Auf kleinen Pfoten ins Wintermärchen

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June ist empört! Wie kann man so süße Hundebabys einfach aussetzen? Natürlich wird sie die Welpen retten. Sie weiß, in der Tierklinik findet sie Hilfe. Aber als ein Schneesturm sie zwingt, dort zu übernachten, bringt das umwerfende Lächeln von Dr. Ethan Singh plötzlich sie in Gefahr …


  • Erscheinungstag 23.05.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733746889
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

„June, Süße, warum gehst du jetzt nicht nach Hause? Ich kann den Laden doch allein zumachen. Es sieht so aus, als ob das Wetter noch schlechter wird.“

June Leavy schaute von ihrem Eimer auf und folgte dem Blick der Besitzerin der Peach Leaf Pizzeria zu dem kleinen Fernseher hinter der Bar. Gerade lief die abendliche Wettervorhersage. Der Januar in West-Texas konnte natürlich immer unberechenbar sein, aber der Gedanke an einen halben Meter Schnee war einfach surreal.

Sie musterte ihre Chefin. Die Linien um Margarets Mund und die dunklen Ringe unter den sonst so lebhaften Augen der älteren Frau waren ihr nicht verborgen geblieben. Heute war viel los gewesen. Sie waren beide erschöpft, aber mit vier Händen wäre die Arbeit sehr viel schneller erledigt.

June schüttelte deshalb den Kopf. „Blödsinn. Ich bin schon fast fertig mit dem Boden, und dann muss ich nur noch den Müll rausbringen.“

Margaret schenkte ihr ein dankbares müdes Lächeln. Zugeben würde sie das zwar nie, aber sie wurde langsam älter. June hatte das dumpfe Gefühl, dass ihre Chefin sie bald bitten würde, den Laden zu übernehmen. Wer konnte es einer frischgebackenen Großmutter auch übel nehmen, dass sie gerne mehr Zeit mit ihren Enkeln verbringen wollte? Außerdem war June ihre einzige Vollzeitkraft, und sie teilte sich mittlerweile mit ihr auch schon die Geschäftsführung.

June seufzte und versenkte den Mopp erneut platschend im Wasser. Wieder einmal fragte sie sich, wie sie auf die Frage antworten würde, wenn es irgendwann so weit war. Die Vor- und Nachteile standen ihr klar vor Augen. Aber die Entscheidung würde trotzdem nicht einfach sein.

Margaret war eine wunderbare Chefin, und der Job bot ein regelmäßiges Einkommen. Die Arbeit hatte außerdem etwas Beruhigendes an sich. Das Teigkneten, das Gemüseschneiden und die Aufnahme der Bestellungen, die vertrauten Gesichter der vielen Stammkunden. Sie würde die Scherze vermissen, die Gespräche mit Menschen, die sie schon ihr ganzes Leben lang kannte, und die aufgeregten Teenager, die nach einem Sieg beim Baseball immer die roten Lederbänke in Beschlag nahmen.

Aber June hatte auch ihre eigenen Träume.

Und bis vor Kurzem war sie nahe dran gewesen, diese Träume auch zu verwirklichen. So nahe dran, dass sie sich noch nicht wieder davon erholt hatte, alles verloren zu haben.

Jetzt hatte sie die Wahl: Sie konnte noch einmal ganz von vorn anfangen. Oder sie konnte auf Nummer sicher gehen und irgendwann die Pizzeria übernehmen.

So gesehen war das eigentlich gar keine Frage. Aber sie rief sich noch einmal ins Gedächtnis, dass ein Neuanfang keine Garantie für ein Happy End war.

June putzte nun einen Klecks verspritzter Marinarasoße weg und schob den fahrbaren Eimer anschließend zur Rückseite des Lokals.

Margaret wischte die Theke ab und ging dann auf Zehenspitzen durch den Raum, um den Fernseher abzuschalten, bevor sie die Schürze auszog. „Als ich noch ein Mädchen war, haben wir einmal über einen Meter Schnee hier gehabt. Und ich sage dir, es ist nicht einfach, unterwegs zu sein, wenn so viel Schnee liegt.“ Sie stemmte eine Hand in die Hüfte und deutete mit der anderen auf June. „Vor allem, wenn hier keiner weiß, wie man bei so einem Ereignis fahren muss.“

June nickte und durchquerte dann die Küche, um den Wischeimer ins Spülbecken auszuleeren. Danach verstaute sie die Putzsachen wieder in der Besenkammer. Vermutlich war es möglich, dass das Wetter noch schlechter wurde. Es schneite ja jetzt schon seit ein paar Tagen immer wieder, also hatte sich inzwischen schon eine dünne Schneedecke über alles gelegt, aber es kam ihr nicht sehr wahrscheinlich vor, dass innerhalb weniger Stunden noch viel mehr herunterkommen würde. Es war bestimmt unnötig, sich ernsthaft Sorgen zu machen.

Aber als sie die Tür der Besenkammer zumachte und sich umdrehte, schaute Margaret sie an. Die klaren blauen Augen ihrer Chefin wirkten beunruhigt.

„Versprich mir bitte, dass du besonders vorsichtig bist. Und wenn es richtig übel wird, dann machen wir morgen gar nicht erst auf.“

June schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln. Sie versprach, dass sie auf sich aufpassen würde, und tätschelte Margaret sanft die Schultern. Im Laufe der Jahre waren sie sich immer näher gekommen. Sie waren nicht mehr einfach nur Arbeitgeberin und Angestellte. Ihre Chefin behandelte sie eigentlich mehr wie eine Tochter. Und das machte es nur noch schwieriger für June, über das nächste Kapitel ihres Lebens nachzudenken.

Sie wusste, dass es Margaret nicht gefallen würde, dass June deren Bedürfnisse berücksichtigte. Aber sie waren nun einmal ein Faktor in ihren Überlegungen. Ein wichtiger sogar. Wenn sie je wieder auf eigenen Füßen stehen würde, wenn sie je ihr über viele Jahre hinweg mühsam erspartes Geld zurückbekommen würde, wenn sie je ihre eigene Bäckerei eröffnen würde, dann würde sie jemanden zurücklassen müssen, der ihr wichtig war. Jemanden, der ihr durch ihre schlimmste Lebenskrise hindurch geholfen hatte. Und das spielte nun einmal eine Rolle. Eine große sogar.

Sie schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn, jetzt darüber nachzudenken.

Das Geld war weg. Ihre Träume höchstwahrscheinlich auch. Sie hatte sich über ein Jahrzehnt abgeplagt, um es zu verdienen. Dabei hatte sie auf so viel verzichtet, nur um genug Geld für ihre eigene Bäckerei sparen zu können. Unter der Last dieses Verlusts ließ sie die Schultern erneut hängen. Es würde Jahre dauern, bis ihre finanziellen Verhältnisse wieder stabil waren, und noch länger, um wieder so viel ansparen zu können.

Sechs Monate waren mittlerweile vergangen, seit Clayton verschwunden war und alles mitgenommen hatte. Ihr ganzes gemeinsames Geld. Eigentlich eher Junes Geld, wenn sie ehrlich war. Und das war sie jetzt – es war einfach zu viel passiert, um es nicht zu sein. Ihre Träume waren dahin.

Ihr Herz, gebrochen.

Sie liebte ihn nicht mehr, denn dafür hatte er ihr Vertrauen zu sehr missbraucht und sie zu tief verletzt. Aber die tiefe Einsamkeit nach seinem Verschwinden und das Ende des Lebens, das sie sich gemeinsam aufgebaut hatten … Vielleicht, dachte June, ist es auch das, um was ich in Wirklichkeit trauere. Jedenfalls brauchte sie ihn nicht. Oder sonst einen Mann. Bis Clayton aufgetaucht war, war sie den größten Teil ihres Lebens Single gewesen. Und glücklich und zufrieden damit.

Aber genau das war der Punkt. Bis er verschwunden war, hätte sie geschworen, dass sie mit ihm den Rest ihres Lebens verbringen würde. Und als er dann weg war, waren die Aussichten auf eine Familie und ein gemeinsames Leben mit ihm von jetzt auf gleich verschwunden. Sie war wieder da, wo sie vor ihm gewesen war – nur dieses Mal war es anders. Dieses Mal wusste sie, wie es war, ein Zuhause mit jemandem zu teilen, den man liebte. Oder darüber zu sprechen, irgendwann einmal Kinder zu haben. Zusammen zu träumen. Gemeinsam in die Zukunft zu schauen. Dieses Mal hatte sie das Gefühl, als ob ihr etwas fehlte.

Kopf hoch, ermahnte sie sich. Es war besser, sich mit der Gegenwart zu arrangieren, als der Vergangenheit nachzutrauern. Oder etwa nicht?

Natürlich war es das.

Also ging sie in die Küche und holte die beiden großen Müllsäcke. Sie nahm sie auf die Schultern, um sie zum Müllcontainer hinter dem Lokal zu tragen.

Es war alles ja gar nicht so schlimm. Sie hatte ihren Job, ihre Freunde und ein Dach über dem Kopf. Und dafür war sie wirklich dankbar. Im Augenblick war es sogar gut, ungebunden zu sein. So hatte sie den Freiraum zu entscheiden, wie sie ihr Leben wieder in Ordnung bringen würde. Das konnte gerne auch noch eine Weile so bleiben. Damit sie eines Tages wieder Vertrauen in eine Beziehung setzen könnte, wäre ein ganz besonderer Mensch nötig. Und sie war sich ziemlich sicher, dass es so jemanden möglicherweise niemals für sie geben würde.

June ließ die Müllsäcke neben der Hintertür fallen und ging schnell ihren Mantel holen. Margaret folgte ihrem Beispiel. „Zieh dich warm an.“

„Jawohl, Ma’am.“ Sie salutierte scherzhaft.

Margaret stemmte die Hände in die Hüften. „Das ist kein Witz, Junie. Du vergisst, dass ich aus dem Norden von New York komme. Dem Staat, nicht der Stadt. Da kann es im Winter wirklich lebensgefährlich werden. Ihr Texaner habt keinen blassen Schimmer von richtiger Kälte. Ich will einfach nicht, dass dich das Wetter eiskalt erwischt.“

„Okay. Versprochen.“

Sie zogen nun beide Handschuhe und Mützen an und holten ihre Handtaschen. Margaret machte die Hintertür für June auf, als diese die Müllsäcke hochhob. Ein eisiger Windstoß blies ihr ins Gesicht und brachte sie kurz aus dem Gleichgewicht, bevor sie sich den entfesselten Elementen entgegenstemmte.

„Ich komm schon klar. Ich lade den Müll ab und schließe dann zu. Bis morgen!“, rief sie über ihre Schulter zurück.

„Da bin ich mir nicht so sicher.“

June lachte leise. „Okay, dann eben bis bald.“

„Na schön, Liebes. Vergiss aber nicht, was ich gesagt habe. Bleib zu Hause, wenn es richtig übel ist“, erwiderte Margaret. Ihre Stimme verhallte, als die Tür hinter ihr zuschlug und sie nach vorn auf den Parkplatz zu ihrem Auto ging.

June schüttelte den Kopf, dann warf sie die schweren Säcke in den Container und fuhr bei dem lauten Scheppern des Deckels zusammen.

Noch jemand musste bei dem Geräusch die gleiche Reaktion gehabt haben, denn aus dem Augenwinkel nahm June eine Bewegung wahr, als sie zurück zur Tür ging, um abzuschließen. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie sich umsah.

„Hallo?“

Sie lauschte und hörte … nichts. Außer vielleicht dem Blut, das in ihren Ohren rauschte.

„Ist da jemand?“, rief sie erneut. Wahrscheinlich gab es keinen Grund zur Sorge. Das hier war schließlich Peach Leaf, wo die Kriminalitätsrate ungefähr bei null lag. Trotzdem, sie war eine Frau, und sie war nach Einbruch der Dunkelheit ganz allein auf der Straße. Es war nur vernünftig, vorsichtig zu sein.

Sie sah sich noch einmal nervös um.

Nun vernahm sie wieder etwas. Ein leises Rascheln, gefolgt von einem schwachen Quietschen. Sie versuchte sich zu entscheiden, ob sie das Geräusch einfach ignorieren sollte. Sie wusste, dass es klüger wäre, einfach wegzugehen. Egal, worum es sich handelte, es war schließlich nicht ihr Problem. Und der Himmel wusste, dass sie im Augenblick nicht noch mehr Probleme in ihrem Leben brauchen konnte.

Aber dann hörte sie es wieder. Und dieses Mal versetzten ihr die leisen traurigen Laute einen Stich ins Herz. Der Schneefall wurde immer stärker. Die Flocken bildeten bereits einen weißen Schleier auf dem roten Stoff ihres Mantels. June stieß einen tiefen Seufzer aus und beschloss, der Sache trotzdem auf den Grund zu gehen. Egal was diese Geräusche auch machte, in einer eiskalten Winternacht hatte es nichts in einer einsamen Gasse verloren.

Sie zog jetzt den Riemen ihrer Handtasche von der Schulter über den Kopf, dann kramte sie ihr Handy heraus und schaltete die eingebaute Taschenlampe ein. Der schmale Strahl durchbrach die Dunkelheit. Langsam schob sich June hinter den Müllcontainer. Das Licht brachte jedoch nichts weiter zum Vorschein als schmutzigen Schnee. Sie blieb stehen und wartete einen Augenblick. Dabei lauschte sie angestrengt, um den Geräuschen zu ihrem Ursprung folgen zu können. Gerade, als sie ihre Suche aufgeben wollte, hörte sie wieder etwas: dieses Mal noch deutlicher.

Sie legte eine Hand ans Ohr und versuchte zu identifizieren, worum es sich handelte. Vielleicht um ein Kätzchen? Auf jeden Fall irgendetwas Kleines, Hilfloses und Verlorenes. Sie hoffte innerlich, dass es kein Baby war. Der Gedanke daran, dass jemand einen Säugling aussetzen würde, und noch dazu bei diesem Wetter, war einfach … undenkbar.

Da war es wieder! Und dieses Mal war sie sich ganz sicher, dass es eine Art Wimmern war. Sie sprach ein stummes Gebet und bewegte sich dann langsam auf das Geräusch zu. Es wurde jetzt immer lauter. Also musste sie bereits ganz in der Nähe sein. Sie hatte die Gasse halb durchquert und schon fast die Straße erreicht, als sie den Ursprung des Lautes, in einer dunklen Ecke hinter einer weiteren Mülltonne, entdeckte.

June richtete ihre Taschenlampe auf den Schatten und schnappte nach Luft, als sie in zwei Paar große braune Augen blickte.

Große braune … Hundeaugen.

Das Geräusch, das sie gehört hatte, war das herzerweichende Wimmern winziger Hundebabys gewesen, die leise winselten und wahrscheinlich nach ihrer Mutter riefen.

Auf einem Haufen Abfall hinter dem Müllcontainer eines Ladens kuschelten sich zwei winzige schwarze Fellbündel mit acht kleinen schwarz-weiß gefleckten Pfoten aneinander. Ihre winzigen Gesichter gaben schließlich den Ausschlag. June stiegen die Tränen in die Augen, als sie die zwei Paar flauschigen schwarzen Ohren anstarrte – und zwar nicht wegen der beißenden Kälte. Zwischen den Ohren befand sich ein weißer Fellstreifen, der sich nach unten zu identischen weißen Schnauzen fortsetzte.

Eine ganze Minute lang stand June wie erstarrt da. Ihr Instinkt drängte sie, die Welpen auf den Arm zu nehmen, um sie aufzuwärmen. Aber sie war sich nicht sicher, ob das richtig war.

Einerseits waren die Temperaturen bestimmt schon seit dem Sonnenuntergang unter den Gefrierpunkt gesunken, aber andererseits: Was geschah, wenn die Mutter der Welpen wiederkam und dieser hier nicht mehr vorfand? Aber die noch viel dringendere Frage war natürlich – was passierte, wenn sie nicht wiederkam? Die Kleinen konnten noch nicht lange hier draußen sein, denn sonst wären sie …

Nein, daran wollte sie gar nicht danken. Dennoch … Wenn sie die Welpen jetzt nicht aus der immer kälteren Nachtluft holte – und aus dem Schnee, der mit jeder Minute heftiger und dichter fiel –, dann würden sie auf jeden Fall hier erfrieren. Sie hatte eigentlich gar keine andere Wahl.

June eilte hastig auf sie zu. Beim Laufen öffnete sie ihren Mantel. Dann hob sie die Welpen ganz sanft und sehr vorsichtig hoch und steckte sie kurzerhand in die Bauchtasche ihres „Peach Leaf Pizza“-Sweatshirts. Sie zog ihren Mantel anschließend um sich zusammen, ließ ihn aber ein Stückchen offen, damit die Hunde auch noch atmen konnten. Danach ging sie mit gesenktem Kopf um die Ecke.

Ohne den Schutz der Häuser war der Sturm jetzt viel stärker. Wind und Schnee nahmen June fast die Sicht, als sie in Richtung Parkplatz stapfte. Endlich erreichte sie ihr Auto. Zuallererst machte sie den Kofferraum auf und holte dort ihre Sporttasche heraus. Dann schlüpfte sie auf den Rücksitz. Ihre Joggingsachen und Schuhe nahm sie aus der Tasche, aber das Handtuch ließ sie drin, um eine Art Nest daraus zu gestalten. Vorsichtig legte sie die beiden Fellbündel in die Tasche, ganz nahe nebeneinander, damit sie sich gegenseitig wärmen konnten.

„So“, sagte sie leise. „Schön durchhalten, ihr zwei. Wir holen euch ganz schnell Hilfe.“

Das antwortende Fiepen war beruhigend. Jetzt machte June noch den Sicherheitsgurt um die Tasche herum fest. Sie hoffte, dass er halten würde. Dann kroch sie nach vorn auf den Fahrersitz. Zum Glück sprang ihr altes Auto bereits nach ein paar Versuchen an.

Das Schneetreiben wirkte jetzt wie eine weiße Wand, als sie zur Hauptstraße fuhr. Ihre Scheibenwischer liefen auf Hochtouren, während sie sich das Hirn zermarterte, was für gute Ratschläge Margaret ihr stets über das Autofahren im Winter gegeben hatte. Jetzt bereute sie es, dass sie nicht besser zugehört hatte.

Sie umklammerte das Lenkrad so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Dann drückte sie sich selbst die Daumen, während sie zu dem einzigen Ort fuhr, der ihr einfiel, an dem man ihr mit zwei ganz jungen Hundewelpen helfen konnte.

2. KAPITEL

Ethan Singh verfluchte das geradezu absurde Chaos auf dem Schreibtisch seines Vaters. Eines Tages, schwor er sich zum hundertsten Mal, beiße ich die Zähne zusammen und räume hier auf. Eines Tages.

Aber nicht heute. Oder besser gesagt, heute Abend, stellte er fest, als er aus dem Büro und an der unbesetzten Empfangstheke vorbeiging, um einen Blick aus dem vorderen Fenster der Tierarztpraxis seines Vaters zu werfen. Es war beinahe eine Erleichterung, dass es schon höchste Zeit für ihn sein würde, ins Bett zu gehen, wenn er im Haus seiner Eltern angekommen und etwas gegessen hatte.

So hatte er nämlich keine Zeit, darüber nachzudenken, was er eigentlich hier in Peach Leaf, Texas, mit sich anfangen sollte. Und noch viel wichtiger, was er tun würde, wenn der Winter erst einmal vorbei war und er an die Universität Colorado zurückkehren musste, um dort im Frühjahr ein paar Kurse in Veterinärmedizin zu unterrichten.

Ethan schüttelte kurz den Kopf und wandte sich dann vom Fenster ab. Es hatte keinen Sinn, jetzt darüber nachzugrübeln. Denn genau darum hatte er sich ja überhaupt darauf eingelassen, die Praxis für seinen Dad zu führen, während seine Eltern einen vierwöchigen, längst überfälligen Urlaub machten und dabei den Bruder seines Vaters in Washington, D. C., besuchten. Er wollte nicht darüber nachdenken, was in Alaska passiert war. Ethan setzte sich auf den Stuhl der Rezeptionistin und stützte den Kopf in die Hände. Aber wie sollte er nicht daran denken? Wie konnte er nicht an sie denken – oder an das, was sie getan hatte, um sein Herz zu brechen?

Das war einfach unmöglich.

Auf die Forschungsreise hatte er sich damals riesig gefreut, denn er hatte gewusst, dass er dann jeden Tag mit Jessica Fields verbringen würde. Er und die unglaublich intelligente und umwerfend schöne neue Kollegin waren damals bereits seit ein paar Wochen ein Paar gewesen. Und er hatte bekommen, was er wollte. Ihre gemeinsame Zeit im äußersten Norden von Alaska – ein Landstrich, den er wegen seiner extremen Schönheit und Gefahr zu lieben und zu respektieren gelernt hatte – war absolut perfekt gewesen. Die Forschung des Teams zum Klimawandel und zu ansteckenden Krankheiten bei Eisbären war viel weiter gediehen, als sie es ursprünglich gehofft hatten. Und für seine Beziehung mit Jessica hatte das Gleiche gegolten.

Erst an ihrem letzten Tag hatte sie Anzeichen von Unbehagen gezeigt. Als er sich während des Rückflugs vorgebeugt hatte, um sie zu küssen – eine Geste, die zu diesem Zeitpunkt ihres Zusammenseins ganz normal gewesen war –, war Jessica plötzlich zurückgewichen. Und da hatte er sie zur Rede gestellt.

Sie war gar kein Single, hatte sie auf einmal gesagt. Sie hatte ihn bei diesen Worten voller Bedauern angesehen. Doch wie ihm traurigerweise aufgefallen war, auch vollkommen ohne Reue. Sie war in Wirklichkeit verlobt, und sie hatte nicht vor, ihre Beziehung wegen etwas zu beenden, was sie „eine Affäre“ nannte. Sie hatte ihm die ganze Zeit etwas vorgemacht, sagte sie.

Also, in diesem Punkt würde er ihr bestimmt nicht widersprechen. Mit ihm zu schlafen und ihm zu sagen, dass sie ihn liebte, Zukunftspläne mit ihm zu schmieden … ja, sie hatte ihn tatsächlich ganz schön vorgeführt. Ethan hatte anschließend sofort um einen anderen Sitzplatz im Flugzeug gebeten. Den Rest des Flugs hatte er mit zusammengebissenen Zähnen verbracht.

Der Vorsitzende seines Fachbereichs war zwar wegen seiner hastig zusammengeschusterten Erklärung etwas verwirrt gewesen, aber er hatte Ethans Bitte um ein Freisemester trotzdem entsprochen.

Er hob jetzt den Kopf, um wieder aus dem Fenster zu sehen. Dabei hörte er, wie der Wind um das Haus toste. Im Augenblick brauchte er Zeit, um sich zu überlegen, wie er es schaffen sollte, an die Universität zurückzukehren und dabei Jessica gegenüberzutreten. Denn diese hatte absurderweise nicht vor, das Team zu verlassen. Also musste er damit fertigwerden, dass die einzige Frau, in die er sich jemals verliebt hatte, einen anderen heiraten würde. Und dass es ihr offenbar vollkommen egal war, was das für ihn bedeutete.

Aber in der Zwischenzeit hatte er wenigstens die Praxis. Und er musste zugeben, dass er in den letzten zwei Wochen die Leute und ihre geliebten Haustiere ganz schön ins Herz geschlossen hatte. Er hatte die Forschung schon immer geliebt, die zu seiner Arbeit als Veterinärpathologe gehörte, aber das hier … die Luftveränderung und die Erinnerung an den Anfang seiner Karriere taten ihm momentan richtig gut.

Ethan fuhr hoch, als er plötzlich ein heftiges Klopfen hörte. Er brauchte eine Minute, bis er merkte, dass es von der Eingangstür kam, die er schon vor einer Stunde abgeschlossen hatte. Wer um alles in der Welt würde jetzt an diese Tür klopfen – nein, eigentlich eher hämmern? Ethan wusste, dass sein Vater gelegentlich auch mal länger als zwölf Stunden arbeitete. Aber niemand hatte angerufen, um Bescheid zu sagen, dass er so spät noch vorbeikommen würde.

Er sprang auf und ließ den Stuhl einfach kreiseln. Als er die Tür erreichte, steckte er zuerst einen Finger zwischen zwei Lamellen des Rollos und spähte vorsichtig hinaus. Aber der Schnee war jetzt mittlerweile so dicht und der Besucher so eingepackt, dass er nichts erkennen konnte, außer einem leuchtend roten Mantel und einer dazu passenden Mütze. Er konnte nicht einmal irgendwelche Tiere sehen. Aber er rief sich ins Gedächtnis, dass er hier in Peach Leaf war. Die potenziellen Bedrohungen einer Großstadt spielten an diesem Ort in der Regel keine Rolle.

Deshalb öffnete Ethan nun die Tür. Als die eisige Luft ihn traf, verschlug es ihm den Atem. Eine hochgewachsene Person eilte auf ihn zu und rannte ihn dabei beinahe über den Haufen.

„Oh, Gott sei Dank“, ertönte jetzt eine Stimme … eindeutig eine Frauenstimme … irgendwo zwischen Mantel und Mütze. Ethan machte schnell die Tür hinter ihr zu.

„Vielen, vielen Dank, dass Sie mich hereingelassen haben. Ich habe schon gedacht, dass es vielleicht so spät ist, dass niemand mehr hier ist, und ich wollte schon wieder umdrehen und zu meinem Auto zurückgehen, aber …“

„Hoppla, immer mit der Ruhe. Fangen Sie doch bitte ganz am Anfang an.“ Er trat einen Schritt zurück.

Die Frau verstummte und zog ihre Mütze, die ihr ins Gesicht gerutscht war, ein Stück nach oben. Jetzt konnte er erkennen, dass ihre Augen groß und grün waren – ein wunderschönes Grün, übrigens. „Tut mir leid“, sagte sie und stieß den Atem aus. Sie streckte Ethan eine behandschuhte Hand entgegen. Er nahm sie und war überrascht, wie kalt sie war.

Sie musste praktisch ein Eiszapfen sein. Er hatte nachmittags mal auf das Thermometer gesehen. Noch vor Sonnenuntergang war die Temperatur unter den Gefrierpunkt gefallen. Wenn er sie nicht hereingelassen hätte, hätte sie in echte Schwierigkeiten geraten können. Während seines Semesters in Alaska hatte er viel über die Gefahren extremer Kälte gelernt. Und auch wenn das Klima in Texas im Allgemeinen eher mild war, waren die Gefahren doch die gleichen, wenn man nicht vorsichtig war.

Die Frau schüttelte ihm ein paar Mal die Hand, bevor sie ihn losließ. „Ich bin June. June Leavy. Ich bin wegen der entfernten Chance vorbeigekommen, dass Dr. Singh so spät noch da ist. Und na ja, ich weiß wirklich nicht, was ich sonst machen soll.“

„Ich bin Dr. Singh“, sagte Ethan und bemühte sich um ein freundliches Lächeln.

Die Frau – June – kniff die Augen zusammen. „Wahnsinn, Dr. Singh. Ich muss schon sagen, Sie sehen aus, als ob Sie den Quell der ewigen Jugend gefunden hätten.“

Ethan musste unwillkürlich lachen. Die meisten Leute kamen nur zum jährlichen Check-up und für Impfungen vorbei, wenn ihre Haustiere nicht gerade krank oder alt waren. Natürlich hatte es sein Vater nicht geschafft, alle Kunden von seinem Winterurlaub in Kenntnis zu setzen.

„Nein, ich meine, ich bin Dr. Singh, aber vielleicht nicht der, auf den Sie gehofft haben. Ich bin sein Sohn Ethan.“

Jetzt entspannte sich June sichtbar, und sie nickte. Anschließend zog sie ihre Handschuhe und ihre Mütze aus. Als sie nach ihrem Kragen fasste, um ihren Mantel auszuziehen, bemerkte Ethan, das sie recht rundlich wirkte. Ihm kam jetzt der Gedanke, dass sie vielleicht schwanger war. „Hier, lassen Sie mich Ihnen bitte helfen“, sagte er und nahm ihr den Mantel ab.

Er konnte nicht anders, als dabei den dezenten und süßen Duft ihrer Haare wahrzunehmen. Melone, dachte er. Wie merkwürdig, dass ihm das jetzt auffiel. Noch merkwürdiger war allerdings, dass er bemerkte, wie ihr das Haar in weichen kastanienbraunen Wellen über die Schultern fiel. Und dabei ein Gesicht umrahmte, das vor Kälte gerötet und, nun ja, durchaus reizend war.

June lächelte, und Ethan kam der Gedanke, wie gut ihr Name zu ihr passte. Ihre Haut wirkte so strahlend wie der Sonnenschein, und beim Anblick ihrer geschwungenen großzügigen Lippen wurde ihm ganz heiß. Ihre Augen waren lebhaft und warm wie der Sommer, obwohl ihr Lächeln sie nicht ganz erreichte.

Nicht dass ihn das interessierte. Er war einfach nur ein guter Beobachter – genauso, wie es sich für einen tüchtigen Wissenschaftler gehörte.

„Danke“, sagte sie nun. „Also, wie gesagt, ich war auf dem Weg von der Arbeit nach Hause, und mein Auto ist liegen geblieben. Ich weiß nicht genau, wie weit von hier, aber es kam mir auf jeden Fall sehr weit vor.“ Sie holte tief Luft und schloss die Augen, als ob sie sich beruhigen musste. „Jedenfalls, jetzt bin ich hier, und Sie sind hier, Gott sei Dank.“

Ethan wollte ihr gerne helfen. Vielleicht konnte er ja einen Abschleppwagen für sie rufen, und sie könnte so lange hierbleiben, bis der Sturm wieder ein wenig abgeflaut war. Aber abgesehen davon war er sich nicht sicher, warum sie überhaupt in Richtung Praxis unterwegs gewesen war.

Als sie verstummte, nutzte er die Gelegenheit, sie danach zu fragen: „Kann ich denn etwas für Sie tun, Miss Leavy?“

„Ehrlich gesagt, ja. Wenigstens hoffe ich das.“

Autor

Amy Woods

Amy Woods' Credo ist: Für die wahre Liebe lohnt es sich zu kämpfen, denn sie ist es absolut wert. In ihren Romanen schreibt die Autorin am liebsten über Personen mit liebenswerten kleinen Macken, die sie zu etwas Besonderem machen. Wenn Amy...

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