Zärtliche Barbaren: Wikinger und Highlander - Best of Historical 2019

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Mit diesem eBundle präsentieren wir Ihnen die schönsten und erfolgreichsten Historical-Romane aus 2019 - leidenschaftlich, aufregend und romantisch. Die kleine Auszeit vom Alltag für die selbstbewusste Frau … Happy End garantiert!

VERKAUFT AN DEN STOLZEN WIKINGER

Und trotzdem war da noch etwas anderes im Spiel, etwas, das ein Feuer in ihr entfachte. Ohne zu bemerken, was sie da eigentlich tat, schmiegte sie sich eng an ihn. Verkauft! Liddy kann nicht fassen, dass sie jetzt Eigentum des breitschultrigen Wikingers Sigurd Sigmundson sein soll! Bis zum letzten Atemzug wird die stolze Keltin diesen Barbaren bekämpfen! Doch ein Blick in seine strahlend blauen Augen löst in Libby ein nie gekanntes Verlangen aus. Ihre Ehre verbietet ihr, sich ihm hinzugeben. Obwohl ihr Herz sich nach seiner Umarmung sehnt, darf sie nie die Seine werden. Als sie die Gelegenheit bekommt, die Freiheit zurückzuerlangen, muss Liddy sich entscheiden: Ist ihr die Unabhängigkeit wichtiger als Liebe und Leidenschaft?

DIE HURE UND DER KRIEGER

"Komm in mein Bett, Engel!" Der jungen Heilerin Keeley ist klar, dass der gut aussehende Krieger, den sie verletzt vor ihrer Hütte im Wald gefunden hat, die Worte im Fieberwahn gesprochen hat. Auch der leidenschaftliche Kuss, den der fremde Highlander ihr geraubt hat, galt nicht ihr, sondern einer anderen … Dennoch weckt Alaric McCabe eine ungekannte Leidenschaft in ihr. Um ihn gesund zu pflegen, folgt Keeley ihm auf seine Burg. Und das Feuer zwischen ihnen brennt bald heiß! Immer wieder verbringen sie zügellose Nächte miteinander, und Keeley beginnt von einer gemeinsamen Zukunft zu träumen. Bis sie erfährt, dass Alaric bereits einer anderen Frau versprochen ist …

WEHRLOS IN DEN ARMEN DES WIKINGERS

Zur Hölle mit den Nordmännern! Hass brennt in Aisly, seit die Wikinger ihren Mann getötet haben. Die schöne junge Witwe hat sich geschworen, fortan allein zu bleiben. Doch eines Tages rettet sie ein breitschultriger Fremder vor einem Wegelagerer, bevor er selbst zusammenbricht. Er ist schwer verletzt, hat sein Gedächtnis verloren, und in ihrer Hütte umsorgt Aisly ihn zärtlich. Das heiße Begehren in seinem Blick ist wie eine süße Belohnung! Doch da kommt ihr ein entsetzlicher Gedanke: Hochgewachsen, muskulös und mit hellem Haar sieht der Mann auf ihrer Bettstatt wie ein Nordmann aus. Verliert sie gerade ihr Herz an den Todfeind?


  • Erscheinungstag 02.01.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733729646
  • Seitenanzahl 768
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Michelle Styles, Maya Banks, Harper St. George

Zärtliche Barbaren: Wikinger und Highlander - Best of Historical 2019

IMPRESSUM

HISTORICAL erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2017 by Michelle Styles
Originaltitel: „Sold to the Viking Warrior“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL
Band 350 - 2019 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Übersetzung: Ralph Sander

Abbildungen: Harlequin Books S. A., alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 05/2019 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733736927

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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1. KAPITEL

873 n. Chr., Islay im von den Wikingern kontrollierten Alba, dem heutigen Schottland

Du musst mich gar nicht so vorwurfsvoll ansehen, Coll. Ich habe mein Wort gegeben, also müssen wir hingehen, auch wenn ich mir etwas Schöneres vorstellen könnte.“ Liddy zog den dünnen Wollumhang enger um sich und versuchte, die bittere Kälte einfach zu ignorieren. Ihr Wolfshund trottete neben ihr her.

Im Zwielicht der Morgendämmerung konnte Liddy in der Ferne die Umrisse der Nordmann-Festung ausmachen, und jenseits der strengen und abweisenden Holzfassade des Walles erkannte sie die drei höchsten Erhebungen auf der Nachbarinsel Jura, die purpurgrauen Paps of Jura. Doch der Schein trog. Zwar würden sie wahrscheinlich noch vor dem Tag der Versammlung die Festung erreichen, aber Liddy wusste, dass sie mindestens einen anstrengenden Tagesmarsch vor sich hatte. Seit dem tödlichen Unfall ihrer jungen Zwillinge Keita und Gilbreath weigerte sie sich, in einem Boot zu reisen.

Die Schritte hinter ihr, die ihr seit vielen Meilen gefolgt waren, verstummten mit einem Mal.

Liddy bückte sich und griff nach dem Halsband ihres Wolfshunds. Ihre Mutter hatte sich dagegen ausgesprochen, dass sie Coll mitnahm, und Liddy sogar mit ihrem richtigen Namen Eilidith angeredet, um sie daran zu erinnern, dass sie eine Dame vom Clan Fergusa war und kein Straßenkind ohne edle Verwandtschaft. Liddy hatte aber darauf bestanden, und ihre Mutter hatte schließlich eingelenkt, wie sie es in jüngerer Zeit oft machte, und dabei angemerkt, dass sie sich ausnahmsweise wieder so anhörte wie die einst vertraute, leidenschaftliche Eilidith aus der Zeit, bevor ihr Ehemann gestorben war.

Liddy verdrehte die Augen und ging wieder weiter. Ihr altes Ich war schon verschwunden, lange bevor sie von Brandons Tod erfahren hatte. Dieses Ich hatte in dem Moment aufgehört zu bestehen, als ihre Kinder ihre letzten Atemzüge machten und ihr Herz in tausend Stücke zersprang.

Sie strich dem Hund über die Ohren, der lehnte sich gegen sie und stieß ihre Hand mit der Schnauze an, als wollte er ihr Trost spenden.

Seit Islay den Nordmännern in die Hände gefallen war, zogen Gesetzlose durch die Wälder, und verzweifelte Männer waren zu Verzweiflungstaten bereit. Dennoch würde es sich selbst ein verzweifelter Mann noch einmal gut überlegen, ihr etwas antun zu wollen, wenn ihm ein ausgewachsener Wolfshund gegenüberstand. Coll hob den Kopf, der sich im Verhältnis zu ihr auf Brusthöhe befand. Eine Narbe zog sich über seine Nase, eine Folge eines unglücklichen Sturzes im Welpenalter, aber kein Überbleibsel irgendeines Kampfs. Dennoch verlieh ihm diese Narbe ein Furcht einflößendes Aussehen, das die meisten Leute und auch andere Hunde veranlasste, lieber einen Bogen um ihn zu machen. Liddy liebte ihn dafür umso mehr.

Sie selbst hatte auch ein entstelltes Gesicht, denn ein Muttermal bedeckte den unteren Teil ihrer Wange. Als sie klein gewesen war, hatten andere Kinder sie gehänselt, aber ihre Großmutter – ihre seanmhair – hatte ihr gesagt, sie sei bei der Geburt von einem Engel geküsst worden und werde dem Clan Fergusa Glück bringen. Ihr Ehemann hatte das Mal dagegen als hässlich bezeichnet, und seine Geliebte hatte ihr erklärt, sie sei von Geburt an verflucht. Nachdem die Zwillinge gestorben waren, hatte sie begriffen, dass diese Frau die Wahrheit gesagt hatte – auf ihr lag ein Fluch. Ihr Ehemann hatte sogar in der Kirche geflucht und damit seine unsterbliche Seele aufs Spiel gesetzt. Anstatt sich dem Getuschel der Leute auszusetzen, zog sie sich immer mehr zurück, bis sie fast zu einer Einsiedlerin geworden war. Aber nun blieb ihr keine andere Wahl, sie musste handeln.

„Wir schaffen das, nicht wahr, Coll? Wir können meinen Vater und meinen Bruder befreien. Lord Ketils Versprechen, das er meinem Vater gegeben hat, wird mehr sein als nur eine Handvoll leere Worte.“

Coll bellte leise und stieß zustimmend ihre Hand an, als glaubte er, dass sie die Wahrheit sprach und nicht nur irgendetwas redete, um die Stille zu bekämpfen und ihren Mut zu stärken, der ihr abhandenzukommen drohte.

Liddy straffte die Schultern. Sie würde sich von niemandem aufhalten lassen und die Freilassung ihres Vaters und ihres Bruders durchsetzen. Es hatte ein Missverständnis gegeben. Anders als ihr Ehemann hatte ihr Vater dem Nordmann bei der ersten sich bietenden Gelegenheit die Treue geschworen, um seine Leute und das Land zu beschützen, das wiederum sein Vater ihm anvertraut hatte. Frieden brachte seine eigene Art von Wohlstand mit sich, und es war das Land, worauf es ankam. Der Clan Fergusa musste auf diesem Land ausharren, es war seiner Dynastie in Fleisch und Blut übergegangen.

Sie ballte die Faust. Selbst die Nordmänner in ihrer großen Festung mussten so etwas wie Ehre besitzen. Sie hatten ebenfalls Gesetze und einen König. Der Fürst aus dem Norden, dort nannte man ihn Jarl, musste einfach an seine Pflichten erinnert werden. Er würde schon einsehen, dass es in seinem eigenen Interesse war, sich an die Gesetze zu halten. Er wollte Frieden und Wohlstand, keinen Krieg mit den Inselbewohnern. Und da war auch ein kleiner Teil von ihr, der hoffte, dass ihre seanmhair recht hatte und sie mit ihrem Muttermal der Familie tatsächlich Glück brachte.

„Ihr geht entschlossen und sehr zielstrebig voran“, sagte eine Stimme hinter ihr, in der ein leichter Akzent mitschwang.

Liddy zuckte vor Schreck zusammen.

„Die meisten Menschen würden diese Gegend zu einer solchen Tageszeit meiden.“

Sie drehte sich um und sah die gleiche Gestalt, die sie seit fast einer Stunde zu ignorieren versuchte. Der Mann folgte ihr bereits seit mehr als einer Meile. Er war groß, sein Gesicht war unter der Kapuze seines Mantels verborgen. Er ging weder gebeugt, noch zog er ein Bein nach, allerdings nur, wenn er glaubte, von niemandem beobachtet zu werden. Unter ihrem forschenden Blick schien er in sich zusammenzuschrumpfen, zugleich ließ er die Schultern sinken, als wollte er klein und schmächtig wirken.

Liddy zwang sich dazu, ruhig durchzuatmen. Es gab keinen Grund, vor einem einzelnen Mann Angst zu haben, erst recht nicht mit Coll an ihrer Seite und dem Messer, das sie unter ihren Gürtel geschoben hatte.

„Was kümmert Euch das?“, fragte sie und ging einen Schritt weiter. Sie war froh, dass ihre letzte noch verbliebene goldene Halskette sicher in den Saum ihres Kleides eingenäht war. Da würde kein Räuber nachsehen. Viel war es nicht, doch ihre Mutter hatte darauf bestanden. Wenn sie nicht an die Ehre des Nordmanns und an seinen Respekt appellieren konnte, würde sie die Freiheit ihres Vaters und ihres Bruders eben erkaufen. Liddy hatte dem Vorhaben mehr aus Hoffnung als aus ernsthafter Erwartung zugestimmt. Sie durfte keinen Fehler machen. Sie wusste, was geschehen würde, wenn sie scheiterte, doch sie musste etwas unternehmen. „Woher wisst Ihr, wohin ich will?“

„Es ist ungewöhnlich, auf dieser Straße und zu dieser Tageszeit einer einsamen Frau zu begegnen.“ Er betrachtete aufmerksam ihren Umhang. „Zudem noch eine von höherem Stand.“

„Ich habe in der Festung des Nordmanns etwas zu erledigen.“ Liddy widerstand der Versuchung, die Kapuze hochzuziehen, um ihren Makel vor ihm zu verbergen. Stattdessen legte sie ihre Hand um das Heft ihres Messers und drückte die Schultern nach hinten. Vielleicht genügte dem Fremden ja ein Blick auf die verfluchte Frau vor ihm, und er würde zu dem Schluss kommen, dass sie es nicht wert war, sich mit ihr abzugeben.

Coll, der ihre Anspannung spürte, stellte die Nackenhaare auf und knurrte leise.

Der Mann machte ein paar Schritte nach hinten und hob abwehrend die Hände. Coll legte sich vor ihre Füßen, behielt den Mann aber im Auge.

„Entweder seid Ihr mutig oder unsagbar dumm, wenn Ihr Euch ohne einen Beschützer dieser Festung nähert. Ist Euch bekannt, wie man dort gut aussehende Frauen behandelt?“

„Mein Hund ist mein Beschützer. Er mag keine Fremden, vor allem keine Nordmänner, die anfangen zu reden, ohne sich erst einmal vorzustellen“, presste sie hervor. Gut aussehend? War ihm denn nicht das Mal in ihrem Gesicht aufgefallen? „Selbst die Nordmänner müssen in ihrer Festung ihre eigenen Gesetze befolgen.“

„Es ist lange her, seit ich jemandem wie Euch begegnet bin. Solcher Mut im Angesicht eines übermächtigen Gegners. Ungewöhnlich für eine Frau“, erklärte er, nahm die Hände herunter und wagte es, einen Schritt näher zu kommen. Coll knurrte gleich wieder bedrohlich leise.

„Schmeichelei erzeugt bei mir keine Wirkung. Ich weiß, was ich bin.“

Seine Stimme nahm einen vorsichtigen Klang an. „Wir beide reisen in die gleiche Richtung. Was wäre verkehrt daran, sich die Zeit mit einer Unterhaltung zu vertreiben? Habt Ihr Euch bereits überlegt, wie Ihr in die Feste gelangen wollt, um Euer Anliegen vorzutragen? Sie wird heutzutage gut bewacht. Man lässt beileibe nicht jeden hinein, und Frauen, die ohne Schutz reisen, sieht man nur selten dort herauskommen.“

„Seid Ihr in letzter Zeit dort gewesen? Stimmt es, dass der Eingang bewacht wird und dass man nur zu bestimmten Zeiten hineingelassen wird?“

Der Fremde legte den Kopf schräg, dabei konnte Liddy für einen Moment strahlend blaue Augen sehen, dann wurde sein Gesicht auch schon wieder von der Kapuze verdeckt. „Das Tor wird jeden Abend bei Anbruch der Dunkelheit geschlossen, dann kann niemand die Festung betreten oder verlassen. Am Tag wird jeder durchsucht, der das Tor passieren will. Thorbin, der momentan Lord Ketil vertritt, ist sehr vorsichtig. Es gibt auf der Insel einige, die ihn ablehnen.“

„Ihr seid einer der Nordmänner“, sagte sie, als sie leichte Ansätze des breiten nordischen Akzents erkannte, die aber von dem melodischen Tonfall ihrer eigenen Muttersprache fast ganz überspielt wurden. Normalerweise stießen Nordmänner ihre Worte knurrend aus, was es schwierig machte, sie überhaupt zu verstehen. „Aber Ihr beherrscht meine Sprache besser als die meisten anderen. Das ist ungewöhnlich.“

„Ihr seid eine Gälin.“ Er musterte sie von unten bis oben, von der Unterkante ihres von der Reise verschmutzten Kleides bis hinauf zu ihrem Kopftuch, dem immer wieder ein paar Strähnen entglitten. Abermals widerstand sie dem Verlangen, ihr Muttermal zu bedecken. „Die meisten Gälen kümmern sich besser um ihre Frauen, als dass sie ihnen nur einen großen Hund an die Seite geben, um mit einem der berüchtigtsten Männer des Nordens zu verhandeln. Habt Ihr Euch überlegt, was er mit Euch machen wird, wenn Eure Bemühungen scheitern?“

Liddy ließ eine Hand auf Coll ruhen. Der Mann konnte nichts von ihrer Halskette ahnen, oder? Sie könnte ihr Messer gegen ihn einsetzen, doch dafür müsste er näher kommen. Sie hatte nur eine Chance, und dafür war die Stelle am besten geeignet, wo der Hals in die Schulter überging. Es wäre laut ihres verstorbenen Ehemannes auch die schnellste Art zu töten. Er hatte zu seinen Lebzeiten gern mit seinen Kenntnissen rund ums Kämpfen geprahlt.

Ihr Körper fühlte sich wie betäubt an bei dem Gedanken, einen Mann zu töten, dazu noch einen, der so vor Leben zu strotzen schien.

„Die meisten Männer würden es sich zweimal überlegen, ob sie es wirklich mit meinem Hund aufnehmen sollen“, gab sie zurück. „Man wird mich wieder gehen lassen, wenn ich erledigt habe, wofür ich dorthin unterwegs bin. Das sind Ehrenmänner, die das Versprechen halten werden, das Lord Ketil meinem Vater gab.“

Die Worte klangen noch etwas hohler als zuvor, doch wenn sie jetzt auch diesen letzten Hoffnungsschimmer aufgab, dann konnte sie auch gleich wieder umkehren. Sie musste daran glauben, dass dieses Wunder möglich war und dass ihr eigenes Überleben einen Grund hatte und nicht bloß ein grausamer Scherz war, den sich Gott mit ihr erlaubte. Ihr war der Gedanke gekommen, dass sie womöglich verschont worden war, damit sie genau das hier tun konnte: ihren Vater und ihren Bruder retten und damit zumindest ein wenig Wiedergutmachung leisten für die Rolle, die sie beim Tod ihrer Zwillinge gespielt hatte. Und dabei hatte sie doch alles versucht, um die beiden noch zu retten.

„Ich habe schon Hunde sterben sehen. Es wäre eine Schande, wo er doch ein gutes und treues Tier zu sein scheint.“

„Ich habe schon Männer vor ihm zurückweichen sehen.“ Liddy dachte an jenen Tag kurz nach dem Tod ihrer Zwillinge, als sie auf dem Weg übers Festland auf Nordmänner getroffen war. Coll hatte sie damals sehr gut beschützt.

Der Mann zuckte mit den Schultern, die auffallend breit waren, wie sie erst jetzt bemerkte. „Man wirft ihnen ein paar Fleischbrocken hin, und sie sind glücklich. Man ist sofort ihr Freund. Hunde nehmen das Leben viel leichter als wir.“

Liddy verschränkte die Arme vor der Brust. Der Nordmann mochte glauben, dass er sich mit Hunden auskannte. Aber Coll kannte er gar nicht. „Nicht mein Hund. Er misstraut Fremden, und ganz besonders misstraut er Nordmännern.“

Seine Augen blitzten in intensivem Blau auf. „Einer Herausforderung kann ich mich nur schwer verweigern.“

„Versuchen könnt ihr es, doch auf Euch wartet eine Enttäuschung. Ich kenne meinen Hund. Er kann den Charakter eines Menschen äußerst gut einschätzen.“

Der Mann griff in seine Gürteltasche und holte ein Stück getrocknetes Fleisch heraus. Ein leises Winseln ertönte im nächsten Moment. Coll, der Verräter, zögerte vielleicht einen Herzschlag lang, dann zog er das Fleisch zwischen den Fingern heraus. Der Mann beugte sich vor und kraulte Coll hinter den Ohren, der nun völlig kapitulierte und sich gegen den Fremden sinken ließ.

„Offenbar misstraut er nicht allen Nordmännern.“ Seine Stimme liebkoste ihre Haut, als hätte er sie und nicht ihren Hund gestreichelt. „Aber vielleicht spürt er ja, dass ich ein Freund und Verbündeter sein könnte. Ihr tätet gut daran, den Instinkten Eures Hundes zu vertrauen, wenn er tatsächlich so gut den Charakter eines Menschen erkennen kann.“

„Ich nehme es zur Kenntnis und werde diesen Fehler nicht noch einmal machen“, presste sie heraus. Jeder glaubte, eine Jungfrau aus einem Kloster vor sich zu haben, die sich mit Männern in keiner Weise auskannte, aber niemand hielt sie für eine Witwe. „Coll, komm her.“ An den Mann gewandt sagte sie: „Ich wünsche Euch noch einen guten Morgen, denn ich muss jetzt weitergehen. Ich habe wichtige Dinge mit Lord Thorbin zu besprechen, der das Gesetz achten wird, wenn erst einmal die Wahrheit über die Angelegenheit bekannt ist.“

Colls Fell sträubte sich, als sei ihm sein Verhalten peinlich, und er zog sich von seinem neuen Freund zurück. Liddy fasste nach dem Halsband, dann ging sie entschlossen weiter.

Der Mann schien verstanden zu haben, denn er ließ sie ohne Protest ziehen. Doch sie spürte deutlich, wie sein forschender Blick sie verfolgte.

Liddy beschleunigte ihre Schritte, folgte einigen Kurven und nahm dann eine Abzweigung. Die Bäume standen hier dichter, und kein Laut durchdrang die Luft. Als sie zur Seite sah, erschrak sie so, dass ihre Beine ihr den Dienst versagten und sich nicht von der Stelle rührten. Der Weg wurde ihr von Bäumen versperrt, an deren Ästen Leichen wie überreifes Obst hingen. Sie wollte weglaufen, aber sie konnte nicht. Hastig wandte sie sich von diesem Anblick ab, da sie spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Coll begann aufgeregt zu bellen.

„Lord Thorbin opfert den Göttern Frauen“, sagte der Mann hinter ihr leise. Sofort verstummte das Geheul, zu dem Coll angesetzt hatte. „Es bereitet ihm Vergnügen. Er nimmt niemals etwas Bedeutsames in Angriff, wenn er nicht zuvor einen Menschen geopfert hat. Seid Ihr immer noch entschlossen, ihn aufzusuchen?“

„Woher wisst Ihr, dass dies sein Werk ist?“

Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. „Ich kenne seine Arbeit von früher.“

„Und die Frauen? Wer waren sie?“ Liddy zog den Hund an sich heran, ein Schauer lief ihr über den Rücken. Dieser Mann war mit den Handlungen Lord Thorbins vertraut.

„Sklavinnen, die befreit wurden, bevor man sie opferte. Alleinstehende Frauen ohne Familien, die sie hätten schützen können, oder Frauen, die von ihren Familien verstoßen worden waren.“ Er verzog den Mundwinkel. „Opfer müssen freiwillig in den Tod gehen, sonst erzürnt man die Götter. Welche andere Wahl ihnen geblieben war … nun, sie waren eben Sklavinnen. Manche Dinge können schlimmer sein, als aus freiem Willen zu sterben.“

Liddy beugte sich vor und stützte sich auf den Knien ab, da sie durchzuatmen versuchte. Die heidnischen Nordmänner mochten an solche Dinge glauben, doch sie wusste, wie verkehrt das hier war. Die Frauen waren alle ohne einen vernünftigen Grund ermordet worden – wie konnte sie nur an die Ehre eines Mannes appellieren, der Frauen auf diese Weise tötete? Ihre Idee kam ihr mit einem Mal unsagbar dumm vor, dennoch musste sie etwas unternehmen. Aber es war auch falsch, sich einzubilden, dass ihre Mutter damit zurechtkommen würde. Die kahlen Felder waren ein deutlicher Beleg für ihren Irrtum. „Ich hielt das für Geschichten von Priestern, mit denen man den Leuten Angst machen wollte.“

„Soll ich einer von ihnen das Seil durchtrennen, damit ich es Euch zeigen kann? Wollt Ihr es tatsächlich wagen, die Totenruhe zu stören?“

Liddy betrachtete wieder den Hain, dabei kam es ihr so vor, als wollte eine der Toten die Hand nach ihr ausstrecken. Ein Entsetzensschrei stieg in ihrer Kehle hoch, aber sie konnte ihn gerade noch unterdrücken. Sie wollte wegrennen, doch ihre Füße hatten sich in Steinblöcke verwandelt. „Ich … ich …“

Er fasste sie am Ellbogen und drehte sie entschlossen von dem grausigen Anblick weg. Diese Berührung half ihr sehr, zur Ruhe zu kommen. „Dort, wo ich aufgewachsen bin, meiden die Menschen normalerweise eine Gegend wie diese hier. Sie bleiben auf den altbekannten Wegen, denn es kommt selten etwas Gutes dabei heraus, wenn man sich unter die Toten begibt.“

„Ich kann durchaus verstehen, warum manche diesen altbekannten Wegen folgen. Doch meine Zeit ist knapp bemessen.“ Liddy befreite den Arm aus seinem Griff. Wusste er nicht, dass sie nichts mehr zu verlieren hatte? „Die Toten tun niemandem etwas an. Ich muss die Feste rechtzeitig zur Versammlung erreichen. Meine Stimme wird dort gehört werden, denn ich möchte mir nicht nachsagen lassen, dass ich weggeschickt wurde, weil ich zu spät eingetroffen war. Der Weg durch diesen Hain erspart mir kostbare Zeit.“

Ihr Herz pochte laut, als sie das sagte. Sie konnte nur hoffen, dass sie recht behielt. Der andere Weg würde ihre Reise um einen halben Tag verlängern, und sie musste rechtzeitig zur Versammlung kommen. Den Toten konnte sie auch nicht mehr helfen, aber sie konnte etwas für die Lebenden tun.

„Was wollt Ihr mit diesem Hund machen, während Ihr mit Lord Thorbin redet?“ Er deutete auf Coll, der prompt über seine Hand leckte. „Thorbin hat für Hunde genauso wenig Zeit wie für Frauen. Außerdem mag er Hunde wie den Euren nicht mehr, seit er als Junge von einem Hund gebissen worden war. Natürlich hat Thorbin den Hund zuvor mit einem Stock geschlagen, und es war völlig verständlich, dass er dafür auch gebissen wurde.“

Abrupt blieb Liddy stehen und drehte sich zu dem Mann um, der für ihr Empfinden viel zu viel über Lord Thorbin wusste, gleichzeitig aber anders als die meisten auf der Insel keine Angst vor ihm zu haben schien. „Geht Euch das etwas an?“

„Ich mag Euren Hund“, antwortete er achselzuckend. „Er hat Charakter. Aber man könnte einen solchen Hund als Waffe benutzen, um Lord Thorbin anzugreifen. Thorbin könnte den Hund zum Vorwand nehmen, um Euch zu seiner Sklavin zu machen. Den Hund würde er natürlich töten. Es gibt keinen besseren Weg für ihn, an das Gold zu kommen, als durch das Versklaven von Frauen.“

Sie drückte das Kinn gegen die Schulter, um das Muttermal zu verbergen. Ihre Unwissenheit hätte für Coll beinahe das Todesurteil bedeutet. „Aber Ihr wisst eine Lösung, die mir helfen würde und die nicht Colls Tod zur Folge hätte.“

„Die mag es geben, wenn Ihr mutig genug seid. Wir könnten Verbündete sein, Ihr und ich.“ Mit einer Kopfbewegung deutete er auf die Bäume. „Das wäre immer noch besser, als dort zu enden, wo Ihr ganz bestimmt nicht enden möchtet.“

Ein Kribbeln durchfuhr ihren Rücken. Sie versuchte, es nicht zu beachten. Ihr Priester und ihre Mutter hatten sie gewarnt, bevor sie gestern aufgebrochen war.

Trotzig hob Liddy das Kinn ein wenig an und sagte das, was schon ihre besorgte Mutter von ihr zu hören bekommen hatte: „Ich werde es schaffen. Ich werde Lord Thorbin zur Vernunft bringen. Der heilige Schwur seines Lehensherrn muss für ihn Bedeutung haben. Er wird diesen Schwur achten oder sich in den Augen seiner Kriegsbande verdammen.“

Der Mann stand regungslos da. „Habt Ihr einen Beleg für Lord Ketils Gunst? Oder verlasst Ihr Euch auf die Worte Eures Vaters, der jetzt in Gefangenschaft ist?“

„Ja, das habe ich.“ Aus dem Geldbeutel an ihrem Gürtel holte sie den Ring, den ihr Vater zu Hause vergessen hatte, als er aufgebrochen war. „Ein Ring, den Ketil Plattnase persönlich meinem Vater an den Finger gesteckt hatte.“

Es erfüllte sie mit Zufriedenheit, als sie sah, wie der Mann sich vorbeugte, um sich den Ring genauer anzusehen. Das würde ihm eine Lehre sein, sich über sie lustig zu machen.

„Warum hat Euer Vater ihn daheim zurückgelassen, anstatt ihn mitzunehmen?“

„Seine Finger waren zu dick geworden, darum hatte er ihn vor Monaten abgelegt.“ Sie steckte den Ring zurück in die Geldbörse. „In der Eile, in der er sich auf den Weg gemacht hatte, um meinen Bruder zu retten, muss er ihn zu Hause vergessen haben. Aber ich konnte mich daran erinnern, also suchte ich nach ihm. Unser Priester meint, das würde nichts bewirken, aber ich weiß, es wird mir helfen.“

„Ihr habt also beschlossen, nicht auf Euren Priester zu hören. Meine Mutter war auch Gälin, und ich weiß noch genau, wie starrsinnig ihr gälischen Frauen sein könnt.“ Gedankenverloren strich er über Colls Kopf. „Eine Schande, aber es wird mehr als nur Willenskraft erforderlich sein, wenn Ihr Thorbin besiegen und Eure Familie zurückbekommen wollt.“

Mitleid von ihm? Einem Nordmann? Für wie dumm hielt er sie? Sie wusste, welche Folgen das Mitleid eines Nordmanns oft haben konnte. Sie hatte die niedergebrannten Bauernhöfe und die ermordeten Männer gesehen. Und dann waren da auch noch die sgeula-steach tana adhair, die spurlos verschwundenen Frauen. Es waren inzwischen nicht mehr so viele, da die Nordmänner die meisten Inseln unter ihrer Kontrolle hatten. Dennoch wurden immer noch jedes Jahr ein oder zwei Frauen geraubt.

„Dann war also Euer Vater ein Nordmann. Eure arme Mutter“, entgegnete sie. „Sie hat mein ganzes Mitleid.“

Er legte den Kopf ein wenig schräg. „Warum sagt Ihr das?“

„Nun, ich nehme an, sie wurde frei geboren, gefangen genommen und bis zum Ende ihrer Tage als Sklavin gehalten.“

„Ihr wisst überhaupt nichts.“ Seine Stimme war kalt wie Eis. „Ihr ergeht Euch in irgendwelchen Mutmaßungen. Vielleicht sollte ich Euch einfach Eurem verdienten Schicksal überlassen, anstatt Euch helfen zu wollen.“

„Aber genau das passiert immer wieder. Die Frauen werden verschleppt, und niemand sieht sie je wieder. Diese Wälder, Hügel und Felder sind in meine Seele gemeißelt. Hierher werde ich als freie Frau zurückkehren. Ich werde nicht in einem fremden Land sterben, und ich werde auch nicht als Leiche an einem der Bäume dort enden.“ Sie hielt Colls Halsband fester umschlossen und hoffte, dass der Mann nicht bemerkte, wie sehr ihre Hand zitterte. Sie wusste, was mit Frauen geschah, die von den Nordmännern festgehalten wurden, und sie wusste auch, dass ein paar von ihnen entkommen waren, nachdem ein Lösegeld für sie gezahlt worden war. Die Halskette war etwas, womit sie handeln konnte und was sie wieder nach Hause bringen würde, wenn der Ring nicht die erhoffte Wirkung zeigte. „Weder ich noch irgendjemand aus meiner Familie wird als Sklave enden.“

„Und alles nur der Ehre wegen?“

„Wenn Ihr so wollt. Wir Gälen nehmen unsere Ehre sehr ernst.“ Zu spät hielt sie die Hand vor das Muttermal, vor ihr Zeichen der Schande.

„Meine Mutter behauptete von sich, die Tochter eines Königs zu sein.“ Er verzog den Mund. „Später fand ich heraus, dass nahezu jede zweite Frau so etwas von sich behauptet.“

„Was ist aus ihr geworden?“ Liddy atmete erleichtert auf, weil sie froh war, dass sie ihm nichts von ihrer Herkunft erzählt hatte. Bevor die Nordmänner gekommen waren und sich hier niedergelassen hatten, war ihr Vater auch ein König gewesen. Islay hatte damals viele Könige gehabt, zu viele sogar, da sie ständig in Streit geraten waren und viel zu viele Männer dadurch ihr Leben verloren hatten.

„Sie wurde befreit, bevor sie ihren letzten Atemzug getan hat.“

Ihr lag die Frage auf der Zunge, ob ihre Leiche auch an einen der Bäume gehängt worden war, doch ein Blick in seine Augen genügte, dass ihr die Worte im Hals stecken blieben. „Wer hat sie befreit?“

„Das war ich. Ich habe sie von all den Qualen befreit. Es war das, was sie am meisten begehrt hatte.“ Er legte die Hand auf den Knauf seines Schwerts, der Mantel verrutschte zur Seite und gab den Blick auf sein Gesicht frei.

Der Lichtstrahl der Morgensonne, der den Dunst durchdrang, zeigte ihr, dass ihr Begleiter ein Mann von unglaublicher Schönheit war. Sein goldenes Haar fiel ihm bis auf die Schultern, seine vollen, zarten Lippen bildeten einen deutlichen Kontrast zu seinen harten Gesichtszügen. Die Augen verrieten unerschrockene Entschlossenheit. Dieser Mann war kein gewöhnlicher Krieger, sondern jemand, der es gewohnt war, dass andere taten, was er befahl. Er war ein Anführer.

„Wer seid Ihr?“, fragte sie, bereute das aber in der nächsten Sekunde. Ihr Ehemann hatte stets erklärt, ihr loses Mundwerk würde sie in Schwierigkeiten bringen, was noch eine von den harmloseren Beschimpfungen gewesen war. „Wenn ich mich einverstanden erkläre, mich mit Euch zu verbünden, werdet Ihr mir dann tatsächlich helfen, anstatt mir falsche Versprechungen zu machen?“

Ihr missfiel die Hoffnung, die in ihr erwachte. Ihr sollte klar sein, dass solche Begebenheiten nur in den Geschichten vorkamen, die die Barden zum Besten gaben. Es gab niemanden, auf den sie sich verlassen konnte, erst recht keinen Nordmann, der durch die Wälder streifte. Sie war tatsächlich verflucht, so wie es ihr Schwager bei Brandons Beerdigung gesagt hatte. Dass ihr dieser Mann begegnet war, war ein weiterer Beweis dafür.

„Nennt mir Euren Namen“, beharrte sie, als er sie nur weiter anstarrte. „Euren wahren Namen, nicht einen von diesen albernen Spitznamen, zu denen Nordmänner so gern greifen. Euren Namen, oder wir werden nie Verbündete sein.“

„Sigurd Sigmundson, ein Reisender so wie Ihr, der Gerechtigkeit anstrebt.“ Er zog seine Kapuze zurecht, sodass sein Gesicht wieder verborgen war. Sein Mantel war noch abgetragener als der ihre, dennoch konnte sie aus irgendeinem Grund nicht glauben, dass er ihm gehörte. Es hatte etwas mit der Art zu tun, wie er sich bewegte. Außerdem hatte sie einen Blick auf das Schwert werfen können, das nun wieder von Stoff bedeckt wurde. Es war eine viel zu gute Waffe, als dass sie einem gewöhnlichen Söldner hätte gehören können.

„Ihr wollt unbemerkt in die Feste gelangen, darum tragt Ihr diesen alten Mantel“, mutmaßte sie. „Ich meine, dass es so sein muss, denn sonst würdet Ihr mit Eurem Drachenboot über den Loch Indaal kommen und neben der Feste an Land gehen.“

Sigurd Sigmundson wollte nach ihrem Arm fassen, aber sie machte einen Schritt nach hinten, blieb an einer Wurzel hängen und wäre beinahe hingefallen. Coll stieß ein tiefes, drohendes Knurren aus, worauf Sigurd sofort die Hand herrunternahm.

„Warum sollte ich meine Identität verbergen wollen?“, fragte er und neigte wieder den Kopf ein wenig zur Seite.

„Weil alles andere die sicherste Methode ist, um in ein Fass gestopft nach Ketil zurückgeschickt zu werden. Selbst da, wo wir leben, haben wir die Gerüchte darüber gehört, wie Thorbin mit seinen Feinden verfährt.“ Mit einer Hand bedeckte sie das Muttermal. „Mein inzwischen verstorbener Ehemann war Krieger. Ihr habt die Gangart eines Kriegers, nicht die eines Bettlers. Wenn Ihr nicht wollt, dass andere Leute darauf aufmerksam werden, solltet Ihr schlurfend und schleppend gehen, aber keine ausholenden, kraftvollen Schritte machen. Das ist jedenfalls meine Meinung.“

Er ließ den Kopf sinken. „Was werdet Ihr mit Eurem Wissen über mich anfangen? Wollt Ihr mir Schlechtes?“

„Solange Ihr mir nichts antun wollt, ist das nicht meine Sorge. Wenn ich die Angelegenheit zwischen Thorbin und mir zu meiner Zufriedenheit erledigt habe, könnt Ihr mit ihm machen, was Ihr wollt.“ Sie ließ eine kurze Pause folgen, dann erklärte sie: „Ich, Eilidith vom Clan Fergusa, habe meine Gründe, mir zu wünschen, dass Ihr mit ihm macht, was Ihr wollt. Er ist kein Freund meiner Familie. Aber ich bin als Erste dran.“

Eine Weile stand er schweigend da und betrachtete sie von Kopf bis Fuß. Es war lange her, seit ein Mann sie das letzte Mal auf eine wertschätzende Weise angesehen hatte. Sie zog den Mantel enger um sich und hoffte, dass er ihre Kurven kaschierte. Sie machte sich keine Illusionen, was ihr Aussehen anging. Ihre Figur war ganz passabel, der Mund zu groß, die Haare viel zu rot. Feuerrot hatte Brandon es genannt, als er damals um sie geworben hatte. Es war eines der wenigen Komplimente aus seinem Mund gewesen.

„Ich bin hier, um die Aufgabe zu erfüllen, die Lord Ketil mir aufgetragen hat“, erklärte er. „Diese Aufgabe hat Vorrang vor Eurem Anliegen, Eilidith vom Clan Fergusa. Thorbin muss sich für seine Verbrechen verantworten, danach könnte Ihr nach Eurem Vater und Eurem Bruder suchen. Vorausgesetzt, sie wurden nicht längst als Verräter hingerichtet.“

Wut erfasste sie. Was fiel ihm ein, so über die beiden zu reden? Er wusste nichts über sie, und er hatte auch keine Kenntnis davon, wie ihr Vater versucht hatte, den Clan vor den schlimmsten Invasoren zu beschützen. „Mein Vater hat Lord Ketil Plattnase die Treue geschworen, als der das erste Mal auf diese Insel gekommen war. Mein Bruder war zu der Zeit noch ein Säugling gewesen. Der Tribut ist stets gezahlt worden, und niemand hat meinen Vater jemals als Verräter bezeichnet … bis zu diesem Augenblick.“

Liddy schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht über den jämmerlichen Zustand der Felder nachdenken, um die sich in der Sommersonne so gut wie niemand gekümmert hatte. Ihrer Mutter zufolge hatte ihr Vater alles Saatgut sowie das Gold irgendwo sicher versteckt, bevor er aufgebrochen war. Ohne das Saatgut würde es keine Ernte geben, und sie würden keinen Tribut zahlen können.

Sie presste mürrisch die Lippen zusammen. „Wenn es nicht anders geht, werde ich mich auf den Weg zu Lord Ketil machen und ihn daran erinnern, was er meinem Vater geschworen hatte.“ Sie konnte nur hoffen, dass die dreiste Lüge nicht herauszuhören war. Das Letzte, was sie tun wollte, war in See zu stechen. Die Vorstellung, auf offener See zu sein, außer Sichtweite von Land, versetzte sie in Angst und Schrecken.

„Das werdet Ihr machen?“

„Welche andere Wahl bleibt mir denn?“

Sigurd betrachtete die zierliche Frau, die da vor ihm stand. Im schwachen Licht der Dämmerung konnte er sehen, dass Eilidiths Haar kastanienrot war, nicht schwarz, wie er zuerst vermutet hatte. Es war wie die Farbe der Sonne, wenn sie am Ende eines strahlenden Sommertags unterging. Das schmetterlingsförmige Mal unter der Unterlippe machte ihr eigentlich unauffälliges Gesicht zu einem faszinierenden Anblick.

Sie bewies Mut, da sie mit nichts weiter als einem großen Hund zu ihrem Schutz hergekommen war. Die beiden einzigen Frauen, von denen er wusste, sie hätten genau das Gleiche getan, waren seine Mutter und Beyla. Sie war die Frau, der er in einer Zeit sein Herz geschenkt hatte, als er noch davon überzeugt gewesen war, ein Herz zu haben. Doch Beyla hatte Schutz und Sicherheit den Vorzug vor der Leidenschaft gegeben, weshalb ihre Entscheidung zugunsten von Thorbin ausgefallen war, seinem Halbbruder, der jetzt als Jarl über diese Insel herrschte.

„Ich glaube, Ihr könntet Euch auf den Weg zu Ketil machen und von ihm Gerechtigkeit fordern, so wie es das gute Recht eines jeden ist, der einen solchen Ring trägt“, sagte er, um sich von unerwünschten Erinnerungen abzulenken. „Aber Thorbin könnte unwillig sein, etwas so Kostbares wie Euch gehen zu lassen. Habt Ihr Euch überlegt, was Ihr dann machen werdet?“

Sie schlug sich mit der Faust auf die Brust, als wäre sie eine Kriegerin, aber keine Dame. „Ich habe geschworen, dass ich meinen Vater befreien oder bei dem Bemühen mein Leben lassen werde.“

Sigurd stellte sich etwas aufrechter hin. War seine Mutter auch einmal so gewesen? Genauso stark und resolut, nicht so schreckhaft wie in den letzten Jahren ihres Lebens, als jeder Schatten sie vor Angst hatte zusammenzucken lassen? „Die Welt wäre ein trübsinniger Ort, wenn Ihr Euer Leben lassen würdet. Ganz offenbar habt Ihr eine Familie, der Ihr etwas bedeutet.“

Sie hob den Kopf und musterte ihn, als würde sie auf dem Markt einen Zuchtbullen begutachten, ob der sein Geld wert war. „Fürchtet sich Thorbin mehr vor Euch oder mehr vor einem anderen?“

„Für Thorbin ist der immer wieder hinausgeschobene Tag der Abrechnung gekommen. Es erfüllt mich mit großer Zufriedenheit zu wissen, dass ich derjenige sein werde, der diesen Tag für ihn anbrechen lassen wird. Auch ich habe einen Schwur geleistet, den ich erfüllt sehen will.“

Islay war der Schlüssel für Ketils Strategie, was die westlichen Inseln betraf. Wer die Kontrolle über Islay besaß, der kontrollierte allen Handel zwischen Irland und Alba. Alle Seewege führten an dieser Insel vorbei, und wegen des Strudels nördlich der Nachbarinsel Jura war der Transport von Waren über Land in jedem Fall die schnellste Lösung. Thorbins Herrschaft hatte letztes Jahr im Frühjahr begonnen. Zunächst war Thorbins Stern schnell in Richtung Zenit aufgestiegen, während Sigurd verzweifelt nach einer Möglichkeit gesucht hatte, den Tod seiner Mutter zu rächen. Doch zu Weihnachten war Thorbins Tribut ungewöhnlich gering ausgefallen, woraufhin Ketil im Frühjahr einen Mann losgeschickt hatte, der diesem Missstand auf den Grund gehen sollte. Als der Mann in einem Fass zusammen mit einer beleidigenden Botschaft zu Ketil zurückgesandt worden war, hatte der endgültig die Geduld verloren und seinen Schützling Thorbin aufgefordert, sein Verhalten zu erklären.

Es war Sigurds Aufgabe, diese Aufforderung zu überbringen und dafür zu sorgen, dass Thorbin heimkehrte, damit er zu den Vorwürfen Stellung nahm.

Die ganze letzte Woche über hatte er die Festung ausgekundschaftet und sich einen Plan überlegt, nachdem für ihn klar gewesen war, dass seine ursprüngliche Absicht zum Scheitern verurteilt sein würde, mit seinen Booten flussaufwärts zu fahren und an der Feste an Land zu gehen. Sein Halbbruder war kein Dummkopf, es war nur zu offensichtlich, dass er sich für immun gegen Vergeltung hielt. Dennoch hatte er Vorkehrungen getroffen. Die Bucht war schwer bewacht, und das galt auch für alle Ein- und Ausgänge.

Ihm tat diese Frau leid, die so viel Mut und Entschlossenheit zeigte, doch aller Wahrscheinlichkeit nach waren ihr Bruder und ihr Vater längst tot oder als Sklaven verkauft worden. Andererseits konnte er die Frau und den Ring, den sie bei sich trug, für seine Zwecke benutzen.

„Ich bin zu der Erkenntnis gekommen, dass die wenigsten Dinge rein zufällig geschehen. Unsere Wege haben sich aus einem bestimmten Grund gekreuzt“, sagte er verhalten, da ihm aufgefallen war, dass sie ihm nicht geantwortet hatte. „Lasst uns diesen Grund verwirklichen, lasst uns Thorbin gemeinsam zur Rechenschaft ziehen.“

Ihr Mund nahm einen rebellischen Ausdruck an, ihre blaugrünen Augen blitzten auf und wirkten mit einem Mal wie die See nach einem Unwetter mitten im Sommer. „Warum sollte ich Euch vertrauen, Sigurd Sigmundson? Warum solltet Ihr nicht genauso sein wie jeder andere Nordmann? Genauso wie Lord Thorbin?“

Er schluckte die Verärgerung darüber, mit seinem Halbbruder gleichgesetzt zu werden, und zwang sich zu einem beschwichtigenden Tonfall, als müsste er ein nervöses Pferd beruhigen. Sie musste von ihm einen Grund hören, der sie veranlassen würde, ihm zu vertrauen. „Wir kannten uns, als wir Kinder waren. Ich bin mit seinen Stärken vertraut, aber auch mit seinen Schwächen. Deshalb hat Lord Ketil mir diese Aufgabe übertragen. Ich bin der Einzige, der ihn besiegen kann, und dafür muss ich in seine Nähe gelangen.“

Ihre weißen Zähne blitzten auf, als sie an ihrer Unterlippe knabberte. „Und Ihr könnt meine Familie retten, wenn Ihr Lord Thorbin besiegt?“

„Wenn die beiden noch auf Islay sind, dann ja. Falls nicht, werde ich zu Ketil gehen und ihm Eure Forderung persönlich vorlegen.“

„Warum seid Ihr auf einmal willens, mir zu helfen?“

„Weil ich Euch beweisen will, das nicht alle Nordmänner gleich sind. Ich vergesse weder meine Schulden noch meine Versprechen.“

Sie drückte das Kinn noch etwas fester gegen ihre Schulter, um das Muttermal zu verstecken. „Ich benötige etwas Bedenkzeit.“

Sigurd zuckte mit den Schultern, als hätte er keine Eile, und gab dem Hund das letzte Stück Dörrfleisch. Der Hund stellte sich daraufhin so hin, dass er die Pfoten auf Sigurds Schultern stellen konnte, um ihm mit seiner großen nassen Zunge übers Gesicht zu lecken.

„Coll, böser Hund!“

Er ließ von Sigurd ab, setzte sich und beleckte sich, während er hoffnungsvoll auf ein weiteres Stück Fleisch wartete.

„Euer Hund glaubt an mich. Er will, dass ich Euch rette. Werdet Ihr mit mir gemeinsame Sache machen?“

Sie beugte den Kopf und unterhielt sich kurz mit dem Hund. Dann hielt sie Sigurd die Hand hin und sagte: „Vielleicht werde ich das ja bereuen, aber wir gehen gemeinsam vor, bis die Zeit kommt, um die Allianz zu beenden.“

Er fasste nach ihrer schmalen Hand und widerstand dem Wunsch, die Frau an sich zu ziehen und ihren Mund zu kosten. Eilidith vom Clan Fergusa war für ihn ein Mittel zum Zweck, aber keine Frau, mit der er sich vergnügen konnte. Er trennte stets Arbeit vom Vergnügen. Widerwillig ließ er ihre Hand los und machte einen Schritt nach hinten, wobei er darauf achtete, seinem Mienenspiel nichts anmerken zu lassen. Er war auf die ideale Waffe gestoßen, um das Tor zu Thorbins Festung aufzustoßen und den Mann zu vernichten. Er würde den Schwur Wirklichkeit werden lassen, den er gesprochen hatte, als die Glut vom Scheiterhaufen seiner Eltern in den Himmel aufgestiegen war.

„Ihr werdet noch froh sein, dass Ihr auf Euren Hund gehört habt.“

2. KAPITEL

Sie sollte froh sein, auf ihren Hund gehört zu haben? Liddy trat einen Kieselstein zur Seite, woraufhin ihr Hund sie ansah, als wollte er um Erlaubnis fragen, ihn jagen zu dürfen. Sie schüttelte den Kopf, er blieb an ihrer Seite.

„Wohin bringt Ihr mich? Wir müssen in die andere Richtung gehen, zur Feste“, protestierte sie, als Sigurd auf einen kaum auszumachenden Trampelpfad wechselte.

Sigurd blieb so plötzlich stehen, dass sie beinahe gegen ihn gelaufen war. „Ich verspreche Euch, wir werden zeitig dort sein, damit Thorbin Euch anhören kann. Aber wir machen das auf meine Weise.“

„Ihr habt mich glauben lassen, dass Ihr allein reist, aber Ihr werdet von anderen Nordmännern begleitet, richtig?“, sagte sie. Ihr Herz schlug wild in ihrer Brust angesichts dieser Möglichkeit.

„Ihr dürft mir keinen Vorwurf daraus machen, wenn Ihr es versäumt, nach Einzelheiten zu fragen.“

„Oh ja, Nordmänner sind immer in Gruppen unterwegs. Wie dumm von mir. Ihr wollt in die Festung einfallen, und Ihr braucht jemanden, der euch von drinnen hilft.“ Eine seltsame Begeisterung überkam sie. Sie musste sich gar nicht auf Sigurds Versprechungen verlassen, sie konnte herausfinden, wo ihr Bruder und ihr Vater festgehalten wurden, und sie im Durcheinander des Angriffs befreien.

Er lächelte amüsiert. „Thorbin rechnet auf jeden Fall mit einem Überfall. Er hat alles so befestigt, dass er einer längeren Belagerung trotzen kann.“

„Deshalb braucht Ihr jemanden in der Feste, damit der Euch die Tore öffnet.“ Sie schluckte bemüht. „Ich kann nach drinnen gelangen und mich irgendwo verstecken. Dann werde ich euch allen die Tore öffnen.“

Er hob ein Stück von einem Ast auf und schleuderte es weit von sich, damit der Wolfshund es apportierte. Als Coll wenig später mit dem Holz zurückkam, lief er betreten zu Liddy, als wüsste er genau, dass sie ihm das nicht erlaubt hätte. „Ich werde ihm eine Falle stellen, der er nicht widerstehen kann. Bislang war der richtige Köder mein Problem gewesen, aber das habt Ihr nun für mich gelöst.“

Mit einem Finger strich sie über das Mal. Hatte er es im Dämmerlicht nicht bemerkt? Thorbin würde sich angewidert von ihr abwenden. „Ihr versteht nicht. Er wird nicht … ich … ich bin nicht begehrenswert. Ihr habt die falsche Frau dafür ausgesucht.“

„Ich habe die richtige Frau“, versicherte er ihr und fasste sie am Ellbogen, um ihr Halt zu geben. „Warum wartet Ihr nicht, bis ich Euch meinen Plan erklärt habe, anstatt einfach etwas zu vermuten?“

„Was ist bei Eurer letzten Begegnung mit Thorbin geschehen?“, wollte Liddy wissen und zog ihren Arm weg, auch wenn seine leichte Berührung unabsichtlich angenehm war.

„Er dachte, er hätte mich getötet. Inzwischen ist er verwöhnt und arrogant, und diesmal werde ich siegen, Eilidith vom Clan Fergusa. Ich habe aus meinen Fehlern gelernt.“

Ein Windstoß wehte ihm die Haare aus dem Gesicht. Er wirkte äußerst entschlossen. Liddy sah zu Boden und hielt sich vor Augen, dass er womöglich ihre einzige Hoffnung für das Überleben ihrer Familie war. Es wäre töricht, sich jetzt doch noch von ihm abzuwenden.

„Dann bin ich dankbar dafür, dass Ihr überlebt habt. Ich hoffe, Thorbin wird nicht so dankbar sein.“

Sigurd stieß ein tiefes, leises Gelächter aus, das in ihr ein seltsames Wohlgefühl weckte. „Habe ich etwas Falsches gesagt?“

„Ihr seid erfrischend unterhaltsam, Eilidith.“ Er lächelte sie an. „Kommt, ich mache Euch mit meinen Leuten bekannt. Und ich werde Euch erklären, was Ihr zu tun habt.“

„Ich wäre besser am Tor aufgehoben, um es für Euch zu öffnen“, sprach Liddy, während sie zu Boden blickte. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Thorbin sich für mich interessieren wird.“

„Ihr seid ihm nie begegnet, ich dagegen schon. Ihr seid genau richtig, das könnt Ihr mir glauben.“

„Haltet Euren Hund zurück, bis ich Euch meine Männer vorgestellt habe. Ich möchte nicht, dass irgendwem etwas zustößt.“

Auf Sigurds Worte hin hielt sie das Halsband des Wolfshunds fester umschlossen. Sigurd nickte, froh darüber, dass sie ohne Widerworte gehorcht hatte. Er wusste, er hätte fast auf sie verzichten müssen, als er seinen Plan zu erklären begann, doch dann riss sie sich zusammen und blieb bei ihm. Damit war bewiesen, dass sein Instinkt ihn nicht getäuscht hatte. Die Zeit war gekommen, um den Tod seiner Mutter zu rächen und seinen Schwur zu erfüllen.

Er nahm zwei Finger zwischen die Lippen und stieß einen leisen Pfiff aus. Augenblicke später trat Hring Olafson aus dem Schatten, ein älterer Krieger, den Sigurd hauptsächlich von seinem guten Ruf her kannte und den Ketil zum zweiten Befehlshaber des félag, der Unternehmung, ernannt hatte. Er trug eine Doppelaxt in der Hand und seine übrigen Ruderer folgten ihm.

„Wo ist der Rest?“, wollte Eilidith wissen. „Das können kaum mehr als zwanzig Leute sein.“

Sigurd deutete auf die Truppe. „Von denen abgesehen, die die Boote bewachen, sind alle hier.“

„Das ist Eure ganze Streitmacht?“ Eilidith kniete sich neben ihrem Hund hin. „Vielleicht hätte ich mich doch besser an meinen ursprünglichen Plan halten sollen.“

„Diese Gruppe wird genügen, Ihr werdet schon sehen.“

„Wir hatten dich schon für tot gehalten. Du hättest vor drei Nächten zurück sein sollen“, sagte Hring und drückte ihn an sich, dann fügte er leiser hinzu: „Schaff uns die Frau vom Hals. Durch sie werden wir nur langsamer vorankommen. Sie sieht nicht nach dem Typ aus, der Thorbin zu irgendetwas veranlassen könnte. Er bevorzugt vollbusige blonde Frauen. Sie wird nicht mal nahe genug herankommen, um ihm mit einem Messer die Haut aufzuritzen.“

„Das ist unser jüngster Neuzugang“, verkündete Sigurd und ging über den Einwand des älteren Kriegers hinweg, der immer noch nicht verwunden hatte, dass nicht er zum Anführer dieser Unternehmung bestimmt worden war. „Lady Eilidith ist unser Schlüssel, um in die Feste zu gelangen.“

„Der Schlüssel oder das Schloss?“, fragte Hring und machte dazu eine obszöne Geste. „Thorbin braucht Frauen nur für eine Sache.“

Die anderen Männer stimmten in das raue Gelächter ein. Eilidiths Gesicht lief rot an. Auch wenn sie die Sprache der Nordmänner kaum beherrschen mochte, gab es keinen Zweifel daran, dass sie die abfällige Geste verstanden hatte. Sigurd presste die Lippen zusammen. Auf Hring hätte er gern verzichtet, doch Ketil hatte darauf bestanden.

„Hätte ich eine Hure gebraucht, dann hätte ich eine gekauft, Hring.“

„Es ändert nichts an der Frage, ob es klug ist, einer solchen Frau zu vertrauen.“ Der ältere Krieger tippte gegen seine Unterlippe. „Die Götter haben ihr ein Mal gegeben.“

Sigurd riss so abrupt eine Hand hoch, dass das Gelächter sofort verstummte. „Mach weiter so, und ich werde deine Worte so auslegen, dass du mir die Führung streitig machen willst.“

Auf der Stelle hob Hring abwehrend die Hände, die anderen Männer wichen gleichzeitig vor den beiden zurück. „Es war nur Spaß, harmloses Geplänkel, weiter nichts. Wenn du alles auf diese Frau setzen willst, dann ist das dein Vorrecht als unser Anführer. Gestatte mir, einen Plan für den Fall zu überlegen, dass wir scheitern.“

„Vor sieben Tagen hast du noch verkündet, dass wir sterben werden, wenn wir auch nur einen Fuß auf dieses Land setzen. Hat sich deine Gabe verbessert, die Zukunft vorherzusehen?“, fragte Sigurd todernst.

Der andere Mann wandte als Erster den Blick ab.

„Es ist unsere Pflicht, Lady Eilidith zu helfen“, ließ Sigurd seine Leute wissen. „Sie führt Ketils Ring bei sich, der als Beweis dafür dient, welch enge Freundschaft zwischen Ketil und ihrem Vater besteht. Ein Mann, der sich vom Versprechen des Rings abwendet, ist ein Mann, der Ketils Vertrauen verloren hat.“

„Können wir den Ring sehen?“, fragte Hring. „Ich weiß, wozu diese Gälen fähig sind.“

Sigurd wusste nicht, wie viel Eilidith von der Unterhaltung verstanden hatte, aber es musste genug gewesen sein, um sie dazu zu veranlassen, den Siegelring hochzuhalten. Auf seinen fragenden Blick hin zuckte sie nur leicht mit den Schultern.

„Ihr Vater hat Ketil Treue geschworen“, erklärte Sigurd und sah jedem seiner Männer in die Augen. „Thorbin hat sich über diese Freundschaft hinweggesetzt und ihren Vater grundlos gefangen genommen. Soll Ketil über eine solche Beleidigung hinwegsehen?“

„Nein!“, brüllten sie wie ein Mann und schlugen mit den Schwertern auf ihre Schilde. Coll stimmte mit lautem Heulen in das Getöse ein, was allgemeines Gelächter auslöste und die herrschende Anspannung ein wenig milderte.

Hring nickte bedächtig. „Ich muss mich berichtigen. Es war gut von dir, dich ihrer Sache anzunehmen. Lord Ketil sollte niemals auf diese Weise verspottet werden.“

„Ketils Wünsche müssen beachtet werden.“

„Ketil will Thorbin lebend haben“, meinte der ältere Krieger. „Glaubst du, das kannst du immer noch machen? Nach allem, was du gesehen hast?“

„‚Wenn möglich lebend‘ lautete der Befehl meines Wissens nach“, erwiderte Sigurd. „Niemand kann sagen, was bei einem Kampf passiert.“

„Wahrhaftig.“

„Ketil vertraut meinem Urteil, das solltest du auch.“ Dabei zeigte Sigurd mit dem Schwert zum Himmel, um seine Worte zu unterstreichen. Wie auf ein Stichwort hin brach die Sonne durch die Wolkendecke und ließ das Metall leuchten. Er hätte diesen Moment nicht genauer planen können. „Also ohne Fragen.“

Liddy empfand das Reisetempo der Nordmänner auf dem Weg in Richtung Feste zügig, aber nicht übermäßig anstrengend. Die Sprache dieser Männer zu verstehen fiel ihr leicht, und in diesem Moment dankte sie insgeheim ihrem Vater, dass er sie dazu veranlasst hatte, sie zu lernen. Jetzt musste sie sich nur etwas mehr konzentrieren als üblich.

Die spitze Bemerkung darüber, dass sie dafür bestimmt sei, Thorbins Bett zu wärmen, hatte wehgetan. Sie hatte darin schon bei ihrem Ehemann Brandon versagt. Er hatte nicht mal bis zum ersten Hahnenschrei gewartet, um in der Hochzeitsnacht dem Ehebett zu entfliehen, fast so als wäre sie eine Auftragsmörderin, die einen Mann verführte und ihm dann ein Messer in den Rücken jagte. Aber sie wahrte jetzt eine ausdruckslose Miene und vertraute darauf, dass Sigurd die Dummheit einer solchen Maßnahme erkennen würde, ohne dass sie zu viele Fehlschläge eingestehen musste.

„Wie viel wisst Ihr über unseren Anführer?“, wollte der Krieger auf Gälisch mit einem breiten nordischen Akzent wissen. Er war der Mann, der Sigurd kurzzeitig Vorwürfe gemacht hatte. Eine Hälfte seines Gesichts war mit einem Geflecht aus Narben überzogen, aber daran störte sich niemand. Narben standen für gewonnene Kämpfe, während Muttermale Menschen dazu brachten, sich von der betreffenden Person abzuwenden.

„Ich weiß, dass Ketil ihn entsandt hat“, antwortete sie und drückte das Kinn wieder gegen die Schulter. „Er hat mir versprochen, das Unrecht wiedergutzumachen, das meine Familie angeht. Mir schien das der schnellste Weg zu sein, um mein Ziel zu erreichen.“

Sein Lächeln ließ die Narben auf der Wange noch erschreckender erscheinen. „Aber wisst Ihr auch, warum Ketil ihn entsandt hat?“

„Ich nehme an, dass er ein Vollstrecker ist. Er bewegt sich wie ein wahrer Krieger. Soweit ich weiß, wurde zu wenig Tribut gezahlt, und der letzte Mann, der diesen Missständen auf den Grund gehen sollte, wurde in ein Fass gesteckt und an Ketil zurückgeschickt.“

„Richtig. Und nachdem sich das herumgesprochen hatte, fand sich niemand mehr, der sich freiwillig für diese Aufgabe gemeldet hätte. Außer Sigurd. Er war der Einzige, der Mut genug hatte, um sich anzubieten.“

„Und wieso seid Ihr dann auch hier?“

„Weil ich überallhin gehe, wohin ich geschickt werde. Aber Sigurd wollte herkommen“, betonte Hring. „Ich, Hring Olafson, werde Euch eine Geschichte erzählen. Die beiden sind Halbbrüder – Thorbin und Euer Krieger. Sie standen sich nahe, bis ihr Vater bei einem Unfall mit einem Wagen ums Leben kam. Thorbin sorgte für den Tod von Sigurds Mutter, und Sigurd hätte er beinahe auch noch getötet.“

Liddy erschrak. Damit bekam Sigurds Äußerung über seine Mutter eine ganz neue Bedeutung. Das war der Grund, wieso er wissen konnte, dass Thorbin für die Ereignisse im Hain verantwortlich war. Er hatte auf eine Gelegenheit gewartet, um sich an Thorbin rächen zu können.

„Wie ist seine Mutter gestorben?“, fragte sie zurückhaltend auf Nordisch.

„Sigurds Mutter sollte verbrannt werden, so wie es unser Brauch ist, wenn ein großer Lord stirbt. Eine seiner Frauen begleitet ihn freiwillig ins Leben nach dem Tod. Immer.“

„Warum hat sie das gemacht?“

„Es heißt, dass sie so Sigurds Leben retten wollte, nachdem er Thorbin angegriffen hatte. Thorbin erbte alles.“ Hring schüttelte den Kopf. „Thorbin zündete den Scheiterhaufen an, doch dann kam wie aus dem Nichts ein Pfeil geflogen und tötete sie, bevor die Flammen ihre Füße erreichen konnten.“

„Und Sigurd soll den Pfeil auf sie abgeschossen haben. Wollt Ihr das damit sagen?“, fragte Liddy und betrachtete Sigurds breite Schultern, da er ein Stück weit vor ihnen unterwegs war. Da ihr Thorbins Ruf vertraut war, konnte sie sich vorstellen, dass er es verdient hatte, angegriffen zu werden. „War für ihn eine schwierige Situation, vor eine solche Wahl gestellt zu werden. Und dazu mit dem Wissen, dass sie auch noch versucht hatte, ihn zu retten.“

Hring fasste sie am Ellbogen. „Das stört Euch nicht? Er hat die Götter entehrt, weswegen ihn mancher für verflucht halten könnte.“

Flüchtig berührte sie ihr Muttermal. Dachte der ältere Krieger etwa, dass sie auch die Götter entehrt hatte? „Stört es Euch nicht?“, gab sie zurück.

„Lord Ketil weiß, was er tut, und ich vertraue ihm. Er hat Sigurd ausgewählt, doch Thorbin sorgt dafür, dass die Götter auf seiner Seite sind. Bisher ist ihm das immer gelungen. Ich kenne niemanden, der das Glück so gepachtet hat wie dieser Dreckskerl.“

Diese Worte waren nicht dazu angetan, Liddy Hoffnungen zu machen.

„Jeder wird irgendwann einmal besiegt“, sagte sie in erster Linie, um ihre Nerven zu beruhigen. „Sigurd wird Thorbin schon dazu bringen, sich an Lord Ketils Versprechen zu halten. Er ist Lord Ketils Gesandter.“

„Ich mag Euch, Lady Eilidith. Ihr besitzt Zuversicht und macht Euch keine Gedanken über Dinge wie Flüche.“ Dann gab er ihr einen so kraftvollen Klaps auf den Rücken, dass Liddy den Halt verlor und hinfiel.

Auf dem rauen Untergrund scheuerte sie sich die Hände auf. Kopfschüttelnd drehte sie sich zu Coll um, da der leise knurrte.

„Gibt es ein Problem?“, fragte Sigurd, der zu ihr zurückkam. „Ihr seid über diesen großen Stein dort gefallen, Eilidith. Ihr solltet besser aufpassen, wohin ihr tretet.“

Liddy wehrte seine Hand ab, mit der er ihr Halt geben wollte. Die völlige Aussichtslosigkeit dessen, was sie in Angriff nehmen wollte, drohte sie mit solcher Wucht zu überwältigen, dass sie fürchtete, darunter begraben zu werden und nie wieder aufstehen zu können. „Nächstes Mal werde ich besser aufpassen, wohin ich meine Füße setze.“

„Wir könnten eine Rast einlegen“, schlug Hring mit einem listigen Lächeln vor. „Wenn die Dame der Schlüssel ist, der uns Tür und Tor öffnet, sollte sie in bester Verfassung die Feste erreichen.“

Sein Blick verriet allerdings, dass sie seiner Meinung nach in noch so guter Verfassung sein konnte und trotzdem nicht Thorbins Interesse wecken würde. Liddy zog ihren Mantel zurecht und versuchte, die wachsende Mutlosigkeit zu ignorieren. Wenn sie eine zu lange Rast machten, würde sie zu spät kommen und nicht mehr am Tag der Versammlung mit Thorbin reden können. „Es geht mir gut.“

„Dann achtet künftig darauf, wo Ihr langgeht.“ Sigurd drehte sich zu seinen Männern um und ergänzte an Liddy gewandt: „Wir werden rechtzeitig eintreffen, keine Angst, und wenn ich Euch hintragen muss. Und du, Hring der Grauhaarige, behellige einen anderen mit deinem Unfug. Lady Eilidith ist bei mir sicher aufgehoben.“

Sofort ging Hring weg.

„Werdet Ihr mir erklären, um was es hier ging?“, fragte er leise. „Ihr hättet mir sagen sollen, dass Ihr unsere Sprache beherrscht.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Die Nordmänner leben hier schon fast genauso lange, wie ich auf der Welt bin. Irgendjemand muss schließlich wissen, was sie reden.“

„Und über was hat Hring geredet?“

„Hring hielt es für angebracht, mir von den verschiedenen Gerüchten über Eure Vergangenheit zu berichten. Anscheinend habt Ihr die Götter entehrt, weshalb die sich an Euch rächen wollen, während Euer Halbbruder stets dafür sorgt, die Gunst der Götter auf seiner Seite zu haben.“

Sigurds Gesicht nahm einen harten Zug an. „Die Götter haben andere Sorgen, als sich um das zu kümmern, was die Sterblichen tun. Ich bin davon überzeugt, dass jeder selbst für seinen Erfolg oder Misserfolg verantwortlich ist. Wenn Ihr an Flüche glaubt, dann werdet Ihr die Dinge wohl eher so sehen. Meine Mutter starb als freie Frau.“

„Ich verstehe“, erwiderte Liddy, verschwieg ihm aber, was sie von Flüchen hielt. Schließlich musste Sigurd nichts von ihren toten Kindern wissen.

„Natürlich hätte ich sie gerettet, wenn ich die Möglichkeit dazu gehabt hätte. Aber ich kam zu spät und konnte nur noch ihr Leiden lindern. Es war vor langer Zeit in meiner Heimat, aber ich glaube nicht, dass es etwas damit zu tun hat, was ich tun werde.“

Liddy deutete mit einer Hand in die Richtung, aus der sie gekommen waren. „Diese Frauen dahinten … die im Hain … haben die sehr gelitten?“

Sein Blick hatte etwas Geplagtes an sich. „Es ist ganz sicher keine leichte Art zu sterben. Ein solches Ende würde ich niemandem wünschen.“

„Aber entehrt Ihr nicht Eure Götter, wenn Ihr so redet?“

Er lächelte sie flüchtig an. „Mein Gott ist ganz allein meine Angelegenheit. Aber seit damals folge ich nicht mehr der Religion meines Vaters.“

Liddy schlang die Arme um sich. Er konnte kein Christ sein, immerhin trug er die Haare lang und führte eine heidnische Kriegerbande an. Und sie hatte ihm ihr Leben anvertraut. „Werdet Ihr dafür sorgen, dass das nicht auch mein Schicksal wird?“

„Dazu wird es nicht kommen.“

„Dennoch …“

„Macht Euch keine Sorgen“, beteuerte er. „Glaubt mir, Euer Schicksal wird ein anderes sein.“

Gerade als die Dunkelheit über sie hereinbrach, erreichten sie eine Anhöhe, hinter der sich die Festung befand. Liddy war beeindruckt, dass Sigurd tatsächlich einen kürzeren Weg gefunden hatte.

Seine Vermutung fand sich bestätigt. Das Tor der Feste wurde geschlossen, sobald die letzten Sonnenstrahlen am Himmel verblassten. Wagen verließen die Feste und fuhren im Dämmerlicht davon. Liddy konnte hier und da jemanden darüber klagen hören, wie die Gälen von den Nordmännern behandelt wurden, aber es waren keine allzu lauten Proteste, und sie verstummten auch schnell wieder.

Sie wollte losgehen, wurde aber von Sigurd gepackt, der sie hastig an sich zog.

„Wohin wollt Ihr?“, hörte sie seine tiefe Stimme grollen.

Sie drehte sich ein Stück weit zu ihm um. Es irritierte sie, wie ihr Körper auf seine Nähe reagierte. Seit dem Tag, an dem sie hatte zusehen müssen, wie die zwei winzigen Särge in die Erde hinabgelassen wurden, hatte ihr Körper keine Gefühlsregung mehr gezeigt. Damit konnte und wollte sie sich jetzt nicht befassen. Sie schluckte bemüht und konzentrierte sich ganz auf die Feste.

„Ich will zum Tor, um dort zu warten. Ich will als Erste in der Reihe stehen, wenn am Tag der Versammlung das Tor geöffnet wird. Sicher werden Dutzende Bittsteller dort warten, und ich muss sicherstellen, dass ich gehört werde.“

„Erst einmal bleiben wir noch hier.“ Dabei legte er einen Arm um ihre Schultern und verhinderte, dass sie sich von der Stelle rühren konnte. Wieder ging ein warmer Schwall durch ihren Körper, sodass sie sich dazu zwingen musste, tief durchzuatmen. Das Problem daran war, dass ihr diese Wärme gefiel und sie gern mehr davon verspüren wollte.

Sie sah in die Richtung, in die Sigurd mit der freien Hand zeigte. Eine Gruppe Nordmänner kam zur Feste geritten und verlangte eingelassen zu werden. Das Tor wurde geöffnet, eine kleinere Gruppe kam nach draußen.

„Was machen sie?“

„Sie sind auf der Suche. Wir warten, bis weitere Inselbewohner eingetroffen sind. Dann mischen wir uns unter die Menge.“

„Wird man uns hier finden?“, fragte sie.

Nach einem kurzen Blick zu Hring antwortete Sigurd: „Ich bevorzuge zwar das Überraschungselement, aber sollte eine kleine Patrouille uns hier entdecken, wird sie uns unterlegen sein.“

Liddy kaute auf ihrer Unterlippe, was sie immer tat, wenn sie nervös war. „Wo soll ich mich verstecken?“

Nachdem Sigurd sich unter einem Baum niedergelassen hatte, tippte er auf den Platz gleich neben ihm. „Bleibt in meiner Nähe, dann wird Euch nichts geschehen.“

Sie setzte sich zu ihm, sorgte aber dafür, dass Coll sich zwischen sie legte. Wenn sie das hier überlebte, wollte sie keine Gerüchte aufkommen lassen, sie hätte sich mit einem Nordmann eingelassen. Sie berührte leicht ihr Muttermal. Natürlich würde sich ohnehin niemand für sie interessieren, da sie nichts an sich hatte, was einen Mann hätte ansprechen können.

Als Sigurd aufwachte, war sein Arm eingeschlafen und taub. In der Nacht war der Hund um Lady Eilidith herumgegangen, um auf der anderen Seite zu schlafen, während sie selbst näher an Sigurd herangerutscht war. Jetzt lag ihre Hand auf seiner Brust. Es fühlte sich gut an, sie in den Armen zu halten. Soweit er sich erinnern konnte, war Beyla vor vielen Jahren die letzte Frau gewesen, die er so gehalten hatte.

Im schwachen Schein der Morgendämmerung betrachtete er ihren leicht geöffneten Mund, während ihm ein Stich durch die Brust ging. Er würde sein Bestes geben, um sie zu beschützen, doch Eilidith war in erster Linie der Köder. Sie war der Vorwand, den er brauchte, um den Schwur zu erfüllen, der die Vergeltung für den Tod seiner Mutter betraf. Wenn das geschehen war, würde er die Ländereien seines Vaters wieder an sich nehmen und Jarl werden, anstatt weiter der Taugenichts und Bastard zu sein, als den Thorbins Mutter ihn immer bezeichnet hatte. Würde er dieses Ziel aus den Augen verlieren, dann wäre damit alles verloren.

Als er den Arm wegnahm und Eilidith behutsam zur Seite schob, schlug sie die Augen auf. Sie blinzelte ihn an und schien nicht sofort zu wissen, wo sie war. Plötzlich blitzte die Erkenntnis auf, sie erinnerte sich und ging auf Abstand zu ihm. Ihr Hund bellte nur einmal ganz kurz und sehr leise.

„Es wird Zeit, Mylady“, sagte Sigurd. „Seid Ihr bereit, Thorbin eine Lektion zu erteilen?“

Sie nickte. „Coll und ich können es kaum erwarten, unsere Rollen zu spielen, aber es könnte sein, dass Thorbin vernünftig reagiert.“

Er beugte sich vor und zog an ihrem Kopftuch, damit ihr feuerrotes Haar vollständig bedeckt war und keine Ablenkung mehr darstellen konnte. „Ihr spielt Eure Rolle, aber der Hund bleibt hier.“

„Warum?“

„Weil Thorbins Wachen Euch mit diesem Hund an Eurer Seite nicht in Thorbins Nähe lassen würden. Damit mein Plan funktionieren kann, müsst Ihr Euer Anliegen persönlich vorbringen, und vor allem müsst Ihr selbst in der Lage sein, Thorbin den Ring zu zeigen.“

Die Anspannung wich aus ihrem Gesicht. „Ich wusste, Hring war im Irrtum. Ich wusste, Ihr würdet mich nicht die Hure spielen lassen.“

Verdutzt sah er sie an. Das war ihre Sorge gewesen? Er griff nach ihrer Hand und hielt sie fest, während er ihr in die Augen sah. Als er merkte, dass er sie anstarrte, ließ er sie gleich wieder los. „Ihr seid nicht der Typ dafür.“ Als er sah, wie Schmerz in ihren Augen aufblitzte, wurde ihm klar, dass sein Tonfall und seine Wortwahl völlig verkehrt gewesen waren. Zwar sollte ihre Empfindsamkeit ihn nicht kümmern, aber genau das war der Fall. „Ich habe nie eine Hure für diese Rolle erwogen“, unternahm er einen neuen Anlauf. „Thorbin weiß, wie treulose Frauen sein können, deshalb seid Ihr genau das, was ich benötige.“

Sie begann ihren Hund zu streicheln, während Sigurd hoffte, dass sie einsichtig sein würde. Sie mussten so unauffällig wie möglich sein, denn Thorbin durfte so lange keine Ahnung haben, was ihn erwartete, bis Sigurd die Falle zuschnappen ließ.

„Wenn Coll spürt, dass ich in Gefahr bin, wird er einen Weg finden, um zu mir zu kommen“, warnte sie ihn. „Aber er kann hier bei Euch bleiben.“

Sigurd atmete erleichtert auf, da die Anspannung von ihm wich. Eilidith war ein wahres Geschenk. Weder schmollte sie, noch wollte sie von ihm aufgezählt bekommen, was an ihr alles attraktiv war, so wie es die meisten anderen Frauen in diesem Moment gefordert hätten. Stattdessen war sie mit ihren Gedanken gleich beim nächsten Thema. Eine wunderschöne Frau, die auch noch vernünftig war. Mehr konnte er gar nicht verlangen.

„Hring wird sich um Euren Hund kümmern, und ich werde ihm erklären, wie er ihn am besten bändigen kann.“ Er stand auf und streckte ihr die Hand entgegen. „Jetzt müssen wir beginnen.“

Sie verharrte weiter auf ihrem Platz. „Glaubt Ihr, wir werden das lebend überstehen?“

Er legte eine Hand an ihre Wange, ihre zarte Haut schien unter seinen Fingern zu beben. „Thorbin ist schon einmal gescheitert, als er mich töten wollte. Das wird ihm auch diesmal nicht gelingen. Vertraut mir.“

„Was genau werden wir machen? Sagt es mir jetzt, sonst gehe ich zu den Wachen und melde ihnen, dass Ihr alle hier seid.“

Widerwillig nahm er seine Hand weg, gab sich aber das Versprechen, schon bald ihre Lippen zu kosten. Doch jetzt brauchte er erst einmal ihren Mut.

„Es ist Kriegern nur gestattet, die Führerschaft herauszufordern, sofern sie bei der Versammlung anwesend sind“, erklärte er konzentriert. „Thorbin will natürlich verhindern, dass es jemand von Ketils félag in die Versammlung schafft. Und genau da kommt Ihr ins Spiel, da Ihr mich in die Versammlung bringen werdet.“

Sigurd hockte sich hin und umriss seinen Plan, wobei er sich zwingen musste, nicht an Eilidiths Lippen oder an den roten Glanz ihrer Haare im Sonnenschein zu denken. Jetzt zählte nur die Aufgabe, die sie zu erledigen hatten und die er nur überleben würde, wenn er sich auf die wirklich wichtigen Dinge konzentrierte.

Eilidith war für ihn von Nutzen, weil Thorbin mit ihr nicht rechnen konnte und er somit nicht in der Lage sein würde, etwas gegen sie zu unternehmen. Das war alles, was Eilidith für ihn darstellte. Er wusste, was in seinem Leben wichtig war und worin seine Zukunft lag – und die hatte nichts mit einer gewissen Frau mit feuerrotem Haar und ihrem riesigen Wolfshund zu tun.

Statt bei Sonnenaufgang wurden die Tore zur Feste erst im Lauf des Vormittags geöffnet, was zu großem Unmut unter den vielen Wartenden führte. Kaum standen die Tore einen Spaltbreit offen, wurde bereits gedrängelt und geschoben, da jeder ganz vorn sein wollte.

Liddy musste sich gegen ihren Instinkt behaupten, da Sigurd sie angewiesen hatte, noch zu warten, weil er mit seinen Leuten möglichst in der Mitte der in die Feste strömenden Massen sein wollte. Dort war es unwahrscheinlicher, beim Einlass kontrolliert zu werden, und umso eher konnten sie es in den großen Saal schaffen, wo Thorbin die Bittsteller anhören würde. Ihr Magen verkrampfte sich schon die ganze Zeit. Das Letzte, was sie gewollt hätte, wäre nach ihrem Begleiter gefragt zu werden. Ihre Fähigkeit zu lügen war einfach erbärmlich.

Sie wollte Coll kraulen, fasste aber ins Leere. Sie wünschte, ihr Hund wäre hier, doch der wurde in diesem Moment von Hring mit Dörrfleisch gefüttert. Sie dagegen war mit Sigurd hier und konnte nur darauf hoffen, dass ihr Fluch nicht doch noch alles ruinieren würde.

Die Schlange rückte wieder ein Stück nach vorn. Sigurd wechselte in eine andere Gangart, wie sie aus dem Augenwinkel sah. So plattfüßig und langsam, wie er jetzt ging, war nichts mehr von der forschen, arroganten Art eines nordischen Kriegers zu sehen, der sonst so energisch voranschritt.

Ein großer Krieger hielt die Frau eines Fischzüchters auf, die ihm prompt auf Gälisch die Meinung sagte. Alles Gemurmel verstummte, während der Krieger die Frau verdutzt ansah, deren Tirade anhielt. Als sie ihm dann auf Nordisch erklärte, dass sie nichts weiter wollte, als den frischesten Fisch im Land zu verkaufen, nickte er nur und winkte sie weiter.

„Die wenigsten Nordmänner beherrschen die gälische Sprache“, flüsterte Liddy. „Auf diese Weise verspotten sie sich. Das hat sich zur Lieblingsbeschäftigung vieler im Land entwickelt.“

„Sie sollten lieber vorsichtig sein. Nicht jeder Nordmann ist zwangsläufig dumm.“ Sigurd betrachtete den Krieger, der sich mit skeptischer Miene die Körbe mit frischen Fischen ansah. „Gorm war den meisten ein Begriff. Es dauert lange, bis er wütend wird, aber wenn er wütend ist, muss man sich sehr in Acht nehmen. Sein Umgang mit zwei Äxten gleichzeitig ist legendär, und daher rührt auch sein Name: Gorm mit den zwei Äxten. Wir haben kurze Zeit zusammen gedient.“ Sigurd zog die Kapuze tiefer ins Gesicht und stützte sich schwerer auf seinen Stock, um den Eindruck zu erwecken, er sei alt und schwach. „Er kämpft mit zwei Äxten, aber ohne Schild. Ich habe miterlebt, wie er es ganz allein mit einem Schiff voller Gälen aufgenommen hat und am Ende selbst nichts weiter abbekommen hat als einen kleinen Kratzer am Arm.“

Liddy lief ein Schauer über den Rücken, als ihr klar wurde, dass die Leute hier alle mit dem Feuer spielten. Sollte ihm jemand übersetzen, was an Lästereien über ihn verbreitet wurde, dann würde das für einige hier übel enden. Plötzlich fiel ihr etwas Schreckliches auf: Wenn Sigurd Gorm kannte, dann musste Gorm ihn auch kennen. Damit war jede Hoffnung auf ein Überraschungsmoment hinfällig. Ihr Mund schmeckte, als hätte sie Asche geschluckt. Sie würde man als seine Komplizin verurteilen, und damit wäre es für sie unmöglich, ihren Vater und ihren Bruder zu retten. Ein Blick nach hinten zeigte, dass sich dort zu viele Menschen drängten, sodass ein Entkommen nicht möglich sein würde.

„Gorm wird Eure Stimme wiedererkennen“, raunte sie Sigurd zu.

Der nickte kurz. „Und genau deshalb müsst Ihr das Reden übernehmen, falls er uns anspricht.“

Sie wagte einen Blick zu ihm und sah, dass er sich ein wenig aufgerichtet hatte und die Menge überschaute. „Niemand wird Euch so für einen Diener halten“, zischte sie ihm zu. „Beugt Euch nach vorn und seht auf den Boden.“

Sein Atem strich über ihr Ohr, als er erwiderte: „Vielleicht würde man mich stattdessen für Euren Liebhaber halten.“

Ein Kribbeln regte sich in der Magengegend. Ihr Liebhaber? Damit hatte sie abgeschlossen. Für Brandon war sie nicht gut genug gewesen, und Sigurd selbst hatte geurteilt, dass sie nicht für das Bett des Jarl infrage kam. „Ein Diener gibt weniger Anlass zu Fragen.“

Er zog eine Augenbraue hoch. „Sagt, was Ihr sagen wollt, aber seid darin überzeugend.“

„Warum habt Ihr mich ausgesucht?“, fragte sie, während die Schlange wieder ein Stück vorrückte.

„Ich wusste, ich brauche irgendeine Ablenkung. Zum Glück hat das Schicksal Euch unseres Weges kommen lassen. Thorbin hat sogar die Wildschweinjagd aufgegeben, was ich nie für möglich gehalten hätte. Er hat für die Jagd gelebt.“

Noch fünf Leute, bis sie bei Gorm waren, der soeben eine Wagenladung Heu mit Schwertern traktieren ließ, falls sich jemand dort versteckt hielt.

„Jetzt verstehe ich auch, warum Ihr Euch nicht in einer Ladung Heu in die Feste schmuggeln lassen wolltet“, sagte sie.

„Ursprünglich wollte ich das auch, aber dann habe ich das da am ersten Tag des Ausspähens gleich dreimal beobachten können“, entgegnete er.

Gorm kam auf sie zu, dabei gab er einem anderen Wachmann ein Zeichen, dass er sich um sie beide kümmern würde. Vor Schreck vergaß Liddy zu atmen.

„Verhaltet Euch ganz normal“, raunte Sigurd ihr zu. „Ihr schaut drein wie ein Reh, das die Schritte des Jägers vernommen hat.“

„Dreht Euch zu mir um und tut so, als wärt Ihr in eine Unterhaltung mit mir vertieft“, forderte Liddy ihn auf. „Dann ist es für mich nicht so schlimm, weil ich ihn nicht sehen kann.“

Er machte einen Schritt auf sie zu, bis er so dicht war, dass sie sich fast schon berührten und sie seinen Atem auf ihrer Wange spürte. „Mir gefällt ja immer noch meine Idee, so zu tun, als wären wir Liebende.“

Liddy wollte auf Abstand zu ihm gehen, weil ihm diese Lüge genauso leicht über die Lippen gekommen war wie all die Dinge, die Brandon ihr erzählt hatte, als er um sie geworben hatte. Dann hielt sie sich vor Augen, welche Gründe Brandons Geliebte aufgezählt hatte, wieso Liddy nicht begehrenswert war. Ihr Muttermal war der erste, aber keineswegs auch der einzige Grund gewesen. Sie begann wieder ruhiger zu atmen. „Diese Möglichkeit hättet Ihr erwähnen sollen, bevor ich mich einverstanden erklärt habe, Euch zu helfen.“

„Ich habe die Erfahrung machen müssen, dass es oft kein gutes Ende nimmt, wenn zu viele Leute zu viel von dem wissen, was ich vorhabe. Ist die Gefahr vorüber?“

Liddy stellte sich auf die Zehenspitzen, um über Sigurds breite Schultern zu schauen. „Ja, er wollte bloß, dass der Sohn des Bauern beim Entladen des Wagens mithilft. Wir waren gar nicht gemeint.“

„Gut, dann bleibt auf der Seite, auf der Gorm steht. Ich verlasse mich ganz auf Euch, Eilidith, und auf Euer bezauberndes Lächeln.“

„Mein Lächeln hat noch nie jemanden bezaubert.“

„Wir müssen unbedingt etwas dagegen unternehmen, dass Ihr dauernd solche Lügen erzählt.“

Sie konnte nur lächeln und den Kopf schütteln. Er wollte ihr schmeicheln, weil er sich ganz auf sie verlassen musste. Die meisten anderen Menschen reagierten mit Entsetzen auf den Anblick der Frau, die für den Tod ihrer Kinder verantwortlich war, und versuchten zu vergessen, dass sie überhaupt existierte.

Sigurd ging neben ihr her und stützte sich auf den Stock, als wäre es ihm anders nicht möglich, sich auf den Beinen zu halten.

„Kopf runter und Mund halten“, zischte sie ihm zu. Sie waren kurz vor dem Tor. „Ein anderer Wachmann hilft Gorm. Sie scheinen nach jemandem zu suchen. Sie laden die Getreidesäcke noch einmal ab.“

„Thorbin hatte schon immer diese übertriebenen Ängste. Wer soll sich denn in einem Sack Getreide verstecken?“

Die Wachen sahen sie beide und winkten sie durch, da sie mit den Säcken beschäftigt waren. Sigurd drückte ihre Hand. „Auf das Glück.“

Sie erschrak, und ihre Wangen glühten. Eine schlichte Berührung, und sofort schmolz das Eis dahin, von dem sie seit dem Augenblick umgeben gewesen war, als Keita ein letztes, entsetzliches Röcheln von sich gegeben und dann zu atmen aufgehört hatte. Es war so, als wären all die gehässigen Dinge bedeutungslos geworden, die Brandon zu ihr gesagt hatte. Sigurd hatte sie aus völlig freien Stücken berührt. Nein, das stimmte nicht. Es war nicht aus freien Stücken geschehen, sondern weil er sie hatte ablenken wollen.

Rasch zog sie die Hand weg. „Hört auf damit.“

In seinem Mundwinkel zeichnete sich ein Grübchen ab. „Wenn Ihr das sagt. Ich habe nur meine Rolle gespielt.“

„Wir hatten uns auf eine andere Rolle geeinigt“, presste sie heraus.

„Was ist hier los? Warum bist du hier?“, ertönte auf einmal eine tiefe, dröhnende Stimme.

Liddy zuckte zusammen, drehte sich dann aber zu dem Krieger um, der sie auf Nordisch angesprochen hatte. „Ich bin auf der Suche nach meinem Vater und meinem Bruder.“

Der Mann zog die Augenbrauen zusammen. Liddy versuchte, keine Notiz von der Axt zu nehmen, die an seinem Gürtel baumelte. „Und wer ist dein Vater?“

„Gilbreath mac Fergusa. Das Oberhaupt des Clans Fergusa.“

„Du beherrschst die nordische Sprache. Gut. Es ist schön zu sehen, dass die Frauen sich Mühe geben.“ Dann stieß er ein raues Lachen aus.

„Es reicht, um mich zu verständigen.“

„Und dein Begleiter? Warum ist er hier? Und warum lässt er eine Frau für sich sprechen?“

Sie ließ den Blick auf den Krieger gerichtet. „Mein Diener hat seinen Verstand und seine Sprache eingebüßt. Es heißt, eine Hexe habe ihn am letzten Neujahrstag verflucht. Eine Frau wie ich sollte wohl nicht allein auf Islay unterwegs sein.“

„Hier herrscht Frieden, Frauen müssen keine Angst haben, allein zu reisen.“

Liddy musste an den Hain denken, womit klar war, dass dieser Mann log. Mit gesenkter Stimme entgegnete sie: „Gesetzlose. Meine Mutter macht sich Sorgen wegen der Gesetzlosen. Aber ich glaube, auch wenn er nicht mehr reden kann, würde mein Diener es durchaus verstehen, seinen Stock einzusetzen, falls uns im Wald ein Gesetzloser begegnet.“

Sigurd murmelte etwas vor sich hin und schien in seinem Umhang noch mehr in sich zusammenzusinken.

„Es ist alles in Ordnung, Colum“, sagte sie zu ihm. „Der Krieger wollte nur wissen, was mit dir ist. Ich glaube nicht, dass der Fluch der Hexe auf die nächste unwürdige Seele überspringen wird.“

Er streckte eine zitternde Hand aus, als wollte er nach dem großen Nordmann fassen.

Gorm wich zurück. „Du kannst dein Anliegen dem Rat vortragen, aber pass auf deinen Diener auf. Du hast Glück, denn heute ist der Tag, an dem sich Lord Thorbin solche Anliegen anhört.“

„Hoffentlich wird er erkennen, dass mein Anliegen begründet ist.“

Der Krieger wandte sich ab. „Pass gut auf deinen Diener auf, sonst droht euch beiden Ärger.“

Dann widmete er sich dem Bauern gleich hinter ihnen und forderte ihn auf, den Wagen voll Fisch zu entladen, während Liddy Sigurd hinter sich her in die Feste zog und dem Strom von Besuchern folgte.

Plötzlich legte er seine Hand um ihren Ellbogen. „Von einer Hexe verflucht? Den Verstand eingebüßt? Hatten wir nicht etwas anderes verabredet?“

Liddy schenkte ihm ein honigsüßes Lächeln. „Ihr habt mich entscheiden lassen“, erwiderte sie genauso leise. „Ihr solltet mir vertrauen. Er hat Euch gar nicht erst etwas fragen wollen, sondern konnte es kaum abwarten, uns passieren zu lassen, damit wir nicht länger in seiner Nähe sind.“

Sigurd verdrehte die Augen, da ihm offenbar die Rolle nicht gefiel, die sie ihm zugeschrieben hatte. „Herr, beschütze mich vor auf sich gestellten Frauen mit verlockendem Lächeln“, stöhnte er.

„Wir konnten nur passieren, weil ich so gut reagiert habe“, machte sie ihm klar. „Wir sind in der Feste.“

Er zog eine Augenbraue hoch. „Jetzt ist es meine Aufgabe, uns hier lebend wieder herrauszubringen.“

„Mit meinem Vater und meinem Bruder.“

„Ich kenne die Vereinbarung, die wir getroffen haben, Eilidith. Aber ich verspreche Euch, Euer Leben ist genauso wichtig.“

Liddy konzentrierte sich lieber auf den Weg, der durch die Feste führte, anstatt einen Blick auf die zahlreichen Krieger zu werfen, die sich gleich hinter dem Tor innerhalb der Anlage aufhielten. Es waren weitaus mehr, als sie erwartet hätte. Wie konnte Sigurd hoffen, zusammen mit seinen Männern etwas gegen sie ausrichten zu können?

„Ich werde Euch beizeiten an Euer Versprechen erinnern.“

3. KAPITEL

Überall in der Feste herrschte Gedränge. Zahlreiche Marktstände hatte man aufgebaut, an denen Fisch, frisches Gemüse und vieles mehr angeboten wurde. Die Nordmänner im Gedränge waren an ihren langen Haaren und den feinen Gewändern leicht zu erkennen. Die meisten Gälen hielten den Blick nach unten gerichtet und huschten hierhin und dorthin, um den Nordmännern nicht im Weg zu stehen.

„Wohin nun?“, fragte Liddy und zog die Kapuze etwas zusammen, um zu vermeiden, dass jemand ihr Muttermal anstarrte. „Wo sollen wir am besten warten? Wann werden Eure Leute eintreffen? Ich nehme an, sie passen die richtige Gelegenheit ab, um einer nach dem anderen nach drinnen zu gelangen.“

„Wir gehen zum großen Saal, wo Thorbin die Bittsteller anhört. Wir sind hergekommen, um dein Anliegen vorzutragen, damit wir herausfinden können, ob Thorbin das Gesetz achtet oder nicht.“ Sigurd zeigte auf das große Gebäude, das alle anderen überragte. „Meine Männer werden im Wald bleiben, es sei denn, ich kehre vor Sonnenuntergang nicht zurück.“

„Sollte ich nicht versuchen, meine Familie ausfindig zu machen?“, fragte sie. „Ich will sie wissen lassen, dass ich hier bin und mich für sie einsetze. Vater und Malcolm müssen vorgewarnt sein, damit sie fliehen können, falls mein Anliegen abgelehnt wird.“

Sigurd legte eine Hand auf ihre Schulter. „Eine Flucht wäre eine Dummheit. Wohin sollten sie gehen? Außerdem würde Euch all Euer Land weggenommen. Man wird sie dann freilassen, wenn der Jarl der Insel das beschließt.“

„Ihr meint Thorbin? Er ist hier der Jarl, und ihr glaubt nicht, dass ich mit meinem Anliegen bei ihm durchkommen werde. Ihr wollt nicht, dass ich meiner Familie falsche Hoffnungen mache.“

„Hört auf, in die Zukunft sehen zu wollen.“ Er legte den Zeigefinger an ihre Lippen. „Bis die Zeit gekommen ist, ist es besser, wenn möglichst wenige Leute wissen, dass ich hier bin.“

Ein Nordmann rempelte sie im Vorbeigehen an und verpasste ihr damit einen Stoß, der sie fast zu Boden geworfen hätte. Liddy stieß vor Schreck einen leisen Aufschrei aus. Sigurd zog sofort die Kapuze tiefer ins Gesicht und wich dorthin zurück, wo die Schatten noch dunkler waren.

„Pass doch auf, wo du hinläufst“, knurrte der Krieger und ging weiter, ohne sie eines Blicks zu würdigen.

Liddy wartete, bis der Mann in der Menge untergetaucht war, dann erst wagte sie wieder durchzuatmen. „Das war knapp. Wie lauten jetzt meine neuen Befehle?“

„Sprecht laut und energisch, wenn Thorbin Euch vortreten lässt. Wenn er Euer Anliegen abweist, geht zur Seite und lasst mich übernehmen. Könnt Ihr das machen?“ Sigurd drückte seine Hand unter ihren Ellbogen. „Bis jetzt habt Ihr Euch hervorragend geschlagen.“

„Sonst noch etwas?“

„Wenn ich Euch sage, Ihr sollt schreien, dann will ich, dass Ihr so laut schreit, wie Ihr nur könnt. Am besten so laut, dass man Euch noch bei Loch Indaal hören kann.“

„Das wird Coll auf den Plan rufen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Hring in der Lage sein wird, ihn zurückzuhalten, sollte ich in ernsthaften Schwierigkeiten stecken.“ Der Gedanke war nicht gerade erbaulich, denn die Krieger, die sie an der Innenseite der Festungsmauer hatte stehen sehen, würden zweifellos mit einem Hund kurzen Prozess machen. Immerhin war ihr nicht entgangen, wie ein Bogenschütze im Vorbeigehen einen Hund mit dem Fuß traktierte, als sie die Festung betraten.

„Ganz genau. In dem dann entstehenden Durcheinander könnt Ihr von hier entkommen und heimkehren. Dadurch bleibt Euch Zeit, noch alle zu warnen, die zu Eurer Familie gehören. Anschließend macht Ihr Euch auf den Weg zur Isle of Man, wo Ihr Lord Ketil findet.“

Sie kniff die Augen zusammen. Wenn er hier scheiterte, bedeutete es, dass ihr eine Seereise bevorstand. Aber sie würde niemals Coll herlocken und ihn dem Schicksal überlassen, das ihn hier erwartete! Liddy schwor, nicht zu schreien, und wenn Sigurd das ein Dutzend Mal von ihr verlangen würde. „Haltet Ihr die Lage für aussichtslos? Ich verdiene es zu erfahren, was mich im schlimmsten Fall erwartet.“

„Es ist immer besser, wenn man für den Notfall noch einen anderen Plan in der Hinterhand hat.“

„Besser als jeder Notfallplan wäre es, dass Euer Schwertarm nicht scheitert.“

Er lächelte flüchtig. „Es freut mich, dass Ihr so großes Vertrauen in meinen Schwertarm habt.“

„In irgendetwas muss ich ja Vertrauen haben.“ Sie versuchte die Unruhe zu bezwingen, die dafür sorgte, dass sich ihr Magen verkrampfte. „Und wenn Thorbin das Richtige tut?“

„Dann werde ich der Erste sein, der Euch gratulieren wird.“ Er legte seine Hand auf ihre Schulter. Die Wärme, die von seiner Berührung ausging, strahlte auf ihren ganzen Körper aus und ließ die innere Unruhe verstummen. „Macht Euch aber keine zu großen Hoffnungen. Thorbin wird seinem Wesen treu bleiben. Ich habe schon unter schlechteren Bedingungen den Sieg davongetragen.“

Unvermittelt wurde ein schwerer Stab dreimal energisch auf den Steinboden gestoßen, und sofort trat im ganzen Saal Stille ein. „Tretet vor! Tretet alle vor, die ihr euch an Thorbin wenden wollt, den Jarl der westlichen Inseln. Tretet vor, und er wird Gerechtigkeit walten lassen.“

An einem Ende des Saals wurde ein Vorhang aufgezogen, ein Krieger mit einem schweren goldenen Halsring und goldbestickter Kleidung kam zum Vorschein. Seine Nase war auffallend lang und spitz, das Gesicht wurde von einem geringschätzigen Ausdruck geprägt, als würde er sich bereits langweilen. Doch etwas an seinem Benehmen ließ Liddy grübeln, wo sie den Mann womöglich schon einmal gesehen hatte. Es war die Art, wie er den Kopf ein wenig schräg hielt. Und auch seine Hände hatten etwas Vertrautes. Dann traf sie die Erkenntnis wie ein Schlag. Sigurds Halbbruder. Sie warf Sigurd einen Seitenblick zu, doch die weite Kapuze verdeckte sein Gesicht.

Ein Stimmengewirr setzte ein, da jeder versuchte, möglichst weit nach vorn zu kommen, um vor den Jarl treten zu können. „Das sind zu viele Leute vor uns“, flüsterte Liddy ihm entmutigt zu. „Er wird mich nicht anhören. Alles war vergebens.“

„Überlasst das mir.“

Mit seinem Stock voraus bahnte sich Sigurd einen Weg zwischen anderen Leuten hindurch, wobei Liddy dicht hinter ihm blieb, bis sie tatsächlich ganz vorn angekommen waren und sie Thorbins lange Nase aus nächster Nähe betrachten konnte. „Fangt an! So laut, wie Ihr könnt“, flüsterte Sigurd ihr zu und stellte sich hinter sie.

„Ruhe“, brüllte Thorbin. „Ich verlange, dass Ruhe einkehrt!“

„Ich habe ein Anliegen“, verkündete Liddy lautstark, kaum dass alle anderen im Saal verstummt waren. „Ketil Plattnase versprach meinem Vater Schutz vor den Sklavenhändlern, aber Eure Männer haben ihn und meinen Bruder gefangen genommen, und nun sollen sie in die Nordlande verkauft werden. Ich bitte Euch darum, das Versprechen zu ehren, das Ketil Plattnase meinem Vater gab. Ich bitte Euch, sie freizulassen.“

Lord Thorbin betrachtete sie, als wäre sie ein ungewöhnliches Insekt, das er erst noch genauer begutachten wollte, ehe er es zerquetschte.

Obwohl sie viel lieber ihr Gesicht verborgen hätte, straffte Liddy die Schultern und starrte den Tyrannen an.

„Ist das wahr? Wer hat dir das überhaupt erzählt?“, herrschte Thorbin sie an. „Es gibt viele, die behaupten, Ketil Plattnase habe ihnen dieses oder jenes Recht zugestanden, aber einen Beweis können sie nicht erbringen.“

„Der Diener meines Vaters kehrte mit dessen blutbeschmiertem Mantel und der Nachricht zu uns zurück. Meine Mutter musste sich sofort zu Bett begeben.“ Sie kramte in dem kleinen Beutel und förderte den goldenen Ring zutage. „Dies ist der Beweis, den Ketil meinem Vater gab, als sie sich ewige Freundschaft und Frieden geschworen hatten.“

Thorbin beugte sich vor und betrachtete den Ring, schließlich gab er ein unbestimmbares Brummen von sich. „Wer ist dein Vater? Du scheinst hier von der Insel zu kommen, nicht aus den Nordlanden.“

Liddy wollte ihm das gelangweilte Lächeln von den Lippen wischen. „Mein Vater ist Gilbreath mac Fergusa, ein Mann, der Ketil Plattnase aus freien Stücken die Treue schwor, nachdem irische Piraten über sein Land hergefallen waren. Ein Mann, der andere davon überzeugen konnte, es ihm nachzumachen. Ein Mann, der Euren fortwährenden Schutz verdient hat.“

Der Lord strich über sein Kinn und kniff die Augen leicht zusammen. „Gilbreath mac Fergusa ist ein Verräter, dessen Sohn gleichfalls ein Verräter ist. Der Sohn hätte mich getötet, wenn er die Gelegenheit dazu bekommen hätte. Er brach die Freundschaft, nicht ich!“ Er machte eine wegwerfende Geste. „Anliegen abgewiesen.“

Daraufhin stemmte Liddy die Hände in die Hüften. „Ihr lügt! Mein Vater ist ein ehrlicher Mann, der für seine Familie nur Frieden und Gerechtigkeit will.“

Thorbin beugte sich vor. „Hmm, du zweifelst an meinen Worten? Eine Frau wie du? Eine Gälin? Vielleicht bist du ja eine Kriegerin, die gegen mich kämpfen will, auf dass die Götter entscheiden mögen, wer von uns recht hat.“

Im Saal war nervöses Gelächter zu hören.

„Es liegt ein Missverständnis vor.“ Die Worte kamen nur im Flüsterton über ihre trockenen, rauen Lippen. „Ich bin mir sicher, dass es sich klären lassen kann. Aber mein Vater muss freigelassen werden. Er hat nichts mit dem zu tun, was sich abgespielt hat, als mein Bruder herkam.“ Schweiß lief ihr über den Rücken. Was genau hatte ihr Bruder getan? Malcolm war nicht in der Lage, einem anderen kaltblütig etwas anzutun. Wäre er nicht der einzige Sohn, hätte er Priester werden können. Wusste ihre Mutter mehr darüber? War das der Grund, warum sie Liddy von dieser Reise hatte abhalten wollen?

„Ich kann an den Zuständen nichts ändern. Gib mir den Ring zurück, du hast jedes Recht darauf verwirkt. Und sei froh, dass ich dich nicht zu einem Kampf zwinge.“ Thorbin winkte den Krieger zu sich, der die Zeremonie eröffnet hatte. Ehe sie noch etwas tun konnte, hatte der ihr schon den Ring entrissen. „Der Nächste.“

„Aber das ist verkehrt!“, rief sie außer sich. „Ihr habt kein Recht, mir den Ring wegzunehmen. Das ist Diebstahl! Das verstößt gegen die nordischen Gesetze! Ich fordere Gerechtigkeit!“

Thorbin hielt in seiner Bewegung inne.

„Du wagst es, mich als Lügner zu bezeichnen? Dein Bruder und dein Vater sind Verräter, die das Friedensabkommen gebrochen haben. Nicht ich! Nach dem Ende dieser Versammlung werden sie beide zu Gesetzlosen erklärt, all ihr Land wird beschlagnahmt.“

Liddy ballte die Fäuste und wünschte, sie wäre eine Kriegerin, damit sie es jetzt und hier mit Thorbin aufnehmen konnte. Sigurd hatte recht gehabt – es konnte keine Gerechtigkeit geben, solange dieser Mann über Islay herrschte. „Es ist an Euch zu entscheiden, was Ihr seid. Ich zählte nur auf, was alles Tatsache ist. In seinem ganzen Leben hat mein Vater noch nie wissentlich ein Versprechen gebrochen. Warum sollte er jetzt damit anfangen? Er hatte als einer der Ersten die Oberhoheit der Nordmänner anerkannt. Er hat seinen Tribut stets in der geforderten Menge erbracht. Immer!“

Thorbin lächelte sie mitleidig an. „Tatsache ist, dass ich hier das Sagen habe, meine Liebe. Und dass ich ganz allein darüber urteile, welcher Mann ein Verräter ist. Allerdings bin ich heute großzügig. Da ich sehe, dass du keinen Kämpfer mitgebracht hast, der an deiner Stelle gegen mich antreten kann, werde ich dich lebend davonkommen lassen. Geh hinaus aus meinem Saal und komm nie wieder her. Und sei froh, dass du noch dein Leben hast. Ich, Thorbin Sigmundson, bin der Herrscher über diese Insel, und ich bestimme dies!“

„Diese Dame hat einen Krieger, der für sie kämpft“, verkündete im nächsten Augenblick eine volltönende Stimme.

Thorbin stutzte und schien zu erblassen, doch gleich darauf hatte er sich wieder gefangen. „Es gibt niemanden, der es wagt, mich herauszufordern. Damit ist dann alles gesagt. Sei froh, dass ich guter Laune bin, meine Liebe. Du kannst gehen, aber der Tribut deiner Familie verdoppelt sich ab sofort. Ich erwarte ihn rechtzeitig zur Erntezeit. Danach können wir uns über die Freilassung deines Vaters unterhalten.“

Er warf ihr den Ring hin, der genau vor ihren Füßen auf dem Boden landete.

Sigurd trat vor und stellte sich so vor Liddy, dass er einen Stiefel auf den Ring setzen konnte. „Ich fordere dich heraus, Thorbin mit den zwei Gesichtern! Du hast es versäumt, dem Gelöbnis entsprechend zu handeln, das dein Jarl gegeben hat. Du hast die Freundschaft gebrochen. Damit hast du jeden Anspruch verwirkt, als Führer aufzutreten, weshalb ich von dem Recht Gebrauch mache, dich herauszufordern.“

„Wie kannst du es wagen, vor mich zu treten und dabei dein Gesicht zu bedecken? Und wie kannst du es wagen, mich so zu betiteln? Wer bist du?“

Sigurd zog die Kapuze vom Kopf und schob den Mantel zur Seite, damit sein Schwert zu sehen war. „Sigurd Sigmundson, der Stellvertreter von Ketil Plattnase. Ich fordere dich im Namen dieser Frau und ihrer Familie heraus, die Frage ein für alle Mal zu klären, welchen Führungsanspruch du haben willst.“

Es schien, als würde jeder im Saal erschrocken die Luft anhalten. Sigurd wartete und wusste nur zu gut, dass dies entscheidende Augenblicke waren. Entweder waren Thorbins Männer selbst auf einen Kampf aus, oder sie würden Thorbin dazu zwingen, die Herausforderung anzunehmen.

Thorbins Gesicht wurde leichenblass, die lange Narbe von der Schläfe bis zum Kinn trat dadurch noch deutlicher hervor. „Das ist nicht möglich. Du bist tot. Schon seit langer Zeit. Ich selbst habe dich in Irland bei Black Pool von dieser Klippe stürzen sehen.“

Sigurd verbeugte sich und genoss das Unbehagen seines Halbbruders. Lange hatte er auf diesen Tag warten müssen. Es befriedigte ihn zu hören, dass Thorbin tatsächlich hinter dem Anschlag steckte, der vor zwei Jahren auf ihn verübt worden war. „Und dennoch stehe ich vor dir und bin springlebendig.“

„Was hast du mit dieser Frau zu schaffen?“

„Willst du mir das Recht absprechen, für sie zu kämpfen?“

Lautes Stampfen und zustimmende Rufe erfüllten den Saal. Sigurds Nackenmuskeln entspannten sich spürbar. Wenn Nordmänner für etwas zu begeistern waren, dann war das eindeutig die Gelegenheit, einen guten Kampf mitzuerleben. Niemand würde eingreifen, und dem äußeren Anschein nach war Thorbin ihm schon jetzt unterlegen – anders als noch vor Jahren, als Thorbin ihn halb tot zurückgelassen hatte.

Thorbins rot unterlaufene Augen und die zitternde Hand waren Hinweise auf ein ausschweifendes Leben. Wie es schien, war Sigurds Zeit endlich gekommen.

„Du lässt mir keine andere Wahl, Sigurd der Plünderer.“ Thorbin lächelte spöttisch. „Du wirst deinen Kampf bekommen. Mit Schwertern. Ich nehme an, du wirst mit dieser Klinge da an deinem Gürtel besser umgehen als mit der unseres Vaters, die du zerbrochen hattest.“

„Dieses Schwert wurde neu geschmiedet.“

Thorbin nickte. „Du hättest schon vor fünf Jahren sterben sollen, als du so dreist warst, bei der Bestattung aufzutauchen.“

Die Worte nahm Sigurd mit einem Schulterzucken zur Kenntnis. Er war zur Bestattung gegangen, um zu zeigen, dass auch er seinen Vater ehren wollte, und um seine Mutter zu retten. Damals war er noch so naiv gewesen zu glauben, dass man ihm keine Fallen stellen würde. Aber als er dann gerade noch zeitig Beyla aus dem Zelt hatte kommen sehen, war ihm sein Fehler deutlich geworden. Das Einzige, was er dann noch hatte tun können, war das Leiden seiner Mutter zu verkürzen. „Es ist dir schon einmal nicht gelungen, mich zu töten, und diesmal wird es nicht anders sein.“

„Sollen wir denn nun kämpfen?“ Thorbin wischte mit der Hand übers Gesicht. „Der Sieger bekommt die Frau.“

„Das wird der Sieger selbst entscheiden. Aber niemand kommt ohne meine Erlaubnis meiner Frau zu nahe.“ Sigurd musste seinen Beschützerinstinkt Liddy gegenüber dämpfen. Sie war nur das Mittel, um Thorbin zu zerstören, weiter nichts.

Liddy betrat die Hütte, in der Sigurd saß und sich auf den Kampf vorbereitete. Sie war es leid, draußen vor der Tür zu stehen und sich die anzüglichen Bemerkungen von Thorbins Männern gefallen zu lassen.

Ihr wäre nie in den Sinn gekommen, dass Sigurd vortreten könnte, um für sie den Kampf auszutragen. Es schien, als sei sie doch etwas Besseres als eine Hure. Sie war seine Frau, wie er gesagt hatte.

Schlimmer aber war, dass ihre Familie durch die heutigen Ereignisse in größerer Gefahr war als zuvor. Sollte Sigurd verlieren, würde man sie alle zu Verrätern stempeln und ihnen alles wegnehmen. Und wenn Sigurd gewann, stellte sich die Frage, ob er sich noch an sein Versprechen halten würde, wusste er jetzt doch, dass ihr Bruder aufbegehrt hatte.

Liddy verdrängte diese Möglichkeit aus ihren Gedanken. Brandon hatte recht gehabt, ihr Fluch würde noch ihre ganze Familie auslöschen.

„Ich entschuldige mich für diese Männer da draußen“, sagte Sigurd, bevor sie sich beklagen konnte. „Gute Manieren sind etwas, das man hier vergeblich sucht.“

Fast hätte sie gelacht, dass er sich entschuldigte, als könnte er etwas für das Benehmen dieser Männer. „Wie oft habt Ihr gegen Thorbin gekämpft? Hat er Euer Schwert zerbrochen? Zumindest das seid Ihr mir schuldig.“

Als er den Kopf hob, war seine Miene wie versteinert. „Viele Male. Wir haben den gleichen Vater, wir sind zusammen aufgewachsen. Während mein Vater seinen letzten Atemzug tat, traf mein Halbbruder seine Vorkehrungen, um mich zu ermorden. Ich überlebte, doch meine Mutter opferte sich für mich. Sie fand, dass ich an die Seite der Frau gehörte, die ich zu der Zeit liebte.“

„Was ist aus der Frau geworden?“

„Sie entschied sich für einen Mann mit mehr Grundbesitz und mehr Macht. Ich zog aus dem Ganzen die Erkenntnis, dass Liebe tötet.“

Erstaunt sah Liddy den Mann an, der viel gefährlicher war als gedacht. „Das hat gar nichts mit Ketils Versprechen und mit meiner Familie zu tun. Ihr wolltet nur eine weitere Chance.“

„Die Chancen stehen zu meinen Gunsten. Vertraut mir.“

„Ihr habt mir nicht vertraut“, gab sie zurück. „Warum sollte ich jetzt Euch vertrauen?“

Ihr Herz schlug in der sich anschließenden Stille unerträglich laut. Dann stellte Sigurd sich vor ihr hin, legte zwei Finger an ihr Kinn und drückte es leicht nach oben, damit sie ihm in die Augen sah. „Wenn Ihr glaubt, ich werde verlieren, dann verlasst diese Hütte.“

„Ich bleibe hier.“ Sie schob seine Finger weg und versuchte, ruhig und gleichmäßig zu atmen. „Seine Männer werden Euch töten, wenn Ihr ihn tötet. Die schließen schon Wetten darauf ab, wie lange sie brauchen werden, um Euch umzubringen.“

„Es reicht, wenn ich mir über solche Dinge Gedanken mache.“ Er wich einen Schritt zurück. „Ihr wart großartig da drinnen. Viel besser, als ich es mir erhoffen konnte.“

Ein Glücksgefühl regte sich in ihrer Brust. Er fand, dass sie ihre Aufgabe gut erledigt hatte. Es fiel ihr schwer, sich daran zu erinnern, wann sie zum letzten Mal ein solches Kompliment gehört hatte. „Ich habe nicht viel davon, schließlich habe ich den Ring meines Vaters verloren.“

„Na, was haben wir denn hier?“ Er fasste hinter ihr Ohr und hielt gleich darauf den goldenen Ring zwischen seinen Fingern. „Hebt ihn nächstes Mal lieber auf. Es könnte sein, dass ich dann nicht da bin, um das für Euch zu tun.“

„Das werde ich machen.“ Sie nahm den Ring an sich und sah auf seine abgewetzten Stiefel. „Ihr benötigt zwar mehr als Zaubertricks, um Thorbin zu besiegen, aber ich glaube, Ihr könnt gewinnen.“

„Es macht viel aus, wenn man weiß, dass da jemand an einen glaubt.“

„Sollen Eure Männer davon erfahren? Von dem Kampf, meine ich. Sie warten schließlich da draußen auf Eure Rückkehr.“ Sie gestikulierte und hoffte, so von ihren glühenden Wangen abzulenken. „Wie gesagt, die Leute hier wetten alle gegen Euch.“

„Schade, dass niemand auf mich wettet, sonst könnte ich hier reich werden.“ Dann hob er schnell eine Hand. „Denkt gar nicht erst darüber nach. Mit einer Frau würden sie nie eine Wette eingehen.“

Ihre Finger waren in den Stoff ihres Kleides gekrallt. „Er könnte einen Trick anwenden, um Euch zu schlagen.“

„Thorbin weiß, dass sich seine Männer von ihm abwenden, wenn sie sehen, dass er nicht ehrlich kämpft. Hat der Kampf erst einmal begonnen, dann ist zwischen uns alles möglich, aber es darf sich niemand einmischen. Seit er mein Schwert zerschlagen hat, habe ich ein paar Dinge dazugelernt.“

Sie presste die Hände zusammen und versuchte Ruhe zu bewahren. Sigurd schien sehr gelassen zu sein. „Habt Ihr das schon mal gemacht?“

„Jemanden für die Führung eines félag herausgefordert, meint Ihr? Nein, aber ich habe viele Male gekämpft, seit Thorbin glaubte, mich getötet zu haben. Das ist die sicherste Methode, um mich wieder aufzurichten. Genau das habe ich getan, Eilidith. Ich habe mich aufgerichtet, um mich aus dem Sumpf der Gesellschaft hochzukämpfen.“

„Nennt mich Liddy“, sagte sie hastig, ehe sie der Mut verließ. „Wir sind schließlich so etwas wie Freunde, und ich verabscheue den Namen Eilidith.“

„Liddy.“ Er ließ ihren Namen ungewohnt exotisch und mysteriös klingen. „Das passt zu Euch … zu dir, sollte ich jetzt wohl sagen. Wieso sind wir auf einmal Freunde?“

„Weil du jemanden brauchst, der dein Freund ist.“

Als er sie daraufhin forschend ansah, kam ihr die Hütte mit einem Mal äußerst klein vor. „Du könntest recht haben“, sagte er. „Meine Mutter sagte immer, ein wahrer Freund ist so unbezahlbar wie die kostbarste Perle.“

„Das habe ich schon einmal gehört.“ Sie starrte auf ihre Hände und spürte, wie ihre Wangen zu glühen anfingen. Sie war in solchen Dingen gar nicht gut.

Er kam zu ihr und legte die Hände auf ihre Schultern. „Gestatte mir, dass ich derjenige bin, der sich Sorgen macht. Du bringst mir Glück, deshalb brauche ich dich dort.“

Sie drehte den Kopf zur Seite, um das Muttermal zu verbergen. Jetzt war nicht der Zeitpunkt, um ihm all die Dinge aufzuzählen, die ihr Sorge bereiteten. „Ich bin eine Frau vom Clan Fergusa, wir machen uns wegen aller möglichen Dinge Sorgen“, entgegnete sie. „Ich weiß nur, dass mein verstorbener Ehemann Brandon sein Leben niemals so riskiert hätte, wie du das vorhast.“

„Nur die Schicksalsgöttinnen wissen, wann man sterben wird.“ Wieder legte er einen Finger unter ihr Kinn, dann hob er ihren Kopf so an, dass sie ihm in diese strahlend blauen Augen sah. Liddy war es zuwider, dass sie an diesen Mann glauben wollte. „Ich vertraue darauf, dass der Faden meines Lebens nicht heute abreißt, sondern von den drei Schicksalsgöttinnen ein ganzes Stück länger gesponnen wurde.“

„Wir kommen aus ganz verschiedenen Kulturen“, flüsterte sie. „Gott entscheidet, wann wir sterben, keine Schicksalsgöttinnen.“

„Meine Mutter sagte immer etwas ganz Ähnliches. Es ist fast so, als würde ich ein viele Jahre altes Echo ihrer Stimme hören. Ich danke dir.“

„Es ist mir ein Vergnügen.“ Ihr Blick ruhte auf seinem Mund, während sich sein Atem mit ihrem vermischte. Ihr Herz schlug so laut, dass sie glaubte, er müsste es ebenfalls hören und ahnen, wie sehr sie sich zu ihm hingezogen fühlte.

Langsam näherte er sich ihr, bis seine Lippen ihre berührten. Diesmal war es nicht nur eine hauchzarte, flüchtige Berührung, sondern es fühlte sich wirklich und eindringlich an. Sie machte den Mund einen Spaltbreit auf und trank von seinem Aroma.

Einen Herzschlag lang vergaß sie alles um sich herum und schmeckte nur noch ihn. Ihre Brüste drückten gegen seinen Oberkörper. Dann aber wich sie zurück, da sie wusste, dass ihr Gesicht stärker glühte als je zuvor. Sie legte eine Hand an ihr Gesicht, um das Muttermal zu verbergen. Dieser Mann hatte sie aus freien Stücken geküsst, und sie konnte sich nicht erklären, warum das geschehen war.

„Hast du Mitleid mit mir?“

„Bislang habe ich noch keine Frau aus Mitleid geküsst“, stellte er klar, wahrte aber den momentanen Abstand zu ihr.

„Und weshalb hast du es getan?“

„Damit etwas von deinem Glück auf mich abfärbt“, antwortete er. „Du magst an solche Dinge nicht glauben, aber ich sage mir, dass ich alle Hilfe in Anspruch nehmen muss, die ich bekommen kann.“

„Dann ist das in Ordnung.“ Die Worte kamen als raues Kratzen über ihre Lippen. „Ich bin mir sicher, dass du so viel Glück wie möglich mitnehmen willst.“

Sie drehte sich um und verließ die Hütte. Dabei vernahm sie hinter sich eine leise Stimme, die „Danke“ sagte, doch die war so leise, dass Liddy sich nicht sicher war, ob das Wort überhaupt von ihm ausgesprochen worden war.

Eine ansehnliche Menschenmenge war in der behelfsmäßigen Arena zusammengekommen. Die Stimmung hatte sich spürbar verändert, es herrschte Rastlosigkeit, so als stünde ein Wandel kurz bevor. Liddy hielt sich im Hintergrund und überlegte, wohin sie sich stellen sollte.

Plötzlich stieß etwas Kaltes, Feuchtes ihre Hand an, und als sie nach unten sah, war sie überrascht, dass Coll neben ihr stand. Neben ihm wiederum stand Hring, der überlegen lächelnd dreinblickte. Liddy atmete tief durch. Auch wenn sie dem Mann nicht über den Weg traute, stand er zumindest auf Sigurds Seite.

„Wie seid Ihr reingekommen?“, fragte sie ungläubig.

„Ach, es ist schon erstaunlich, wie leicht sich Wachen doch ablenken lassen, wenn ein großer Kampf ansteht.“ Hring schüttelte den Kopf. „Was die als Disziplin bezeichnen!“

„Ihr habt Euch über seinen Befehl hinweggesetzt“, sagte sie. „Ihr hättet vor dem Tor warten sollen, bis mein Schrei vernommen worden wäre.“

„Sigurd ist ein guter Kämpfer.“ Er klopfte sich auf die Brust. „Ich sage voraus, dass meine Börse heute Abend viel schwerer sein wird.“

„Was wird er sagen, wenn er herausfindet, was Ihr getan habt?“

Hring grinste sie an, sodass sie seine spitzen Zähne sehen konnte. „Ich war noch nie jemand, der einen Befehl Wort für Wort befolgt hat. Das weiß Sigurd auch. Außerdem hatte Euer Hund Sehnsucht nach Euch. Was hätte ich also tun sollen? Zulassen, dass er mir ein Stück Fleisch aus dem Arm reißt, damit er etwas zu kauen hat?“

Liddy lachte leise und ein wenig unsicher, während sie die Finger um das Halsband des Hundes legte. Es fühlte sich besser an, Coll an ihrer Seite zu haben, weil sie so wenigstens einen Beschützer hatte. Der Hund ließ sich mit einem schweren Seufzer zu Boden sinken, sodass sie das Halsband loslassen musste.

„Sigurd wird kämpfen, aber ich bin in Sorge, dass Thorbin nicht ehrlich kämpfen wird.“

„Thorbin ist arrogant, aber nicht dumm. Die Männer würden sich gegen ihn stellen, wenn er versuchen sollte, jemanden dazuzuholen. Zwei Männer, die sich zum Kampf herausgefordert haben, kämpfen in einer solchen Situation bis zum Tod eines Beteiligten. So sieht es unser Gesetz vor, und es entspricht unserem Erbe. Das funktioniert gut.“

„Den eigenen Bruder zu töten, kann dort, woher Ihr kommt, nicht als etwas Gutes angesehen werden.“

„Halbbruder. Und so was ist schon vorgekommen, aber Sigurd hat nicht vor, ihn zu töten.“

Liddy drehte sich verwundert zu ihm um. „Wieso nicht?“

„Ketil Plattnase will dieses Vergnügen für sich beanspruchen.“ Hring rieb sich übers Kinn. „Ginge es nach mir, würde ich den Befehl im Kampf einfach vergessen. Aber Sigurd ist anders, er weiß, wann er aufhören muss. Ich habe ihn schon früher kämpfen sehen. Es gibt gute Gründe, warum ich ihm Rückendeckung gegeben habe. Aber macht Euch keine Sorgen, Mylady. Beim ersten Anzeichen von Ärger werde ich Euch packen und mit Euch von hier verschwinden. Ihr habt Euren Teil der Abmachung eingehalten, ich werde mich um unseren Teil kümmern.“

Liddy nickte. Der große Nordmann mit den seltsam spitzen Zähnen bereitete ihr nicht länger Angst. „Gut zu wissen“, murmelte sie.

Sigurd kam als Erster heraus. Er trug seinen Waffenrock und hielt das Schwert in der Hand. Jemand warf ihm einen Schild zu, den er mühelos auffing. Im Sonnenschein glänzte sein Haar golden, was ihn so aussehen ließ, als wäre einer der Engel in der Kirche zum Leben erwacht. Ihr stockte der Atem, da sie kaum glauben mochte, dass er sie tatsächlich geküsst hatte.

„Ich war eben die einzige Frau in seiner Nähe, und er ist ein Nordmann, der an andere Götter glaubt als ich“, flüsterte sie Coll zu. „Das war der einzige Grund für den Kuss.“

Coll machte träge ein Auge auf und gab ein leises, missbilligendes Knurren von sich.

Sigurd schlug mit dem Schwert gegen seinen Schild. Alle Muskeln waren angespannt. Es fühlte sich gut an, hier draußen zu sein und etwas tun zu können, anstatt nur im Schatten zu lauern. „Thorbin, ich warte. Wir warten alle. Bist du ein Krieger oder ein Feigling?“

Im nächsten Moment verließ Thorbin den Saal, sein Waffenrock war aus edel gearbeitetem Stoff, seine Hose lag an den Beinen an. In der rechten Hand trug er ein glänzendes Schwert, in der anderen einen auf Hochglanz polierten Schild.

„So kleidest du dich, wenn du in den Kampf ziehst?“, brüllte Sigurd und machte sich nicht die Mühe, seinen Zorn zu bändigen, der sich gegen die Verachtung Thorbins richtete, die dieser für ihn übrig hatte. „Du wirst keine fünf Schritte machen, dann reißt deine Hose auf und alle Welt sieht deinen nackten Hintern.“

„Vielleicht muss ich ja keine fünf Schritte machen, um dich zu besiegen.“

„Du wirst mehr als fünf Schritte machen müssen, Thorbin, und das weißt du so gut wie ich.“

„Ich würde einen Stellvertreter für mich kämpfen lassen. Wünscht du auch einen zu benennen?“ Thorbin lächelte ihn frostig an. „Als Geste, dass wir den gleichen Vater haben. Das Blut verbindet immer, selbst dann, wenn einer das Blut einer Hure in sich hat.“

Sigurd warf ihm einen finsteren Blick zu. Es passte zu Thorbin, dass er bei der ersten Gelegenheit ihre Herkunft ansprach. Thorbin war der eheliche Sohn, der mit allen Vorteilen ausgestattet war. Dafür hatte Thorbins Mutter frühzeitig gesorgt. „Unter den Bedingungen unseres gemeinsamen Herrschers ist es keinem von uns gestattet, einen Stellvertreter zu bestimmen.“

„König Harald …“

„Ketil Plattnase hat festgelegt, dass bei Kämpfen dieser Art keine Stellvertreter erlaubt sind.“ Er fasste in seine Börse und zog einen kleinen Runenstab heraus. „Wir dachten uns schon, dass du so versuchen würdest, dich vor dem Kampf zu drücken.“

Thorbin nahm den Stab, las den Text und warf ihn dann zur Seite, wobei er abfällig den Mund verzog. „Ich hatte nicht den Wunsch verspürt, meinen Bruder zu töten, aber dann musstest du ja bloß immer wieder auftauchen.“

„Mach dir darüber keine Gedanken“, konterte Sigurd. „Ich betrachte dich schon seit Jahren nicht mehr als meinen Bruder.“

„Ich weiß wirklich nicht, warum die Schicksalsgöttinnen dich verschont haben, Sigurd“, knurrte Thorbin. „Aber es wird mir ein Vergnügen sein, erst deinen Lebensfaden zu durchtrennen und dann die Frau zu nehmen, die du begehrst. Ganz so wie früher, Sigurd der Sanftmütige.“

Sigurd unterdrückte die aufkommende Wut. Er hatte Liddy benutzt, um das hier zu erreichen, damit war er ihr etwas schuldig. Das war alles. Wieso aber störte es ihn dann so, Thorbin so reden zu hören? Er kannte diese Frau so gut wie gar nicht, außerdem spielten Frauen in seinem Dasein keine Rolle. Er benutzte sie, wenn es nötig war, aber in erster Linie war er auf seinen Schwur und darauf konzentriert, seine Ehre zurückzuerlangen. Sein Glaube an die Liebe hatte an dem Tag aufgehört zu existieren, an dem seine Mutter gestorben war. Und dennoch schmeckte er auf seinen Lippen immer noch Liddys Süße.

„Dein kläglicher Versuch, mich aus der Ruhe zu bringen, tut dir nicht gut, Thorbin. Ich habe diese Frau erst gestern kennengelernt. Ein Mittel zum Zweck.“

„Dann weißt du nichts über ihre Vergangenheit oder ihre Familie. Warum willst du sie beschützen?“

„Ich habe meine Gründe.“

„Wir können das sofort beenden. Es gibt gute Posten für Männer wie dich, wenn du mir deine Treue schwörst.“

Sigurd hatte Mühe, sein Temperament zu zügeln. Er würde das nicht mal einen Tag lang überleben, da es nur eine Frage der Zeit war, bis ihm ein Messer in den Rücken gejagt wurde. „Danke, aber ich verzichte. Können wir anfangen?“

„Auf deine Beerdigung.“

„Auf die Erfüllung deiner Bestimmung.“

Sigurd hob sein Schwert und stürmte vor. Wie erwartet konnte Thorbin es mit dem Schild mühelos abwehren, dann versuchte er seinerseits einen Treffer zu landen. Sigurd konnte aber früh genug seinen Schild hochnehmen, um die Gegenattacke zu blockieren, noch bevor sie richtig begonnen hatte.

„Was ist? Wirst du allmählich alt?“, zog er seinen Halbbruder auf.

Thorbin schüttelte den Kopf und stach wutentbrannt nach Sigurd, der schon etwas mehr Mühe hatte, diesen Vorstoß abzuwehren.

Er konzentrierte sich nun ganz auf den Kampf und parierte jede Attacke seines Halbbruders, wobei ihm all die Kniffe und Fertigkeiten zugutekamen, die er in seiner Zeit als Söldner gelernt hatte.

Die Menge stieß jedes Mal begeisterte Anfeuerungsrufe aus, wenn Thorbin einen Treffer landete und Sigurd verhöhnte. Liddys Magen drehte sich bei diesem Schauspiel der Magen um. Selbst wenn Sigurd den Kampf gewinnen sollte, fragte sie sich, ob diese Männer von ihm kommende Befehle überhaupt beachten würden.

Doch die Zuschauer verstummten rasch, da sie erkannten, dass Sigurd nicht nur der bessere Kämpfer von beiden war, sondern Thorbin auch schnell zu erlahmen begann. Dennoch bäumte er sich noch einmal auf und zwang Sigurd auf die Knie.

Ein Aufschrei ging durch die Menge. Liddy brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie diejenige war, die diesen Schrei ausgestoßen hatte. Sie hielt sich die Augen zu, weil sie das Geschehen nicht mitansehen konnte. Als Coll sie mit seiner kalten Nase anstieß, spähte sie zwischen den Fingern hindurch.

Irgendwie war es Sigurd gelungen, sich so zur Seite zu bewegen, dass Thorbins Schwert ins Leere ging. Gleichzeitig drehte er sich um sich selbst und holte mit dem Schild aus, um ihn auf Thorbins ausgestreckten Arm niedersausen zu lassen.

Der Aufprall sorgte dafür, dass ihm die Klinge aus der Hand geschleudert wurde und auf dem Boden landete. Sigurd zielte mit seinem Schwert auf den Hals seines Kontrahenten, und Liddy wagte es, erleichtert aufzuatmen. Sigurd würde gewinnen, er würde leben. Hastig korrigierte sie sich: Ihr Vater und ihr Bruder würden leben, weil sie in Freiheit kommen würden. Ob ein Nordmann lebte oder nicht, das war für sie ohne Bedeutung.

Mit den Fingern strich sie über ihre Lippen. Es fühlte sich fast so an, als würde er sie noch immer küssen, so eindringlich war die Erinnerung. Er hatte aus freien Stücken gehandelt. Die Erkenntnis genügte fast, um sie glauben zu lassen, dass Brandons Geliebte gelogen hatte, als sie behauptet hatte, kein Mann würde Liddy freiwillig auch nur anfassen wollen.

Sie verdrängte diesen Gedanken. Leidenschaftliche Begegnungen waren anderen Frauen vorbehalten, aber nicht ihr. Nach dem heutigen Tag würde sie Sigurd niemals wiedersehen. Sie erwartete von ihm nur, dass er sein Versprechen einlöste und ihren Vater und ihren Bruder in Freiheit entließ. Dann würden die Leute vielleicht endlich sagen, dass ihr Muttermal ihr Glück statt Schande brachte.

Sigurd nahm fernen Lärm wahr, während der Schleier des Kampfs sich zu lichten begann. Er hatte es geschafft. Thorbin war seiner Gnade ausgeliefert. Aber er wusste auch, es war Liddys Aufschrei gewesen, der bei ihm die Kräfte geweckt hatte, die für den entscheidenden Schlag nötig gewesen waren.

Er hatte besser gekämpft, weil Liddy an ihn glaubte. Diese Erkenntnis machte ihm Angst, denn seit dem Tod seiner Mutter war er immer allein gewesen. Er hatte sich um niemanden kümmern müssen, ausgenommen nur die Männer, mit denen er gerade Seite an Seite kämpfte. Sanftere Gefühle und Zärtlichkeit hatten in seinem Leben keinen Platz. Er kannte diese Frau kaum, und dennoch konnte er sie schon jetzt nicht mehr vergessen. Zusammen mit ihrem Vater würde sie dorthin zurückkehren, wo sie zu Hause war. Und damit würde sie nicht länger zu seinem Leben gehören. Diese Tatsache machte ihn über alle Maßen wütend.

„Du hast mir in mein Fußgelenk geschnitten“, jammerte Thorbin, womit er Sigurd aus seinen Gedanken holte. „Wie unwürdig für einen Krieger.“

„Ergibst du dich?“

Thorbin gab einen unbestimmten Laut von sich.

Sigurd hielt die Schwertspitze weiter dicht an den Hals seines Halbbruders. Viele Jahre lang hatte er sich vorgestellt, wie sehr er es genießen würde, diesen Mann zu töten. Doch jetzt, da er dazu die Gelegenheit hatte, ebbte das Verlangen danach rasch ab. Etwas tief in seinem Inneren rebellierte bei dem Gedanken, seinen Bruder zu töten, obwohl er wusste, dass Thorbin seinerseits keine Bedenken hätte, Sigurds Leben ein Ende zu setzen.

„Lauter, damit alle dich hören können. Ich kenne deine Tricks.“

„Ich ergebe mich.“ Sein Gesicht verriet, wie groß seine Angst war. „Ich kann nicht aufstehen, Bruder.“

„Lauter!“

„Du hast gewonnen, Sigurd!“, brüllte Thorbin. „Du hast mich besiegt!“

Die Stille war ohrenbetäubend. Sigurd wusste, die meisten Umstehenden erwarteten von ihm, dass er auch noch diesen letzten Schwerthieb vollzog. Schließlich war das Recht auf seiner Seite.

„Lassen wir Ketil entscheiden, was mit dir geschehen soll!“ Er warf sein Schwert weg und winkte Hring zu sich, der neben Liddy stand. Der Krieger hatte auf seine Weise Sigurds Befehle befolgt.

Liddys Gesicht hatte schnell wieder Farbe bekommen. Es machte ihn wütend, dass sich bei ihrem Anblick etwas in ihm regte, und hielt sich vor Augen, dass es besser war, auf Abstand zu anderen zu bleiben. Wenn er zuließ, dass irgendjemand zu nahe an ihn herankam, ging er das Risiko ein, alles zu riskieren, wofür er so hart gearbeitet hatte. Er hatte das schon einmal erlebt.

Wenn er mit Thorbin fertig war, würde er sich von Liddy verabschieden. Es ging nicht anders, er ließ niemanden für längere Zeit in seiner Nähe. Es war eine Lektion, die ihm Beyla erteilt hatte. Frauen interessierten sich ausschließlich für sich selbst, und all ihre Liebesbekundungen bedeuteten letztlich gar nichts.

Der hünenhafte Krieger trat vor und holte mehrere Ketten aus der Tasche, die er mit sich getragen hatte. Sigurd legte die Fesseln um Thorbins Hand- und Fußgelenke. „Du kannst nur hoffen, dass Ketil nachsichtig gestimmt ist.“

Thorbin wurde bleich. „Ein Missverständnis. Ich kann alles erklären! Du weißt, was er mir antun wird. Wie er mich leiden lassen wird. Ich will einen schnellen Tod, Bruder.“

„Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du Ketil Plattnase betrogen hast. Und bevor du seinen Gesandten in ein Fass gesteckt und ihn zu Ketil zurückgeschickt hast.“

Abrupt fasste Thorbin nach seinem Fußgelenk. „Ich blute! Ich werde nie wieder gehen können! Vielleicht werde ich während der Überfahrt sterben! Setz meinem Leben ein Ende. Lass ein wenig Gnade walten.“

„Es könnte sein, dass du deinen Wunden erliegst, aber das bezweifle ich.“ Sigurd schüttelte den Kopf. „Hast du bei meiner Mutter Gnade walten lassen? Hast du bei irgendjemandem jemals Gnade walten lassen? Du wirst leiden, Thorbin, so wie deine Opfer gelitten haben. Und niemand wird mit dir Mitleid haben.“

„Ich habe ein Kind!“ Thorbin stand die Angst ins Gesicht geschrieben. „Beyla hat es zur Welt gebracht, Sigurd. Es ist gerade erst sieben geworden. Um Himmels willen!“

Sigurd hielt inne. Beyla hatte von Thorbin ein Kind bekommen? „Lebt Beyla noch? Ist sie immer noch deine Frau?“

„Ja, sie lebt“, antwortete er hastig. „Sie hat deinen Namen hinausgeschrien, als sie niederkam. Ich habe den Jungen als meinen eigenen großgezogen. Die beiden sind hierher unterwegs. Bitte, Sigurd. Bei allem, was uns einmal verbunden hat, gewähre mir einen schnellen Tod. Dann kannst du deinen Anspruch auf Beyla geltend machen.“

Auch wenn Beyla tatsächlich seinen Namen gerufen hatte, war das jetzt bedeutungslos. Dieser Junge gehörte zu Thorbin und würde die Ehrlosigkeit seines Vaters teilen müssen. „Was uns einmal verbunden hat, ist schon lange vorbei. Der Junge ist dein Kind, du hast sein Schicksal besiegelt.“

„Deine Mutter!“ Thorbins Stimme überschlug sich vor Verzweiflung. „Ich war es. Ich war derjenige, der sie von hinten nahm. Die alte Frau hatte ihr nicht genug Trank gegeben. Sie wusste, was mit ihr geschah. Wusstest du das?“

Sigurd konzentrierte sich ganz darauf, die Kontrolle über sich zu behalten. „Ich weiß es jetzt.“

Mit einer Kopfbewegung deutete er auf Liddy. „Ich schwöre dir, ich werde hierher zurückkommen, und dann werde ich das Gleiche mit ihr machen. Ich wette, ihr wird es gefallen.“

Ein roter Schleier legte sich über Sigurds Blick. Thorbin war es gewesen, der seiner Mutter Gewalt angetan hatte, der sie wie ein gequältes Tier hatte schreien lassen. Die Schreie hatten Sigurd jahrelang in seinen Träumen verfolgt. Und jetzt drohte Thorbin, mit Liddy das Gleiche zu machen.

Zum Teufel mit dem Versprechen, das er Ketil gegeben hatte. Sigurd hob sein Schwert auf. „Geh zu deinen Göttern“, sagte er. „Mit ihnen kannst du deinen Frieden schließen.“

4. KAPITEL

Ungläubig sah Liddy mit an, wie Sigurd mit seinem Schwert dem Leben und der Regentschaft Thorbins ein Ende setzte. Eben hatte er den Mann noch in Ketten legen lassen, und gleich darauf tötete er ihn kaltblütig, begleitet von Jubel, aber auch von Buhrufen.

Damit konnte Thorbin ihr und ihrer Familie zwar nichts mehr antun, doch wer war nun der neue Jarl?

„Es scheint, als hätte unser gemeinsamer Freund Schwierigkeiten damit, sich an Befehle zu halten“, stellte Hring fest.

Sie sah den Krieger an. „Ihr habt gewusst, dass Sigurd das vorhatte.“

„Ich hatte eine Ahnung. Ketil Plattnase hatte mir anvertraut, dass er sich persönlich an Thorbin rächen wollte. Er mag es nicht, wenn jemand seine Anweisungen missachtet. Im Kampf zu sterben wäre eine Sache gewesen, aber damit hat Sigurd den Bogen überspannt. Er wird sich dafür verantworten müssen.“

Sigurd hielt unterdessen sein blutverschmiertes Schwert hoch. „Ich, Sigurd Sigmundson, habe Thorbin Sigmundson in einem rechtmäßigen Kampf geschlagen“, rief er. „Will irgendjemand hier mir meine Position als euer Führer streitig machen, dann soll er jetzt vortreten oder mir seine bedingungslose Treue schwören!“

Die Krieger begannen, wieder und wieder seinen Namen zu rufen, erst leise, dann immer lauter, bis es von allen Seiten widerhallte. Sigmund drehte sich langsam um sich selbst und nickte bestätigend.

„Er hat es getan, Coll“, murmelte Liddy und vergrub die Finger im dichten Fell des Hundes. „Ein Neuanfang für die Insel. Er wird ein anderer Jarl sein, er wird die Gesetze achten. Das sagt mir mein Herz.“

Sie sah Sigurd forschend an, doch von einer Schramme und einem blauen Fleck an der Wange abgesehen schien sein Gesicht unversehrt. Mit einem Mal war ihre Kehle wie zugeschnürt. War es schlecht, dass sie von ihm mehr Zärtlichkeit erfahren hatte als von ihrem eigenen Ehemann? Wäre er dazu überhaupt bereit gewesen, wenn er gewusst hätte, dass sie für den Tod von zwei unschuldigen Kindern verantwortlich war?

Plötzlich lief Coll los und stürmte auf Sigurd zu, der von anderen Nordmännern umgeben dastand. Zu Liddys Entsetzen machte der Hund einen Satz, damit er sich mit den Vorderpfoten auf Sigurds Schultern abstützen konnte, und dann leckte er ihm übers Gesicht.

„Böser Hund!“, rief Liddy, lief hinterher und zog Coll zurück. Als sie merkte, dass alle sie anstarrten, stammelte sie: „Ich … ich … ich meinte … er … er wollte sich bestimmt davon überzeugen, dass du unversehrt geblieben bist.“

Sigurds Lächeln ließ ihren Atem stocken. „Es ist schön zu wissen, dass dein Hund um mich besorgt ist. Thorbin konnte ein paar Treffer landen, die ich morgen nach dem Aufstehen sicher spüren werde. Aber ich habe überlebt, und das hier ist jetzt mein Land.“

Während er redete, legte er einen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Einen Moment lang genoss sie seine Nähe und erfreute sich an der Tatsache, dass er lebte. Erst verspätet fiel ihr auf, wie die Umstehenden sie anstarrten. Hastig hielt sie eine Hand vor ihr Muttermal.

„Das ist die Witwe des Lord of Kintra! Ich habe ihr Mal gesehen!“, rief jemand. „Ich möchte wetten, dass Aedan mac Connall davon nichts weiß!“

Liddy versteifte sich unwillkürlich. Sollte ihr Schwager Aedan hiervon erfahren, würde er das als eine weitere Beleidigung seines Bruders Brandon ansehen, der für ihn fast so etwas wie ein Heiliger war. Doch es war bereits zu spät, um sich Gedanken über Aedans mögliche Reaktion zu machen.

„Stimmt etwas nicht?“, raunte Sigurd ihr zu.

„Coll will mehr Dörrfleisch haben, und er hat begriffen, dass er das bei dir bekommen kann. Das ist alles“, behauptete sie, fand aber, dass ihre Stimme viel zu aufgeregt klang.

Er bückte sich und streichelte den Hund, dabei schien er nicht die Rufe derjenigen zu bemerken, die ihn aufforderten, er solle Liddy küssen. „Ich werde dafür sorgen, dass er etwas zu essen bekommt.“

„Danke“, erwiderte sie. „Und auch danke für alles andere. Aber du musst deine Wunden versorgen lassen, sonst kann das für dich gefährlich werden. Du bist gerade erst Jarl geworden, du wirst wohl kaum diese Rolle so schnell wieder abgeben wollen.“

Er kniff die Augen zusammen. „Ich passe schon seit langer Zeit ganz allein auf mich auf. Aber danke für deinen Ratschlag.“

Sein Tonfall erschreckte sie, weil er etwas Endgültiges an sich hatte. Sie hatte ihre Rolle gespielt und ihren Zweck erfüllt, und damit war diese Allianz auch beendet.

„Wann werde ich meinen Vater und meinen Bruder sehen?“, fragte sie. „Wann wirst du deinen Teil unserer Abmachung erfüllen?“

„Die Gefangenen werden ohne jede Bedingung freigelassen. Falls sie sich auf Islay befinden, können sie ihre Zellen verlassen.“ Seine Stimme klang wie ein eisiger Hauch. „Sie werden unten am Hafen sein. Wenn du möchtest, kannst du dort auf deinen Vater und deinen Bruder warten.“

„Was diese andere Sache angeht …“, begann sie und spielte verlegen mit ihrem Gürtel. Sie sollten einfach gehen, aber sie war sich sicher, dass damit auch diese seltsame Verbundenheit zwischen ihnen beiden unwiederbringlich erlosch. „Normalerweise mache ich das nicht … also dass ich einen Mann küsse, den ich kaum kenne … nicht mal, wenn ich so sein Glücksbringer sein kann.“ Ihre Stimme versagte, als seine Miene sich ein wenig verfinsterte. „Ich kann das nicht gut erklären. Auf jeden Fall möchte ich dir schon jetzt aus tiefstem Herzen dafür danken, dass du für ihre Freilassung sorgst. Ich weiß ja nicht, ob wir uns noch einmal sehen werden.“

„Geh und warte auf deinen Vater und deinen Bruder. Wenn die Schicksalsgöttinnen es erlauben, dann werden die beiden auch noch leben.“

„Wurdet Ihr hergeschickt, um Thorbin zu töten?“, fragte Gorm, nachdem Sigurd den Eid auf sein neues Amt geleistet hatte. „Ich dachte, Ketil wollte ihn lebend haben.“

Sigurd schürzte die Lippen. Interessant, dass Ketils Wunsch Gorms erstes Anliegen war. „Lebend, sofern es möglich ist. So lautete der Befehl.“ Er blickte zu Boden und weigerte sich, über die eiskalte Wut nachzudenken, die ihn erfasst hatte, als Thorbin angekündigt hatte, Liddy genauso Gewalt anzutun wie zuvor schon Sigurds Mutter. Seit Jahren war er davon überzeugt gewesen, dass Thorbin mit den Ereignissen jener Nacht und mit den entsetzlichen Schreien seiner Mutter zu tun haben musste, die Sigurd noch lange verfolgt hatten. Ihm war damals schon klar gewesen, dass sein Vater zu den falschen Göttern betete und ihre Mutter von ihrem Gott im Stich gelassen worden war. Seine Wut auf Thorbin war nicht länger zu beherrschen gewesen, als der Liddy in sein boshaftes Spiel einbeziehen wollte. Für seine Mutter hatte er nichts mehr tun können, aber zumindest konnte er Liddy beschützen.

„Ketil …“, begann Gorm.

„Ketil wird das schon verstehen. Ich zweifle nicht daran, dass du ihm deine Schilderung der Ereignisse zukommen lassen wirst“, unterbrach Sigurd ihn.

„Ja, Mylord. Ich war schon immer Ketils Mann.“ Gorm schlug mit der Faust gegen seine Brust. „Er hatte mich wissen lassen, dass ich mich bereithalten sollte. Deshalb habe ich Euch auch die Feste betreten lassen. Ich hatte Euch auf Anhieb entdeckt. Vergesst nicht, Ketil davon zu berichten.“

„Das werde ich machen.“ Sigurd ließ keine Regung erkennen.

Gorm spielte ein gefährliches Spiel, aber es ergab einen Sinn, dass Ketil hier einen Spion hatte. Hring war auf Sigurds Seite nichts anderes, denn auch er würde Ketil Bericht erstatten. Wenn er Jarl bleiben wollte, musste er den verschwundenen Tribut aufspüren, danach konnte er seine Position hier weiter festigen, indem er sich eine Frau suchte, die aus einer einflussreichen Familie stammte. Der Sohn einer Sklavin würde bis ganz nach oben aufsteigen. „Und das Gold, das Thorbin behalten hat? Und komm gar nicht auf den Gedanken, mich zu belügen, Gorm. Du bekommst dann nämlich rote Ohren, so wie gerade eben, als du behauptet hast, du hättest mich in die Feste gelassen. Wem ich das zu verdanken habe, weiß ich sehr genau.“

Gorm wich unwillkürlich einen Schritt zurück. „Ich habe nicht zu seinem engsten Kreis gehört. Er sprach oft davon, dass er uns belohnen würde, wenn wir ihm folgen, aber Gold haben wir nie gesehen. Angeblich soll er das Gold benutzt haben, um Ivar den Knochenlosen zu unterstützen, damit der zum Gegengewicht für Ketil aufsteigen kann. Ich habe für diesen Sohn einer Seeschlange nichts mehr übrig, seit er meinen Bruder und meinen Cousin getötet hat.“

Die anderen Nordmänner sagten alle das Gleiche über das Gold. Sigurd legte die Stirn in Falten. Keiner von ihnen hatte jetzt noch einen Grund zum Lügen, nachdem Thorbin tot war.

„Wo ist Thorbins Frau? Wo sind alle seine Frauen?“, wollte er von Gorm wissen, nachdem er die anderen befragt hatte.

Der schüttelte den Kopf. „Seine Frau ist mit dem Sohn in den Nordlanden geblieben, um die dortigen Anwesen zu verwalten. Sie hat ihm hier sein Vergnügen gelassen, aber seit dem Verschwinden der letzten Frau ist keine andere mehr hergekommen. Die anderen … nun, ihre Leichen schmücken den geheiligten Hain.“ Nach einer kurzen Pause fragte er: „Werdet Ihr Beyla heiraten? Jeder kennt die Gerüchte über Euch und sie. Und wieso Thorbin Euren Tod wollte.“

Vor vielen Jahren wäre eine Ehe mit Beyla eine wundervolle Belohnung gewesen. Seine Mutter hatte sie beide sogar für die beiden Hälften eines Ganzen gehalten. Jetzt dagegen wollte er nur vor sie treten, damit sie sah, was sie mit ihm verloren hatte. Außerdem würde sie wissen, wo das Gold war. Beyla war in dieser Hinsicht gerissen, aber er musste nicht mehr tun, als ihr eine Falle stellen.

Er zog sein Schwert und hielt die Spitze leicht an Gorms Kinn. „Das ist allein meine Sache, aber nicht deine.“

Der Wind, der vom Hafen herüberwehte, zerrte an Liddys Haaren und wehte sie ihr ins Gesicht. Sie strich die Strähnen zur Seite und versuchte, nicht über die See und über die Dinge nachzudenken, die einem dort widerfahren konnten. Viel zu oft waren ihr die Ereignisse jenes Tages durch den Kopf gegangen, und in ihren Albträumen kehrten sie immer wieder.

Sie schirmte ihre Augen gegen die Sonne ab und konzentrierte sich auf die lange Schlange Gefangener, die das Schiff verließen. Alles konnte wieder so werden, wie es gewesen war, bevor man Malcolm und ihren Vater eingesperrt hatte.

Aber eine leise rebellische Stimme regte sich. In Sigurds Armen hatte sie sich lebendig gefühlt, und sie wollte auch weiterhin mehr sein als nur die verfluchte Frau. Wenn sie wieder daheim waren, würde sie in ein kleines Cottage umziehen und dort einen Garten anlegen. Zur Erinnerung wollte sie zu beiden Seiten der Haustür Rosmarin anpflanzen. Es würde ein ruhiges Leben werden, doch sie freute sich schon jetzt auf die dort herrschende Einsamkeit.

„Es ist alles gut ausgegangen, Coll“, flüsterte sie dem Hund zu, der sich vor ihren Füßen hingelegt hatte. „Und wenn wir nach Hause kommen, werden die Leute sagen müssen, dass mich ein Engel geküsst hat. Ich habe den Clan Fergusa vor dem sicheren Untergang bewahrt. Jetzt wird nicht mehr von irischen Klöstern die Rede sein, in denen man mir mit Prügel den Teufel austreiben will und in die ich dich nicht mitnehmen dürfte.“

Coll gab einen Laut von sich, der nach Zustimmung klang, dann fing er an zu bellen, als zwei hagere Gestalten das Boot verließen, mit dem man die Gefangenen zur Insel gebracht hatte. Sie brauchte einen Moment, dann erst erkannte sie ihren Vater, der in der eigentlich recht kurzen Zeit seiner Gefangenschaft um Jahre gealtert zu sein schien. Seine Haare waren inzwischen vollständig weiß, die Schultern hingen schlaff herab. Er stand da und sah sich verdutzt um, während ihm die Fesseln abgenommen wurden. Dann war Malcolm an der Reihe, dessen Gesicht mit Platz- und Schnittwunden übersät war. Als er das letzte Mal daheim den großen Saal verlassen hatte, da hatte sie noch gescherzt, er werde bald einen neuen, weiteren Waffenrock benötigen. Aber nun hing der alte Waffenrock wie ein fast leerer Sack an ihm herab.

Sie stieß einen Jubelschrei aus und lief los, aber Coll war schneller und stellte sich an ihrem Bruder hoch, um sich mit den Vorderpfoten auf seinen Schultern aufzustützen. Dabei schaute Malcolm drein wie ein Häufchen Elend, als der Hund ihm ausgiebig das Gesicht ableckte.

„Liddy, was machst du denn hier?“, rief ihr Vater. „Kannst du nicht diese riesige Bestie zurückhalten? Was sollen denn die Leute denken? Wo ist dein Sinn für Anstand? Und hast du vergessen, was ich dir als Letztes gesagt habe? Du sollst zu Hause bleiben und auf deine Mutter aufpassen.“

Typisch ihr Vater! Mehr an irgendeinem äußeren Erscheinungsbild interessiert als an der Tatsache, dass er aus dem Gefängnis geholt worden war.

„Seanmhair hat immer gesagt, ich würde irgendwann einmal der Familie sehr viel Glück bringen. Ich habe euch gerettet.“

„Meine Mutter hatte schon immer eine Schwäche für dich“, meinte ihr Vater.

„Nein, es ist wahr“, beharrte sie und erzählte in allen Einzelheiten, was geschehen war.

„Du hast einen Nordmann überredet, dass er uns befreit? Da muss ich ja fast lachen, Liddy“, kommentierte ihr Bruder und schnaubte verächtlich. „Warum sollte er das machen? Was könnte er von uns wollen? Was hast du ihm versprechen müssen? Was hast du ihm gegeben? Fa, das erklärt …“

„Halt den Mund, Malcolm, du weißt überhaupt nicht, was passiert ist“, fiel sie ihm ins Wort. Sie spürte, wie ihre Wangen glühten. „Wir haben wegen Fas Ring eine Abmachung getroffen. Er brauchte einen Vorwand, um Thorbin herauszufordern.“

Sie gab ihrem Vater den Ring und auch die Halskette, die sie aus dem Saum ihres Kleides geholt hatte. Ihr Vater betrachtete sie nachdenklich.

„Ein ehrlicher Nordmann … hmm. Heute ist ein Tag der Wunder. Die Gebete der Kells haben offenbar Wirkung gezeigt“, sagte er.

Gebete? Was hatten ihnen denn Gebete eingebracht? „Es ist erst etwas geschehen, als ich etwas unternommen habe“, machte sie ihm klar und ballte die Fäuste. Sie war dicht davor, mit ihrem Vater einen Streit zu beginnen, aber die Anwesenheit so vieler Nordmänner hielt sie davon ab. Später konnte sie immer noch versuchen, ihm die Zusammenhänge klarzumachen.

„Er hat für dich gekämpft“, redete ihr Bruder leise vor sich hin. „Ich hörte die Wachen, die von Sigurds Frau mit dem Mal im Gesicht erzählten. Und jetzt muss ich erfahren, dass von dir die Rede war! Lieber wäre ich in meiner Zelle verrottet, anstatt zu erfahren, dass ich nur freigelassen wurde, weil du für diesen Mann die Beine breit gemacht hast.“

„Sag das noch einmal, Malcolm“, herrschte sie ihn an, „dann wirst du zu spüren bekommen, wozu mein Zorn fähig ist. Dieser Mann hat für dich und Fa gekämpft, nicht für mich!“

„Hört schon auf, ihr zwei“, ging ihr Vater energisch dazwischen. „Deine Schwester hat getan, was für unsere Freilassung notwendig war, Malcolm. Belassen wir es dabei.“

„Er tat es nur wegen Fas Ring, an den ich zu eurem Glück gedacht hatte.“ Liddy hätte ihren Bruder am liebsten gewürgt. Diese Situation war überhaupt erst entstanden, weil Malcolm den Winterkohl hatte verkaufen sollen, dabei aber Thorbins Zorn auf sich gelenkt hatte. Und nun unterstellte er ihr, sie wäre Sigurds Geliebte. Als ob sie so etwas tun würde und tun könnte! Jetzt, da Sigurd der neue Jarl von Islay war, würden die Frauen ihn umschwirren.

Malcolm verdrehte die Augen. „Du kannst ja so leichtgläubig sein, Schwester. Man sollte meinen, du hättest mehr Würde, anstatt den Namen deines verstorbenen Mannes zu entehren, indem du einen Nordmann um Hilfe anflehst.“

„Die Lebenden können nicht nachträglich den Ruf eines Toten verändern“, konterte sie und konzentrierte sich auf die Ohren ihres Wolfshunds.

„Brandon hatte nie etwas für die Nordmänner übrig“, fuhr ihr Bruder fort. „Er hat nie vor ihnen gekniet. Und er würde sich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, dass du mit einem von denen gemeinsame Sache gemacht hast.“

„Malcolm, möchtest du lieber wieder in Ketten gelegt werden?“, presste Liddy heraus. Ihr Bruder sollte ihr für ihren Einsatz dankbar sein, anstatt ihr Dinge zu unterstellen, die alle nur auf Gerüchten beruhten. „Ich habe keinen Einfluss auf Sigurd, denn ich bin nicht seine Geliebte, und das werde ich wohl nie werden. Coll und ich kehren jetzt heim. Wenn du willst, kannst du ja mitkommen. Oder versuch dein Glück hier irgendwo.“ Mit gestrafften Schultern stand sie vor ihm und konnte nur hoffen, dass ihre Wangen nicht so glühten, wie es ihr vorkam.

Aus dem Augenwinkel machte sie eine Bewegung aus. Sie drehte den Kopf zur Seite und sah Sigurd am Ufer stehen. Er hatte sich gewaschen und umgezogen, und der an den Rändern mit Pelz besetzte Mantel ließ ihn nicht mehr wie einen Bettler aussehen, sondern wie den Jarl, der er jetzt auch war.

Liddys Herz machte einen Satz, aber sie dämpfte die Freude gleich wieder. Für Sigurd gab es keinen Grund, eine Allianz mit ihrer Familie einzugehen, da er eine Frau an seiner Seite brauchte, durch die er zu mehr Macht oder Reichtum kam. Ihre Mitgift war von Brandon mit vollen Händen ausgegeben worden.

„Fa, jetzt wäre nicht der richtige Zeitpunkt, um darauf zu sprechen zu kommen, dass es Schwierigkeiten mit der Zahlung des Tributs geben könnte“, flüsterte sie ihrem Vater zu. „Ich würde es dir nicht empfehlen, Sigurd zur Unzeit darauf anzusprechen.“

„Kein Grund, dass du dir deswegen Sorgen machst, meine Liddy“, sagte ihr Vater. „Lass mich das regeln. Du hast schon so viel getan. Außerdem ist es schön, dich wieder von deiner beseelten Seite zu erleben.“

Ihr Magen verkrampfte sich. Ihr Vater wirkte viel zu gebrechlich, um die Heimreise überhaupt antreten zu können. Seine Hände zitterten. Er würde Monate im Bett verbringen müssen, um wieder zu Kräften zu kommen. „‚Lass mich das regeln‘ hattest du auch schon gesagt, als du losgezogen bist, um Malcolm zu retten.“

„Und er wurde ja auch gerettet.“ Ihr Vater tätschelte ihre Schulter. „Du bist wie deine Mutter, die sich wegen Nichtigkeiten Sorgen macht. Du musst schon glauben, dass alles nur zu unserem Besten geschieht.“

Sie zog verwundert eine Augenbraue hoch. „Was genau ist zu unserem Besten geschehen, als du gefangen genommen wurdest und als Sklave verkauft werden solltest? Manchmal versetzt du mich wirklich in Erstaunen, Fa.“

„Nun, ich habe dadurch herausgefunden, dass ich meiner Tochter genug bedeute, um sie aufbrechen zu lassen, damit sie mich retten kann. Das sagt doch etwas über dich und mich aus, nicht wahr? Ach, was habe ich es vermisst, deine Augen aufblitzen zu sehen. Du warst eine von den lebenden Toten, Eilidith. Du bist zurückgekommen.“

„Ich war nie weg.“

„Das ist natürlich Ansichtssache.“ Ihr Vater ruderte mit den Armen und atmete tief durch. „Ich war davon ausgegangen, als Sklave im Norden zu sterben, und nun atme ich als freier Mann die frische Luft von Islay. Ich glaube, das habe ich zuvor nicht angemessen zu schätzen gewusst.“

„Fa!“

„Es ist nicht an uns, die Mysterien Gottes und seiner Engel zu verstehen. Wir können uns nur wundern.“ Ihr Vater legte den Kopf schräg. „Und wer kommt da, um uns zu begrüßen?“

„Ist das dein Vater, Eilidith?“, fragte Sigurd und verbeugte sich tief. „Es ist mir ein Vergnügen, einem Mann zu begegnen, der den Ring von Ketil Plattnase trägt.“

„Ich habe Ketil Plattnase vor irischen Piraten gerettet. Er verdankte mir sein Leben.“ Abermals neigte er den Kopf zur Seite. „Und das ist für uns beide von Vorteil gewesen.“

„Eure Tochter hat viel riskiert, um Euch zu retten, Gilbreath mac Fergusa. Ich hoffe, Euch ist klar, was Ihr Eilidith schuldet.“

„Meine Tochter besitzt mehr Mut als jeder Mann, den ich kenne“, stimmte ihr Vater ihm zu und verbeugte sich ebenfalls. Mit einem Mal bemerkte sie bei ihm den gleichen Gesichtsausdruck, den er auch zur Schau stellte, wenn er wegen ein paar Kühen oder Schafen auf dem Markt zu handeln begann. „Eine wahrhaft unbezahlbare Frau, Mylord.“

„Zweifellos.“

„Ich habe von Euch und Euren Fähigkeiten als Kämpfer gehört. Ihr wart bei Ketil, als er im letzten Jahr gegen die Nordmänner von Dubh Linn gekämpft hatte.“ Abermals beschrieb ihr Vater eine tiefe Verbeugung. „Ich bin davon überzeugt, dass Ihr anders als Euer Vorgänger die Vereinbarungen achtet, die Euer Herr getroffen hat. Ein Schwur sollte für beide Seiten bindend sein.“

„Genauso wie ich davon überzeugt bin, dass Ihr den Tribut zeitig liefert. Um Eure Seite der Vereinbarung zu erfüllen.“ Sigurd lächelte ihn kühl an. „Ich möchte schließlich nicht herausfinden müssen, dass Thorbins Behauptungen am Ende doch der Wahrheit entsprachen.“

Mit der Zehenspitze schob Liddys Vater etwas Erde hin und her. „Das ist meine Absicht. Natürlich wird es auch vom Wetter abhängen.“

Ihr Bruder warf eine spitze Bemerkung auf Gälisch ein, was so plötzlich geschah, dass Liddy ihn nicht mehr warnen konnte. Sigurd deutete daraufhin eine Verbeugung an und erwiderte, er sei nicht raffgierig, sondern erwarte lediglich eine Gegenleistung für den Schutz, den er gewähre. Malcolm bekam einen hochroten Kopf.

„Ein Nordmann, der unsere Sprache beherrscht. Das ist tatsächlich etwas Neues“, meinte ihr Vater und rieb sich die Hände. „So etwas hätte ich nicht für möglich gehalten. Du etwa, Liddy?“

„Immerhin gab mein Halbbruder für die Verspätung der Tribute an Ketil zu verstehen, dass er selbst kaum etwas erhalten habe“, fuhr Sigurd ungerührt fort. „Ich habe mir eben noch die Vorrats- und Lagerräume angesehen und feststellen müssen, dass sie auffallend leer sind. Es wundert mich, da ich weiß, wie ertragreich Islay einmal war und wie viel Tribut in den letzten beiden Jahren an Ketil geschickt wurde.“

„Es kann viele Gründe geben, warum die Lagerräume leer sind“, wandte Liddy ein. „Er kann die Vorräte anderswo gelagert haben, genauso wie er das Gold beiseitegeschafft haben muss. Vielleicht wollte er einem unangekündigten Besucher zuvorkommen. Ihr habt selbst gesagt, dass mehrere von Ketils Gesandten nicht lebend heimgekehrt sind.“

Sigurd nickte. „Das wäre durchaus möglich“, stimmte er ihr zu.

„Eine vernünftige Frau, meine Eilidith“, sagte ihr Vater, der leicht schwankte und die Augen zukniff, als sei das alles zu anstrengend für ihn. „Verzeiht mir, Mylord, aber es ist einige Zeit her, seit ich das letzte Mal die Sonne gesehen habe.“

„Seid Ihr Euch sicher“, fragte Sigurd skeptisch und rieb sich das Kinn, „dass Ihr den vollen Tribut werdet leisten können?“

Liddy hörte auch das, was er nicht aussprach. Es kostete sie Mühe, ihr Temperament zu zügeln. Obwohl er alles ihrer Hilfe zu verdanken hatte, gebärdete sich Sigurd mit einem Mal wie jeder andere nordländische Herrscher. „Der einzige Grund, wieso mein Vater in Verzug kommen könnte, ist der, dass er zu Unrecht gefangen gehalten wurde.“

„Lass gut sein, Tochter“, sagte ihr Vater und tätschelte ihren Rücken. „Der Mann ist unser neuer Lord, er muss die Dinge mit eigenen Augen sehen. Er kann sich nicht allein auf Beteuerungen verlassen. Ich kann das verstehen.“ An Sigurd gerichtet redete er weiter: „Seht meiner Tochter nach, Mylord, dass ihr Herz diese Worte spricht, nicht ihr Verstand. Ihr sollt wissen, dass Ihr und Eure Männer bei uns immer willkommen seid. Aber bis nach Hause ist es ein langer Weg, und ich war zu lange nicht mehr daheim. Der Tribut wird gezahlt werden.“

Abrupt legte Sigurd eine Hand um Liddys Oberarm. Coll knurrte leise, aber sie schüttelte nur kurz den Kopf, damit er Ruhe gab. Sie wusste nicht, was Sigurd mit dieser Geste bezweckte, und wollte erst einmal abwarten.

„Ihr habt recht, dass ich mich nicht auf Beteuerungen verlassen kann“, sprach er. „Deshalb wird Eure Tochter als Sicherheit dienen, bis der Tribut in vollem Umfang geleistet worden ist. Sobald das geschehen ist, kann sie zu Euch zurückkehren.“

„Warum tust du das?“, zischte sie ihm wütend zu. „Du brauchst keine Geisel, und schon gar nicht mich.“

Sigurd betrachtete sie von oben herab. „Das ist eine Angelegenheit zwischen deinem Vater und mir.“

Anstatt zu protestieren, ließ ihr Vater den Kopf sinken. „Ihr habt gehört, was mein Junge getan hat.“

Autor

Maya Banks

Maya Banks lebt mit ihrem Mann, drei Kindern und einer ganzen Schar von Katzen in Texas. Wenn sie nicht schreibt, trifft man sie beim Jagen und Fischen oder beim Poker spielen. Als typisches Mädchen aus den Südstaaten beschreibt sie in ihren Geschichten leidenschaftlich gern Charaktere und Landschaften aus ihrer Heimat....

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Obwohl Michelle Styles in der Nähe von San Francisco geboren und aufgewachsen ist, lebt sie derzeit mit ihrem Ehemann, drei Kindern, zwei Hunden, zwei Katzen, Enten, Hühnern und Bienenvölkern unweit des römischen Hadrianswalls im Norden Englands. Als begeisterte Leserin war sie schon immer an Geschichte interessiert, darum kann sie sich...
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