht gegen seine Beine trat. Jetzt konnte sie erkennen, dass der Angreifer ein Mann war. Er fing sich halbwegs geschickt ab, dennoch verschaffte ihr die Bewegung genug Zeit, um Distanz zwischen ihn und sich zu bringen und eine angemessene Kampfhaltung einzunehmen.

Mühelos sprang er vom Boden hoch. Einen Moment konnte Hel ihn nur wie erstarrt anschauen.

Er sah umwerfend aus.

Definitiv über einsachtzig groß, mit schimmernder Haut in einem dunklen Braunton. Sein Anzug war tadellos geschneidert, entsprach allerdings nicht dem cyranischen Schnitt und Stil. Stattdessen erinnerte das lange Jackett mit dem schmalen Kragen an die Mode der sidranischen Nachbarn im Süden.

In ihrem ganzen Leben hatte sie sich noch nie von einer anderen Person aufhalten lassen, doch dieser Mann lähmte sie. Es lag nicht an seiner Kleidung, obwohl sie ihm tadellos passte und seine perfekten Proportionen betonte. Die meisten Menschen in ihrer Umgebung trugen maßgeschneiderte Couture, seit sie auf die Welt gekommen waren. Es lag auch nicht an seiner Größe – ihr Vater war ein großer Mann gewesen, und ihr Cousin, der König und bester Freund seit Kindertagen, war ebenfalls hochgewachsen.

Der Fremde war älter als sie, in seinem gepflegten Bart entdeckte sie erste graue Haare, obwohl seine Haut noch glatt wie Marmor wirkte. Seine Augenbrauen waren dicht und schwarz und lagen tief über seinen Augen.

Diese Augen! Irgendetwas in ihnen schien nach ihr zu greifen und sie an sich zu ziehen, sie zu drängen, näher zu kommen, als wäre sie eine hilflose Beute.

Er lächelte, was ein herausforderndes Schimmern in seine dunkelbraunen Augen zauberte. Das Lächeln lenkte ihren Blick auf seinen vollen Mund. Unwillkürlich befeuchtete sie ihre plötzlich trocken gewordenen Lippen.

„Es scheint, als hätte ich die Schwierigkeit unterschätzt, dich heute zu überzeugen …“, murmelte er auf Cyranisch. Das leise Flüstern glich einem kribbelnden Bass, der sich einfach wundervoll in ihren Ohren anhörte.

Ein Schauer überlief sie, ihr Atem ging stoßweise, als ihr Körper Systeme in Gang setzte, von denen sie fest überzeugt war, dass sie nach jahrelangem Stillstand defekt sein mussten.

Erst dann begriff sie seine Worte.

Er wusste um die Wirkung, die er auf sie hatte. Und er glaubte, er könnte diese Tatsache gegen sie verwenden.

Auf einmal fühlte sich ihr Kopf ganz heiß an: eine Mischung aus Ärger über seine Arroganz und Verlegenheit über ihre eigene Verwirrung. Aber dieses Mal ließ sie sich von ihren seltsamen inneren Reaktionen nicht bremsen.

Mit einer geschmeidigen Bewegung griff sie nach unten, zog einen Schuh aus und schleuderte ihn in sein Gesicht, dann wiederholte sie dasselbe mit dem anderen Schuh, bevor sie in Richtung Portal flüchtete.

Dem ersten Schuh wich er aus, aber der zweite traf ihn, was ihr kostbare Sekunden verschaffte.

Es reichte nicht.

Er war schneller als sie und versperrte ihr den Weg durch den Torbogen. Abrupt blieb Hel stehen, weil sie ihm nicht noch einmal zu nahe kommen wollte. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, griff sie nach dem Saum ihres Kleides und riss ihn weiter auf.

„Sind wir so ungeduldig?“, fragte er mit einem schelmischen Grinsen.

Sie bedachte ihn mit einer unflätigen Handbewegung, woraufhin er den Kopf in den Nacken warf und lauthals lachte. Der Klang brachte ihren Körper zum Schwingen, Hitze breitete sich tief in ihrem Inneren aus. Irgendwie schaffte sie es, dem Drang zu widerstehen, die Beine zusammenzupressen.

„Wer bist du?“, fragte sie.

„Nicht der, den du hier erwartet hast?“, fragte er mit gespielter Überraschung. Die Belustigung in seiner Stimme entfachte ein Feuer in ihrem Inneren, von dessen Existenz sie keine Ahnung gehabt hatte.

Die Hitze breitete sich bis über ihren Nacken aus und zauberte eine leuchtende Röte auf ihre Wangen.

„Dies ist ein privater Innenhof.“

Der Fremde nickte. „Ich weiß.“

„Weshalb bist du hier?“

Er legte den Kopf auf eine tadelnde Weise schief, die sie irgendwie an ihre Mutter erinnerte, als wolle er sagen, dass sie es eigentlich besser wissen müsste. „Um mit dir zu sprechen. Ist das nicht offensichtlich?“

„Normalerweise nähern sich Menschen, die mit mir reden wollen, von vorne“, merkte sie an.

„Es wäre nicht das erste Mal“, erwiderte er schulterzuckend, „dass ich die Dinge aus einem anderen Winkel angehe.“

Unwillkürlich musste sie lachen. „Worüber willst du denn reden?“

Ein Funkeln blitzte in seinen Augen auf, während er ihren teilweise entblößten Körper betrachtete. Beginnend mit ihren nackten Füßen, ließ er seinen Blick langsam nach oben wandern, verweilte kurz bei ihren Brüsten, bevor er ihr in die Augen schaute. Hel empfand den Blick wie eine Liebkosung, ihr Atem ging schneller.

„Über viele Dinge … Wiedervereinigungen, neue Vereinigungen …“, sagte er mit einer so samtigen Stimme, dass die Worte an tropfenden Honig erinnerten.

„Wir sind uns noch nie begegnet“, entgegnete sie und verlagerte ihr Gewicht unauffällig auf die Fersen. Etwas, das an Schmerz erinnerte, blitzte in seinen Augen auf, war aber verschwunden, sobald er zu einer Antwort ansetzte. „Wir beide? Nein“, sagte er nonchalant. „Aber wir kennen uns schon unser ganzes Leben.“

Der Klang der Worte faszinierte sie. Es war, als verberge sich in ihnen ein Geheimnis, das sie beinahe verleitete, über ihre Bedeutung nachzudenken, anstatt sich auf ihren nächsten Schritt zu konzentrieren. Aber die Zeit hatte sie nicht.

Sie wirbelte auf dem Absatz herum und setzte zum Sprint an, wobei sie barfuß durch die Scherben des Champagnerglases lief.

Dafür trug sie selbst die Schuld. Ihr Vater hatte immer gesagt, ihre Unbesonnenheit würde sich eines Tages rächen. Ihr Angreifer folgte ihr erschreckend schnell, doch sie besaß einen kleinen Vorsprung und den Vorteil, die Umgebung besser zu kennen.

Hel stürmte auf die Statue ihres Vaters zu, machte einen Satz auf deren Schulter, stieß sich ab und sprang auf das dahinterliegende Ziegeldach, das den Innenhof umgab. Die Landung war hart, sie geriet leicht ins Rutschen, als einige Ziegel sich lösten und in den Hof krachten.

Sobald sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, kletterte sie auf den Dachfirst hinauf – auf dem man tatsächlich laufen konnte. Ein lautes Geräusch und ein rascher Blick über die Schulter bestätigten ihr, dass ihr Verfolger noch nicht aufgegeben hatte.

Eilig rannte sie über das Dach, ihre nackten Füße fanden leicht Halt auf den vertrauten alten Holzbalken. Sie folgte demselben Weg, den ihr Cousin und sie als nicht zu bändigende Jugendliche immer genommen hatten, wenn sie ein bisschen Spaß haben oder ihre Lehrer erschrecken wollten.

Mit etwas Glück würde der alte Trick auch bei dem Mann hinter ihr funktionieren, der leider sehr rasch zu ihr aufschloss.

In der Ferne hörte sie geschmackvolle Musik und die gedämpften Gespräche der Party. Noch blieb Zeit, um dorthin abzubiegen. Moustafa und die Garde würden nicht zögern, ihr beizustehen. Es bestand jedoch die Möglichkeit, dass der Unbekannte gar nicht hinter ihr her war, sondern in die Nähe des Königs oder der Königin gelangen wollte. In diesem Fall beschützte sie die beiden, indem sie den Angreifer von ihnen fernhielt. Außerdem konnte sie sich das Entsetzen ihrer Mutter lebhaft vorstellen, wenn ihre Tochter buchstäblich mitten in die Party stürzte mit nichts als einem zerfetzten Abendkleid am Leib.

Andererseits hätte ihre Mutter vielleicht gar nicht so viel dagegen … wenigstens würde über diese Party noch lange gesprochen werden.

Aber Hel hatte ihr versprochen, ruhiger zu werden, und das war ihr – trotz ihres Berufes – zum größten Teil auch gelungen.

Nach dem Tod ihres Vaters verlor sich das Bedürfnis, den Namen der Familie in Verruf zu bringen. Ihre Mutter verstand Hels Motivation zur Rebellion sehr gut und kümmerte sich wenig um Klatsch und Tratsch, den ihre Tochter auslöste. Ihre Beziehung war eng und viel zu stark, um durch Gerüchte erschüttert zu werden.

Aber ihr Verhalten beeinflusste, wie ihre Mutter in der Gesellschaft behandelt wurde. Nachdem Helene der königlichen Garde beigetreten war, war ihrer Mutter der Termin in einem Salon verweigert worden. Danach hatte sie sich geschworen, nichts zu tun, was die hart erarbeitete Freiheit ihrer Mutter gefährden könnte.

Anstatt also Verstärkung zu suchen, blieb Hel auf dem Weg zu der Stelle, die ihr Cousin und sie den „Sprung des Todes“ genannt hatten.

Entdeckt hatten sie ihn, als sie elf Jahre alt waren und wieder einmal unerlaubt das Dach des Palastes erkundeten.

„Wenn du von hier springst, würdest du im tiefen Wasser landen“, hatte Zayn mit einem Stirnrunzeln gesagt, in dem die junge Helene eine Herausforderung erkannte. Sie hatte ihn angesehen und ihm dann ein breites Grinsen geschenkt. Er hatte den Kopf geschüttelt. Aber sie hatte nur Anlauf genommen und war gesprungen.

Zum Glück hatte er Recht gehabt.

Danach war der „Sprung des Todes“ zur bevorzugten Methode geworden, um die Ausdauer jedes Erziehers und Lehrers zu testen, der ihnen Vernunft beibringen sollte. Bis auf eine Ausnahme hatte keiner bemerkt, dass der Sprung sicher war, weshalb die Schüler Stunden später stets bei bester Gesundheit zurückkehrten.

Hel setzte darauf, dass der Anblick ihres Sprungs in den Abgrund dieselbe abschreckende Wirkung auf ihren Verfolger hatte wie auf ihre Lehrer früher.

In der Zwischenzeit würde sie in eine der Höhlen schwimmen, die das Meer im Laufe der Jahrtausende erschaffen hatte, dann den Weg zurück zum Palast nehmen und herausfinden, wer zum Teufel der Kerl eigentlich war. Und selbstverständlich würde sie das in Hosen tun.

Sie nahm die letzte Kurve auf dem Dach – ein scharfer Richtungswechsel nach links in Richtung der Balkone. Gleich gähnte der Abgrund vor ihr.

Der Unbekannte blieb ihr dicht auf den Fersen.

Abrupt stieß sie sich von dem Holzbalken ab, ihr Körper wölbte sich im Sturz, Adrenalin durchströmte sie.

Das Blut rauschte in ihren Ohren, während sie sich auf die Wasseroberfläche zubewegte. Alle Muskeln angespannt, tauchte sie in perfekter Haltung ins Meer.

Glücksgefühle stiegen in ihr auf, als sie sich unter Wasser befand. Sie sollte das viel öfter tun.

Ihr Schwung trug sie noch dreißig Meter weiter, bevor sie wieder auftauchte.

Schwer atmend schaute sie zur Kante des Daches hinauf. Wie immer überraschte es sie, wie klein und weit weg der Rand aussah. Ihr Verfolger war nirgends zu sehen. Ein breites Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Der Sprung des Todes war ihr wieder einmal gelungen.

In gemächlichem Tempo schwamm sie zu einer der Höhlen. Sie genoss das schmerzhafte Zwicken an ihren Füßen, mit dem das Salzwasser die Wunden ihres Sprints über die Glasscherben reinigte.

Und dann hörte sie, wie etwas Großes hinter ihr landete.

Wassertretend sah sie sich um. Einen Moment erblickte sie nur das sanft wogende Meer.

Dann tauchte er auf.

Eilig schwamm sie weiter auf die Höhle zu, aber er durchpflügte die Wellen, als sei er eine Art unheimlicher Wassermann.

Als sie tiefer in die Höhle kam, entdeckte sie vor sich ein massives Gebilde. Sie hielt inne. Ihr Keuchen hallte von den Höhlenwänden wider.

Vor ihr lag ein Schiff vor Anker.

Hinter ihr brandete männliches Gelächter auf und wirbelte um sie herum.

Nur wenige Meter trennten sie. Hel überdachte ihren nächsten Schritt. Schwimmend konnte sie ihm auf keinen Fall entkommen. Das wusste sie.

Da war etwas an ihm, seine Aura erinnerte an ein Meerestier. Oder vielleicht lag es an der Tatsache, dass er völlig eins mit dem Wasser zu sein schien, obwohl er in klatschnasser Kleidung schwamm.

Natürlich konnte es dennoch nie schaden, selbst das Unmögliche zu versuchen.

Sie wandte sich zur Seite und steckte all ihre Energie in ihre Schwimmbewegungen.

Es funktionierte. Einige Meter schoss sie an ihm vorbei und verspürte das Hochgefühl, einen würdigen Gegner besiegt zu haben. Das war sicherlich die bessere Art, den Geburtstag ihres Vaters zu verbringen, als so zu tun, als würde sie ihn lieben und ehren.

Die Führung zu behalten, erforderte ihre volle Kraft, mit aller Energie strebte sie vorwärts … und direkt in das Gewirr eines Netzes hinein.

Zu sehr hatte sie sich auf die Flucht konzentriert, dass sie das Gewirr übersehen hatte, das vor ihr auf dem Wasser trieb.

Ihr Schwung trieb sie mitten in die verknüpften Seile, die sich nun immer mehr um ihren Körper verhedderten und begannen, sie unter die Oberfläche zu ziehen. Sie wehrte sich mit aller Kraft, verstrickte sich aber nur noch mehr.

In Sekundenschnelle war der Fremde bei ihr und sicherte sie mit einem Arm um ihre Taille. Mit der anderen Hand löste er das Netz von ihren Armen und Beinen.

Das Wasser schien sein Verbündeter zu sein und ihn als Seinesgleichen zu akzeptieren, während er ruhig und konzentriert arbeitete, als würden sie nicht inmitten einer Höhle auf den Wellen schaukeln.

Unvermittelt ertönte über ihnen eine Sirene.

Ihre Abwesenheit war bemerkt worden.

Fluchend machte er sich an den letzten Seilen zu schaffen, bevor er sie mit raschen Zügen in Richtung Schiff zog.

„Das läuft alles nicht nach Plan.“ Er klang wie ein müder Großvater.

Ohne darauf einzugehen, bemühte sie sich um einen beiläufigen Tonfall: „Das erklärt wenigstens, wie du hergekommen bist.“

Das Erlebte reichte, um ihr seelisches Gleichgewicht ins Wanken zu bringen. Schließlich kam es nicht jeden Tag vor, dass sich ein gut aussehender Fremder heimlich in den Hafen schlich und ihr im Kampf überlegen war. Normalerweise war sie diejenige, die gewann.

„Ich nehme an, das ist dein Schiff?“, fragte sie, als sei die Antwort eigentlich nicht wichtig.

Er lachte, sagte aber nichts.

Beinahe hatten sie die Strickleiter erreicht, die sie an Bord des Schiffes bringen würde. Hel war erschöpft, auf ihrer Haut zeichneten sich durch den Kampf mit dem Netz breite Striemen ab, aber sie gab ihrem Kleid die Schuld für das ganze Desaster.

Hätte sie kein Kleid getragen, hätte sie gar nicht erst ins Wasser springen müssen. Sie hätte den faszinierenden Unbekannten schon im Innenhof mit Leichtigkeit besiegt, erfahren, was er wollte, und den Tag gemütlich in ihrem Bett beendet. Es wurde immer klarer, dass er nie vorgehabt hatte, sie zu entführen, und dass die Dinge jetzt, da er sie mit leichtem Keuchen die Strickleiter hinauftrug und die Alarmsirene des Palastes heulte, viel schwieriger für ihn geworden waren.

Über all das nachzudenken bedeutete auch, dass sie sich nicht dagegen wehrte, während er mit ihr im Arm an Bord kletterte.

An Deck erblickte sie etliche Männer und Frauen, die nicht einmal mit der Wimper zuckten, als der Unbekannte Hel über die Reling hievte. Einige hielten kurz in ihrem Tun inne und winkten oder nickten ihm zur Begrüßung zu.

Er erwiderte die Grüße knapp, während er zügig weiterging.

Die Kabine, zu der er sie führte, glich einer marokkanischen Bibliothek – hell, luftig und warm. An weißen Wänden reihten sich Bücherregale aus honigfarbenem Holz, Fenster in der Decke würden den Raum bei Tag mit Licht fluten. Das gesamte Dekor wirkte überaus maskulin, alles besaß eine gewisse Stromlinigkeit, sogar die weichen Sitzgelegenheiten. Die Fächer der Regale waren mit Büchern vollgestellt und mit einer kleinen Lippe versehen, die wahrscheinlich dazu diente, die Bücher bei unruhiger See an ihrem Platz zu halten. Die Sammlung, vermutete sie zunächst, diente allein der Schau. In ihrem Leben, hatte Hel schon vor längerem festgestellt, waren Männer der Tat nur selten begeisterte Leser. Leser verbrachten ihre Abende zu Hause, nicht auf dem Meer.

Doch als sie genauer hinschaute, bemerkte sie bei jedem Band gewisse Abnutzungen: rissige Buchrücken, leicht verbogene Einbände, verzogene Kanten.

Diese Bücher waren nicht nur gelesen worden … sie waren geliebt worden.

Trotz der Männlichkeit des Raumes hätte niemand das Zimmer als steril oder aggressiv bezeichnet. Stattdessen strahlte es eine warme und natürliche Atmosphäre aus. Farbenfrohe Polstermöbel – ein goldgelbes Kissen für den Sessel, eines aus leuchtend burgunderroter Seide für das Sofa – machten die Kabine wohnlich. Auf dem glänzenden Dielenboden lag ein handgewebter Teppich im schwarz-weißen Berberstil, in dessen Mitte ein großer Tisch aus abgeschliffenem Treibholz stand.

Wenn sie sich nicht irrte, war dies das kostspieligste Schiff, das sie je betreten hatte. Der absolute Luxus, der sich teilweise nur sehr subtil zeigte, verriet ihr, dass dieser Mann definitiv nicht knapp bei Kasse war.

Trotz der Behaglichkeit des Raumes entdeckte sie auch Anzeichen dafür, dass sie es mit einem absoluten Profi zu tun hatte.

In den Ecken verbargen sich getarnte Überwachungskameras. Und von einigen Gegenständen vermutete sie, dass es sich trotz ihres unscheinbaren Aussehens in Wahrheit um gefährliche Waffen handelte. Zwischen den Büchern war ein unauffälliger Safe verborgen. Es war eine der besten Arbeiten, die sie je gesehen hatte.

Der Mann besaß Geld, ein Schiff und war paranoid. Die drei Dinge zusammengenommen ließen nur einen Schluss zu.

Er war ein Pirat.

Sie war von einem Piraten entführt worden!

Autor

Marcella Bell
Foto: © privat
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