Die heilenden Küsse des griechischen Arztes

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Ein Erdbeben erschüttert Mythelios: Die schöne Ärztin Erianthe will den Menschen auf der griechischen Insel helfen - und läuft Dr. Ares Xenakis in die Arme! Das Wiedersehen mit ihm reißt eine tiefe Wunde in ihrem Herzen auf. Kann Ares sie mit zärtlichen Küssen endlich heilen?


  • Erscheinungstag 25.06.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733717759
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Zehn Jahre zuvor …

Der Kies spritzte nach allen Seiten hoch, als Ares von der Zufahrtsstraße auf den Parkplatz des kleinen Flugplatzes von Mythelios raste. Doch das war nichts im Vergleich zu dem Aufruhr in seinem Inneren.

Am Rande des Rollfelds hielt er abrupt an und sprang aus dem Wagen.

Bitte lass es nicht zu spät sein!

Sein Herz hämmerte so heftig, dass es wehtat. Vor zwanzig Minuten hatte ihn sein bester Freund Theo voller Panik angerufen. Seine Eltern waren im Begriff, seine kleine Schwester fortzuschicken. Heute. Genau jetzt.

Ares hatte gedacht, er könnte mehr Zeit mit ihr verbringen, bevor es dazu kam. Er wusste gar nicht mehr, wieso er dieser Vereinbarung überhaupt zugestimmt hatte. Ihr Vater hatte nichts davon gesagt, dass Erianthe gleich am nächsten Morgen abreisen würde.

Er stürmte durch das Eisentor an der Rückseite des Hangars, wo die Privatflugzeuge aller Geschäftspartner von Mopaxeni Shipping untergebracht waren. Durch die Hitzeschwaden, die von dem schwarzen Asphalt aufstiegen, rannte er immer weiter.

Erianthe hatte schon oft gegen ihre Eltern rebelliert. Sie waren streng traditionell eingestellt und allzu sehr auf ihr Image bedachte Milliardäre. Sie hatten nun also entschieden, dass ihre minderjährige Tochter am besten in einem Kloster aufgehoben wäre, um ihre beschämende Schwangerschaft zu verbergen.

Theo hatte nie daran geglaubt, dass seine Eltern seine Schwester tatsächlich wegschicken würden. Ares hingegen wusste es seit gestern. Er war nur davon ausgegangen, dass es noch eine Weile dauern würde, bis sie die Insel verließ. Man sah ihr ja noch gar nichts an.

Doch Theo wusste nicht, welche Schuld Ares daran hatte, dass Erianthe in ein anderes Land ins Exil geschickt wurde. Zudem zwangen ihre Eltern sie dazu, ihr Kind zur Adoption freizugeben. Er glaubte, seine kleine Schwester sollte aufs Internat, um sich besser aufs Lernen zu konzentrieren.

Als Ares um den Hangar kam, erblickte er das Flugzeug. Es stand schon auf dem Rollfeld bereit, die Türen geöffnet und die Treppe noch daran befestigt. Die lange schwarze Limousine, die Erianthes Vater oft fuhr, stand zwischen ihm und dem Flugzeug, aber durch die abgedunkelten Fenster konnte Ares nichts erkennen.

Wie hatte Dimitri Nikolaides ihn nur dazu überreden können, Erianthe und sein Kind aufzugeben? Gestern war es ihm als vernünftig erschienen, jetzt jedoch spürte er nichts als Panik.

Mit brennenden Lungen versuchte er, in der sengenden Morgensonne noch mehr aus sich herauszuholen.

„Ihr seid beide noch viel zu jung, um Eltern zu sein.“

„Du wirst ihr mehr wehtun, wenn ihr verheiratet seid und sie dich dann langweilt.“

„Sie ist erst sechzehn.“

Nachdem jetzt alles so schnell ging, war ihm klar, was für einen riesigen Fehler er begangen hatte. Er würde sie verlieren, alle beide.

Ares sprintete an der Limousine vorbei und fasste nach dem Treppengeländer, als ihn von hinten ein Schlag traf und er auf dem heißen Asphalt landete. Von mehreren Händen wurde er grob gepackt und hochgezerrt, ehe er genug Luft geholt hatte, um nach Erianthe zu rufen.

Dimitri hatte seine Wachleute mitgebracht.

Obwohl Ares sich heftig wehrte, schleppten ihn die Männer um den Wagen herum, weg von ihr. Sie musste im Flugzeug sein.

Er war ihr so nah.

Da er keine Kraft mehr hatte, blieb ihm nur noch seine Stimme.

„Erianthe!“ Immer wieder schrie er ihren Namen, den Blick auf die dunkle Türöffnung gerichtet.

Die Männer zerrten ihn weiter zurück zum Hangar, doch Ares schrie wieder, so laut er konnte.

Dann plötzlich blieb ihm fast das Herz stehen, als er sie schließlich an der Flugzeugtür sah. Sie hatte ihn gehört.

Schroff schüttelte sie die Hände ihres Vaters ab, stürzte die Treppe hinunter und rannte auf Ares zu. Ihr glänzendes dunkles Haar flog im Wind, und sobald sie näher kam, konnte er erkennen, wie blass sie war, die Lider ihrer nachtschwarzen Augen gerötet.

Immer näher.

Die Männer hörten auf, ihn weiter wegzuschleifen.

Noch näher.

Sie ließen ihn los.

Voll neuer Kraft lief Ares mit weit ausgebreiteten Armen auf Erianthe zu. Auch wenn er wusste, dass sie unter diesen Umständen nie zusammen sein könnten, wollte er sich dennoch bei ihr entschuldigen. Daran musste er festhalten, bis er eine Möglichkeit fand, zu ihr zu kommen.

Als er sie fast erreicht hatte, verzog sie das tränenüberströmte Gesicht. Sie blieb abrupt stehen, hob den Arm, und ein scharfer Schmerz traf seine linke Wange. Um sein Gleichgewicht nicht zu verlieren, wich Ares unwillkürlich zurück.

Sie hatte ihn geohrfeigt?

„Eri …“ Er verstummte unter ihrem wütenden Blick.

„Ich habe dir vertraut!“, stieß sie halb schluchzend, halb schreiend hervor. Dann schlug sie seine Hand fort, als er sie instinktiv an sich ziehen wollte. „Ich dachte, du bist anders, aber du bist genau wie er!“

„Nein …“, brachte Ares mühsam hervor. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Er war nicht wie Dimitri Nikolaides, sondern dieser hatte ihn ausgetrickst. Seine Ängste und Schwächen kaltblütig ausgenutzt. „Wir können weg…“

Erianthes kurzes, hartes Auflachen stoppte ihn.

„Ich hasse dich.“ Ihre geflüsterten Worte trafen ihn bis ins Mark.

In dem Moment trat Dimitri zu ihnen, griff nach Erianthes Arm und begann, sie zum Flugzeug zurückzuzerren. Ares wusste nicht einmal, wohin. In ein Land, das weit genug entfernt war, dass niemand hier etwas von dem Baby erfahren würde.

Auch wenn ihn diesmal niemand festhielt, war er außerstande, sich zu rühren.

„Das werde ich dir nie verzeihen!“

Er wollte ihr sagen, dass er sie liebte. Aber würde sie ihm glauben?

„Es tut mir leid.“ Es war das Einzige, was ihm einfiel, und er wiederholte es immer wieder.

Die Männer, die ihn weggeschleppt hatten, halfen nun Dimitri, seine heftig strampelnde Tochter die Treppe hinaufzuziehen.

Die letzten Worte, die Erianthe ihm entgegengeschleudert hatte, würden Ares noch lange in den Ohren klingen, nachdem das Flugzeug abgehoben hatte. Denn sie hatte recht.

Es war alles seine Schuld.

1. KAPITEL

Das letzte Mal, als Dr. Erianthe Nikolaides auf ihrer Heimatinsel war, war sie gerade sechzehn Jahre alt gewesen. Außerdem schwanger und verraten von dem Jungen, den sie geliebt hatte. Jetzt, zehn Jahre später, kam sie nur deshalb zurück, weil ihr Adoptivbruder sie nach dem Erdbeben auf Mythelios darum gebeten hatte.

Theo hatte alle hierher zurückgerufen, um in der Klinik mitzuhelfen, die die einzige medizinische Versorgungseinrichtung der Insel darstellte. Allerdings hatte er auch darauf bestanden, dass Erianthe zuerst ihre Facharztprüfung ablegte, bevor sie seinem Ruf folgte. Daher hatte sich ihre Ankunft etwas verzögert.

In der Julihitze klebte ihr das dunkle Haar am Nacken. Auf dem Weg zu dem hübschen dreistöckigen Gebäude, in dem sich die Klinik von Mythelios befand, wurde jeder Schritt zu einer kraftraubenden Anstrengung. Ihre Knie waren wackelig, und sie schaffte es kaum, ihre Koffer die Straße hinaufzubugsieren. Bestimmt lag es nur an der Hitze und nicht an der Vergangenheit und den damit verbundenen Geheimnissen. Und auch nicht an dem schweren Stein, der ihr im Magen zu liegen schien, weil sie wusste, dass es außer Theo noch einen anderen Mann gab, dem sie heute begegnen würde.

Ares Xenakis war genau wie Erianthe nach Hause gerufen worden. Theo hatte der gesamten Clique Bescheid gesagt. Die Sprösslinge der reichen Partner der Mopaxeni-Reederei, als Kinder vernachlässigt, bis sie etwas falsch gemacht hatten. Vier Männer, die den Klinik-Betrieb finanzierten und teilweise auch selbst hier mitarbeiteten. Und nun auch Erianthe, die außer ihren beruflichen Fähigkeiten nichts zu bieten hatte. Schon vor vielen Jahren hatte sie jeden Kontakt mit ihren Eltern abgebrochen und damit auch auf ihren Treuhandfonds verzichtet. Erst letzte Woche war ihre Facharztausbildung offiziell beendet gewesen.

Geräuschvoll klappernd, schob sie sich durch den Haupteingang, denn es war nicht leicht, ihre beiden Trolleys gleichzeitig zu manövrieren. Ein Rad blieb am Türrahmen hängen, sodass der große Koffer eingeklemmt wurde, als die Tür sich hinter ihr schloss. Na super. Es wäre doch zu schön, wenn wenigstens ein Teil dieser Reise glattgehen würde.

Energisch zog sie an dem Koffer, bis er sich so plötzlich löste, dass sie rückwärts ins Foyer der Klinik stolperte. Nur mit Mühe unterdrückte sie einen lauten Fluch. Als Erianthe sich umdrehte, waren die Augen aller Anwesenden in dem vollen Anmeldebereich auf sie gerichtet. Und zwar mit einem Ausdruck, als würden die Leute erwarten, dass ein solcher Krach auch mit entsprechendem Unheil verbunden wäre.

Fast hätte Erianthe angefangen zu lachen. Das einzige Unheil, das sie je auf Mythelios verursacht hatte, betraf nur sie selbst. Sie hatte dem falschen Jungen vertraut und war nicht sofort weggelaufen, als ihr Vater das Wort „Kloster“ ausgesprochen hatte.

Schlagartig schwand ihr Bedürfnis zu lachen. Dennoch setzte sie ein Lächeln auf, damit sie bei ihren zukünftigen Patienten einen möglichst freundlichen Eindruck erweckte.

Sie hatte eine Woche Zeit gehabt, um sich auf das Wiedersehen mit Ares vorzubereiten, und darauf, ihren Eltern über den Weg zu laufen. Inzwischen war sie nicht mehr von diesem maßlosen Zorn erfüllt, der damals ihre Rachefantasien beflügelt hatte. Mittlerweile wusste sie nicht mehr, was sie sagen oder fühlen sollte. Zehn Jahre waren eine lange Zeit.

Konzentrier dich auf heute.

Die Eingangstür schwang zu und verbannte die glühende Hitze, an die Erianthe nach all den Jahren in England nicht mehr gewöhnt war.

Sie rieb sich die Nasenwurzel und atmete tief durch. Nein, sie musste sich auf diese Sekunde, diese Minute konzentrieren. Keiner der drei Verräter von damals war im Moment hier. Also brauchte sie sich auch nicht zu überlegen, wie sie mit ihnen umgehen sollte.

„Dr. Nikolaides.“

Vor ihr stand eine Frau, die ihr zulächelte und die Hand nach dem größeren Trolley ausstreckte. Mit der anderen Hand lotste sie die von der Reise sichtlich mitgenommene neue Ärztin zu einem Zimmer in der Nähe.

„Ihr Bruder hat gerade einen Patienten. Also bitte, ruhen Sie sich hier ein bisschen aus. Ich schicke ihn dann gleich zu Ihnen.“ Sie knipste das Licht an.

Nun konnte Erianthe das kleine Büro erkennen. Die Frau wirkte freundlich, aber bestimmt, und hatte auch etwas Mütterliches an sich. Ihr schwarzes Haar war von einigen silbrigen Strähnen durchzogen, was ihr eine gewisse Würde verlieh. Und ihr ruhiger Tonfall strahlte etwas Tröstliches aus.

Erianthe fühlte sich etwas besser. Nicht mehr ganz so, als würde sie vom Himmel in die staubigen Felsen hier hineingepresst.

Die Frau sagte noch etwas von Kaffee, ehe sie hinausging. Danach ließ Erianthe sich auf den Drehsessel sinken.

Petra. Ach ja, das war ihr Name.

Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich streng. Petra. Die großartige Klinik-Managerin, von der Theo so oft begeistert erzählte.

Das glatte Leder des Sessels, das sie durch ihre dünne Leinenhose spürte, wirkte angenehm kühlend. Erst da merkte Erianthe, wie sehr ihr Kopf dröhnte. Vermutlich schon eine ganze Weile.

Durch die offene Tür schaute sie auf den Flur. Dabei zählte sie ihre tiefen Atemzüge, bis die Erinnerungen, die sie seit Theos Anruf überfluteten, allmählich etwas in den Hintergrund traten. Es war diese starke Willenskraft, die sie damals auch durch die ersten Monate ihrer Verbannung getragen hatte.

Auf einmal wurde der Anmeldebereich durch einen breiten Lichtstrahl erhellt, unterbrochen von einem unförmigen Schatten, als die Tür sich wieder schloss. Es folgten ein angestrengtes Stöhnen und dann ein Ruf nach Hilfe von einer rauen Männerstimme. Alle Leute, die im Foyer warteten, blickten beunruhigt durch die Bürotür zu Erianthe.

Da draußen gab es niemanden, der helfen konnte. Und sie war schließlich Ärztin. Ihre Schwäche von eben verschwand, und ­Erianthe eilte hinaus.

Ein Mann kauerte auf dem Fußboden neben einer schwangeren Frau, die sich schwer auf ihre linke Seite lehnte, während sie mit der anderen Hand gegen die rechte Seite ihres gewölbten Bauches drückte. Sie war vielleicht im sechsten oder siebten Monat.

Erianthe kniete sich neben die Frau, stellte sich vor und fragte den Mann: „Ist sie hier hingefallen?“

„Nein, ich habe sie hingesetzt. Sind Sie die Baby-Ärztin?“, fragte er.

Baby-Ärztin. Offenbar hatte Theo ihnen von ihr erzählt.

„Ja, ich bin Geburtsmedizinerin. Sagen Sie mir, was passiert ist.“

In diesem Augenblick kehrte Petra mit einem dampfenden Becher und einem Teller in der Hand zurück. Als sie Erianthe neben der Patientin knien sah, stellte sie beides schnell auf dem Anmeldetresen ab und lief los, um einen Rollstuhl zu besorgen.

Zu dritt gelang es ihnen, die Schwangere in den Rollstuhl zu befördern. Dann führte Petra alle zu dem kleinen Raum, in dem Erianthe gerade gesessen hatte, ehe sie davoneilte, um die Patientenakte und Material zu holen.

„Haben Sie Schmerzen?“, erkundigte sich Erianthe.

Die Patientin nickte und drückte wieder gegen ihre rechte Seite.

„Wann haben die Schmerzen angefangen? Und können Sie beschreiben, wie sich der Schmerz anfühlt?“

Obwohl der Frau das Sprechen schwerfiel, konnte Erianthe herausbekommen, dass es sich sehr wahrscheinlich nicht um eine Geburtssituation handelte.

„Tut es mehr weh, wenn Sie auf der rechten Seite liegen?“ Sie prüfte den Puls der Patientin, während sie zuhörte, wie diese ihre Symptome beschrieb: Verstärkte Übelkeit, aber erst, nachdem die Schmerzen begonnen hatten, die auch mit einigen Verdauungsproblemen einhergingen.

In diesem Moment kam Petra mit einer Krankenschwester im Schlepptau zurück. Ein bekanntes Gesicht.

„Cailey!“

Erianthe hatte ihre gute Freundin von früher nicht mehr gesehen, nachdem sie die Insel verlassen hatte. Damals hatten sie sich angefreundet, weil Caileys Mutter als Haushälterin der Nikolaides gearbeitet hatte. Erianthe hatte Cailey immer vermisst, war jedoch nicht imstande gewesen, mit irgendjemandem von zu Hause zu reden und gleichzeitig ihre Geheimnisse zu wahren.

Eigentlich konnte sie es auch jetzt nicht. Am liebsten hätte sie ihr sofort alles erzählt, um endlich reinen Tisch zu machen. Doch ein solches Geständnis würde nur noch größeren Schaden anrichten.

Außerdem war kaum Zeit für eine richtige Begrüßung, geschweige denn für ein ausführliches Geständnis. Also lächelte sie Cailey nur schnell an, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Patientin richtete.

„Ich brauche Temperatur und Blutdruck. Sieht nach einer Blinddarmentzündung aus. Haben wir auch einen richtigen Untersuchungsraum? Und bildgebende Geräte?“, fragte Erianthe. „Ich möchte gerne ein paar Tests durchführen. Es gibt hier doch ein Labor, oder?“

„Blinddarmentzündung?“ Die brüchige Stimme des Mannes zeigte die Sorge um seine Frau.

„Wir werden sie sehr gründlich untersuchen“, antwortete Erianthe. „Dann wissen wir mehr darüber, wie wir sie behandeln müssen. Wie lange hat sie die Schmerzen schon?“

Innerhalb der nächsten Minuten bestätigte Cailey eine leicht erhöhte Temperatur bei der Patientin, die auf eine Entzündung hindeutete. Und der Ehemann berichtete, dass seine Frau eine Nacht mit immer stärker werdenden Schmerzen hinter sich hatte.

„Wer ist der Chirurg an der Klinik?“, wollte Erianthe wissen.

„Dr. Xenakis hat die meiste Erfahrung“, erwiderte Cailey.

Obwohl sie so wenig wie möglich über Ares hatte wissen wollen, hatte Erianthe doch mitbekommen, dass er Notfallmediziner geworden war, nicht Chirurg.

Leise sagte sie zu Cailey: „Gibt es momentan keinen Allgemeinchirurgen?“

„Ares hat durch seine Hilfseinsätze sehr viele Erfahrungen gesammelt. Er arbeitet bei einer Organisation, die medizinisches Personal in schwer zugängliche Regionen schickt, um den Menschen dort zu helfen.“

Er arbeitete für eine Hilfsorganisation? Erianthe war erstaunt. Das hatte sie nicht erwartet. „Ist er da?“

„Ja. Wir bringen Jacinda jetzt am besten erst mal in ein Zimmer“, warf Petra ein. „Ich schicke ihn dann zu Ihnen. Dr. Nikolaides, möchten Sie sich vielleicht umziehen? In dem Eckschrank da drüben finden Sie die Klinik-Kleidung. Machen Sie einfach die Tür zu, und ziehen Sie sich um. Wir sind im hinteren Untersuchungsraum.“

Dies verlief nicht ganz so, wie Erianthe sich ihren ersten Tag hier vorgestellt hatte. Eigentlich hatte sie lediglich vorgehabt, ihren Bruder zu begrüßen. Da sie sein Liebesnest mit Cailey nicht stören wollte, hatte sie die Absicht, sich eine andere Unterkunft zu suchen. Und um Ares wollte sie ohnehin einen großen Bogen machen.

Und jetzt sollte sie ausgerechnet mit ihm zusammen operieren.

„Macht ihr ein CT mit ihr?“, fragte sie rasch, bevor Cailey verschwand.

Cailey blieb stehen. „Im Augenblick haben wir leider kein funktionierendes Gerät. Unser Computertomograf ist seit dem Erdbeben kaputt. Ich dachte, du willst wahrscheinlich ein großes Blutbild wegen der Entzündungswerte?“

Petra ging mit Jacinda schon voraus.

Ein CT war nicht absolut notwendig, außerdem zu riskant für das Ungeborene. Früher hatten Ärzte eine Blinddarmentzündung auch ohne bildgebende Verfahren korrekt diagnostiziert. Es wäre eine Absicherung, aber heute mussten sie eben ohne auskommen.

„Ja, ein Blutbild auf jeden Fall“, bestätigte Erianthe.

Die Insel mit einem Rettungshubschrauber anzufliegen war noch immer schwierig, und bei einer Blinddarmentzündung drängte die Zeit. Sie musste sich mit Ares besprechen und dann weitersehen.

Ares.

Sein Name war mit so viel Zorn und Herzenskummer verbunden, dass allein der Gedanke ihr schon einen bitteren Geschmack im Mund verursachte.

Ihn beim Nachnamen zu nennen, Dr. Xenakis, erschien leichter für ihre angespannten Nerven.

Der Vorrat an Klinik-Kleidung im Schrank musste dringend aufgefüllt werden. Erianthe nahm sich vor nachzusehen, ob welche bestellt worden waren. Sie fand eine Hose, die ihr halbwegs passte, und dazu ein viel zu großes Oberteil. Dann holte sie bessere Schuhe, ein Haarband sowie ein Stethoskop aus ihrem Koffer. Die Kleidung war ohnehin nicht dazu gemacht, der Figur zu schmeicheln, und sie wollte ja auch keinen Modepreis gewinnen.

Sie war froh, Ares auf einer professionellen Ebene zu begegnen. Indem sie sich ausschließlich auf ihre Patientin konzentrierte, konnte sie ihre persönlichen Gefühle erst einmal beiseiteschieben.

Erianthe hatte sowohl mit ihren Ex-Freunden als auch mit irgendwelchen Idioten professionell zusammengearbeitet und sich niemals aus der Fassung bringen lassen. Und Ares war eben nur ein Kollege, nichts weiter.

Sie verließ das Büro, nahm sich auf dem Weg noch schnell den Kaffee und ihren Snack und hatte beides schon halb verspeist, als sie den Untersuchungsraum erreichte. Doch bevor sie eintreten konnte, tauchte Theo neben ihr auf, begrüßte und umarmte sie. Erianthe musste ihre Arme ausbreiten, um ihren Kaffee nicht zu verschütten.

Theo war genauso liebevoll zu ihr wie immer, und sie hatte einen dicken Kloß im Hals. Nichts hätte sie lieber getan, als bei einem Menschen Zuflucht zu suchen, der immer hinter ihr stand. Falls sie sich dies je gestatten würde.

Es ärgerte sie, dass all die alten Gefühle wieder in ihr aufstiegen, seitdem sie von der Fähre heruntergekommen war.

Rasch gab sie Theo einen Kuss auf die Wange, ehe sie zurückwich. „Vorsicht, sonst kippe ich dir den Kaffee über den Rücken.“

Er lachte. „Schön, dich zu sehen. Wir reden dann nachher, ja? Bist du fit genug, um zu behandeln? Kann ich dir irgendwie helfen?“

Erianthe lächelte und sagte dann: „Ich bin ja nicht hierhergelaufen und habe auch nicht gerade viele Zeitzonen überquert. Mir geht’s gut. Ich warte nur noch auf die Ergebnisse der Blutprobe, um meine Diagnose zu bestätigen. Falls sie operiert werden muss, werde ich assistieren.“

Theo warf ihr einen kurzen Blick zu, ehe er nickte. „Wie du meinst. Du bist die einzige Gynäkologin hier und wirst also automatisch viele Patientinnen bekommen. Wir haben gut zu tun und suchen immer noch mehr Leute. Aber du brauchst auf jeden Fall noch eine Hebamme und weiteres Pflegepersonal. Das besprechen wir alles später.“

Die Arbeit hatte Erianthe seit ihrem Klosteraufenthalt immer gerettet. Der Schock, so plötzlich von allem, was sie kannte, weggerissen zu werden, hatte ihre rebellische Ader als Teenager erstickt. Doch letztendlich hatte der Wunsch, für ihr Kind zu sorgen, die entscheidende Änderung in ihrem Leben herbeigeführt. Und danach war das Studium das Einzige gewesen, woran sie sich noch hatte festhalten können. Sie hatte eine ruhige Hand, eine ruhige Stimme und schließlich auch ruhige Gedanken entwickelt.

Aber das Wiedersehen mit Ares würde wehtun, das wusste sie.

Entschlossen klopfte sie und betrat den Raum. Cailey, die Jacinda Blut abgenommen hatte, klebte gerade ein Pflaster in deren Armbeuge.

Der Ehemann stand mit Tränen in den Augen daneben.

Jacinda, die mittlerweile ein Krankenhemd trug, lag auf der linken Seite zusammengerollt. Sie war sehr jung, vermutlich Anfang zwanzig. Als sie sich bewegte, verzog sie vor Schmerzen das Gesicht, ohne jedoch einen Laut von sich zu geben.

Fünf Minuten später hatte Erianthe sich davon überzeugt, dass es keine Anzeichen für verfrühte Wehen gab. Sie war gerade dabei, behutsam die rechte Unterleibsseite ihrer Patientin abzutasten, als Ares hereinkam.

Er sagte nichts, und sie schaute nicht auf. Doch sie spürte seine Anwesenheit. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass er größer wirkte als früher.

„Ich bin Dr. Xenakis“, stellte er sich vor.

Seine Stimme klang auch anders. Tiefer und voller. Aber seine Art zu sprechen hätte Erianthe überall wiedererkannt. Er verlieh seinen Worten einen besonderen, unverwechselbaren Klang.

Erst jetzt riskierte sie es, ihn anzusehen.

„Dr. Nikolaides hat gesagt, wir haben eine …“ Abrupt brach er ab, als sein Blick auf sie fiel.

Er sieht anders aus, stellte sie fest. Behaart. Früher hatte er immer auf eine tadellose Erscheinung geachtet, sich alle drei Wochen die Haare schneiden lassen, um seine Locken zu zähmen. Jetzt trug er das Haar lang und hatte es zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Aber vor allem der Bart veränderte sein Aussehen. Noch nie hatte Erianthe einen Arzt, geschweige denn einen Chirurgen, mit so viel Gesichtsbehaarung getroffen.

Er hatte dieselbe Ausstrahlung wie damals, und seine grünen Augen, die sie an die ersten Frühlingsblätter erinnerte, waren auch dieselben. Ansonsten jedoch stimmte nichts aus ihrer Erinnerung mit diesem Mann in OP-Kleidung überein, den sie vor sich sah.

Trotzdem merkte sie, wie sie auf einmal von Kopf bis Fuß zitterte.

Stumm starrte Ares sie an.

„Blinddarmentzündung“, erklärte Erianthe gepresst. Dann nahm sie Jacindas Hand und wandte sich wieder ihrer Patientin zu.

Er ist nur ein Arzt, ein Kollege. Tu so, als würdest du mit Dr. Stevenson reden. Diesem genialen Mistkerl aus dem letzten Krankenhaus.

Was würde sie zu Stevenson sagen?

Sie wäre klar und bestimmt. „Es dauert noch zehn Minuten, bis das Blutbild da ist, aber es ist nur eine Formalität. Wir sollten den OP vorbereiten.“

Ein schneller Seitenblick zeigte ihr, dass Ares sich noch nicht wieder gefangen hatte.

„Dr. Nikolaides?“ Jacinda wirkte alarmiert. „Ihre Hand zittert.“

Verdammt. „Ich brauche nur einen Kaffee.“

„Also nicht deshalb, weil Sie sich Sorgen um das Baby machen?“

„Nein. Ihre Schwangerschaft ist schon weit genug fortgeschritten, und die Narkose stellt für Sie und das Baby keine Gefahr dar. Wir werden uns gut um Sie beide kümmern. Machen Sie sich keine Gedanken.“ Erianthe griff nach ihrem Kaffeebecher und trank einen großen Schluck daraus. Dabei zwang sie sich dazu, ihre Hand absolut ruhig zu halten.

Schließlich bewegte auch Ares sich und ging um den Ablagetisch herum, der neben Erianthe stand. Unwillkürlich trat sie weiter zurück, um möglichst viel Abstand zu ihm zu wahren.

„Wo genau ist der Schmerz?“, fragte er Jacinda. Danach stellte er noch weitere Fragen, die er für seine Einschätzung benötigte.

Schweigend schaute Erianthe bei der Untersuchung zu. Im Grunde waren Dr. Xenakis und sie jetzt praktisch Fremde.

„Der Schmerz sitzt zu weit oben“, stellte er leise fest. „Das ist keine Blinddarmentzündung.“

Doch er irrte sich.

„Im dritten Trimester wird der Blinddarm von dem größer werdenden Baby aus der Beckenhöhle nach oben verdrängt.“ Erianthe war selbst erstaunt, wie fest und sicher ihre Stimme klang.

Sowohl Jacinda als auch ihr Ehemann wandten sich Ares zu, und weil er schwieg, sah Erianthe ebenfalls zu ihm hin. Sie ignorierte das seltsame Gefühl in ihrer Magengegend, als sie in seine schönen Augen blickte.

Sein zusammengepresster Mund ließ darauf schließen, dass das Wiedersehen für ihn auch nicht einfach war.

„Ich versichere Ihnen, dass ich solche Fälle schon mehrmals gesehen habe, Dr. Xenakis“, fügte Erianthe hinzu.

Autor

Amalie Berlin
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