Amore für immer

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Auf dem eleganten Anwesen am Comer See kümmert Julie sich um Massimo di Rocches kleinen Neffen – und glaubt sich im siebten Himmel, als der Italiener sie überraschend heiß küsst. Aber seine intrigante Familie setzt alles daran, dass sie so schnell wie möglich ihre Sachen packt …


  • Erscheinungstag 05.05.2022
  • ISBN / Artikelnummer 9783751514682
  • Seitenanzahl 160
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Das Handy klingelte erneut. Massimo ignorierte es. Welchen Teil von Nein verstand Gillian Pittman nicht? Sie war die einzige Frau in der Gruppe der Professoren und hätte die Auswahl unter einem Dutzend Männer haben können. Aber sie wollte ihn. Ein Verlangen, das unerwidert blieb.

Wenn er weibliche Gesellschaft wollte, verbrachte er das eine oder andere Wochenende in Mexico City oder Positano mit seinem Cousin Cesar, der ganz vorn in der Formel 1 mitfuhr. Cesars Leidenschaft für den Motorsport sicherte ihm das Interesse der Frauen – und es waren immer genug für sie beide.

Nach einem anstrengenden Arbeitstag bei den Ausgrabungen der Ruinen von Cancuén sehnte er sich nur nach einem großen Glas Eiswasser, gefolgt von einer langen, abwechselnd heißen und kalten Dusche. Bedauerlicherweise erwarteten ihn keine solchen Annehmlichkeiten in dem Zelt, das seit zwei Jahren sein Zuhause war.

Es befand sich im Herzen des Petén-Regenwalds von Guatemala und war nicht viel größer als ein Schrank – gerade genug Platz zum Essen, Schlafen und zum Registrieren seiner Funde.

Die professionellen Archäologenteams lebten in einem Lager auf der anderen Seite des Palastes der Maya, den sie Stück für Stück freilegten. Dort gab es etwas mehr Annehmlichkeiten. Massimo war aus eigenem Antrieb hier. Sich abends mit den anderen zu treffen, hätte bedeutet, seine Privatsphäre aufgeben zu müssen, und das widerstrebte ihm.

Als er die Wasserflasche aufschraubte, meldete sich das Handy erneut. Er trank erst einmal, bevor er nachsah, wieso Dr. Pittman ihm nun schon eine SMS schickte. Aber nicht sie war es, die ihn zu erreichen versuchte, sondern Sansone.

Ein unbehagliches Vorgefühl befiel ihn.

In den letzten zwei Jahren hatte er nicht einen einzigen Anruf seines ältesten Cousins erhalten, geschweige denn eine SMS. Mit einem stummen Seufzer drückte er die Taste und las: Tragische Nachricht. Ruf mich an.

Das Wort tragisch ließ sich nicht ignorieren. War sein Onkel krank? Oder schlimmer?

Während er wählte, spürte er förmlich, wie der Schweiß an ihm hinunterlief – schlimmer, als wenn er der prallen Sonne ausgesetzt war.

„Was ist passiert?“, fragte er, sobald Sansone sich gemeldet hatte.

„Papa hat eine schlimme Nachricht erhalten. Er ist zusammengebrochen. Der Arzt ist gerade bei ihm. Er hat mich gebeten, dich anzurufen.“

Es hätte Massimo nicht überrascht, wenn Aldo seine Schwäche nur vortäuschte, um sein Mitgefühl zu erregen. Oder um ihn nach Hause zu locken. Aber es müsste schon etwas wirklich Schwerwiegendes passieren, um ihn dazu zu bringen.

„Was für eine Nachricht war das?“

Sansone zögerte einen Moment. „Es geht um Pietra.“

Massimo hatte das Gefühl, als schnüre sich ihm das Herz zusammen. „Was ist mit ihr?“

„Ihr Schwiegervater hat angerufen. Sein Sohn und Pietra sind heute bei einem Autounfall ums Leben gekommen.“

Ums Leben gekommen …

Seine Schwester Pietra?

Massimo schwamm es für einen Moment vor den Augen. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihn.

„Und das Baby?“ Er musste sich räuspern, bevor die Stimme ihm gehorchte.

„Davon weiß ich nichts. Papa hat nichts …“

Er beendete die Verbindung. Sansone sollte nicht wissen, wie sehr ihn die Nachricht traf.

„Ich muss zu dieser mehrtägigen Konferenz, Julie. Lass mich wissen, wann die Beisetzung ist. Ich werde versuchen, von Portland aus zu kommen.“

Wenn Brent so abwesend klang, hieß das, er saß vor seinem Computer und arbeitete. Irgendwie hatte Julie mehr Beistand von dem Mann erwartet, der behauptete, sie zu lieben.

Der Schmerz war einfach zu überwältigend, als dass sie noch hätte klar denken können. Shawns Tod war unvorstellbar. Sie trauerte um den Bruder, während ihr Herz für ihren hilflosen kleinen Neffen blutete. Sie konnte nicht glauben, dass Pietra, ihre lebhafte Schwägerin, nicht mehr da sein sollte. Ein schrecklicher Unfall hatte zwei Leben einfach ausgelöscht.

„Wir warten darauf, dass Pietras Onkel zurückruft. Bis dahin kann nichts entschieden werden.“ Ihre Stimme bebte leicht. „Wenn ich an Nicky denke …“

„Der Junge wird sich an nichts erinnern. Zum Glück hat er ja deine Mutter.“

Julie biss sich so heftig auf die Unterlippe, dass sie Blut schmeckte. „Wie ich dir schon gestern gesagt habe, hat Nicky mich, Brent. Meine Mutter ist zu alt für ein Baby.“

„Du arbeitest in San Francisco. Wie willst du dich gleichzeitig um ein Baby kümmern?“

Es tat weh, dass er fragen musste. Ihre Hoffnung erstarb, dass er wirklich an einem gemeinsamen Leben mit ihr interessiert war.

„Ich werde nach Sonoma ziehen.“ Diese Idee hatte in den letzten Stunden immer festere Formen angenommen. Sie wollte noch heute ihren Chef anrufen und kündigen.

„Du willst den Superjob aufgeben, den ich dir verschafft habe? Und nur, um dich um ein Kind zu kümmern, das nicht einmal dein eigenes ist?“

„Oh, Brent …“

Was war er doch für ein Egoist! Wieso brauchte es eine Tragödie dieser Art, um sie das erkennen zu lassen? Ihre Beziehung hätte niemals gehalten. Weder war er reif für eine Ehe noch war er daran interessiert, gemeinsam mit ihr Shawns Sohn aufzuziehen.

„Was stimmt denn jetzt schon wieder nicht?“

Jetzt?

„Wieso sagst du nichts? Julie?“

Er verstand wirklich gar nichts.

„Mein Neffe hat gerade seine Eltern verloren. Das ist alles, woran ich im Moment denken kann.“

„Und warum solltest du diejenige sein, die jetzt alles opfert?“

„Weil ich es so will!“

Ihr emotionaler Aufschrei schien zu ihm durchgedrungen zu sein, denn es folgte ein langes Schweigen. „Was heißt das für uns?“, fragte er schließlich.

Sie atmete tief durch. „Unsere Wege trennen sich. Wir haben schöne Zeiten gehabt, Brent, aber es ist vorbei.“ Sie beendete die Verbindung.

Mit den Gedanken war Julie schon bei Nicky, als sie in das Kinderzimmer ging, wo sie die vergangene Nacht geschlafen hatte. Der Kleine hatte sich nicht gerührt, seit sie ihm sein letztes Fläschchen gegeben hatte. Kein Wunder, nachdem er sich zunächst so sehr dagegen gesträubt hatte.

Vier Wochenendbesuche in fünf Monaten waren nicht genug gewesen für ihn, um sie wiederzuerkennen. Sie war nicht seine Mommy, das war alles, was letztlich zählte.

Am vergangenen Abend und in der Nacht hatte er sich mit Händen und Füßen gegen die Fertigmilch gesträubt, die sie im Kühlschrank gefunden hatte. Heute hatte er seinen Widerstand aufgegeben und das Fläschchen angenommen. Fast schien es, als würde er begreifen, dass sein Leben sich geändert hatte, und fand sich in sein Schicksal ein.

Es brach Julie fast das Herz.

Sie musterte ihn versonnen. Das feine blonde Haar und die Gesichtszüge hatte er von Shawn. Pietra hatte ihm den dunklen Teint und die braunen Augen vererbt. Der kräftige Körper schien zu keinem seiner Eltern zu passen. Er war schon bei der Geburt ungewöhnlich groß gewesen für seine zierliche Mutter. Julie hatte das Gefühl, dass er wesentlich größer werden würde als ihr Bruder.

„Und woher hast du diese Lippen?“, flüsterte sie und ließ ihren Finger leicht darüber gleiten. Nur ein einziges Mal war es ihr bei ihrem letzten Besuch gelungen, ihm ein flüchtiges Lächeln zu entlocken. Es war breiter als das seiner Eltern. Er würde eines Tages ein richtiger Herzensbrecher werden.

Ihres hatte er bereits gebrochen, aber das konnte er nicht wissen. Wie lange würde er noch versuchen, sie von sich zu stoßen, während er darauf wartete, dass seine Eltern zurückkamen?

Sie zweifelte nicht daran, dass Nicky den Duft der Haut seiner Mutter vermisste, die Art, wie sie ihn gehalten und ihn liebkost hatte, die rührende Art, wie sie ihn Niccolo nannte. Ihre Stimme hatte er schon wahrgenommen, noch bevor er das Licht der Welt erblickte.

Julie spürte erneut Tränen in sich aufsteigen.

Wer würde ihn trösten können, wenn er das Lachen seines Vaters vermisste – oder die Art, wie er ihm seinen warmen Atem auf den Bauch blies, nachdem er ihm die Windeln gewechselt hatte? Nie wieder würden diese starken Arme ihn mit väterlichem Stolz halten. Arme, die ihn Minuten nach seiner Geburt getragen und ihm gezeigt hatten, dass er erwünscht und geliebt war.

Innerhalb von Sekunden war die Sicherheit dieses liebevollen Zuhauses für immer ausgelöscht durch einen Mann, der sich betrunken ans Steuer gesetzt hatte. Nun herrschte nur noch das Chaos.

Julie hauchte dem Kleinen einen Kuss auf die Stirn und verließ das Kinderzimmer, um nach unten zu gehen. Laute Stimmen ließen sie auf dem Treppenabsatz Halt machen.

„Lem hat einen wichtigen Prozess vor sich und muss so schnell wie möglich zurück nach Honolulu. Wir arrangieren eine Beisetzungsfeier in kleinem Kreis. Pater Meersman hat sich bereit erklärt, ein paar Worte zu sagen.“

„Wir müssen warten, bis Pietras Onkel uns zurückruft, Margaret. Trotz aller Probleme – er hat sie und ihren Bruder Massimo nach dem Tod ihrer Eltern bei sich aufgenommen. Er hat ein Recht, sich an allen Entscheidungen zu beteiligen.“

„Der Mann hat sie verstoßen, weil sie meinen Sohn geheiratet hat. Damit hat er dieses Recht verloren.“

„Shawn war auch mein Sohn“, erinnerte er sie leise. „Er würde erwarten, dass wir uns gegen Pietras Familie korrekt verhalten. Im Namen unserer Schwiegertochter muss ich darauf bestehen, dass wir auf ihn warten, Margaret.“

„Komm mir nicht mit diesem herablassenden Ton, Frank.“

„Zweifellos steht ihr Onkel noch unter Schock. Deswegen ist jetzt der Arzt bei ihm. Falls diese Nachricht ihn milder stimmt, haben sie vielleicht im Tod etwas erreicht, das ihnen im Leben nicht gelungen ist.“

„Amen.“

Julie wand sich, als sie die Bitterkeit im Ton ihrer Mutter hörte. Ihre Eltern waren seit zehn Jahren geschieden. Beide hatten irgendwann zum zweiten Mal geheiratet und Sonoma verlassen, aber sie verhielten sich so, als sei die Trennung gerade erst erfolgt und als seien noch alle Wunden frisch. Ihre Mutter war immer schwierig gewesen. Bestimmt nicht ohne Grund war im Moment keiner der neuen Ehepartner hier.

„Margaret – wir müssen unsere persönlichen Differenzen für den Moment vergessen und überlegen, was das Beste ist für Nicky.“

„Merkwürdig, dass du dir solche Gedanken nicht um Julie und Shawn gemacht hast, als du damals gegangen bist. Sonst wäre Shawn …“

„Hör auf, Mom! Dad hat recht“, erklärte Julie mit Nachdruck, als sie das Wohnzimmer betrat.

Die beiden drehten sich zu ihr herum. Sie waren in den letzten vierundzwanzig Stunden sichtlich gealtert. So wie sie.

„Wir müssen uns jetzt alle um Nicky kümmern. Er ist ganz allein. Von seiner Babysitterin abgesehen, sind wir Fremde für ihn.“

„Das ist doch genau mein Punkt!“ Margarets Wangen hatten sich vor Zorn gerötet. „Wir müssen auf diesen Tyrannen keine Rücksicht mehr nehmen! Er hat Pietra so gequält, dass sie unseren Sohn geheiratet hat, um endlich von ihm wegzukommen.“

„Er ist dennoch ihre Familie. Sie hat ihn nie als Tyrannen bezeichnet. Vielleicht etwas autoritär …“

„Macht das einen Unterschied?“, fauchte ihre Mutter.

„Wir wollen nicht vergessen, Margaret, unser Sohn und Pietra haben sich geliebt.“

„Ich bin doch nicht von gestern! Pietra hat dafür gesorgt, dass sie schwanger wurde. Sie hat alles sehr sorgfältig geplant, damit Shawn sie heiratet und in die Staaten holt. Und was haben wir jetzt davon?!“

Du hast es ihr nie verziehen.

Pietra war tatsächlich zwischen Shawn und seine besitzergreifende Mutter getreten, aber Schuld war allein die Liebe gewesen, nichts anderes.

Ihre Mutter hob den Kopf. „Julie? Du musst mit uns nach Hawaii kommen. Ich komme mit einem so kleinen Kind nicht mehr allein zurecht. Lem wird dir einen Teilzeitjob geben.“

Julie hörte den Rest nicht mehr, weil das Telefon klingelte. Sie erwartete einen Rückruf vom Kinderarzt. Sie eilte in die Küche, um ungestört zu sein. „Hallo?“

„Ms. Marchant?“

„Ja?“

„Hier ist Katy aus der Praxis von Dr. Barlow. Er hat eine Creme für das Baby verschrieben. Sie sollten das Kind beim Windelwechseln immer gut damit einreiben. Ich rufe gleich in der Apotheke an, damit sie fertig gemacht wird. Falls die Rötung der Haut dann nicht bald abnimmt, melden Sie sich wieder bei uns.“

Julie kehrte ins Wohnzimmer zurück. „Dad? Das war die Arztpraxis. Würdest du bitte zur Apotheke fahren? Dr. Barlow hat eine Spezialcreme für Nicky anfertigen lassen.“

„Ich fahre sofort los.“

Sie war froh, dass sie jetzt ein offenes Wort mit ihrer Mutter sprechen konnte. Die Liebe zu Nicky gab ihr den Mut dazu.

„Ich komme nicht mit nach Hawaii, Mom“, sagte sie, als sie allein waren. „Ich werde das Geld aus Shawns Lebensversicherung nehmen und hier im Haus bleiben, um mich um Nicky zu kümmern.“

„Falls du glaubst, du könntest hier mit deinem Freund einziehen, dann …“

„Nein“, unterbrach Julie sie. „Wir haben uns getrennt.“

„Wann denn?“

„Das spielt keine Rolle. Wichtig ist nur: ich möchte mich um Nicky kümmern.“

„Das machen wir zusammen, Julie.“

Ihr ganzes Leben lang hatte ihre Mutter erwartet, dass sich alles nur um sie drehte. Über die Jahre hatte ihr Verhalten die Familie immer weiter auseinanderdriften lassen. Zuerst war ihr Vater gegangen. Dann Shawn, der es wagte, ohne ihr Einverständnis zu heiraten. Und schließlich war Julie nach San Francisco gezogen, um dort das College zu besuchen.

Ihr Blick wanderte durch das Wohnzimmer des kleinen Hauses, das ganz im spanischen Stil gehalten war. Shawn hatte für ein Weingut gearbeitet. Er und Pietra hatten sich hier in Sonoma ein glückliches Zuhause geschaffen. Wohin auch immer sie blickte: Fotos und Babyspielzeug. Alles zeugte davon, dass der kleine Nicky der Mittelpunkt der Familie war.

„Abgesehen davon, dass es nicht fair wäre gegenüber Lem – dies hier ist Nickys Zuhause“, erinnerte Julie ihre Mutter.

„Nicht mehr.“

Ihre Mutter schien keiner Vernunft mehr zugänglich, aber Julie versuchte es dennoch. „Pietra hat Sonoma geliebt, weil es sie an Italien erinnerte, wo sie Shawn kennengelernt hat und sie sich ineinander verliebt haben. Sie haben geplant, ihr Leben mit Nicky hier zu verbringen. Das können wir ihm nicht nehmen. Er hat schon alles andere verloren.“

„Was auch immer an Lebensversicherungen da ist, wird auf ein Konto für Nickys Studium gelegt. Darin stimmen dein Vater und ich überein.“

„In diesem Fall werde ich mir eine Arbeit suchen, die ich von Zuhause aus machen kann, damit ich Zeit habe, mich um Nicky zu kümmern.“

„Hast du vergessen, dass ich seine Großmutter bin?“

„Du hast gerade selbst zugegeben, dass du es allein nicht schaffst. Ich bin seine Tante, und ich bin im richtigen Alter, um für ihn sorgen zu können.“

Ihre Mutter machte eine ungeduldige Handbewegung. „Du bist gerade einmal vierundzwanzig. Du hast doch überhaupt keine Ahnung von Kindern!“

Da musste Julie ihr recht geben. Sie hatte eine panische Angst davor, alles falsch zu machen oder noch schlimmer: Nicht zu wissen, was sie tun sollte. Aber das spielte im Moment keine Rolle.

„Habt ihr gewusst, was auf euch zukommt, als ihr damals mit Shawn aus dem Krankenhaus gekommen seid?“

Ihre Mutter war für einen Moment sprachlos.

„Ich werde alles lernen“, erklärte Julie. „Andere Frauen schaffen es doch auch.“

„Dazu wird es nicht kommen, Julie. Es ist wohl am besten, du erfährst jetzt die Wahrheit.“

„Welche Wahrheit?“ Ihre Beklemmungen wuchsen.

„Lem will bei Gericht das Sorgerecht für mich beantragen. Deshalb wollte ich die Beisetzung für übermorgen ansetzen und dann gleich mit Nicky nach Hawaii fliegen. Ich möchte dich dabei haben. Das ist eine Vorsichtsmaßnahme, falls Pietras Onkel irgendwelche komischen Ideen haben sollte.“

Julie runzelte die Stirn. „In welcher Hinsicht?“

„Er könnte versuchen, den Jungen für sich zu fordern, nachdem Shawn nun nicht mehr lebt. Du weißt ja, wie dominant italienische Männer sein können.“

„Nicht wirklich.“

Die Italiener hatten kein Monopol auf diesen Charakterzug, Julies Mutter war der Beweis dafür. Dies war einfach nur ein weiterer Versuch, Julie in ihrem Sinne zu manipulieren, aber sie würde nicht darauf eingehen. Diesmal nicht!

„Du siehst müde aus, Mom. Wieso legst du dich nicht hin, während ich nach Nicky sehe?“

Gedankenverloren ging Julie nach oben. Sie hatte Fotos von Pietras Familie gesehen, hatte aber niemanden von ihnen je kennengelernt. Nach allem, was sie gehört hatte, war es eine sehr beeindruckende Familie. Laut Shawn waren die Di Rocches eine der vermögendsten und einflussreichsten Familien Mailands.

Bis zu seinem frühen Tod hatte Pietras Vater, Ernesto, mit seinem älteren Bruder Aldo zusammengearbeitet. Aldo hatte sie und ihren Bruder nach dem Tod Ernestos bei sich aufgenommen und sie gemeinsam mit seinen drei Söhnen erzogen. Heute stand Aldo Di Rocche einem großen Firmenimperium vor, zu dem Anteile an diversen Bankhäusern und großen Handelsunternehmen gehörten.

Shawn hatte Pietra durch Zufall auf einem der Weingüter der Familie kennengelernt. Eins kam zum anderen, und sie verliebten sich. Shawn und Pietra heirateten heimlich und weihten erst danach ihre Familien ein. Es war ein kluger Schachzug. Weder ihr Onkel noch seine Mutter konnten mehr etwas dagegen ausrichten.

Julie hatte ihre Entscheidung gutgeheißen, besonders nachdem sie erfuhr, dass Pietra nicht sehr glücklich gewesen war in der Familie ihres Onkels. Der einzige Mensch, dem Pietra sich verbunden gefühlt hatte, war ihr älterer Bruder gewesen, den sie sehr liebte. Aber er lebte in einem anderen Teil der Welt.

Sie betrachtete das Baby. Konnte es sein, dass ihre Mutter recht hatte und Pietras Onkel versuchte, das Sorgerecht zu bekommen? Er hatte das Geld und damit die Macht. Julie konnte den Gedanken nicht ertragen.

„Ich möchte, dass du bei mir bleibst“, flüsterte sie. „Ich liebe dich so sehr.“

Der Kleine schlief auf dem Rücken, die Arme zu beiden Seiten des Kopfes ausgestreckt, die Hände zu Fäusten geballt. Während sie ihn betrachtete, kam ihr Vater herein mit der Tüte aus der Apotheke.

Rasch wechselte sie Nickys Windel und rieb seinen kleinen roten Po liebevoll mit der Creme ein.

„Du wirst eines Tages eine wunderbare Mutter abgeben“, bemerkte ihr Vater.

„Danke, Dad.“ Wenn ihre Mutter wieder im Hotel war, wollte Julie mit ihrem Vater über ihre Pläne sprechen. Er würde auf ihrer Seite sein, das wusste sie.

Sie spürte instinktiv, dass ihm etwas auf der Seele lag. Und richtig: „Ich muss dir etwas sagen“, bekannte er. „Es wird deine Mutter umbringen.“

„Hast du … hast du etwas von Pietras Onkel gehört?“

„Nein, er ist zu geschwächt, um kommen zu können, aber ihr Bruder, Massimo, ist eingetroffen. Er ist im MacArthur-Hotel abgestiegen. Ich habe vom Handy aus mit ihm telefoniert.“ Er räusperte sich. „Wusstest du, dass Shawn und Pietra ein Testament gemacht haben?“

„Nein, aber ich nehme an, die meisten Paare haben eins.“

„Das ist richtig. Offensichtlich haben sie ihren Bruder zu Nickys Vormund ernannt, falls etwas passieren sollte.“

Was?

Julie hatte das Gefühl, als werde ihr der Boden unter den Füßen fortgezogen. Fassungslos sah sie ihren Vater an. „Ich verstehe nicht … Er ist Junggeselle und arbeitet irgendwo im Regenwald. Er hat Nicky noch nicht einmal gesehen!“

„Wie dem auch sei, sie haben sich vor Nickys Geburt getroffen. Dabei wurde diese Entscheidung gefällt.“

Julie wusste nicht, wann irgendetwas sie jemals so verletzt hatte.

„Er hat mir den Namen von Shawns Anwalt gegeben. Ich habe ihn auf dem Rückweg von der Apotheke angerufen. Das Haus und das Geld der Versicherung fällt an deine Mutter und mich, und Nicky kommt zu Pietras Bruder. Das Testament ist wasserdicht. Dagegen kann auch Lem nichts ausrichten.“

Julie drückte das Baby an sich. „Was … was hat Pietras Bruder vor? Hat er etwas gesagt?“

Ihr Vater seufzte schwer. „Er kommt später zu uns, um Nicky zu sehen und mit uns zu sprechen. Was die Beisetzung angeht, akzeptiert er alles so, wie wir es geplant haben. Aber danach wird er das Kind mitnehmen.“

„Wohin?“ Ihre Stimme bebte. „Der Mann lebt im Regenwald!“

„Ich bin darüber genauso schockiert wie du.“

Nach der Nachricht vom Tod ihres Bruders hatte Julie das Gefühl gehabt, es könne nicht mehr schlimmer kommen. Nun wusste sie, dass das Grauen noch steigerungsfähig war. Sie musste etwas unternehmen, bevor es zu spät war.

„Dad, sag Mom noch nichts von dem Testament. Ich fahre kurz in den Supermarkt.“ Die Notlüge war sicher verzeihlich. „Wenn ich zurück bin, reden wir mit ihr.“

„Das ist eine gute Idee. Ich brauche sowieso ein bisschen Zeit, um meine Gedanken zu sammeln. Komm zu deinem Grandpa!“ Er griff nach dem Baby, das zu weinen begonnen hatte. „Wir wärmen dir jetzt dein Fläschchen auf.“

Kurze Zeit später war Julie auf dem Weg in das Luxushotel am Sonoma-Plaza. Im Geiste ging sie durch, was sie Pietras Bruder sagen wollte. Es klang alles nicht richtig. Als sie endlich an der Rezeption stand, war sie nur noch ein reines Nervenbündel.

„Ich würde gern Mr. Massimo Di Rocche sprechen. Würden Sie bitte auf seinem Zimmer anfragen, ob er Zeit hat?“

„Natürlich. Ihr Name?“

„Julie Marchant.“

Der Angestellte ließ es eine ganze Minute klingeln, bevor er bedauernd die Schultern zuckte. „Er scheint nicht da zu sein. Möchten Sie eine Nachricht hinterlassen?“

„Ja. Bitten Sie ihn, mich auf dem Handy zurückzurufen, sobald er Zeit hat.“ Sie hinterließ ihre Nummer, bevor sie in die Bar ging, um ein Mineralwasser zu trinken. Falls sie in den nächsten zwanzig Minuten nichts von dem Mann hörte, wollte sie zurückfahren.

Es vergingen keine fünf Minuten, und ihr Handy klingelte. Sie spürte Panik in sich aufsteigen. Was auch immer sie zu Pietras Bruder sagte, in Nickys Interesse musste sie vorsichtig sein. Diplomatisch.

„Hallo?“

„Julie Marchant?“

Autor

Rebecca Winters

Rebecca Winters und ihre Familie leben in Salt Lake City, Utah. Mit 17 kam Rebecca auf ein Schweizer Internat, wo sie französisch lernte und viele nette Mädchen traf. Ihre Liebe zu Sprachen behielt sie bei und studierte an der Universität in Utah Französisch, Spanisch und Geschichte und später sogar Arabisch.

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