Zu einem Duke sagt man nicht Nein

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Thaddeus Dutton, Duke of Hasford, braucht eine Frau. Nicht so sehr, weil er sich nach weiblicher Gesellschaft sehnt, sondern um dem Rest der Gesellschaft einen Erben zu präsentieren. Wer könnte besser als zukünftige Mutter seiner Kinder geeignet sein als die zurückhaltende und bezaubernde Jane? Dumm nur, dass sie eine Schwester hat, die zwar genauso schön, aber weit weniger schüchtern ist. Miss Lavinia Capel versucht aus irgendeinem Grund alles, um ihn von ihrer Schwester fernzuhalten. Als er dann zu allem Überfluss mit Lavinia auch noch vor aller Augen in eine kompromittierende Situation gerät, bleibt Thaddeus nichts anderes übrig: Er muss die falsche Schwester heiraten. Doch wird er mit Lavinia je glücklich werden?


  • Erscheinungstag 07.03.2023
  • Bandnummer 389
  • ISBN / Artikelnummer 9783751516204
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Scott, der dafür gesorgt hat, dass ich meine Abgabefristen trotz Operationen, Chemotherapie und Bestrahlung habe einhalten können (es geht mir wieder gut!). Ich liebe dich.

Als ich an jenem Morgen aufwachte, ahnte ich nicht, dass sich mein Dasein ändern würde.

Ich hatte angenommen, das Leben könnte sich nicht grundlegender wandeln, als es bereits geschehen war; meine Eltern waren beide unerwartet gestorben, und anscheinend hatte mein Vater einige äußerst ungünstige Investitionen getätigt. Ich vertuschte die Wahrheit in der Hoffnung, es möge ein Wunder in Gestalt eines Heiratsantrags eintreten und mich retten. Ich darf wohl anmerken, dass ich recht ansehnlich bin, und so war ich guten Mutes hinsichtlich meiner Aussichten. Obwohl ich eigentlich in Trauer war, stellte ich sicher, dass jeder heiratsfähige Junggeselle in London mich durch den Park flanieren sah, ein Taschentuch in der Hand und vorteilhaft in Schwarz gewandet. Ich wurde mit zahlreichen wohlwollenden Komplimenten und noch zahlreicheren anerkennenden Blicken bedacht, doch die Rettung blieb aus.

Ich stand an der Schwelle des Ruins.

Mein verruchter Gatte von Percy Wittlesford

1. KAPITEL

Herzogliche Pflichten

(wird binnen eines Jahres nach Erhalt des Titels fortgesetzt)

1. Präge dir die Namen des höhergestellten Personals ein.

a. Lerne die Namen des subalternen Personals binnen anderthalb Jahren.

2. Besichtige die Anwesen und prüfe sie auf ihre Wirtschaftlichkeit.

3. Lege dir eine zivile Garderobe zu.

a. Keine Pastellfarben.

4. Knüpfe Verbindungen innerhalb der Gesellschaft.

a. Meide jeden, von dem du den Eindruck hast, der Umgang mit ihm würde eine bestimmte Strategie erfordern.

5. Sichere das Herzogtum, indem du dir zusätzlich eine passende Gattin und nachfolgend einen Erben zulegst.

Thaddeus Dutton, Duke of Hasford, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ungnädig die von ihm verfasste Liste an.

Wobei nicht die Liste schuld war, sondern allein er selbst. Die Liste war korrekt, wohlgeordnet und umfassend. Diszipliniert.

So wie er.

Langweilig, hatte seine Cousine Ana Maria einst gesagt, auf seine biedere Garderobe Bezug nehmend – ihr wäre es weit lieber gewesen, er trüge modische Pastelltöne. Und er wusste, dass ihre Meinung sich ab und an nicht auf seine Kleidung beschränkte. Vor allem, wenn er den Vormund herauskehrte.

Er lächelte reuig, bevor er ein weiteres Blatt Papier hervorzog und eine Feder von seinem ganz auf Effizienz ausgerichteten Schreibtisch aufnahm. Er hatte die erledigten Punkte auf der Liste abgehakt; nun hoffte er, dass die Realisierung des fünften Punktes frischen Wind sowohl für ihn selbst als auch für sein Dasein bedeuten würde. Er setzte die Feder aufs Papier und begann, zügig zu schreiben.

Eine geeignete Frau soll:

1. Bescheiden sein in Aussehen und Auftreten.

a. Hübsch anzuschauen sein.

2. Einer angesehenen Familie entstammen. Ihre Verwandten müssen bezüglich Herkunft und Betragen ebenso kultiviert sein wie sie.

3. Auf allen Wissensgebieten hinlänglich bewandert sein, ohne sich indes auf irgendeines zu fixieren. Oberste Priorität sollten stets ihr Gatte und schließlich ihre Kinder sein.

4. In der Lage sein, ihre Pflichten als Duchess umgehend zu erfüllen.

a. Haushalt(e) führen, mit ihrem Gatten auf gesellschaftlichen Veranstaltungen erscheinen und sich in jeder Hinsicht vorbildlich und ehrenhaft betragen.

Er atmete tief durch, ehe er hastig den letzten Punkt der Liste niederschrieb.

5. Meine Erwartungen im Ehebett erfüllen.

Das war ein gewagter Punkt, der ihm überaus wichtig war, wenngleich es natürlich keine Möglichkeit gab, die diesbezüglichen Qualitäten der Kandidatin vor der Ehe zu testen.

Das einzig Überraschende an mir in letzter Zeit ist, dass ich überhaupt zum Duke ernannt wurde, dachte er gereizt. Vorausgegangen war dem die Entdeckung, dass die Mutter seines Cousins Sebastian ihrem Sohn mit unlauteren Mitteln zum Herzogtum verholfen hatte. Sein Cousin, der ehemalige Duke, war nunmehr schlicht Mr. de Silva, während Thaddeus sein Kommando in der Armee Ihrer Majestät gegen eines in der Aristokratie Ihrer Majestät getauscht hatte.

Ein Duke war einem Militäroffizier nicht unähnlich.

Beide kommandierten jede Menge Leute herum; beide waren sich des Umstands bewusst, dass sie die wichtigste Person in ihrem Zuständigkeitsbereich waren, sofern sie sich nicht gerade in Gesellschaft von Angehörigen des Königshauses oder Generälen befanden; und beide wussten, dass sie durch einen Fehltritt das Leben oder die Existenz Tausender Menschen auslöschen konnten.

Letzteres war es, das ihn des Nachts aus dem Schlaf hochfahren ließ, fast so häufig wie zu Zeiten, in denen er komplizierte Schlachtstrategien ersonnen hatte.

Aber mit einer Ehefrau hätte er einen stellvertretenden Kommandeur an seiner Seite, jemanden, der ihm bei all dem Herumkommandieren behilflich wäre.

Eine Frau, die ihm im Schlafzimmer ebenbürtig wäre und ihm ebenso viel Wonne bereiten würde wie er ihr.

Bei dem Gedanken knüllte er hastig das Papier zusammen, stopfte es in die oberste Schreibtischschublade und schloss diese schleunigst ab. Er befand sich in seiner Bibliothek, die er als Büro nutzte. Obgleich das Zimmer mit bequemen Sesseln und einem dicken, weichen Teppich ausgestattet war, saß Thaddeus ausschließlich auf einem von zwei Holzstühlen mit kerzengerader Rückenlehne, der hinter einem soliden Holzschreibtisch stand.

Ein Stuhl, geschaffen wie er selbst.

„Melmsford!“

Weshalb er die Stimme hob, obwohl er wusste, dass sein Sekretär sich vermutlich gleich jenseits der Tür herumdrückte, vermochte er nicht zu sagen.

„Euer Gnaden?“

Melmsford war, sofern das denn möglich war, noch effizienter als Thaddeus. Hochgewachsen, schlank und mit vorzeitig schütter werdendem Haar, bestach er vor allem durch sein enzyklopädisches Wissen auf allen Gebieten, welche die Hasford-Besitzungen betrafen. Er war Sebastians Sekretär gewesen, und Thaddeus hatte ihn gemeinsam mit Sebastians restlichem Personal übernommen.

Melmsford war es auch gewesen, der ihm geholfen hatte, die ersten gefahrvollen Monate nach Erhalt des Titels zu bewältigen. Nach wie vor lotste er Thaddeus durch die heikleren Aspekte seiner neuen Position.

Hätten er und Melmsford sich je über etwas anderes als das Geschäft unterhalten, hätte Thaddeus ihn gar als Freund bezeichnet. Doch das taten sie nicht, also konnte er es nicht.

Er hätte seiner Liste hinzufügen sollen: Mit Melmsford über etwas anderes als das Geschäft parlieren.

„Ja, kommen Sie her.“ Thaddeus wies auf die Stelle vor seinem Schreibtisch. „Setzen Sie sich.“

Melmsford ließ sich mit seiner langen Gestalt auf dem Stuhl nieder und betrachtete Thaddeus mit einer ausgewogenen Mischung aus Ehrerbietigkeit und Aufmerksamkeit.

„Es ist an der Zeit, sich Punkt fünf zu widmen“, verkündete Thaddeus. Melmsford blickte verwirrt drein; natürlich kannte er Thaddeus’ neueste Liste nicht. „Eine Gattin.“ Melmsfords Augen weiteten sich, doch er schwieg. „Ich wünsche Veranstaltungen zu besuchen, auf denen ich eine möglichst große Chance habe, passende Kandidatinnen kennenzulernen.“

„Sehr wohl, Euer Gnaden.“ Melmsford erhob sich, um einen Papierstapel von dem kleinen Schreibtisch zu holen, den er nutzte. „Mir liegen mehrere Einladungen vor.“ Er sah sie durch, wobei er die Brauen zusammenzog. „Darf ich Baron Raddlestons Veranstaltung empfehlen? Sie findet zu Ehren von Mr. Percy Wittlesford statt, einem Romanautor. Ich glaube, er wird eine Lesung halten.“

„Romanautor, hm?“ Thaddeus schnaubte und wies auf die Bücherregale hinter sich wie auch entlang aller übrigen Wände der Bibliothek. Bücher, die er noch nicht angerührt hatte. „Ich habe keine Zeit, zum reinen Vergnügen zu lesen. Es gibt zu viel zu tun.“

„Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Euer Gnaden“, wandte Melmsford behutsam ein, „Mr. Wittlesfords neuestes Werk erfreut sich großer Beliebtheit bei einer gewissen Gruppe junger Damen. Junger Damen, die womöglich Ihre Kriterien erfüllen.“ Er räusperte sich. „Ich glaube, die Bücher gehören einem bestimmten Genre an.“

Thaddeus runzelte verständnislos die Stirn. „Einem bestimmten … oh!“, entfuhr es ihm, als sich ihm die selbst für Melmsfords Verhältnisse überdiskrete Formulierung erschloss. Wenigstens würde die Lesung nicht fade werden. Oder von Disziplin getrübt. „In diesem Fall wünsche ich die Raddleston-Veranstaltung zu besuchen.“

„Ausgezeichnet, Euer Gnaden.“

Wenn er Glück hatte, würde er auf eine Dame treffen, die von untadeliger Herkunft, stillem Wesen und attraktivem Äußeren war und sich zugleich in amouröser Hinsicht aufgeschlossen zeigte.

Und wenn er schon dabei wäre, könnte er auch eine schwarze Katze im Kohlenkeller, eine Nadel im Heuhaufen sowie einen Duke suchen, der seine Aufgaben vorbildlich versah und dabei nicht sterbenslangweilig war.

„Vinnie, wie willst du damit durchkommen?“ In Janes Miene spiegelte sich Entsetzen. Ihre schönen Augen waren weit aufgerissen, ihre makellosen Lippen formten ein makelloses O.

Lavinia wies mit einem Nicken auf Percy, der in einer Ecke des Salons saß. Eine lockige Strähne seines dunkelbraunen Haars fiel ihm elegant in die Stirn. Er war der Inbegriff des gepeinigten Schriftstellers – eine Schreibfeder in der Hand, Tintenflecke am markanten Kinn, der Tisch, an dem er saß, mit Papierbögen übersät.

Das Bild wäre perfekt gewesen, hätte es sich bei den Unterlagen, über denen er brütete, um einen leidenschaftlichen Prosaroman und nicht um die Haushaltsausgaben gehandelt.

„Er ist derjenige, der damit durchkommen muss.“ Lavinia zuckte mit den Schultern. „Ich schreibe die Bücher bloß. Ich muss sie nicht laut vortragen.“

Percy schaute auf, seine atemberaubend attraktiven Züge durch die Falten entstellt, die seine Stirn furchten. Wobei das nicht ganz stimmte, musste Lavinia zugeben, denn Percy sah in jeder Lebenslage atemberaubend attraktiv aus. Das Aussehen hatte er von ihrem Vater, wohingegen Lavinia sowohl die Größe (klein) als auch die Figur (äußerst kurvenreich) von ihrer Mutter geerbt hatte, ebenso wie das Vermögen, sich zu konzentrieren (das ihrem Vater vollkommen fehlte, außer wenn es um seine Arbeit ging).

„Versuchst du, mein Selbstvertrauen zu untergraben, Jane?“, fragte Percy und stand auf.

Die drei Geschwister – eigentlich Halbgeschwister, da Percy das Kind ihres Vaters und dessen Mätresse war – befanden sich im Salon. Das Dinner stand kurz bevor. Lavinia war dabei, in ihrem Werk nach einer Passage zu suchen, die Percy heute Abend vorlesen sollte. Percy ging den Haushaltsetat durch, und Jane beobachtete sie beide mit sorgenvoller Miene.

Percys Frage ließ Janes Züge entgleisen, und sogleich eilte Lavinia zu ihrer Schwester und setzte sich neben ihr aufs Sofa, um sie in die Arme zu schließen. Verärgert sah sie Percy an, der nur die Augen verdrehte.

„Tut mir leid, Liebes.“ Jane war die Sensibelste unter den Geschwistern, selbst wenn man die fünfjährige Christina mit einbezog, die stundenlang schmollte, wann immer ihr etwas vorenthalten wurde, auch Dinge, die sie gar nicht haben wollte. Der letzte große Schmollanfall war dadurch ausgelöst worden, dass sie keinen Haferbrei bekommen hatte, obwohl sie den verabscheute. Ihr war eine Scheibe Röstbrot, bestreut mit Zimt und Zucker, vorgesetzt worden – eines ihrer Lieblingsgerichte. Doch da ihre Geschwister Haferbrei gegessen hatten, war sie in Rage geraten.

Jane, Lavinia und Christina waren die legitime Nachkommenschaft der Familie, Percy und Caroline die illegitime. Während Percy aus dem Fehltritt ihres Vaters hervorgegangen war, entstammte Caroline der Liaison von Tante Adelia, der Schwester des Vaters, mit einem unbedeutenden europäischen Prinzen. Lavinia vergaß immer wieder, welcher. Ihr Vater hatte sowohl Percy als auch Caroline bereits als Kinder aufgenommen.

Die Geschwister lebten zusammen mit ihren Eltern sowie einigen älteren entfernten Verwandten in einem riesigen herrschaftlichen Haus in Mayfair. Dass sie aufgrund der diversen Familienskandale nicht gemieden wurden, verdankten sie dem immensen Reichtum sowie den Verbindungen ihres Vaters – sein ausgeprägter Geschäftssinn hatte ihn zum Finanzberater von Königin Victoria aufsteigen lassen, die über die Skandalträchtigkeit der Familie geflissentlich hinwegsah. Lavinias Vater vergaß regelmäßig die Namen seiner Kinder, konnte jedoch auf den Penny genau sagen, wie viel die Königin in welchem Monat für Krimskrams ausgegeben hatte. Und das war gemeinhin nicht wenig.

Lavinias Mutter machte die Nachlässigkeit ihres Mannes mehr als wett mit ihrem Ehrgeiz, den Status der Familie aufzuwerten.

„Ich wollte bei euch sein, um euch zu unterstützen“, erwiderte Jane gedämpft. Sie hob den Kopf und schaute erst Lavinia an, ehe sie über diese hinweg zu Percy blickte. „Euch beide. Und ich wollte sicherstellen, dass ich euer Geheimnis nicht verrate. Ich dachte, das würde mir besser gelingen, wenn ich heute Abend nicht überrascht wäre.“ Wieder sah sie Lavinia an. „Du wirst doch nichts allzu Anstößiges aussuchen, oder?“, fügte sie zögerlich an.

Manchmal fragte sich Lavinia, ob Jane bei der Geburt vertauscht worden war. Im Gegensatz zu ihren Geschwistern, Halbgeschwistern, Cousins und Cousinen war sie still, wohlerzogen und sanftmütig wie ein Lamm. Wäre nicht die starke Ähnlichkeit zu ihren Eltern gewesen, hätte Lavinia geargwöhnt, dass irgendwo ein Wildfang – ihre echte Schwester – eine unbescholtene Familie in den Wahnsinn trieb.

„Natürlich nicht“, beteuerte Lavinia. In der Passage, die sie ausgewählt hatte, begegneten sich die Hauptfiguren erstmals in einem Rosengarten. Beide benahmen sich absolut mustergültig, wenngleich an mancher Stelle von Dornen und Stechen und Erblühen die Rede war, Andeutungen, die gewisse Zuhörer mühelos verstehen würden, wohingegen andere – wie Jane – ahnungslos blieben.

Lavinia hatte sich einer Spielart des Namens ihres Halbbruders bedient, unter denen sie ihre Bücher veröffentlichte, weil Autorinnen sich nicht so gut verkauften wie Autoren. Aus Percy Waters war Percy Wittlesford geworden, und Lavinia strich zufrieden das Honorar ein, das ihr Verleger ihr zahlte.

Doch ihr jüngstes Buch Die Erstürmung der Burg hatte zahlreiche Damen der feinen Gesellschaft begeistert und, so ihr Verleger, großes Interesse am Autor geweckt. Lavinia und Percy hatten besprochen, wie sie vorgehen sollten, und sich darauf geeinigt, dass Percy sich als Verfasser ausgeben würde.

Kaum hatten die begeisterten Damen herausgefunden, dass Percy Wittlesford in Wahrheit Percy Waters war, der attraktive uneheliche Sohn eines der brillantesten Köpfe Londons … nun, es hatte nicht lange gedauert, bis Percy darum gebeten worden war, öffentlich zu lesen.

Dabei wäre er viel lieber zu Hause geblieben und hätte sich mit Zahlen befasst. In dieser Hinsicht kam er nach ihrem Vater, doch aufgrund seiner illegitimen Herkunft konnte er sich nur hinter den Kulissen betätigen. Das mochte sich ändern, nun da die Gesellschaft ihn für einen namhaften Schriftsteller hielt. Sogar das Anstandsgefühl der Königin neigte im Angesicht von Ruhm zu Flexibilität. Aus diesem Grund hatte Lavinia ihn darin bestärkt, in der Öffentlichkeit zu erscheinen, und er hatte zugestimmt. Dass Lavinia sämtliche unter Percys Namen veröffentlichte Bücher geschrieben hatte, wusste außer ihnen nur Jane.

Baron Raddleston, auf dessen Veranstaltung Percy lesen würde, war einer der einflussreichsten Avantgardisten der Gesellschaft. Er und seine Gattin rühmten sich des Umstands, einer breiten Vielfalt an Künstlern – von italienischen Opernsängern über russische Harfenspieler bis hin zu einheimischen britischen Schriftstellern wie Percy – den Weg zum Erfolg geebnet zu haben.

Lavinia hätte alles für ihre Geschwister getan, selbst für die wegen Haferbrei schmollende Christina. Wenn sie mit ihrem schriftstellerischen Talent Percy dabei helfen konnte, sich seinen Lebenstraum zu erfüllen, würde sie die Täuschung frohgemut bis in alle Ewigkeit fortsetzen. Sie musste lediglich dafür sorgen, dass Percy grob mit der Handlung ihrer Bücher vertraut war. Wenn sie ehrlich war, empfand sie es als Erleichterung, die Bücher nur schreiben und nicht auch noch deren öffentliches Gesicht sein zu müssen.

Zudem musste sie Rücksicht auf die stille Jane nehmen – deren sehnlichster Wunsch war es, den gleichfalls stillen Mr. Henry McTavish zu heiraten. Er und seine Familie wohnten nebenan, obwohl die beiden Familien nicht unterschiedlicher hätten sein können. Die McTavishs, so war ihnen viele Male vor Augen gehalten worden, seien ohne Fehl und Tadel und würden niemals erlauben, dass ihr einziger Sohn eine auch nur ansatzweise skandalumwitterte Frau ehelichte. Nicht einmal, wenn das „skandalöse Gebaren“ auf die Familie eines Earls zurückgehe, der obendrein ein Berater der Königin war. Schuld war ein Vorfall vor vielen Jahren, und so interessierte es die McTavishs nicht, dass die Capels bei vielen hoch angesehen waren.

Da Henry und Jane einander jedoch inniglich zugetan waren, begann der Widerstand der McTavishs gegen die Verbindung anscheinend zu bröckeln.

Was wunderbar gewesen wäre, hätten Janes und Lavinias Eltern – oder vielmehr ihre Mutter – nicht darauf gedrängt, Jane aufgrund ihrer Schönheit in die Gesellschaft einzuführen, um ihr zu einem Gatten zu verhelfen, der den höchsten Kreisen angehörte und nicht bloß der Sohn eines ehrbaren Nachbarn war. Allein unter so vielen Menschen wäre Jane zweifellos verschüchtert und würde sich womöglich aus Versehen mit der falschen Person verloben, wäre Lavinia nicht dabei.

Ihrer beider Plan hatte vorgesehen, dass Jane sich in Gesellschaftskreisen so unauffällig verhalten sollte, dass niemand sie bemerkte. Es hatte nicht funktioniert – Janes Mitgift übertrumpfte ihre Zurückhaltung. Doch bislang wurde sie lediglich von verzweifelten Männern umworben, und ihre Mutter würde keinen verzweifelten Mann akzeptieren.

Wenn also die Saison endete, ohne dass Jane einen angemessen erlauchten Bräutigam gefunden hätte, würde sich ihre Mutter vielleicht dazu überreden lassen, sie doch mit Henry zu verheiraten.

Hätte Lavinia eine Liste all der Aufgaben erstellt, die sie sich für die kommenden Monate vorgenommen hatte – was nicht der Fall war, da Christina den gesamten Papiervorrat mit bekümmert dreinblickenden Ziegen bemalt hatte –, hätte sich diese wie folgt gelesen:

Lavinias Liste der zu erledigenden Dinge

1. Dafür sorgen, dass Jane unvermählt bleibt, bis Mutter sich davon überzeugen lässt, Mr. McTavish in Betracht zu ziehen.

a. Dafür sorgen, dass Jane unvermählt bleibt, bis Mr. McTavishs Eltern sich haben davon überzeugen lassen, Jane in Betracht zu ziehen.

2. Alles daransetzen, die Familie vorläufig von skandalösem Gebaren abzuhalten.

3. Percys Ruf als exzellenter Romanautor festigen, der zugleich ein Zahlengenie ist. Ihn verkünden lassen, dass er sich vom Schreiben zurückzuziehen gedenke, um in das Geschäft seines Vaters einzusteigen.

4. Vater dazu bringen, Percy ins Geschäft einsteigen zu lassen.

5. Herausfinden, welcher unbedeutende europäische Prinz Carolines Vater ist.

„Jane! Lavinia!“

Ihre Mutter stand in der Tür, starrte sie missbilligend an und schenkte Percy zugleich ein warmes Lächeln.

Ein bemerkenswertes Talent.

„Ja, Mutter?“, erwiderte Lavinia.

„Ihr solltet euch für heute Abend zurechtmachen.“ Lady Scudamore schaute auf die Uhr in der Ecke. „Euch bleiben nur noch drei Stunden!“ Sie trat ins Zimmer, während Lavinia sich bemühte, nicht allzu auffällig die Augen zu verdrehen.

„So viel Zeit benötigen sie nicht, um hinreißend auszusehen“, warf Percy ein und ließ damit seinen Charme ganz ungeniert spielen. Fast hätte Lavinia geschnaubt.

Obwohl Percy nicht Lady Scudamores Sohn war, behandelte sie ihn besser als ihre eigenen Kinder. Oder zumindest besser als ihre jüngere Tochter. Vermutlich lag dies an seinem Aussehen sowie an der Tatsache, dass er ein Mann war.

Es war ganz und gar ungerecht.

Du benötigst nicht so viel Zeit, Percy, mein Lieber. Aber ich habe gehört, der Duke of Hasford wird die Veranstaltung der Raddlestons heute Abend mit seiner Anwesenheit beehren.“ Die Lippen geschürzt, musterte sie Jane, die sogleich wieder besorgt wirkte. „Und es kann nur einen Grund dafür geben, dass er ausgeht, denn er lebt sehr zurückgezogen. Er muss auf der Suche nach einer Braut sein.“ Sie ging zu Jane und strich ihr mit einem Finger über die Wange. „Und du wärest eine ganz entzückende Duchess.“

Lavinia schaute von Jane zu ihrer Mutter und bemerkte den entsetzten Blick ihrer Schwester ebenso wie die entschlossene Miene ihrer Mutter.

Oje.

„Welches Kleid soll ich tragen, Mutter?“, fragte Lavinia.

Deren Meinung war ihr herzlich gleich. Sie wollte nur, dass ihre Mutter aufhörte, Jane zuzusetzen. Ihre Schwester war zu zartbesaitet, um dem Druck standzuhalten, und in einer Situation wie dieser vermochte Percy nicht viel auszurichten – schließlich wollte ihre Mutter Jane und sie nur deshalb vorteilhaft verheiraten, um das Ansehen der Familie von dem skandalösen Umstand reinzuwaschen, dass Percy und Caroline unter ihrem Dach lebten. Dem, was man mit viel Geld und dem Wohlwollen der Königin erreichen konnte, waren eben Grenzen gesetzt.

„Zieh an, was immer du willst“, entgegnete ihre Mutter, womit sie das Thema unmissverständlich als eines abtat, das ihrer Aufmerksamkeit nicht würdig war. „Jane, du solltest das weiße Satinkleid tragen, und ich werde dir meine Diamantohrringe leihen.“ Sie seufzte selig. „Eine Duchess! Das wäre die Erfüllung all meiner Träume!“

Lavinia nahm Jane bei der Hand und zog sie Richtung Tür. Jane stolperte, als wäre sie erstarrt gewesen.

„Das weiße Satinkleid also“, echote Lavinia. „Dann machen wir uns gleich ans Werk, ja?“

„Der Duke of Hasford“, verkündete der Butler.

Thaddeus verharrte am Eingang zum Ballsaal und betrachtete all die Menschen, die ihn anstarrten.

Was er am meisten am Dasein als Duke hasste, war, dass jedermann ihn anstarrte, wann immer er sich in der Öffentlichkeit zeigte. Vermutlich wäre das nicht der Fall gewesen, wenn er sich häufiger in der Öffentlichkeit zeigen würde, aber dafür hätte er sich häufiger in der Öffentlichkeit zeigen müssen, und für derlei Müßiggang hatte er keinen Sinn.

Eine leise Stimme in seinem Kopf merkte an, dass er womöglich weniger steif wäre, wenn er mehr Sinn für Müßiggang hätte, doch er unterdrückte sie rasch. Er konnte keinen Sinn für etwas entwickeln, das ihm schlicht nicht gegeben war.

Ein weiterer Anreiz zu heiraten – er könnte es sich zu Hause mit seiner Frau gemütlich machen, sich aufs Geschäft konzentrieren und daran arbeiten, einen Erben zu zeugen.

Sozusagen Geschäftliches und Vergnügliches verbinden.

Er betrat den Saal und rang sich eine so höfliche wie ausdruckslose Miene ab, statt verdrießlich dreinzublicken. Immerhin verfolgte er mit seiner Anwesenheit ein Ziel, hielt er sich vor Augen. Er wollte etwaige Anwärterinnen für den Titel der Duchess nicht mit seinem grimmigen Gesicht abschrecken, das, wie seine Soldaten ihm versichert hatten, wahrlich furchterregend war.

„Guten Abend, Euer Gnaden.“ Eine Frau eilte aufgeregt auf ihn zu, wobei die Federn in ihrem Haar bei jeder Kopfbewegung sanft wippten. „Ich bin Baroness Raddleston, und dies ist mein Gatte, der Baron.“ Sie und der Gentleman, der neben ihr erschien, wirkten höchst zufrieden. Wahrscheinlich, weil es ihnen gelungen war, einen Duke auf ihre Veranstaltung zu locken, und nicht etwa, weil sie besonders erfreut darüber waren, ihn zu sehen.

Wobei er der Gerechtigkeit halber einräumen musste, dass dies ihre erste Begegnung war. Wie sollte es also anders sein?

Vielleicht würde sich der Baron als wunderbarer Freund erweisen, und sie beide fänden heraus, dass sie gemeinsame Interessen hatten, zum Beispiel … ach, verdammt. Thaddeus hatte keinerlei Interessen. Oder vielmehr hatte er sich nie welche zugestanden, weil er zu viel zu tun hatte.

Er nahm sich vor, seiner Liste „Interessen entwickeln“ hinzuzufügen. Und „Müßiggang“.

Der Ballsaal der Raddlestons war erlesen dekoriert. Von der Decke hingen im Abstand von ungefähr sechs Fuß zueinander Kronleuchter, deren brennende Kerzen den gesamten Saal in goldenes Licht tauchten und ihm dadurch etwas Geheimnisvolles verliehen. Die unaufdringlich gewandeten Dienstboten gingen mit silbernen Servierplatten zwischen den Gästen umher und reichten etwas, das wie winzige Häppchen aussah, sowie so manches Glas Champagner.

Im Hintergrund spielte ein Streichquartett eine leise Melodie, die den Gästen offenbar die Zeit bis zum großen Ereignis dieses Abends vertreiben sollte – dem Vortrag des schlüpfrigen Stoffes.

„Mr. Wittlesford wird in etwa einer Stunde lesen“, erklärte der Baron, als hätte er Thaddeus’ Gedanken erfasst. Was hoffentlich nicht der Fall war, denn Thaddeus hatte sich nicht nur gefragt, wann die Lesung beginnen würde, sondern auch, wie bald er würde entfleuchen können, ohne gegenüber seinen Gastgebern unhöflich zu erscheinen.

„Derweil“, fuhr der Baron fort, „gibt es kleine Stärkungen und Getränke sowie zahlreiche andere Gäste. Ich nehme nicht an, dass Sie bereits Bekanntschaft mit …“

„Baron!“, ließ sich eine Dame laut vernehmen. Sie stand etwa zehn Fuß weit entfernt hinter einigen Leuten, aber ihre Stimme gellte so durchdringend, dass Thaddeus zusammenfuhr. Oder vielmehr wünschte er sich, zusammenfahren zu können, was er natürlich nicht konnte, weil es unfein gewesen wäre.

„Lady Scudamore“, erwiderte der Baron und wandte sich der Dame zu, die sich durch die Menge drängte, zwei weitere Damen im Schlepptau.

Lady Scudamore war eine Frau mittleren Alters mit markantem Kinn und einer Statur, die Autorität verströmte, obwohl sie eher klein geraten war.

Nun sah Thaddeus auch die zwei Damen, die sie hinter sich herzog und die beide jünger waren, vermutlich in den Zwanzigern. Die Schönere der beiden war mit einem strahlend hellen Kleid aus weißem Satin angetan, und ihr goldblondes Haar schimmerte im Kerzenschein. Sie trug eine leicht verklärte Miene zur Schau und hielt den Blick ihrer blassblauen Augen nicht auf Thaddeus, sondern auf einen Punkt irgendwo hinter seiner Schulter gerichtet.

Die andere Frau war klein. Ihr Haar war dunkler als das der ersten, und einige Strähnen davon fielen ihr ins Gesicht. Statt starr auf eine bestimmte Stelle zu schauen, wie es die erste Frau tat, ließ sie den Blick durch den Saal huschen, als suchte sie jemanden.

Schließlich sah sie ihn an, offen und ungeniert. Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß, ehe sie den Blick auf seinem Gesicht ruhen ließ. In ihren Augen lag etwas Waches, Intensives, das ihm gefiel, wenngleich der Tugendbold in ihm sie für zu forsch befand.

Obwohl er es nicht beabsichtigte, kam er nicht umhin zu bemerken, wie verlockend ihre Figur war; üppiger als die der anderen Frau, die schlank und wohlproportioniert war. Der Busen dieser Frau ließ sich nicht übersehen, denn die drallen weißen Hügel quollen ihr förmlich aus dem hellblauen Kleid.

Sogleich verspürte er eine unterschwellige Verbindung zu ihr, die beinahe primitiv anmutete und ihn überraschte. Diese Dame war niemand, mit dem man gesittete Konversation betreiben konnte; sie war eine Frau, nach der man sich so inbrünstig verzehrte, dass es einem die Sprache verschlug.

Dies war eine Frau, die er unter allen Umständen meiden musste.

Er mochte Dinge und Menschen, die in Kategorien passten: Soldat, Dienstbote, Ehefrau. Seine Freunde zogen ihn mit seinem Hang zu Effizienz und Routine auf, aber ebendas hatte ihn weiland als Hauptmann qualifiziert und qualifizierte ihn heute als Duke. Jemand, der in keine Kategorie passte und ihn seine eigenen Reaktionen hinterfragen ließ, bedrohte seinen Seelenfrieden.

„Guten Abend, Baron. Baroness“, sagte die ältere Frau und ergriff den Arm der ersten, jüngeren Dame, den Blick unverwandt auf Thaddeus geheftet.

„Lady Scudamore, sehr angenehm.“ Der Baron deutete auf Thaddeus. „Euer Gnaden, darf ich Ihnen Lady Scudamore vorstellen? Und deren Töchter, Lady Jane und Lady Lavinia?“

Alle drei Damen knicksten. Als sie sich erhoben, war auf dem Gesicht der ersten – offenbar Jane – noch immer der engelsgleiche Ausdruck zu sehen, während Lady Lavinia die Lippen zu einem schelmischen Lächeln verzogen hatte, was ihr ein Grübchen auf die Wange zauberte. Ihre Gegenwart war schier greifbar. Vermutlich stellte seine unmittelbare unwillkürliche Reaktion eine Mischung aus Verlangen und Neid dar – er wünschte, er wäre so lebensprühend wie sie. Sie schien jeden um sich her mit ihrer Leidenschaft und ihrem Feuer zu vereinnahmen.

Vielleicht ein weiterer Punkt, den er auf seine Liste setzen sollte?

„Guten Abend, meine Damen.“ Er verbeugte sich. „Es ist mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen.“

Die beiden jungen Damen erwiderten leise murmelnd etwas, das er nicht verstand, da ihre Mutter sie übertönte. „Sind Sie wegen der Lesung hier? Der Autor ist niemand Geringeres als unser Percy.“ Sie neigte sich ihm zu, als vertraute sie ihm ein Geheimnis an. „Dieser Lausejunge. Wir hatten keine Ahnung, dass er solche Bücher schreibt.“

Lady Lavinia gab einen kurzen erstickten Laut von sich, derweil sich Lady Janes Wangen puterrot färbten.

„Percy Wittlesford ist der Verfasser von Die Erstürmung der Burg“, warf der Baron ein. „Haben Sie es gelesen?“

Thaddeus schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe keine Zeit, um zum Vergnügen zu lesen.“ Und hätte ich sie, würde ich um solche Bücher einen Bogen machen.

„Seine Werke sind …“ Der Baron brach ab.

„Ergötzlich“, steuerte Lady Lavinia bei, nach wie vor das spitzbübische Funkeln in den Augen. Lady Janes Wangen wurden umso dunkler, sofern das überhaupt möglich war. „Nur schwer aus der Hand zu legen“, ergänzte Lady Lavinia. „Man könnte sagen, die Bücher sind ihrer Zeit voraus.“

„Ich freue mich sehr auf den Vortrag“, entgegnete Thaddeus und war sich bewusst, wie hölzern und unbeholfen er klang, konnte aber nichts dagegen tun.

„Euer Gnaden, meine Jane sagte, sie interessiere sich außerordentlich für Ihre einstige Militärkarriere.“

Lady Jane blickte flüchtig zu ihrer Mutter hinüber, fing sich jedoch gleich wieder. Es war offenkundig, dass sie nie ein diesbezügliches Interesse bekundet hatte.

Unwillkürlich zollte Thaddeus ihr Bewunderung für die Gabe, sich zu beherrschen. Eine Eigenschaft, die einer einflussreichen adeligen Dame hervorragend zu Gesicht stand.

„Ja, Euer Gnaden“, sagte sie. „Ich frage mich, wie es ist, im Kampfgetümmel zu stehen. Sofern sich dies denn schildern lässt.“

Thaddeus holte gerade Luft, um zu seiner Standardantwort gegenüber Zivilisten anzusetzen, als Lady Lavinia das Wort ergriff.

„Ich könnte mir vorstellen, dass es höchst schwierig zu beschreiben ist.“ In ihren Augen lag Mitgefühl.

Er nickte knapp.

„Versuchen Sie es“, drängte Lady Scudamore.

„Mutter.“ Lady Lavinias Ton war beinahe tadelnd. Natürlich. Jemand, der so eindeutig scharfsichtig war wie sie, musste sein Unbehagen erfassen. Es war verstörend, derart durchschaut zu werden, und das gleich bei der ersten Begegnung.

Durchschaut zu werden von einer Frau, die so entschlossen war, einem anderen Menschen eine unangenehme Situation zu ersparen, dass sie gar der eigenen Mutter Widerworte gab.

Sie war auf jeden Fall jemand, den es zu meiden galt. Und zu beneiden.

Hatte er je so mit seinen Eltern gesprochen? Er wusste genau, dass er das nie getan hatte – sein Vater war ebenfalls beim Militär gewesen und hatte diese Haltung an ihn weitergereicht. Seine Mutter war nicht minder förmlich gewesen und hatte ihrer Mutterliebe allein dadurch Ausdruck verliehen, dass sie ihn genährt und gekleidet hatte. Er konnte sich nur an ein einziges Mal erinnern, da sie ihn umarmt oder vielmehr ihm zugestanden hatte, sie zu umarmen, und zwar nach dem Tod seines Vaters.

„Eine Schlacht ist, wie Lady Lavinia angemerkt hat, schwierig zu beschreiben.“ Er hielt den Blick auf Lady Jane gerichtet. Das fiel ihm leichter, nicht nur, weil sie eine klassische Schönheit war, sondern auch, weil sie ihn nicht so offen ansah wie ihre Schwester. Sie ließ sich mühelos einer Kategorie zuordnen: schöne, heiratswürdige junge Dame. Nicht annähernd so befremdlich wie ihre Schwester. „Sie ist geprägt von Chaos und Lärm und Verwirrung.“

„Also im Grunde wie eine Feier in feineren Kreisen“, bemerkte Lady Lavinia trocken.

Alle außer Thaddeus lachten verhalten.

„Aber das haben Sie hinter sich, dem Himmel sei Dank“, meinte Lady Scudamore. „Nun können Sie den Schutz unseres Landes anderen überlassen.“

„Ja“, sagte Thaddeus knapp und ertappte Lady Lavinia bei einem raschen Blick in seine Richtung. Er verspürte den Drang, sich angesichts ihrer scharfen Musterung zu winden, was er selbstverständlich unterließ. Selbst wenn er sich je zuvor gewunden hätte, war er aufrichtig überzeugt davon, dass Dukes sich nicht dazu herabließen.

„Wenn Sie mich bitte entschuldigen? Ich würde mir gern etwas zu trinken holen“, erklärte Lady Lavinia. „Jane, hast du Durst?“

„Oh ja“, antwortete Lady Jane.

„Womöglich ist der Duke ebenfalls durstig.“ Lady Scudamores neckender Tonfall ließ keinen Zweifel daran, welche weitere Entwicklung sie sich wünschte.

„Mutter“, mahnte Lady Lavinia erneut.

„Ich würde mich glücklich schätzen, die Damen zum Büfett begleiten zu dürfen“, hörte Thaddeus sich sagen, woraufhin Lady Scudamore ihn anstrahlte.

Er konnte nicht widerstehen, flüchtig zu ihr hinüberzuschauen, nur um festzustellen, dass sie ungläubig die Brauen gehoben hatte. Ihre Miene verriet, dass sie bereits jetzt von ihm enttäuscht war.

Und dabei hatten sie sich gerade erst kennengelernt.

Wenn Sie ihr in dieser Sache nachgeben, werden Sie bis in alle Ewigkeit nach ihrer Pfeife tanzen, schien ihr Blick ihm zu vermitteln.

Vielleicht ist dies durchaus in meinem Sinne, hätte er gern erwidert. Ich bin auf der Suche nach einer Braut. Und wieso nicht Lady Jane? Eine Dame, die schön, wohlerzogen und nachweislich in der Lage war, die Contenance zu wahren.

Sie sind ja so vorhersehbar, blitzte es in ihren Augen auf. Und daher furchtbar enttäuschend.

An jenem verhängnisvollen Morgen regnete es, doch es war nicht einfach nur Regen – es war eine wahre Sturzflut, ein Mahlstrom, ein Wolkenbruch, so als hätte jemand im Himmel einen Kübel umgestoßen.

Während meine Zofe mich herrichtete, überlegte ich sorgenvoll hin und her; wie um alles in der Welt sollte ich bei diesem Wetter ausgehen?

Aber ich hatte keine Wahl.

Ich war mit jemandem verabredet, der mein Schicksal in Händen hielt, auch wenn ich dies an jenem schauderhaften Morgen noch nicht ahnte. Ich wusste lediglich, dass er mir eine Nachricht hatte zukommen lassen, in der er mir mitteilte, er bestehe auf einem Treffen. In der Nachricht hieß es weiter, es gehe um meine Zukunft und ich würde es zutiefst bereuen, sollte ich mich nicht einfinden.

Mein verruchter Gatte von Percy Wittlesford

2. KAPITEL

Unter keinen Umständen hatte Lavinia mit einer solchen Erscheinung gerechnet, als ihre Mutter den Duke of Hasford erstmals erwähnt hatte.

Hätte Lavinia spekulieren sollen, wie er aussähe, hätte sie vermutlich einen durchschnittlich großen Gentleman mit aristokratischen Zügen geschildert, die ebenso von seiner gediegenen Abstammung wie von seinem hochmütigen Wesen zeugten. Jemanden, der sein Umfeld in der Gewissheit beherrschte, dass niemand sonst das Kommando innehätte. Jemanden, der durch seinen Status und nicht durch sein Äußeres bestach.

Aber ach, wie sehr sie sich getäuscht hatte.

Sein Aussehen war es, das überwältigte und seinen Status in den Hintergrund rücken ließ.

Der echte Duke of Hasford war hochgewachsen und breitschultrig, eine Statur, die eindeutig durch körperliche Betätigung statt durch Müßiggang geschaffen worden war. Er trug Abendgarderobe, wie es sich schickte. Unschicklich waren indes die Empfindungen, die der Anblick seiner Oberschenkel, umschmiegt von formellen Breeches, in Lavinia hervorrief.

Es waren kräftige Schenkel, so markant wie seine Züge. In seinen dunklen Augen schimmerte eine unmissverständliche Verheißung, die Lavinia erschauern ließ. Dasselbe Gefühl überkam sie, wenn sie eine besonders leidenschaftliche Szene niedergeschrieben hatte. Sie wollte vortreten und die Lippen auf seine legen, um zu ergründen, ob der Funke, den sie tief in sich spürte, durch einen Kuss aufflammen würde.

Natürlich konnte sie nichts dergleichen tun. Nicht zuletzt, weil ihre Mutter bereits beschlossen hatte, Jane mit diesem Mann zu vermählen.

Mit diesem Mann, der mit seiner Erscheinung, seinem Einfluss und seinem Titel schlicht überragend war.

Jane wäre ihm nicht gewachsen.

Wenngleich er nicht den Eindruck erweckte, um seine Wirkung auf Damen zu wissen. Sein Betragen und seine Ausdrucksweise waren tadellos, und Lavinia hatte sein Unbehagen gespürt, als er aufgefordert worden war, über seine Vergangenheit zu sprechen.

Doch da war diese schier greifbare Leidenschaft. Alles an ihm strahlte sie aus. Es war fast so, als drängten seine im Zaum gehaltenen Gefühle mit jedem Pulsschlag nach außen. Das führte dazu, dass sich Lavinia seiner Gegenwart, ja jeder seiner Bewegungen überdeutlich bewusst war.

Wäre er kein Duke gewesen, hätte sie gewisse Gedanken gehegt, die sie sich bis dahin nie gestattet hatte.

Gemeinsam schritten sie durch die Menschenmenge, der Duke in der Mitte, Jane und Lavinia bei ihm untergehakt. Lavinia verstärkte ihren Griff und stellte fest, wie muskulös sein Arm war, was sie nicht überraschte.

„Alles in Ordnung, Lady Lavinia?“, erkundigte sich der Duke, was vermutlich damit zusammenhing, dass sie seinen Arm drückte. Er sprach noch genauso steif und befangen wie vorhin. Ob sie die Einzige war, auf die er eine solch bemerkenswerte Wirkung ausübte?

Sie würde Jane fragen müssen.

Oder vielleicht besser nicht. Es mochte eine Schwäche preisgeben, die sie nicht preisgeben wollte, auch wenn Jane nicht nur ihre Schwester, sondern auch ihre engste Freundin war.

„Es geht mir gut, danke, Euer Gnaden.“ Da. Sie hatte vollkommen angemessen geantwortet. Und sie schritten immer noch dahin, ohne dass sie sich zu einem Fehltritt hatte hinreißen lassen. Beispielsweise dazu, sich zu ihm umzudrehen, um seine eindrucksvolle Gestalt in Gänze bewundern zu können.

„Sie nehmen nicht oft an gesellschaftlichen Veranstaltungen teil, habe ich recht?“, fragte sie.

„Nein“, entgegnete er, so kurz angebunden wie zuvor. Ihr entging nicht, dass er angespannt war, als fühlte er sich unwohl. War es möglich, dass ihm gesellschaftlicher Umgang schlicht unangenehm war?

In diesem Fall hätte er sich das falsche Metier ausgesucht. Natürlich hatte er es sich nicht direkt ausgesucht, ein Duke zu sein – vielmehr hatte der Titel sich ihn ausgesucht.

„Wieso nicht?“, hakte Lavinia nach. „Sofern es nicht daran liegt, dass derlei Veranstaltungen tatsächlich allzu viel Ähnlichkeit mit einer Schlacht aufweisen – all die Scharmützel und Fronten wie auch die grimmigen Mütter, die die Schönheit ihrer Töchter wie eine Waffe schwingen.“ Ihr war bewusst, wie unfein sie daherredete, aber sie konnte nichts dagegen tun. Dabei spürte sie Jane bereits unruhig werden.

Erfasste sie neuerdings jedermanns Gefühle?

Hoffentlich nicht. Sie hatte definitiv keine Lust, die vornehmliche Gemütslage ihrer Mutter zu erfassen – Enttäuschung darüber, dass ihre Familie sich nicht immerzu ihrem Willen beugte, oder auch Bedauern darüber, dass Percy nicht ihr leiblicher Sohn, Lavinia hingegen ihre leibliche Tochter war. Vielleicht auch Entzücken, wenn sie Jane Männern wie diesem Duke hier vorstellte, Männern, die ihrer anrüchigen Sippschaft zu mehr Ansehen verhelfen mochten. Steinreich zu sein und das Vertrauen der Königin zu genießen war eine Sache, aber nichts gegen das Bravourstück, den angeschlagenen Ruf der Familie mittels eines Dukes aufzupolieren.

„Ich war mit Geschäftlichem beschäftigt. Zu ausgelastet, um gesellschaftliche Veranstaltungen zu besuchen.“

Er sprach gezwungen, und sein Missbehagen war ihm anzuhören. Lavinia fragte sich, was der Grund dafür sein mochte. Wusste er, dass er wie ein Moralapostel klang? Oder dass man es ihm als Verurteilung all jener auslegen konnte, die nicht zu beschäftigt waren, um gesellschaftliche Veranstaltungen zu besuchen? Oder wollte er einfach nicht mit ihr reden?

Nun, jedenfalls beantwortete das ihre Frage von vorhin. Sie erfasste keinesfalls jedermanns Gefühle, ansonsten hätte sie gewusst, was genau er meinte.

„Mit Geschäftlichem beschäftigt?“, neckte sie ihn amüsiert.

Sie sah, wie er die Zähne zusammenbiss, während er sich hastig mühte, nicht die Augen zu verdrehen.

Dass er so leicht aus der Reserve zu locken war, hätte ihr keinen Schauer über den Rücken rieseln lassen sollen. Doch da war er, der Schauer.

Zum Glück erreichten sie das Büfett, ehe sie sich vergessen und ihn fragen konnte, ob er wisse, welche Empfindungen er in manchen Frauen – nämlich ihr – wecke.

„Lady Jane, was möchten Sie trinken?“

Lavinia ließ seinen Arm los, wobei sie das leise Gefühl des Verlustes ignorierte, das sie überkam.

Jane neigte sich vor, um Lavinias Blick einzufangen, und zeigte auf die Bowlenschüssel auf dem Tisch vor ihnen. „Vinnie, es gibt Sprudelbowle.“

Lavinia sah in die Richtung, in die Jane wies. „In der Tat. Euer Gnaden, meine Schwester und ich hätten beide gern ein Glas Bowle.“

Jane schenkte ihr ein erleichtertes Lächeln. Ihr fiel es so schwer, mit Unbekannten zu reden, dass Lavinia – der dieses Problem fremd war – gemeinhin für sie beide sprach.

Vielleicht würde Jane sich ändern, wenn ihre Ehe mit Mr. McTavish erst abgemachte Sache war. Denn die Alternative – dass Lavinia ihm würde mitteilen müssen, wie seine Gattin sich fühlte – wäre mehr, als selbst ein geselliger, kontaktfreudiger Mensch wie sie ertragen konnte.

Vermutlich jedoch würde dies kein Problem darstellen, allein schon deshalb, weil Lavinia beobachtet hatte, dass Jane und Mr. McTavish eine halbe Ewigkeit lang dasitzen und sich anschweigen konnten.

Sie selbst hätte dies schier in den Wahnsinn getrieben, aber schließlich wollte nicht sie Mr. McTavish heiraten. Sie wollte dafür sorgen, dass Jane ihn heiratete, weshalb es äußerst wichtig war, dass der Unwiderstehliche Duke kein Auge auf ihre Schwester warf.

„Haben Sie Dank, Euer Gnaden“, sagte sie, als er ihr und Jane die Gläser reichte. Er nickte, wobei er allerdings Jane ansah.

„Danke“, murmelte Jane und nippte an ihrem Getränk.

Auch Lavinia nahm einen Schluck. Die Bowle war überraschend prickelnd und wunderbar kalt, eine delikate Mischung aus Beerenaromen, Champagner und Süße.

Wie beiläufig schaute sie zum Duke hinüber, der ebenfalls trank. Sie sah, wie sich beim Schlucken seine Kehle bewegte. Ihre Augen weiteten sich unwillkürlich, als sie bemerkte, dass er die seinen in offenkundiger Wonne schloss und somit verriet, wie sehr er das Getränk genoss.

Herrje.

Der Moment endete so schnell, wie er sich eingestellt hatte.

„Die Lesung Ihres Bruders wird also bald beginnen?“, erkundigte sich der Duke. Ungeduld schwang in seiner Stimme mit, und seine Miene wurde abermals unnahbar.

Hatte sie sich diesen Augenblick der Wonne bloß eingebildet? War er sich selbst seiner Reaktion auf etwas so Banales wie ein köstliches Getränk bewusst?

Anscheinend erstreckte sich seine Wonne nicht auf die Lesung. Lavinia hatte nicht den Eindruck, dass er darauf brannte, dieser beizuwohnen. Vermutlich bedauerte er es, Zeit damit verschwenden zu müssen, auf einen Vortrag zu warten, der ihn im Grunde nicht interessierte.

Lavinia hatte eine Spur Herablassung vernommen, als er geäußert hatte, dass er ihr Buch nicht gelesen habe. Natürlich galt das für die meisten Männer und viele Frauen, wenn sie einen Roman vor sich hatten, der allein der Unterhaltung diente und daher verachtenswert war.

Törichte Menschen.

Dukes standen keineswegs so hoch über allen anderen, dass sie nicht ab und an ein gutes Buch lesen durften. Das hätte sie ihm in ihrer Empörung gern ins Gesicht geschleudert.

Dieser besondere Duke indes mochte über allen anderen stehen.

Vielleicht war er auch zu sehr damit beschäftigt, umherzustolzieren und mit seiner bloßen Präsenz zu prahlen – einer Präsenz, die sie offenbar auf eigentümliche Weise berührte –, um seine Zeit mit etwas so Profanem wie lesen zu vergeuden.

Zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sie sich, ihr Einfallsreichtum wäre nicht gar so … einfallsreich.

Denn sie konnte ihn sich gut als finsteren Helden in einem ihrer Bücher ausmalen, als einen Mann mit angeborener Autorität, der herausfand, was genau er mit einer starken Heldin alles anstellen konnte. Und was diese Heldin ihn bereitwillig würde anstellen lassen.

Welch glückliche Fügung, dass ihr weder Papier noch Schreibfeder zur Verfügung standen, ansonsten hätte sie sich in einen Winkel zurückgezogen und die Bilder niedergeschrieben, die ihr durch den Kopf schossen.

„Vinnie?“

Janes Stimme holte sie aus ihren Gedanken. Sie hätte dankbar dafür sein sollen, zurück in die Gegenwart geholt zu werden, aber beinahe hätte sie es Jane verübelt, sie aus ihren recht lebhaften Fantasien und dem Buch zu reißen, das sie im Geiste bereits entwarf.

Wobei er das Resultat ohnehin nicht läse, dachte sie verdrießlich.

„Verzeihung? Tut mir leid“, wandte sie sich an Jane. „Ich habe nur gerade über etwas nachgedacht.“

Jane verzog den Mund zu einem ironischen Lächeln. „Das habe ich gesehen, so wie immer, wenn du … oh!“ Sie schlug sich eine Hand vor den Mund.

„Wie lautete die Frage?“, warf Lavinia rasch ein und betete, der Duke möge nicht bemerkt haben, dass Jane beinahe ihr Geheimnis ausgeplaudert hätte.

„Wann die Lesung beginnt. Ich war mir nicht sicher. Der Duke hat gefragt.“

Natürlich. Unmittelbar bevor sie ihre Gedanken über ein Feld voller Küsse, großer, dunkler Helden und williger Heldinnen hatte schweifen lassen.

„Ich glaube, der Baron sagte, sie werde in etwa einer Stunde beginnen, und das war vor ungefähr fünfzehn Minuten. Daher … in fünfundvierzig Minuten?“

Der Duke nickte und wirkte zufrieden. Nicht aus Vorfreude, argwöhnte sie, sondern weil sie mit ihrer Zeitangabe geradezu militärisch präzise gewesen war.

Sie konnte sich vorstellen – denn natürlich kam sie nicht umhin, dies zu tun –, dass seine militärische Akkuratesse sämtliche Lebensbereiche betraf.

Sogleich erschauerte sie wieder, und das keineswegs, weil ihr kalt gewesen wäre.

Thaddeus verlagerte sein Gewicht, während er bei den zwei Schwestern stand. Er war sich seiner selbst so sehr bewusst, dass ihm die Haut kribbelte. Das war nicht gänzlich unangenehm, wenn auch ungewöhnlich. Zwar bedauerte er regelmäßig, dass sich seine Lebensumstände gewandelt hatten – auch wenn das lachhaft anmutete; immerhin war er ein Duke, Herrgott. Allerdings beschlich ihn nie das Gefühl, nicht dazuzugehören.

Er hatte sich stets zugehörig gefühlt. Ob als Erbe eines Earls und schließlich als Earl, ob als Befehlshaber auf dem Schlachtfeld oder als Duke in seinem herrschaftlichen Domizil in Mayfair, er gehörte dazu.

Nun jedoch war er sich unsicher, was er tun oder sagen sollte, und hinzu kam jenes zusätzliche Element im Raum, das seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte und ihm die Haut kribbeln ließ – Lady Lavinia.

Das nagte an seiner sonst so soliden Gelassenheit, denn ihre Schwester Jane war weit mehr nach seinem Geschmack. Sie war auf erlesene Weise schön, edel gekleidet, trat kultiviert auf und war offenkundig fügsam. Mit Ausnahme des einen Punktes, den er erst nach der Eheschließung würde eruieren können, erfüllte sie alle Voraussetzungen, die er gemäß seiner Liste an eine Braut stellte.

Und dennoch.

Da stand sie, an der Seite ihrer Schwester, und sprühte im Gegensatz zu der stillen, versonnenen Jane förmlich vor Leben. Wie eine Tigerlilie, die ihre orangefarbenen Blütenblätter inmitten einer Wiese dezenter Osterlilien trotzig gen Himmel reckte. Sie sah sich begierig um, als sonnte sie sich im Licht der Menschen um sie her.

Wahrscheinlich hielt sie ihn für jemanden, der nur Regen brachte, bedachte man, wie ihre Unterhaltung bislang verlaufen war. Wäre er so weit gegangen, sich für sie zu interessieren, was nicht der Fall war, würde er sich vermutlich Herausforderungen und Provokationen gegenübersehen, zwei Dinge, die er sich in einer Ehe nicht wünschte.

Ihre Schwester Jane war dagegen perfekt auf seine Bedürfnisse zugeschnitten. Er hatte nicht erwartet, derart rasch eine passende Frau zu finden, doch wie im Rahmen jeder guten Schlachtstrategie musste er jederzeit bereit sein zuzuschlagen. Den wenig subtilen, ja beinahe unumwundenen Andeutungen ihrer Mutter war klar zu entnehmen gewesen, dass diese Jane ebenfalls nach einem Ehegatten suchte.

Es war fast zu einfach.

„Lady Jane“, begann er, „ich bin noch nicht lange in der Stadt, und bisher ist meine Zeit gänzlich von Geschäftlichem in Anspruch genommen worden.“ Hätte er noch langweiliger klingen können? „Aber vielleicht können Sie mir nun, da ich mehr Muße habe, einige Örtlichkeiten empfehlen, die es sich zu besuchen lohnt?“

Lady Jane riss die großen blauen Augen umso weiter auf und schaute ihre Schwester an. War sie so sehr von Lady Lavinia eingeschüchtert, dass sie sich scheute, für sich selbst zu sprechen?

Schon jetzt verspürte er den Drang, sie zu beschützen, und dabei waren sie sich gerade erst begegnet.

„Euer Gnaden“, erwiderte die Tigerlilie, „Jane und ich hegen vielfältige Interessen. Allerdings entzieht sich mir, welche Arten von Amüsement Sie bevorzugen. Dass Sie nicht lesen, haben Sie bereits erwähnt.“ Sie wies in Richtung der Musikanten. „Mögen Sie Musik?“

Thaddeus spürte Verärgerung in sich aufwallen. Nein, er las nicht zum Vergnügen, aber so, wie sie es formulierte, klang es wie ein Makel.

Auch jene Stimme in seinem Kopf hatte es so gesehen. Dass Lady Lavinia es noch einmal betonte, reizte ihn umso stärker.

„Ja“, antwortete er, bemüht, sich seine Gereiztheit nicht anmerken zu lassen.

Nie zuvor hatte er dermaßen irrational auf einen Menschen reagiert. Sollte diese Lady Jane sich darauf einlassen, ihn zu ehelichen, würde er dafür sorgen müssen, dass ihre Schwester ihnen vom Halse bliebe. Er wollte nicht, dass sein Frieden gestört wurde, und ihm war bewusst, dass sie – ob nun absichtlich oder nicht – seinem Frieden schon jetzt zusetzte. Zudem wollte er, dass Lady Jane ihre eigenen Ansichten vertrat, statt sich ihrer jüngeren Schwester zu fügen.

„Und Kunst?“, fuhr sie fort.

Thaddeus nickte. „Kunst, ja.“ In der Vergangenheit hatte er kaum je einen Gedanken an Kunst verschwendet, aber er nahm an, dass er etwas für sie übrighatte. In seinem Stadthaus gab es diverse Gemälde, die ihm gefielen, Bilder von Landschaften mit Wolken und Bäumen und dergleichen.

„Jane und ich gehen gern in die Royal Academy, obwohl dort natürlich keine Werke von Künstlerinnen ausgestellt werden“, erklärte Lady Lavinia. „Des Weiteren gibt es ein paar Tanzhallen, die wir besuchen, auch wenn unsere Mutter das vermutlich nicht gutheißen würde.“ Sie neigte sich vor und senkte die Stimme. „Aber unser Bruder Percy begleitet uns. Wir sind also wohlbehütet.“

„Aha.“

Was sagte man zu einer jungen Dame, die soeben gegenüber einem nahezu Fremden eingestanden hatte, einem skandalösen Zeitvertreib zu frönen? Und die zugab, dass sie ihre eindeutig schüchterne und grundanständige Schwester in dieses Treiben verstrickte?

„Ein Freund von mir“, sagte Lady Jane, wobei ihre Wangen sich betörend rosa färbten, „merkt oft an, dass Musik die Stimme der Seele sei.“

Lady Lavinia wandte sich ihrer Schwester zu und sah sie erstaunt an. „Du meine Güte, das ist wirklich poetisch.“

Also kann sie für sich selbst sprechen, dachte Thaddeus.

Lady Jane errötete umso tiefer. „Ja.“ Sie schaute Thaddeus geradewegs in die Augen. „Ich weiß, dass es unziemlich anmutet, aber ich liebe die Tanzhallen. Die Leute dort kommen von überallher, und sie alle eint ihre Liebe zur Musik.“

„Oder zu den Tanzenden“, ergänzte Lady Lavinia spöttisch.

„Ich würde diese Musik gern hören, Lady Jane“, meinte Thaddeus, den Kommentar ihrer Schwester übergehend. „Diese Stimme der Seele.“

„Ich kann Ihnen eine Liste der Etablissements erstellen, die wir bevorzugen“, bot Lady Lavinia an.

Das war es nicht, was er wollte, und das wusste sie. Schließlich hatte er seine Worte bewusst so gewählt, weil er der Musik gemeinsam mit Lady Jane lauschen wollte. Dabei war ihm an Unterhaltung nur insoweit gelegen, als es seinen Plan beförderte, endlich eine Familie zu gründen.

Leidige Frau.

Sie hob die Brauen, eine stumme herausfordernde Frage, und er ertappte sich dabei, dass er ihren Blick erwiderte und eine weitere lautlose Unterredung mit ihr führte.

Sie sind meiner Schwester nicht würdig, schien ihre Miene zu sagen.

Sie kennen mich nicht. Mein Wert beläuft sich auf ein Riesenvermögen.

Das habe ich nicht gemeint, und das wissen Sie.

Verflixt enervierend. Und offenbar war sie entschlossen, jede Brautwerbung seinerseits im Keim zu ersticken. Aber warum?

Und weshalb brannte er darauf, es zu erfahren?

Ich machte mich fein, aß einen Keks mit Butter und wies an, die Kutsche vorfahren zu lassen. Sie sollte mich zu der Adresse bringen, die in jener mysteriösen Nachricht an mich angegeben war.

Wieso begab ich mich dorthin, obwohl mir weder der Absender noch der Grund für die Einladung bekannt waren?

Weil ich verzweifelt war. Ich besaß nichts außer der Garderobe einer jungen, vermögenden Dame, den Perlen meiner Mutter und einer Puppe aus Kindertagen.

Alles Übrige hatte uns nie gehört oder würde bald veräußert werden, um meines Vaters Schulden zu begleichen.

Mein verruchter Gatte von Percy Wittlesford

3. KAPITEL

Lächelnd ließ Lavinia den Blick über die Gruppe schweifen, die sich zu Percys Lesung eingefunden hatte. Darunter waren mehrere seufzende Damen und einige Herren, die sich offenbar von Percys zerzausten Locken sowie seiner künstlerisch angehauchten Erscheinung hatten inspirieren lassen. Und es gab Sonderlinge wie den Duke of Hasford, der zwischen ihr und Jane stand, in Habachtstellung, als wäre er beim Militär und nicht in einem Ballsaal der feinen Gesellschaft.

Sie drei befanden sich ganz hinten im Saal. Lavinia hatte sie hergeführt, damit sie beobachten konnte, wie die Menschen ihr Werk aufnahmen. Jane war es ohnehin lieber, im Hintergrund anstatt mitten im Geschehen zu sein.

Percy stand vorn auf einem Podium. Lady Scudamore saß direkt vor ihm, umgeben von anderen Damen ihrer Altersklasse, die ebenfalls voller Bewunderung waren. Die Menschenmenge verstummte, als Percy zu lesen begann.

Im Abendrot standen sie im Garten, derweil die Blumen im Licht der untergehenden Sonne lange Schatten warfen.

Bathsheba wandte sich ihm zu, diesem Mann, der ihren Ruin bedeuten sollte. Der Earl war eine einschüchternde Erscheinung, wahrlich ein Dorn unter den Rosen. Während sie ihn musterte, hob er das Kinn, stemmte die Hände in die Hüften und begegnete ihrem Blick.

Bathsheba tat es ihm gleich, straffte die Schultern und reckte das Kinn.

„Sie können mir keine Angst einjagen“, sagte sie mit fester Stimme.

Er trat vor, und sie widerstand dem Drang zurückzuweichen. Sie würde ihn nicht wissen lassen, welche Wirkung er auf sie ausübte. Dass sie sich fragte, ob seine Arme sich wie Stahlschellen um ihren Leib anfühlen würden und ob sie sich an ihm stechen mochte wie an einer Rose, wenn sie es zuließe.

Autor

Megan Frampton
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