Zarte Liebe - gefährliches Spiel

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Als Pilot Jake Wilde nach vier Jahren auf seine Ranch zurückkehrt, erwartet ihn die halbe Stadt. Und eine Fremde. Allein steht sie im Salon: schlank, schön und in einem Kleid aus Seide. Sexy schwarzer Seide. Sehnsucht bemächtigt sich seiner verletzten Seele - und tiefe Enttäuschung, als er begreift, dass die Fremde ihn nicht als Mann, sondern bloß als Geschäftspartner sieht. Er beginnt einen heftigen Streit mit ihr - und erobert sie noch in derselben Nacht unter Texas’ Sternen ... Doch so sehr Addison ihn fesselt: Das Gefahrengebiet seiner Gefühle darf sie niemals betreten.


  • Erscheinungstag 19.06.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733778477
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Jake Wilde war immer jemand gewesen, den die Frauen wollten und die Männer beneideten.

Mit sechzehn war er ein Football-Star. Er machte seinen Flugschein und führte die schönsten und begehrtesten Mädchen aus. Eine nach der anderen, natürlich. Denn er hatte nicht nur Anstand, sondern selbst damals schon genau gewusst, was Frauen erwarteten.

Außerdem war er klug und sah gut aus. So gut, dass er in Dallas angesprochen worden war, ob er sich nicht vorstellen könnte, nach Osten zu ziehen und als Model zu arbeiten.

Fast hätte Jake dem Typen die Faust ins Gesicht geschlagen, dann aber gerade noch rechtzeitig erkannt, dass es keine Anmache, sondern ein ernst gemeintes Angebot war. Also hatte er dankend abgelehnt und sich in seinen Pick-up geschwungen. Er wollte so schnell wie möglich zur Familienranch zurück, um sich mit seinen Brüdern vor Lachen auszuschütten.

Mit anderen Worten – das Leben war großartig.

Die Erinnerungen flogen vorüber: College – drei Jahre, zumindest. Dann hatte er, aus Gründen, die ihm damals vernünftig erschienen, abgebrochen.

Auf die eine oder andere Weise hatten alle Wildes ihrem Land gedient. Travis als Kampfjet-Pilot, Caleb als Agent in irgendeiner dieser hoch geheimen Regierungsabteilungen, über die niemand sprach. Bei Jake waren es militärische Einsätze mit dem Blackhawk in Krisengebieten gewesen.

Und innerhalb eines Wimpernschlags hatte sich alles geändert.

Seine Welt. Sein Leben. Alles, was ihn ausmachte.

Aber …

Nicht alles war anders geworden.

Das erkannte er an jenem Frühlingsabend, an dem er über die stockdunkle Straße durch die texanische Nacht brauste, auf dem Weg nach Hause.

Im Dunkeln runzelte Jake die Stirn.

Moment. Auf dem Weg zu dem Ort, an dem er aufgewachsen war. Als Zuhause sah er die Farm nicht mehr an.

Vier lange Jahre war er weg gewesen. Um genau zu sein: vier Jahre, ein Monat und zwei Wochen.

Trotzdem schien ihm die Straße vertraut wie seine Westentasche.

Wie auch die Gegend auf der Fahrt vom Dallas Fort Worth Airport hierher.

Fünfzig Meilen Highway, dann der Abzweig auf die Landstraße, endlos und schnurgerade, gesäumt von Zäunen, hinter denen die Rinder wie stumme Wächter standen, und dann, eine knappe Stunde später, das Loch im Zaun, das schon immer auf den namenlosen Feldweg geführt hatte, an dessen Ende das Haus des alten Chambers lag.

Jake bog in die Straße ein. Selbst nach all den Jahren lenkte er den 63er Thunderbird automatisch um das Schlagloch herum, das die Grundstücksgrenze markierte. Es gehörte bereits zum Land des Alten, daher hatte nie jemand das Schlagloch ausgebessert.

„Auf meinem Land braucht keiner was zu machen“, würde Elijah Chambers nur knurren, wenn jemand tatsächlich dumm genug wäre, es vorzuschlagen.

Jakes Vater hatte den Alten verachtet. Aber … der General verachtete jeden, dessen Bügelfalte nicht absolut exakt saß und dessen Schuhe nicht auf Hochglanz poliert waren.

Das galt auch für die eigenen Söhne.

Wenn du mit einem Vier-Sterne-General als Vater aufwächst, dann hast du gefälligst auch tadellos und seinem Rang entsprechend aufzutreten.

Das hatte Caleb früher immer gesagt. Oder vielleicht war es auch Travis gewesen.

Vielleicht war ich es aber auch selbst. Ein Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. Oder zumindest etwas, das einem Lächeln ziemlich nahekam. Zum ersten Mal seit Langem. Er unterdrückte es sofort.

Ein Mann gewöhnte sich das Lächeln ab, wenn er damit letztendlich jeden nur zu Tode erschreckte.

Jake trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. Vielleicht sollte er besser umdrehen und nach …

Ja, wohin?

Nach Washington auf jeden Fall nicht. Auch nicht in die Klinik. Er wollte sein Lebtag kein Krankenhaus mehr von innen sehen. Nicht zum Stützpunkt und auch nicht zu seinem Haus in Georgetown. Zu viele Erinnerungen. Davon ganz abgesehen, er gehörte weder auf den Stützpunkt noch nach Washington. Und das Haus hatte er verkauft. Gestern hatte er den Vertrag unterschrieben.

Er gehörte nirgendwohin, das war die Wahrheit. Nicht einmal nach Texas. Und ganz bestimmt nicht auf El Sueño, die Ranch mit ihren 500.000 Morgen Hügel- und Grasland.

Die Ranch war der Hauptgrund, weshalb er nicht lange bleiben würde.

Seine Brüder wussten es und versuchten alles, um ihn umzustimmen.

„Hey, Mann, du gehörst hierher“, hatte Travis gesagt.

„Das ist dein Zuhause“, hatte Caleb in die gleiche Kerbe geschlagen. „Gewöhn dich wieder ein, lass es langsam angehen. Nimm dir Zeit, und überleg dir, wie der nächste Schritt aussehen soll.“

Jake änderte seine Sitzposition, um etwas mehr Beinfreiheit zu haben. Der Thunderbird bot einem Mann, der einen Meter neunzig maß, nicht sehr viel Platz. Aber wenn man mit sechzehn einen ganzen Sommer lang an einem Auto herumgeschraubt und es wieder fahrtüchtig gemacht hatte, dann war man eben auch zu Abstrichen bereit.

Bei Caleb hatte sich das so einfach angehört.

Das war es nicht.

Jake hatte keine Ahnung, was er als Nächstes tun wollte. Es sei denn, die Zeit ließe sich zurückdrehen bis zu dem Punkt, an dem sich alles verändert hatte, auf dem engen Bergpass mit den hohen Felswänden, die sich in einen schmutziggrauen Himmel reckten …

„Schluss damit“, sagte er rau in die Stille hinein.

Er würde einen oder auch zwei Tage auf der Ranch verbringen. Seine Schwestern wiedersehen, seine Brüder. Seinen Vater.

Und dann würde er wieder fahren.

Auf das Zusammentreffen mit seinen Schwestern freute er sich schon – hoffentlich brachen die Mädchen nicht in Tränen aus. Und der General? Nun, das wäre auch okay. Sein alter Herr würde ihm eine aufmunternde Rede halten. Wenn das nicht zu lange dauerte, würde er es schon überleben.

Ach, zum Teufel. Hier war niemand, der sein vernarbtes Gesicht sehen konnte, wenn er grinste. Und ehrlich gesagt, allein wenn er an Caleb und Travis dachte, musste er grinsen.

Die Wilde-Brüder waren immer unzertrennlich gewesen. Als Kinder hatten sie ständig gemeinsam gespielt, als Teenager waren sie zusammen in Prügeleien geraten. Und solange sie denken konnten, hatten sie immer die gleichen Vorlieben gehabt: schnelle Autos, schöne Frauen.

Garanten für Riesenärger.

Sie halten zusammen wie Pech und Schwefel, so hatten die Schwestern immer behauptet. Halbschwestern – der General war zweimal verheiratet gewesen, zwei verschiedene Mütter für die Brüder und die Schwestern.

Und es stimmte. Noch immer standen sie sich nah, sonst hätten seine Brüder ihn nie zu diesem Besuch überreden können.

Immerhin tat er es auf seine Art. Mehr oder weniger.

Sie hatten ihm nämlich einen Jet schicken wollen.

„Wir haben zwei von den Dingern auf El Sueño stehen“, hatte Travis gesagt. „Das solltest du wissen, du hast sie schließlich gekauft. Warum für ein Flugticket zahlen, wenn es nicht nötig ist?“

Ja, warum?

Eine Sache hatte Travis allerdings nicht erwähnt. Jake hatte die Flugzeuge nicht nur gekauft, er hatte sie auch geflogen.

Jetzt nicht mehr.

Ein Pilot, der nur noch ein Auge besaß, war kein Pilot mehr. Nach Hause zu kommen als Passagier eines Flugzeugs, das er einst selbst geflogen hatte … mit der Vorstellung konnte er nicht unbedingt gut umgehen. Und so hatte er behauptet, nicht zu wissen, wann genau er sich freimachen könne, und schließlich hatten seine Brüder es geschluckt.

„Es ist einfacher, wenn ich Freitagabend reinfliege und mir einen Mietwagen nehme.“

Von wegen, dachte er und lächelte erneut.

Sobald er nach der Landung den Fuß in das Flughafengebäude in Dallas gesetzt hatte, wurde er ausgerufen. Erst hatte er nicht darauf reagieren wollen, doch dann war er zum Informationsschalter gegangen.

„Captain Jacob Wilde. Sie haben mich ausgerufen“, hatte er knapp gesagt.

Die Flughafenangestellte stand mit dem Rücken zu ihm; als sie sich umwandte, saß das einstudierte Lächeln noch an seinem Platz …

… doch dann erstarb es.

„Oh“, stammelte sie nur. „Oh …“

Er musste sich zusammennehmen, denn eigentlich lag es ihm auf der Zunge zu sagen, dass dieses Gesicht, von der Augenklappe abgesehen, zu Halloween immer der Renner war.

Sie fasste sich schnell, das musste er ihr zugutehalten. Das übertriebene Lächeln kehrte fast sofort wieder zurück.

„Sir, ich habe etwas für Sie.“

Für ihn? Was? Hoffentlich nicht das, von dem die Jungs im Krankenhaus gesprochen hatten – ein Willkommenskomitee aus Zivilisten mit gesetzten Mienen, die ihm alle die Hand schütteln wollten.

Nein, Gott sei Dank war es nicht das, sondern ein brauner Umschlag.

In dem er einen Schlüssel fand sowie die Deck- und Stellplatznummern eines Parkhauses am Flugplatz.

Hast du geglaubt, du könntest uns was vormachen? stand auf den Zettel gekritzelt.

Sie hatten seinen alten Thunderbird hier für ihn abgestellt.

Völlig verrückt, dachte Jake und musste schlucken.

Der Wagen hatte es leichter gemacht, die endlose Weite von Nordtexas zu durchqueren.

Und dann plötzlich lag es vor ihm – das große Gatter, das die nördliche Grenze von El Sueño markierte.

Jake bremste den Thunderbird ab und ließ ihn ausrollen. Er hatte vergessen, wie es war, wenn man dieses große Holztor mit dem verwitterten Schild erblickte, auf dem El Sueño in großen Messinglettern zu lesen stand. El Sueño – der Traum.

Es war genau wie früher, nur dass das Tor offen stand.

Ganz sicher waren seine Schwestern dafür verantwortlich. Lissa, Em und Jamie hatten ihn auf ihre Art zu Hause willkommen heißen wollen. Es würde sie verletzen, wenn sie herausfanden, dass das hier der letzte Ort auf Erden war, an dem er sein wollte, aber er sah nicht, wie sich das vermeiden lassen sollte.

Er musste in Bewegung bleiben.

Jake trat das Gaspedal durch und brauste durch das offene Tor, ließ eine Staubwolke hinter sich aufwirbeln. Wären ihm nicht die Ausreden ausgegangen, wäre er überhaupt nicht hier.

„Ich werde sehen, was sich machen lässt“, hatte er gesagt, woraufhin Caleb ihm leise, aber bestimmt angedroht hatte, dass, sollte Jake weitere Ausflüchte suchen, er mit Travis nach Washington kommen würde, um Jake höchstpersönlich gefesselt und geknebelt nach Hause zu schleifen.

Wie er seine Brüder kannte, hätten sie die Drohung wahr gemacht. Und so hatte er es sich überlegt und war zu der Ansicht gekommen, dass es an der Zeit war, sich mal wieder zu zeigen. Und ist das nicht die passende Umschreibung? dachte Jake jetzt grimmig.

Für seine Familie war sein Aussehen keine Überraschung. Sie alle waren im Krankenhaus gewesen, hatten auf ihn gewartet, als die Frachtmaschine ihn in die Staaten zurücktransportierte. Seine Geschwister, der General … der bei jeder Gelegenheit betonte, dass er John Hamilton Wilde sei, General der Armee der Vereinigten Staaten von Amerika, und für seinen verwundeten Sohn verdammt noch mal ein Einzelzimmer und die besten Chirurgen verlangte, die das Walter Reed Army Medical Center zu bieten hatte!

Jake war zu weggetreten gewesen, um zu protestieren. Aber als er nach vielen Wochen endlich leichtere Schmerzmittel nehmen und wieder klar denken konnte, hatte er dem Ganzen ein Ende bereitet.

Keine Sonderbehandlung.

Und keine Besuche mehr von der Familie.

Das war doch unsinnig. Er wollte nicht zusehen, wie Em, Lissa und Jamie gegen die Tränen ankämpften, wie seine Brüder so taten, als wäre er in Null Komma nichts wieder ganz der Alte, wie sein Vater … nun, wie sein Vater eben war.

Deshalb hatte er es auch so lange hinausgezögert, nach Hause zu kommen, selbst für nur einen kurzen Besuch.

„Idiot.“ Mehr hatte Travis dazu nicht zu sagen gehabt.

Vielleicht war er das ja. Aber er wollte nicht, dass alle um ihn herumschwirrten und vorgaben, es hätte sich nichts geändert. Alles hatte sich geändert. Sein Gesicht, das Bild, das er von sich hatte.

War er überhaupt noch ein Mensch?

Eine verdammt gute Frage.

Eine noch bessere Frage: Wie vollbrachte man den Balanceakt, Normalität vorzugaukeln, und dem grausamen Bewusstsein, dass es nicht so war?

Im Moment würde er das erst einmal vergessen. Heute Abend war es sein Job, eine gute Show abzuliefern. Lächeln, solange er damit keinen in die Flucht trieb. Konversation machen, auch wenn er nichts zu sagen hatte, was Zivilisten hören wollten.

Sich benehmen, als wäre die Zeit nicht vergangen.

Er hatte den Weg zur Ranch allein zurücklegen wollen, um die Chance zu haben, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Die saubere texanische Luft atmen, dem Nachtkonzert der Kojoten zuhören. Und zwar ohne dass ihn schon am Flughafen die Gefühle überwältigten.

Jeder Soldat, den er kannte, sagte dasselbe.

Zurückkommen war hart.

Man zog in den Krieg, angefeuert und aufgeputscht, vor allem, wenn man wie er, Jake, mit Geschichten von Mut, siegreichen Schlachten und Kriegern groß geworden war.

Seine Mutter war tot, gestorben, als Travis sechs, Caleb vier und er selbst zwei Jahre alt gewesen waren. Haushälterinnen, Nannys und eine Stiefmutter, die gerade lange genug geblieben war, um drei Mädchen zur Welt zu bringen, hatten sie aufgezogen.

Der General hatte ihnen bei den seltenen Gelegenheiten, wenn er zu Hause war, Geschichten von Männern erzählt, die mit Cäsar gen Gallien gezogen, mit Ruderbooten auf den Britischen Inseln eingefallen oder über den Atlantik gesegelt waren und den Kontinent von den Ebenen Dakotas bis zur mexikanischen Grenze erobert hatten.

Damals hatte er die Geschichten geliebt. Heute wusste er, dass das alles Blödsinn war.

Nicht der Teil mit den Kriegern, der nicht. Während der letzten Jahre war er selbst einer gewesen, hatte Seite an Seite mit mutigen, anständigen Ehrenmännern gekämpft und der Nation gedient, die er liebte.

Nur hatte sein Vater nie etwas von den Lügen erzählt. Den Politikern. Davon, wie viel vertuscht wurde.

Jake stieg hart in die Bremsen, der Thunderbird wirbelte schleudernd eine Staubwolke auf und kam dann abrupt zum Stehen. Jake schloss für einen Moment die Augen. Sein Puls raste.

Fast wäre er wieder in die Dunkelheit abgerutscht – dabei hatte er sich geschworen, dass ihm das nicht mehr passieren würde.

Er wartete ab, bis sein Herzschlag sich beruhigte, dann stieg er aus.

Irgendetwas streifte seine Wange. Eine Motte. Gut. Motten waren real.

Er sog die kühle Nachtluft in die Lungen, schob die Hände in die Taschen und sah zum Himmel hinauf. In dem Moment schoben sich langsam einige Wolken vor die Sterne, die kalt glitzerten wie Eis.

Minuten vergingen, bis die Sterne und der Mond wieder aus den Wolken auftauchten. Erst dann setzte Jake sich in den Wagen und fuhr weiter. Irgendwann – endlich – sah er die Umrisse eines Hauses, das entfernt auf einer Anhöhe lag.

Panik stieg in Jake auf.

Er lenkte den Thunderbird an den Grasrand und stieg aus.

Links von ihm standen ein paar alte Eichen, ein Weg führte in den kleinen Wald. Jake steuerte den Pfad an und tauchte unter die Baumkronen. Der leichte Wind trug das Murmeln des Coyote Creek heran, der Bach, der sich durch das Wäldchen schlängelte. Trockene Äste knackten unter Jakes Cowboystiefeln. Er hatte sich nie zu einem anderen Schuhwerk durchringen können.

Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er Nächte wie diese geliebt. Die kalte Luft, das Glitzern der fernen Sterne. Damals hatte er auch in den Himmel aufgesehen und sich darüber gewundert, dass er auf einem Planeten stand, der im endlosen All um die eigene Achse wirbelte.

Er hob die Hand an sein Auge, rieb die gespannte Haut darunter. Jetzt bedeutete eine kalte Nacht wie diese für ihn nur, dass seine Knochen und die leere Augenhöhle schmerzten.

Wie konnte ein Auge wehtun, das nicht mehr existierte?

Diese Frage hatte er den Ärzten mindestens ein Dutzend Mal gestellt und immer dieselbe Antwort erhalten: Für sein Hirn gab es dieses Auge noch.

Er verzog den Mund. Das bewies nur, wie nutzlos so ein Gehirn für einen Mann war.

Letztendlich hatte er nicht die geringste Ahnung, weshalb er in der Kälte ausgestiegen und über verfaulte Blätter und abgebrochene Äste gewandert war. Aber er würde den Teufel tun und wieder zum Auto zurückkehren.

Der Trampelpfad war ihm ebenso vertraut wie das Tor, die Straße, sein alter Thunderbird. Generationen von Füchsen, Kojoten und Hunden hatten ihn mit ihren Pfoten festgestampft, ebenso wie die Kinder, die es immer wieder zu dem kühlen, schnell dahinfließenden Bach gezogen hatte. Jake war diesen Pfad unzählige Male entlanggegangen, nur eben noch nie in einer kalten Nacht, in der sein Schädel sich anfühlte, als wollte er zerspringen.

Er hätte etwas einnehmen sollen. Aspirin. Eine von den Schmerztabletten. Nur … er wollte keine verdammten Pillen mehr einwerfen, nicht einmal Aspirin.

Schließlich beschloss er, am Ende des Pfades umzukehren und zum Flughafen zurückfahren.

Doch dann trat er aus dem Dickicht – und es war zu spät.

Dort lag es vor ihm. Das Haus. Das Herz von El Sueño. Umgeben von alten, hohen Eichen und hell erleuchtet.

Irgendwo über ihm stieß eine Eule einen Schrei aus. Jake durchlief ein Schauer. Er rieb sich über die Wange. Die Haut fühlte sich heiß an.

Noch ein Eulenschrei, begleitet von einem schrillen Piepsen. Dinner für die Eule, Tod für die Beute.

Das war der Lauf der Welt. Manche überlebten, andere nicht. Und er, verflucht, würde zusehen, dass er von hier wegkam …

Sie können nicht ewig wegrennen, Captain.

Er hörte die Stimme laut und deutlich in seinem Kopf. Wer hatte das zu ihm gesagt? Einer der Ärzte? Ein Psychiater? Aber es stimmte nicht. Er wollte rennen, solange und so weit er konnte.

Die große Haustür ging auf. Jake zog sich hastig in den Schatten der Bäume zurück.

Menschen traten aus dem Haus. Formen, Schemen. Er konnte keine Gesichter erkennen. Aber er konnte Musik hören. Und Stimmen.

Viele Stimmen.

Er hatte deutlich geäußert, dass er niemanden außer seiner Familie sehen wollte. Er hätte sich denken können, dass eine solche Bitte zwecklos war. Seine Schwestern hatten wahrscheinlich die halbe Stadt verständigt. Und die andere Hälfte hatte sich selbst eingeladen. Das hier war schließlich Wilde’s Crossing.

Na schön. Das würde er schon schaffen. Denn wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass er diesen Ort noch immer liebte. El Sueño war ein Teil von ihm. Es lag in seinen Genen wie die keltischen eisblauen Augen und das schwarze Haar der Apachen. Die Wildes ließen sich schließlich Jahrhunderte zurückverfolgen.

Er fluchte leise. Er konnte es nicht bestreiten, aber verstehen konnte er es auch nicht. Warum sollte diese Tatsache Bedeutung haben? Welchen Einfluss hatte die Vergangenheit auf die Zukunft?

Gleich zwei Armee-Psychiater hatten ihm die Frage beantwortet: Die Vergangenheit bildete die Basis für die Gegenwart, auf der wiederum die Zukunft aufgebaut wurde.

Jake hatte keine weiteren Sitzungen mehr wahrgenommen. Sich auf eine Couch zu legen und sämtliche Seelengeheimnisse herauszuposaunen – das war nichts für ihn. Er hatte noch nie Geheimnisse verraten. Sonst würde man sie ja nicht Geheimnisse nennen.

Er musste wieder an die Geschichten denken, mit denen er und seine Brüder aufgewachsen waren.

„Vergesst das nie“, hatte der General immer gesagt. „Alles, was wir sind, alles, was wir haben, verdanken wir dem Mut und der Tapferkeit jener Männer, die vor uns gelebt haben.“

Und so hatten die Brüder seit ihrer Kindheit auf ihre Chance gewartet, die Tradition all der großen Männer fortzusetzen.

Erst das College – weil ihre Mutter es so gewollt hätte. Travis hatte sich für Finanzwesen, Caleb für Jura und Jake für Betriebswirtschaftslehre entschieden.

Er war der Einzige, der sich dann aber doch entschlossen hatte, eine militärische Laufbahn einzuschlagen. Weil er schon immer einen Blackhawk hatte fliegen wollen.

Er war oft auf geheimen Missionen unterwegs gewesen und hatte es geliebt. Dem Feind ein Schnippchen schlagen und Leben retten, wenn sonst nichts und niemand mehr helfen konnte.

Plötzlich stand er nicht mehr in Texas, sondern in einer Flammenhölle. Überall verkohltes schwarzes Land, Rauch, Feuer …

„Nein“, stieß er heiser aus und holte bebend Luft. Nein, dahin würde er heute Abend nicht zurückkehren.

Die Eule schrie erneut. Der Vogel war ein Jäger. Ein Überlebenskünstler.

Nun, das war er, Jake, auch.

Mit weit ausholenden Schritten ging er über das nachtfeuchte Gras zum Haus herüber, zu der Familie, die auf ihn wartete. Die Gestalten an der Tür nahmen deutlichere Formen an.

„Jake?“ Jamie und Lissa riefen beide gleichzeitig seinen Namen.

„Jake?!“ Das waren Caleb und Travis.

„Oh Gott … Jake!“, kreischte jetzt auch Emma auf.

Dann hatte er das Haus erreicht, und sie alle stolperten die Verandatreppe herunter und auf ihn zu. Lachend und weinend umarmten sie ihn. Er fühlte die Nässe auf seinem Gesicht.

Die Tränen seiner Geschwister.

Und vielleicht waren auch seine Tränen dabei.

2. KAPITEL

Versprechen hielt man.

So lautete Addison McDowells Devise.

Und das war der einzige Grund, weshalb sie zu dieser idiotischen Party heute Abend gekommen war. Sie hatte ihrem Finanzberater und ihrem Anwalt – ihrem texanischen Finanzberater und ihrem texanischen Anwalt – versprochen, hinzugehen.

Sich an Zusagen zu halten war einfach korrekt. Und Korrektheit war wichtig. Darauf achtete sie eisern, seit sie eine „Addison“ war und keine „Adoré“ mehr.

Mädchen, die in einem schäbigen Wohnwagenpark aufwuchsen, trugen vielleicht diesen grässlichen Namen, aber diese Zeit lag weit hinter ihr.

Sie hatte alles erreicht, für das der Name Addison stand. Sie war erfolgreich und weltgewandt. Ihr gehörte eine Eigentumswohnung in Manhattan – mit einer riesigen Hypothek, zugegeben. Sie hatte einen Abschluss in Jura von der Columbia University. Sie kleidete sich elegant.

Seit ein paar Monaten gab es allerdings einen Wermutstropfen.

Ihr Ruf passte eher zu einer Adoré als zu einer Addison. Und war das nicht extrem ärgerlich, nach all den Anstrengungen, dem Wohnwagenpark und dem Erbe der plumpen, ungeschlachten Frauen zu entfliehen?

Addison nippte an ihrem Merlot. Wenn Charlie ihr doch nur nicht diese Ranch vermacht hätte. Wenn er doch nur nicht gestorben wäre …

Er war der beste Freund gewesen, den sie je gehabt hatte. Eigentlich ihr einziger Freund. Und er war nicht auf ihren Körper aus gewesen, sondern auf ihren Intellekt, und zum Teufel mit dem, was andere denken mochten.

Charles Hilton, der millionenschwere Rechtsanwalt, hatte sie gemocht. Hatte sie respektiert.

Begegnet waren sie sich, als Addison nach dem Examen in seiner Kanzlei anfing. Dann hatten sie sich besser kennengelernt, und Charlie hatte mehr in ihr gesehen als das Offensichtliche – das schimmernde dunkle Haar, das sie immer streng zurückgekämmt trug, die silbergrauen Augen, die kurvige Figur, die sie mit nüchternen Kostümen kaschierte.

Charlie hatte hinter die Fassade geschaut und ihr wahres Ich erkannt – die intelligente, ehrgeizige Frau, die entschlossen war, es auf jeden Fall zu schaffen. Er war ihr Mentor geworden.

Zuerst hatte sein Interesse sie argwöhnisch gemacht, doch dann merkte sie, dass er sie wie die Tochter liebte, die er nie gehabt hatte. Und sie begann, ihn wie den Vater zu lieben, den sie verloren hatte.

Als er durch die Krankheit zunehmend verfiel, hatte sie ihn noch mehr geliebt. Er brauchte sie, und gebraucht zu werden war ein gutes Gefühl. Zwischen ihnen hatte es keine Intimitäten gegeben, es sei denn, man wollte es als Intimität bezeichnen, dass sie ihm zu seinem Ende hin die verspannten Schultern massiert hatte.

Allein die Vorstellung war obszön.

Doch Klatsch lebte nun mal nicht von der Wahrheit, sondern von pikanten Gerüchten. Die gaben schließlich so viel mehr her, ob nun in Manhattan oder in Wilde’s Crossing, Texas.

Seit ihrer Ankunft in diesem Ort hielt sie sich extrem bedeckt. Trotzdem machte es keinen Unterschied. Die Leute starrten sie an, wann immer sie sich zeigte, ganz gleich, was die Wilde-Brüder auch behaupteten. Heute Abend würde es nicht anders sein.

„Irrtum“, hatte Travis Wilde gesagt.

Addison nahm noch einen Schluck Wein.

Travis Wilde war derjenige, der sich irrte. Die Leute starrten sie an. Und vielleicht war es heute ja sogar berechtigt.

Zuerst hatte sie das Kostüm angezogen. Zu geschäftsmäßig. Damit würde sie nur unangenehm auffallen. Also war sie in Jeans, Bluse – Seide – und Stiefel gestiegen. Ein Blick in den gesprungenen Badezimmerspiegel des alten Chambers hatte ihr gezeigt, dass sie aussah wie eine New Yorkerin, die sich für eine Kostümparty mit dem Thema „Wilder Westen“ zurechtgemacht hatte.

War es nicht erstaunlich, dass sie Charlies Ranch, ihre Ranch, automatisch noch immer mit dem Namen des ehemaligen Besitzers nannte, so wie jeder andere hier auch?

„Ach, zum Teufel!“, hatte sie schließlich irgendwann laut gesagt und eine Maus war beim Klang ihrer Stimme in das Loch in der Wand geflüchtet.

Nur gut, dass sie keine Angst vor Mäusen hatte. Oder vor Spinnen. Oder vor dieser Riesenschlange, die sie von der Veranda dieser Bruchbude, die nun ihr gehörte, hatte fegen müssen.

Sie hatte vor nichts Angst. Deshalb hatte sie es ja auch vom Wohnwagenpark in die Park Avenue geschafft.

Und so hatte sie sich für ein elegantes Kleines Schwarzes und hochhackige, farblich dazu passende Stilettos entschieden.

Die Geschichten über sie waren lange vor ihr in Wilde’s Crossing angekommen. Als sie die Wilde-Brüder befragt hatte, waren die nur rot angelaufen. Dass erwachsenen Männern so etwas noch passieren konnte, besaß einen gewissen Charme, dem Addison aber momentan nichts abgewinnen konnte. Sie war es einfach nur leid, dass über sie getratscht wurde.

Man würde also über sie reden, ganz gleich, was sie anzog. Also konnte sie ihnen auch einen echten Grund liefern, selbst wenn zu Hause niemand bei Cocktailkleid und High Heels auch nur mit der Wimper zucken würde. Die meisten Frauen würden wahrscheinlich in Jeans kommen oder in Rüschenkleidern, die nur bei Sechsjährigen gut aussahen.

Alle Annahmen bestätigt, dachte Addison jetzt, während sie das leere Weinglas gegen ein volles vom Tablett des vorbeilaufenden Kellners austauschte. Sie hatte richtig vermutet, was die Frauen und die Einstellung des gesamten Städtchens anging. Nicht nur urteilten und verdammten die Damen sofort, sie waren auch päpstlicher als der Papst.

So wie die, die sie gerade anstarrte. Rüschenkleid, viel zu greller Lippenstift, toupiertes Haar. Wussten die Frauen in Texas denn nicht, dass nur Dolly Parton mit einem solchen Helm durchkam?

Addison lächelte überfreundlich, und die Frau wandte hastig peinlich berührt den Blick ab.

Ja, freut mich auch, Sie kennenzulernen. Gott, wieso bin ich eigentlich hier? fragte Addison sich verzweifelt.

Weil Travis und Caleb Wilde sie darum gebeten hatten.

Autor

Sandra Marton
Sandra Marton träumte schon immer davon, Autorin zu werden. Als junges Mädchen schrieb sie Gedichte, während ihres Literaturstudiums verfasste sie erste Kurzgeschichten. „Doch dann kam mir das Leben dazwischen“, erzählt sie. „Ich lernte diesen wundervollen Mann kennen. Wir heirateten, gründeten eine Familie und zogen aufs Land. Irgendwann begann ich, mich...
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