Nur ein Blick in deine Augen …

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Beim Blick in Dr. Nikolaides’ meergrüne Augen schmilzt Cailey ungewollt dahin. Doch sie ist für einen Hilfseinsatz nach Mythelios zurückgekehrt, nicht, damit der reiche Arzt ihr erneut das Herz bricht. Denn sie weiß: Als Tochter der Haushälterin wird sie nie gut genug für ihn sein!


  • Erscheinungstag 25.06.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733717735
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Theo sah den Materialwagen an der Untersuchungsliege vorbeirollen. Das Ächzen und Quietschen von Beton gegen Stahl ließ bei ihm alle Alarmglocken schrillen.

Als er nicht imstande war, die feine Nadel, nach der er greifen wollte, zu fassen zu bekommen, wusste er, was los war.

„Hoch mit dir!“ Er zog den kleinen Jungen, den er gerade behandelte, von der Liege an seine Brust. Dabei achtete er darauf, das frisch genähte Knie des Jungen nicht anzustoßen. „Du auch.“ Er winkte die Mutter des Kleinen heran, damit sie sich unter den Türrahmen stellte. Theo war froh über den modernen, verstärkten Stahlbetonrahmen, den sie für die Klinik gewählt hatten.

Die Frau war wie gelähmt vor Angst. Theo musste sie an sich ziehen, da dies der sicherste Ort im Gebäude war. Erdbeben kamen auf den griechischen Inseln eigentlich eher selten vor, doch diese Inselgruppe hatte in den vergangenen Jahren leider schon mehrere Erdbeben erlebt.

„Ich weiß, wie erschreckend das ist, aber du musst hierbleiben!“ Er hielt die junge Frau fest, die er noch von der Schule her kannte. „Alida, bitte.“

Er verstärkte seinen Griff, wobei er gegen einen Hustenreiz ankämpfte. Kalkhaltige Gipswolken traten durch das Schwanken der Wände aus der Trockenmauer.

„Die Klinik ist der sicherste Ort auf der Insel.“ Seine Stimme klang schroffer als beabsichtigt. Bisher hatte die Klinik noch nie einem echten Erdbeben standhalten müssen. Doch während die Sekunden zu Minuten wurden, wusste Theo, dass der Deal, den er mit seinem Vater gemacht hatte, richtig gewesen war. Stolz gegen Geld.

„Was ist los?“

Er hielt Mutter und Sohn fest in seinen Armen. Der Kleine klammerte sich an Theos Schultern und jammerte leise.

Alida wollte ihren Sohn nehmen und weglaufen. Vermutlich ein ganz natürlicher Instinkt, um das Leben des eigenen Kindes zu schützen.

Theos Lippen wurden schmal. Eine solche Kindheit hatte er nie gekannt.

Er hörte die Wellen hinter der Klinik hoch gegen die Felsen schlagen. Der befestigte Landungssteg musste längst nicht mehr zu sehen sein. Die normale, ruhige Betriebsamkeit in der Klinik war einem Durcheinander an Rufen, strikten Anweisungen, klingelnden Telefonen und Alarmsirenen gewichen.

Im Stillen dankte Theo dem Himmel für das Notfalltraining, das alle Mitarbeiter hatten absolvieren müssen. Er und die anderen – seine Brüder, wie er sie nannte –, wollten, dass niemand unnötige Schmerzen litt oder Angst hatte, wenn sie in die gemeinnützige Klinik von Mythelios kamen. Seine besten Freunde. Die, die für ihn einer Familie am nächsten kamen, nachdem sich seine eigene als eine bloße Illusion herausgestellt hatte.

Theo musste sie so schnell wie möglich anrufen. Diesmal wurde jeder von ihnen hier gebraucht. Falls er sie überhaupt erreichen konnte.

Ares war meistens im schlimmsten Drecksloch der Welt, wo er sein Bestes gab, um die Notleidenden dort medizinisch zu versorgen. Als Brandwundenspezialist war Deakin weltweit gefragt. Wer wusste schon, wo er sich gerade aufhielt. Und Chris, den Neurochirurgen, konnte man normalerweise in New York ausfindig machen. Falls er sich denn finden lassen wollte, was oft genug nicht der Fall war.

Für den verrückten Kalender mit Fotos einheimischer Männer, der dazu dienen sollte, Spenden zu sammeln, hatte er jedoch gerne posiert. Hoppla! Theo sah, wie genau jener Kalender durch den Raum flog und hinter dem Anmeldetresen zu Boden glitt. In diesem Monat war er selbst darauf abgebildet. Also kein großer Verlust.

Wieder versuchte Alida, ihm ihren Sohn zu entreißen und zu flüchten. „Das dauert schon viel zu lange!“

„Es ist gleich vorbei“, antwortete er beruhigend. Als ob er das so genau wüsste. Auf der Insel hatte es zwar schon einige kleinere Erschütterungen gegeben, aber noch nie so etwas wie das hier.

Obwohl Alida sich verzweifelt gegen ihn sträubte, ließ Theo sie nicht los. Hier ging es um die Patienten in seiner Klinik. Von dem Moment an, wenn sie durch den von Bougainvillea überwachsenen Eingang kamen, trug er die Verantwortung für sie. Auch wenn es endlos erschien, waren bisher vermutlich nur ein bis zwei Minuten vergangen. Doch jeder Moment davon hatte die Insel bis ins Mark getroffen.

Eine Frau schrie vor Schmerzen auf.

„Stellt euch in die Türrahmen!“, rief Theo, der mit seinen großen Händen Alidas Kopf und den ihres Sohnes abzuschirmen versuchte. Dass er die Situation nicht kontrollieren konnte, machte ihm schwer zu schaffen. Am liebsten hätte er seinen Frust laut herausgebrüllt.

„Ist es vorbei?“ Alidas Stimme war in dem allgemeinen Stimmenchaos kaum zu hören.

Theo schüttelte den Kopf. Wann würden die Nachbeben beginnen? Sofort? Am nächsten Tag? Das war die Grausamkeit der Natur. Man wusste es einfach nicht.

Genauso wenig konnte man wissen, ob die Eltern, die einen in die Welt gesetzt hatten, sich so beschützend verhalten würden wie Alida, oder einen im Stich ließen, so, wie seine es getan hatten.

Energisch verbannte er diese Gedanken. Die Leute hier im Krankenhaus brauchten ihn jetzt.

Laut rief Theo seine Anweisungen. Obwohl es sich um eine kleine Klinik handelte, waren bestimmt fünfzig Personen anwesend. Ärzte, Pflegepersonal, ambulante Patienten und einige ältere stationäre Patienten.

Wieder ertönte das Krachen der hohen Wellen und das Geheul der Erde, die gegen die von Menschen gemachten Gebäude kämpfte.

Bitte verschone die Klinik.

Er verstärkte seinen Griff um Mutter und Kind. Er fragte sich flüchtig, wie es wohl wäre, in einem solchen Moment seine eigene Frau und sein Kind in den Armen zu halten.

Ein weiteres Beben ließ den Boden unter ihnen schwanken und verscheuchte alle derartigen Gedanken. Jetzt ging es nur noch um das nackte Überleben.

Theós. Bitte verschone uns.

2. KAPITEL

Falten, falten und feststecken.

Genau so, wie ihre Mutter es ihr gezeigt hatte.

Perfekt.

Zufrieden mit ihrem Werk, lächelte Cailey, drückte einen Kuss auf ihren Zeigefinger und tippte ihn auf das Näschen des Babys. Sie stellte sich vor, wie ihre Mutter sie umarmte, um ihr zu gratulieren, ehe sie einen großen Teller Souvláki hervorholte, um mit ihr zusammen zu essen. Oder Bougatsa oder was sie sonst in ihrer winzigen Küche gerade Leckeres gezaubert hatte.

Mit dem Finger strich sie dem Säugling zart über das Gesichtchen. „Schau dich nur an, meine Kleine. So perfekt. Du hast noch dein ganzes Leben vor dir, auf das du dich freuen kannst. Und keine bösen griechischen Jungs, die dir das Herz brechen. Das ist meine Lektion für dich. Keine Griechen.“

„Versuchst du wieder, den Babys eine Gehirnwäsche zu verpassen?“

Cailey schaute auf, überrascht, weil sie nicht einmal gemerkt hatte, dass ihre Kollegin Emily in das Säuglingszimmer gekommen war. Je mehr Zeit sie mit den Kleinen verbrachte, desto mehr schien sie sich offenbar im Wolkenkuckucksheim zu verlieren!

„Ja.“ Sie lachte, ehe sie sich wieder dem Baby zuwandte und ihm mit ernsthafter Miene riet: „Keine Griechen. Und keine Ärzte.“

„Hey!“ Spielerisch knuffte Emily sie in die Rippen. „Ich habe gerade angefangen, einen Arzt zu daten, und ich gebe zu, dass es einen sehr angenehmen gesellschaftlichen Aufstieg bedeutet.“

„Was ist denn bitte falsch daran, Krankenschwester zu sein?“

„Gar nichts.“ Mit zusammengezogenen Augenbrauen und einem scharfsinnigen Blick sah Emily sie an. „Mir scheint, da ist wohl jemandem von einem griechischen Arzt das Herz gebrochen worden.“

„Pffft.“

Emily lachte. „Alles klar.“ Sie ging zu einem der Bettchen und hob einen quengelnden Säugling heraus. „Na, komm schon. Raus damit. Wer war der große, böse griechische Arzt, der unserer hübschen Cailey das Herz gebrochen hat?“

„Niemand.“

„Lügnerin“, gab Emily lachend zurück.

Cailey zuckte nur die Achseln. Vielleicht war sie eine Lügnerin, aber dass sie ihre Heimatstadt, ihre Insel und ihr altmodisches Land verlassen hatte, um nach London zu gehen, hatte nur einen einzigen Grund gehabt. Nämlich, um einen ganz bestimmten Adonis mit kastanienbraunen Haaren und sehr grünen Augen zu vergessen.

Sie hob das frisch gewickelte Baby hoch, das in eine weiche, rosa gestreifte Decke gehüllt war, und drückte ihre Nase an sein Bäuchlein. Mmm, frischer Babyduft.

Cailey liebte ihren Beruf als Säuglingsschwester. Aber anstatt ihren Wunsch nach einem eigenen Kind zu mildern, schien dieser dadurch nur noch stärker zu werden.

Mit siebenundzwanzig war sie noch nicht zu alt, und Theo war auch nicht der einzige Mann auf der Welt. Jedenfalls ganz sicher nicht der Richtige für sie.

„Cailey?“ Heidi, die Stationsschwester, kam herein. „Entschuldige, wenn ich störe, aber ich dachte, du würdest das hier gerne sehen.“ Sie zeigte in Richtung Flur.

Cailey gab der kleinen Beatrice noch ein Küsschen, ehe sie sie in ihr Bettchen zurücklegte und Heidi in den Aufenthaltsraum folgte. Der Fernseher, der dort in einer Ecke stand, war eingeschaltet.

Ein Nachrichtenkanal. Der Lauftext am unteren Bildrand zeigte viele Zahlen. Todesfälle? Cailey blickte auf den Bildschirm. Da waren Gebäude, die sie kannte. Aber anders als sonst.

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Emily ebenfalls hereinkam und nach der Fernbedienung griff, um den Ton lauter zu stellen. Zuerst konnte Cailey die Worte auf Englisch und die Bilder aus Griechenland nicht zusammenbringen.

„Ist das nicht deine Insel?“, fragte Emily. „Mythelios?“

Cailey nickte langsam, während sie allmählich begriff, was passiert war.

Ein Erdbeben. Tote. Rettungsaktionen.

Ihr Herzschlag setzte einen Moment lang aus. Von den Bildern der Zerstörung wurde umgeschaltet zu einem Live-Interview, das im abendlichen Licht vor der Klinik geführt wurde.

Natürlich war er es. Wer sonst?

Dort in Großaufnahme und noch atemberaubender, als sie ihn in Erinnerung hatte, stand Dr. Theo Nikolaides, der alle medizinisch ausgebildeten Fachkräfte darum bat, in dieser Zeit der Not nach Griechenland zu kommen und zu helfen.

Cailey bemühte sich, seine Bitte nicht als arroganten Aufruf an die kleinen Leute aufzufassen, die kommen und die Drecksarbeit machen sollten, während er den Ruhm dafür einheimste. Nein, dies war eine Notsituation, und alle Hände wurden gebraucht. Egal, ob reich oder arm.

Sie blickte auf ihre eigenen Hände, ihre Finger, die das Arbeiten gewohnt waren.

„Cailey?“ Heidi berührte sie am Arm. „Alles in Ordnung mit dir?“

Nach und nach wurde Cailey bewusst, was diese Nachricht bedeutete. Menschen waren verletzt. Vielleicht sogar ihre Mutter. Oder ihre Brüder.

Sie musste dorthin.

Gleichgültig, wie sehr sie Theo verabscheute, wie sehr seine Worte tiefe Wunden in ihrer Seele hinterlassen hatten – sie musste nach Hause.

„Mir geht es gut, aber meiner Insel nicht. Ich fürchte, ich brauche jetzt einige Zeit Urlaub.“

3. KAPITEL

Am liebsten wäre Cailey von der Fähre gesprungen und an Land geschwommen. Wegen der Erdbebenschäden an der Landebahn waren alle Flüge nach Mythelios gestrichen worden.

In der Kabine suchte sie Schutz vor dem Wind, nahm das Handy aus ihrer Tasche und wählte eine vertraute Nummer.

„Mama?“

Es knisterte und rauschte, und sie musste sich anstrengen, damit sie bei dem lauten Maschinengeräusch der Fähre überhaupt irgendetwas hörte.

„… Theo gesehen?“, fragte ihre Mutter.

Theo? Wieso fragte ihre Mutter ausgerechnet nach ihm? Cailey war auf die Insel zurückgekommen, um zu helfen, und nicht, um Fragen nach dem Schwarm aus ihrer Teenagerzeit zu beantworten. Es war mittlerweile zehn Jahre her, und doch musste sie sich von anderen Leuten immer noch fragen lassen, ob ihr Herz inzwischen geheilt wäre.

„Mama, wenn bei dir alles in Ordnung ist …“ Sie sprach betont langsam, „… dann gehe ich sofort zur Klinik.“

„Geh … Klinik … Theo … Brüder … kommen klar …“

Cailey starrte auf ihr Handy. Vor ihrem Abflug gestern Abend hatte sie kurz mit ihrer Mutter gesprochen. Daher wusste sie, dass von ihren Brüdern niemand verletzt war und sie sich an den Rettungsarbeiten beteiligten. Ihre Mutter hatte bereits eine Gruppe von Frauen organisiert, die in der Taverna für das leibliche Wohl der Rettungskräfte und der Überlebenden sorgten.

Wie sie immer wieder sagte, gehörte es zu den Aufgaben einer griechischen Mutter, in Krisenzeiten Essen zu kochen.

„Bis bald, Mama! Hab dich lieb“, rief Cailey ins Telefon, ehe sie auflegte.

Danach ging sie zurück an Deck und spähte zur Insel hinüber. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte sie, die Einzelheiten des kleinen Hafens zu erkennen. Nach den vielen Blinklichtern zu urteilen, sah er eher aus wie eine Baustelle. Düster steckte sie das Handy wieder ein und setzte ihren Rucksack auf.

Die Nachrichten am Flughafen in Athen hatten sehr anschauliche Bilder gezeigt. Das Leben mancher Menschen würde nie mehr so sein wie vorher. Zwei Touristen waren bereits für tot erklärt worden, und es gab zahlreiche Verletzte.

Sobald das Schiff angelegt hatte, zog Cailey die Riemen an ihrem Rucksack fest und rannte los. Damals hatte sie diesen Rucksack wütend mit all den Sachen vollgestopft, von denen sie gehofft hatte, dass sie für das Klima in England geeignet waren.

Einige Gebäude wirkten beinahe unberührt, während andere nur noch ein Schutthaufen waren. Fieberhaft arbeiteten die staubbedeckten Einwohner von Mythelios daran, aus den Überresten ihrer Häuser zu retten, was noch zu retten war. Fensterrahmen, Betonblöcke. Mauersteine.

„Cailey!“

Sie blieb stehen und drehte sich um. Eine nur allzu vertraute Stimme. Kyros! Noch ehe sie den Namen ihres großen Bruders aussprechen konnte, wurde sie bereits gepackt und durch die Luft gewirbelt.

„Cailey mou! Mein kleiner Seestern! Wie geht es dir?“

Trotz der ernsten Lage lachte Cailey. Nie hätte sie gedacht, dass es sich so gut anfühlen würde, den Kosenamen aus ihrer Kindheit zu hören. Oder einfach nur den Geruch der Insel wahrzunehmen, die staubige Brust ihres Bruders und wunderbarerweise sogar auch den Duft nach frisch gebackenem Brot.

Beide blickten über die Straße. Das Einzige, was von der Bäckerei übrig geblieben war, waren die riesigen, uralten, gemauerten Öfen. Unbeirrt davon, dass er jetzt im Freien arbeitete, stand dort der beste Bäcker von Mythelios und holte gerade seine Brotlaibe heraus. Als wäre es das Normalste der Welt, mitten im Schutt seinem Beruf nachzugehen.

Lächelnd sagte Kyros: „Ich freu mich so, dass ich dich getroffen habe. Wir wollen gleich in die Berge rauf, um zu sehen, was wir dort tun können, um den Leuten in den weiter abgelegenen Häusern zu helfen.“ Er drückte sie fest an sich. „Wie geht es der erfolgreichen Karrierefrau in unserer Familie? Wissen die in deinem Londoner Krankenhaus eigentlich, was für ein Glück sie mit dir haben? Und hast du Theo schon gesehen?“

Kyros hielt sie auf Armeslänge von sich ab, um sie prüfend zu betrachten. Cailey bemühte sich, ihr Lächeln nicht zu verlieren. Wieso fragte ihre Familie sie ständig nach Theo? Was sollte das?

Kyros zog die Augenbrauen zusammen. „Du siehst aus, als würdest du da drüben nicht genug zu essen kriegen.“

„Mir geht es gut!“, wehrte sie rasch ab. Sie hatte mehr als genug auf den Rippen und keine Chance, ihre Rundungen im Zaum zu halten. Und wenn sie noch so oft nur wie ein Spatz aß. „In deinem Anzug muss es kochend heiß sein.“

„Du meinst, in dem da?“ Er drehte sich im Kreis. „Steht mir gut, oder?“

„Noch immer ein Angeber, wie ich sehe.“

„Absolut!“, gab Kyros mit einem scherzhaften Augenzwinkern zurück, ehe er rasch ernst wurde. „Aber jetzt sollte ich zeigen, wie gut ich als Rettungshelfer bin. Es werden noch immer mehrere Dutzend Leute vermisst. Hauptsächlich Touristen.“

„Ist es so schlimm, wie in den Nachrichten berichtet wird?“

Er nickte. „Noch schlimmer. Je mehr wir graben, desto mehr Todesopfer finden wir. Und es gibt viele Verletzte.“ Mit einem Nicken wies er die Straße entlang. „Die Klinik platzte aus allen Nähten, als ich das letzte Mal da war. Hast du schon mit Theo gesprochen?“

Cailey ignorierte die Frage. „Wie geht es Leon? Ich wollte Mama fragen, aber die Verbindung war zu schlecht.“

Sie brach ab, da ein sehr großer, sehr luxuriöser Geländewagen direkt neben ihnen anhielt. Das hintere Fenster wurde heruntergelassen, dann sah sie einen Mann mit silbergrauem Haar und eiskalten blauen Augen.

Du liebe Güte. Theos Vater war in den vergangenen Jahren erheblich gealtert. Einer der mächtigsten Männer der Insel war nicht imstande gewesen, die Zeit aufzuhalten.

Vermutlich das Einzige, was Dimitri Nikolaides nicht kann, dachte Cailey voller Bitterkeit.

„Ah, Miss Tomaras. Wie … interessant, Sie wieder hier zu sehen.“

Eissplitter schienen sie zu durchbohren, während sie sich an den Tag erinnerte, als er ihr mehr als deutlich zu verstehen gegeben hatte, was er und der Rest seiner Familie von ihr hielten.

Nichts als ein einfaches Hausmädchen. Mehr wird aus dir niemals werden.

Kyros lehnte sich über ihre Schulter. „Cailey ist gekommen, um hier zu helfen, Mr. Nikolaides. Sie ist jetzt eine erstklassige Krankenschwester.“

„Ach ja?“ Ein gönnerhaftes Lächeln erschien auf der Miene des alten Mannes. „Sie wollen zur Klinik?“

„Um dort auszuhelfen, ja.“

Obwohl er sich benahm, als würde ihm die Insel gehören, war dies natürlich nicht der Fall. Doch trotz ihres beruflichen Erfolgs gab es einen Teil von Cailey, der noch immer fürchtete, nicht gut genug, nicht intelligent genug, nicht begabt genug zu sein, um nach Hause zu kommen und irgendetwas anderes zu tun, als nur das Schicksal zu erfüllen, das Dimitri Nikolaides ihr vorhergesagt hatte.

„Bestimmt können Sie sich in irgendeiner Ecke nützlich machen. Es gibt ja jede Menge Schürfwunden und Kratzer, die behandelt werden müssen.“ Abschätzend maß Mr. Nikolaides sie mit Blicken, als würde er ein Rennpferd beurteilen.

Na ja, wohl eher ein Arbeitspferd. So betrachtete er ihre Familie, und das würde sich auch niemals ändern. Caileys Rücken versteifte sich, während sie sich mühsam zu einem Lächeln zwang.

„Entbindungsstation, nicht wahr?“

„Wie bitte?“

„Ich habe gehört, dass Sie anderen Frauen mit ihren Kindern helfen. Wie nett.“

Von den Frauen auf Mythelios wurde nichts anderes erwartet. Kochen, sauber machen, unterwürfig sein. Manchmal fragte Cailey sich, ob auf der Insel noch niemand gemerkt hatte, dass inzwischen das einundzwanzigste Jahrhundert angebrochen war. Eine Zeit, in der es Frauen gestattet war, intelligent zu sein, eine eigene Meinung zu haben und zu lieben, wen immer sie wollten.

Sie betrachtete die tiefen Linien und Falten im Gesicht des alten Mannes. Was hatte ihn so boshaft und gemein gemacht?

Nachdem er sie endlich von der Insel vertrieben hatte, hätte er doch eigentlich alles gehabt, was er wollte. Einen Sohn, den er mit den schönsten Erbinnen der Welt verheiraten konnte, die Tochter an einer medizinischen Elite-Universität. Zweifellos wusste er auch genau, wen diese heiraten würde. Die Tochter seiner Haushälterin war ja nun glücklicherweise von der Bildfläche verschwunden, sodass sie weder den Freundeskreis seiner Tochter besudeln noch die romantische Zukunft seines Sohnes gefährden konnte.

Cailey lächelte höflich. „Meine Familie engagiert sich überall dort, wo Hilfe nötig ist. Leons Polizeitruppe ist gerade unterwegs, um Menschenleben zu retten.“

„Sie dagegen wirken nicht allzu beschäftigt“, bemerkte Mr. Nikolaides, bevor er sich an Kyros wandte. „Und Ihre Mutter? Tut sie irgendwas, oder genießt sie nur ihr Rentnerdasein?“

Empört schnappte Cailey nach Luft. Ihre Mutter hatte sich ihr Gehalt auf dem Nikolaides-Anwesen redlich verdient, ebenso wie ihre Rente. Wieso sagte Kyros nichts dazu? Und warum schien es auch ihr die Sprache verschlagen zu haben?

In London hätte Cailey nie zugelassen, dass jemand so mit ihr sprach. Nicht nach all den Jahren, die sie darauf hingearbeitet hatte, Krankenschwester zu werden. Und ganz sicher nicht, nachdem sie so viele Jahre woanders gelebt hatte, um den Sohn eines Milliardärs zu schützen. Theo, an dessen Arm sie schon so viele reiche europäische Erbinnen in den Klatschzeitschriften gesehen hatte. Im Krankenhaus-Shop blätterte sie diese Magazine regelmäßig durch.

„Oh ja, Sie kennen uns, Mr. Nikolaides“, stieß sie schließlich gereizt hervor. „Wir von der Tomaras-Familie lieben es, den Dreck anderer Leute wegzuputzen.“

Mr. Nikolaides blinzelte verblüfft, dann lächelte er. „Ja, wir vermissen in der Tat die geschickte Hand Ihrer Mutter in unserem Haus. Ich hoffe, es geht ihr gut?“

„Könnte nicht besser sein“, entgegnete Cailey schroff.

„Mama geht es sehr gut, danke der Nachfrage, Mr. Nikolaides.“ Kyros verstärkte seinen Griff um Caileys Arm. „Aber jetzt müssen wir los. Gut zu sehen, dass Ihnen bei dem Erdbeben nichts zugestoßen ist.“

Damit führte er seine Schwester energisch weg von dem Geländewagen mit den verdunkelten Fensterscheiben. Dieser fuhr nun weiter durch die Trümmer, die überall auf der Hafenstraße verstreut lagen, als hätte einer der alten Götter aus einer Laune heraus Felsbrocken vom Himmel geschleudert.

„Was sollte das denn?“, sagte Kyros finster.

„Ach, nichts.“

Er konnte ja nicht wissen, dass Dimitri ihr damals fast eigenhändig die Koffer gepackt hatte. Er hatte Cailey aufgefordert, das Haus der Nikolaides nie wieder zu betreten – weder als Freundin seiner Tochter Erianthe noch als Haushaltshilfe für ihre Mutter. Und schon gar nicht sollte sie auch nur das Geringste mit Theo zu tun haben, seinem ach so kostbaren Sohn, der angeblich dazu neigte, eine übertriebene Gefühlsduselei für Bedürftige zu entwickeln.

Cailey umarmte ihren Bruder und sagte: „Ich bin bloß müde nach dem Nachtflug. Sobald ich mit der Arbeit anfange, ist alles wieder okay. Und es ist ein komisches Gefühl, die Insel so zu sehen.“

„Ich weiß.“

Sie spürte, wie seine tiefe Stimme in seiner Brust brummte und drückte ihn noch fester an sich. Wenn sie Kyros losließ, musste sie sich dem anderen Dämon von Mythelios stellen. Volle Punktzahl an Dimitri, dass er ihr gerade noch zuvorgekommen war.

Er sah alt aus. Die verbrauchte Art von Alter, die eher von emotionaler als von körperlicher Anstrengung herrührte. Bedeutete das, dass er doch menschlich war, irgendwo da drinnen?

Abgesehen davon hatte er ja nur das ausgesprochen, was Theo und seine Kumpel sowieso dachten. Und wahrscheinlich auch Erianthe, die nicht einmal den Mumm besessen hatte, sich vor der Abreise zu ihrem exklusiven Internat von Cailey zu verabschieden.

Ach, Schluss damit, die Schuld nur bei den anderen zu suchen, schimpfte Cailey mit sich. Schließlich hatte sie jedes Wort von Dimitri Nikolaides geglaubt, weil trotz allem ein Körnchen Wahrheit darin steckte. Sie war tatsächlich nicht so gescheit wie andere. Sie musste doppelt so hart arbeiten, um Dinge zu begreifen. Als sie endlich herausfand, dass sie Legasthenikerin war, hatte ihr das geholfen. Zumindest ein bisschen. Aber dennoch waren die medizinischen Fachbegriffe für sie nicht einfacher zu lernen gewesen. Nein, sie musste den Tatsachen ins Gesicht sehen. Sie entsprach nicht dem hohen Maßstab der Nikolaides. Daran hätte auch ein noch so intensiver Teenager-Flirt nichts geändert.

Eine Sirene ertönte und Rufe wurden laut, als ein Feuerwehrwagen neben ihnen anhielt.

Noch einmal drückte Cailey ihren Bruder an sich. „Fahr da raus und rette ein paar Menschenleben!“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab Kyros einen Kuss auf beide roten Wangen.

„Das gilt auch für dich, Cailey.“ Er wuschelte ihr durch die ohnehin schon unordentliche Frisur – falls man das Bändigen ihrer wilden Locken mit einem Gummihaarband überhaupt eine Frisur nennen konnte. „Willkommen zu Hause.“

Lächelnd schaute sie ihn an, wobei sie hoffte, dass er ihr nicht anmerkte, wie sehr die Begegnung mit Dimitri Nikolaides sie aufgewühlt hatte. „Es ist schön, wieder hier zu sein.“

„Reicht das?“ Theo wollte so schnell wie möglich wieder zurück an die Arbeit. Ja, die Medien konnten helfen. Nein, er hatte keinen Moment Zeit.

Wie sein Gesichtsausdruck zeigte, hatte der Reporter begriffen, dass die Frage lediglich rhetorisch gemeint war.

Theo löste das Mikrofon von seinem Hemd und ging davon. Die Bitten der übrigen Reporter ignorierte er. Sie sollten lieber die Rettungskräfte bei ihrer schweren Arbeit filmen, während er überlegte, wie er seinen Patienten helfen und auch gleichzeitig dringend benötigte Hubschrauber anfordern konnte, um die schwersten Fälle nach Athen zu fliegen.

Natürlich könnte er seinen Vater anrufen, aber ein solcher Anruf hatte immer seinen Preis.

„Dr. Nikolaides?“

„Tut mir leid, ich habe keine Zeit für weitere Interviews.“

„Nein, ich gehöre nicht zur Presse. Ich bin Ärztin. Lea Risi.“

Er hielt inne und wandte sich um. Die Frau trug Urlaubskleidung, eine Baumwollhose und ein geblümtes Top. Ihr Akzent war nicht von hier, doch sie sprach fehlerloses Griechisch. Sehr nützlich in Anbetracht der vielen Touristen und Einheimischen, die in die Klinik strömten.

Autor

Annie O'Neil
Mehr erfahren

Entdecken Sie weitere Bände der Serie

Vier griechische Ärzte zum Verlieben