Die Melodie unserer Herzen

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Ballerina Tessa fühlt sich sofort zu dem mysteriösen Pianisten Julian hingezogen. Als er bei einer nächtlichen Probe zärtlich „Küss mich!“ flüstert, kann sie nicht widerstehen. Aber kaum sinkt sie in seine Arme, weist er sie wieder ab. Verletzt fragt sie sich, ob er nur mit ihr spielt …


  • Erscheinungstag 05.12.2022
  • ISBN / Artikelnummer 9783751521031
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

In der U-Bahn-Station 66th Street erklang an diesem Montagmorgen Musik. Tessa konnte sie nicht hören, aber sie spürte das sanfte Vibrieren der Noten wie eine leise Einladung zum Tanzen unter ihren Füßen.

Seit nun schon dreizehn Monaten hatte sie weder Musik noch sonst irgendetwas gehört. Mehr als ein Jahr. Die lärmende Geschäftigkeit der Menschen oder das Zischen der U-Bahnen vermisste sie nicht mehr, aber die Erinnerung an die Musik auf den Bahnsteigen hatte sie noch nicht abschütteln können.

Manchmal warf sie noch einen oder zwei Dollar in einen geöffneten Geigenkasten. Der Straßenmusiker schenkte ihr für gewöhnlich ein Lächeln, das Tessa erwiderte. Dann blieb sie stehen und beobachtete, wie die Musiker mit dem Bogen über die Saiten strichen, bis die Stille ihr wehtat.

Heute hatte ihr Hund sie durch das Zucken der Ohren zuerst auf die Musik aufmerksam gemacht. Als ausgebildeter Assistenzhund wies er sie auf bestimmte Geräusche, Töne, Laute hin – das Telefon, den Wecker oder Menschen, die ihren Namen riefen. Musik zu erkennen, gehörte eigentlich nicht zum Repertoire. Aber Mr. B liebte Musik einfach.

Als sie mit dem kleinen Hund die Stufen zum Bahnsteig hinunterging, sah sie, dass ein älterer Mann Trompete spielte. Offenbar hatte sie die U-Bahn gerade verpasst, denn abgesehen vom Trompeter war sie allein auf dem Bahnsteig.

Der Hund lief direkt auf den Mann zu, als sie die Leine locker ließ. Sie vermutete, dass es sich um einen Jazzmusiker handelte, denn er trug einen Hut, eine Fliege und schwarzweiße Schuhe im Stil der Zwanzigerjahre.

Im letzten Jahr hatte sie einmal solche Schuhe bei einer Tanzeinlage getragen. Die Wilde School of Dance hatte als Reminiszenz an Gershwin eine Aufführung präsentiert, die mit „Rhapsody in Blue“ eröffnet worden war. Doch schon beim nächsten Musiktitel hatte Tessa wieder Ballett getanzt und Spitzenschuhe getragen.

Sie liebte Spitzenschuhe. Schon als kleines Kind hatte sie in der Ballettschule ihrer Mutter im großen Studio mit den verspiegelten Wänden in einer Ecke gespielt und den Schülerinnen beim Spitzentanz zugesehen.

Das Tanzen lag ihr im Blut. In dem Moment, als sie zum ersten Mal eine Ballettstange berührt hatte, war sie dem Tanz verfallen. Ballett war ihre Bestimmung, die Quelle ihrer größten Freude und – so hatte es das Schicksal gewollt – auch die ihres tiefsten Schmerzes.

Tessa schluckte, als die Erinnerung an den Unfall vor dreizehn Monaten in ihr hochstieg, der sie Tag für Tag und Nacht für Nacht in ihren Träumen verfolgte. Sie sollte nicht mehr daran denken. Schließlich hatte sie genug Courage aufgebracht hatte, um sich wieder der Konkurrenz zu stellen und ihr Ziel zu verfolgen.

Welches Lied spielte wohl der Trompeter? Seine Kleider wirkten sehr abgetragen. Tessa nahm eine Dollarnote aus ihrer Handtasche, bückte sich und warf sie in den Kasten zu seinen Füßen. Als sie sich wieder aufrichtete, bemerkte sie, dass sich eine paar Passanten um den Musiker versammelt hatten.

Ihr fiel ein Mann mit gefühlvollen blauen Augen und Gesichtszügen auf, die Michelangelo geschaffen haben könnte. Er stand auf der Seite und sah wütend aus. Wie ein sehr reizbarer Heathcliff aus dem Roman „Sturmhöhe“. Neben dem Mundwinkel hatte er eine interessante Narbe, die seine sehr markanten Gesichtszüge noch unterstrich. Dadurch wirkte er weniger perfekt. Menschlicher. Er war Künstler. Darauf würde sie wetten.

Aber warum starrte sie einen völlig Fremden an, der dem armen alten Mann die Trompete offenbar am liebsten aus den Händen reißen würde? Sie warf noch einen Dollar in den Kasten und bemerkte, dass Heathcliff kopfschüttelnd die Augen verdrehte.

Mr. B zerrte an der Leine und machte sie darauf aufmerksam, dass die U-Bahn eintraf. Mittlerweile konnte sie die Körpersprache des Hundes besser lesen als von den Lippen der meisten Menschen. Zu Hause bedeutete ein Stups mit der Pfote ein Klopfen an der Tür und zwei Stupse das Klingeln ihres Handys. Wenn er morgens als Erstes wiederholt über ihr Gesicht leckte, wollte er sagen: Raus aus den Federn!

In der Öffentlichkeit waren Mr. Bs Hinweise dezenter. Allein das Zucken der Ohren sprach Bände. In Begleitung von Mr. B nahm sie ihre Umgebung schärfer wahr und fühlte sie sich irgendwie sicherer.

Tessa stieg in einen Wagen und setzte sich auf einen Platz mit freiem Blick auf die Digitalanzeige der Haltestationen.

Sie versuchte, sich keine Gedanken darüber zu machen, dass es ein kleiner Hund war, mit dem sie die bedeutendste Beziehung in ihrem Leben führte. Wenn es anders gekommen wäre, wäre sie jetzt mit Owen verheiratet, Ehefrau und vielleicht sogar schon Mutter.

Vielleicht würde sie eines Tages noch Kinder bekommen. Für solche Dinge würde später noch Zeit sein, wenn sie nicht all ihre Energie in den Wiederaufbau ihrer Karriere steckte. Liebe, sogar Freundschaften konnten warten, oder nicht?

Immerhin war sie in dem Sinn keine Einzelgängerin. Sie unterrichtete sechs Klassen in der Woche in der Ballettschule ihrer Mutter, wobei die meisten ihrer Schülerinnen allerdings vier- bis sechsjährige Kinder waren. Doch sie hatte täglich Umgang mit Menschen.

Außerdem hatte sie ihre Freunde beim Ballett. Zumindest Violet war ihre Freundin. Sie nahmen seit Jahren zusammen an Auditions teil. So lange, dass sie sich nicht mehr der Illusion hingaben, es eines Tages zu Primaballerinen oder auch nur zu Solotänzerinnen zu bringen. Was wirklich in Ordnung war. Tessa wollte nur tanzen und musste lediglich jemanden finden, der ihr eine Chance gab.

Daran festzuhalten, war schwer genug, jetzt, wo sie die Musik nicht mehr hören konnte. Sie wäre auch nur für einen kurzen Moment auf der Bühne dankbar. Selbst wenn sie diesen kurzen Moment im Schatten von anderen – besseren – Tänzerinnen verbringen würde.

Weil sie wusste, dass andere Menschen all das nur schwer nachvollziehen konnten, machte sie sich nicht die Mühe, es irgendjemandem zu erklären. Selbst ihre eigene Familie schien es nicht zu verstehen. „Es ist besser so, Mr. B, nicht wahr? Nur du und ich.“

Der Hund leckte kurz über ihre Wange. „Richtig“, flüsterte sie, schien jedoch ihre melancholische Stimmung nicht abschütteln zu können. Sie hätte dem Trompeter auf dem Bahnsteig nicht beim Musizieren zusehen sollen, ohne die Melodie hören zu können. Dadurch wurde ihr ihr großer Verlust nur bewusster, und sie wollte sich nicht näher damit beschäftigen, was ihr alles durch die Finger geglitten war.

Tessa holte den Stoffbeutel von Freed of London aus ihrer Tanztasche. Normalerweise verprasste sie nicht so viel Geld für extravagante Spitzenschuhe. Ihre Schuhe spielten keine große Rolle, wenn sie den ganzen Tag lang kleinen Mädchen beibrachte, Pliés auszuführen.

Aber in den nächsten drei Tagen veranstaltete The Manhattan Ballet ein Vortanzen für eine neue Ballettaufführung, die der legendäre Tänzer Alexei Ivanov choreografieren würde. Er war der größte russische Ballettstar seit Mikhail Baryshnikov. Obwohl er erst seit zwei Jahren choreografierte, wurde er in den Kritiken bereits mit George Balanchine verglichen.

Ivanov war der Grund für die neuen Spitzenschuhe. Tessa wusste, dass ihre Chance, für sein Ballett ausgewählt zu werden, gegen Null ging. Aber sie konnte noch nicht aufgeben. Was für eine Tänzerin wäre sie, wenn sie es nicht versuchte?

Sie nahm ihr Nähetui aus der Tanztasche. Sie hatte schon Satinbänder an so viele Spitzenschuhe genäht, dass sie es im Schlaf beherrschte. Also würde es kein Problem sein, sie bis zu ihrer Haltestation anzunähen. Zuhause könnte sie dann ihre Füße mit Eis kühlen, in Bittersalz baden und anschließend schlafen gehen.

Der Tag morgen war so wichtig, dass wohl auch alle Tänzer und Tänzerinnen der Kompanie des Manhattan Ballet früh zu Bett gehen würden. Sogar Chance Gabel – auch wenn er sich wahrscheinlich nicht in sein eigenes Bett legen würde.

Während sie das erste blassrosa Satinband an einen der Spitzenschuhe nähte, gab Mr. B ihrer Hand einen Stups. Tessa sah hoch, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. „Was ist?“, formte sie lautlos mit dem Mund.

Der Hund legte den Kopf schief und drehte die Ohren nach vorn, als wenn er sie auf einen Klang, irgendeine ungehörte Melodie aufmerksam machen wollte. Erneut schaute sie sich um. Niemand schien alarmiert zu sein. Beruhigend strich sie über sein Fell.

Vielleicht war Mr. B müde. Morgen würde sie ihn zu Hause lassen. Zum Vortanzen konnte sie ihn sowieso nicht mitnehmen. Sie wollte nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf ihren Hörverlust lenken. Und einen Tag lang konnte sie auch ohne Mr. B in der Innenstadt zurechtkommen. Auf sich gestellt würde es ihr gutgehen. In ihrer lautlosen kleinen Welt. Allein. War sie das nicht immer?

Bevor Julian die U-Bahn-Station überhaupt betreten hatte, war er in miserabler Stimmung gewesen. Obwohl er sein Apartment lieber nicht verlassen hätte, musste er raus, um sich einen Job zu suchen. Er brauchte Geld. Gerade hatte er sein erstes Vorstellungsgespräch seit einem Jahrzehnt hinter sich gebracht. Eine Schmach.

Es ging um eine Audition. Einen Gig, den er nicht wollte. Morgen sollte es losgehen. Chance würde dafür sorgen, dass er den Job bekam, und ihm würde keine andere Wahl bleiben, als es auszuprobieren.

Er hatte nichts gegen Arbeit. Tatsächlich zog er sie dem Nichts vor, das allmählich seine Tage bestimmte. Er würde einfach irgendetwas anderes machen als Musik, wenn ihm schließlich das Geld aus den glanzvollen Tagen ausging.

Über einen Trompeter zu stolpern, hatte ihn noch mehr verärgert. Ein Zustand, den er schon seit zwei Jahren nur zu gut kannte. Aber er war lieber ein bitterer, unleidlicher Mistkerl als jemand, mit dem die Leute Mitleid hatten.

Als er in die U-Bahn stieg, ärgerte er sich darüber, dass er sich über den Trompeter aufgeregt hatte. Der alte Mann war ein Niemand. Ein Niemand, der immer noch Trompete spielen kann. Richtig.

Julian setzte sich auf den letzten freien Platz, der sich zufällig direkt hinter der Frau befand, die zwei Dollar in den Kasten des alten Mannes geworfen hatte. Seinem Eindruck nach hatte sie den zweiten Dollarschein nur hineingeworfen, weil sie bemerkt hatte, wie sehr ihm die Darbietung des Musikers missfallen hatte.

„Der Trompeter hat nicht so gut gespielt, wissen Sie“, sagte er zu ihrem Hinterkopf. Sie hatte die rotblonden Locken hochgesteckt, was ihren anmutigen Nacken betonte. Sie war hübsch. Ihre Art, sich zu bewegen, hatte etwas Poetisches. Das war ihm auf dem Bahnsteig sofort aufgefallen – und in letzter Zeit neigte er eigentlich nicht dazu, solche Dinge zu bemerken.

Kurz betrachtete er eine seidige Locke, die sich gelöst hatte und ihr bis auf den Rücken fiel. Er unterdrückte den Drang, sie um einen seiner Finger zu wickeln. Meine Güte, was war los mit ihm? Hatte er sich so lange in seinem Penthouse verkrochen, dass er die simpelsten Regeln des gesellschaftlichen Umgangs vergessen hatte?

Er räusperte sich und sagte zu ihr: „Ich meine, es war sehr nett von Ihnen, ihm Trinkgeld zu geben. Dennoch hat es ihm erheblich an Rhythmusgefühl gefehlt.“ Warum rechtfertigte er sich vor einer Frau, die er nicht einmal kannte? Einer Frau, die keinerlei Reaktion zeigte, während ihr Hund ihn über ihre Schulter hinweg anblinzelte?

Es war ein niedlicher, kleiner Hund mit im Verhältnis zu seinem zarten Kopf fast komisch großen Ohren. „Jedenfalls …“, Julian seufzte. „… war es wirklich nett, dass Sie dem Mann ein bisschen Geld gegeben haben.“ Er wartete einen Moment. Als sie wieder nicht reagierte, drehte er sich wieder herum. Sie verbrachten die restliche Fahrt Rücken an Rücken. Nur Zentimeter voneinander entfernt. Schweigend.

Der Ton brauste unvermittelt während der Probe am nächsten Tag auf. Natürlich erinnerte sich Tessa an die Musik. Sie konnte aus dem Gedächtnis immer noch jede einzelne dramatische Melodie aus dem Schwanensee summen. Manchmal hörte sie sogar im Schlaf Lieder. Seitdem sie zum ersten Mal Ballettschläppchen angezogen hatte, war Tanz zu ihrem Leben geworden – und lange, nachdem sie aufgehört hatte, die Musik zu hören, war es immer noch so.

Doch jetzt konnte sie Musik hören, wie sie ihr zuvor noch nie zu Ohren gekommen war. Erschütternd, kreischend laut, gewaltiger als eine Symphonie. Sie konnte die Musik auch wie immer fühlen, aber ohne sich auch nur ansatzweise so wie sonst konzentrieren zu müssen. Die Töne vibrierten unter Sohlen ihrer Spitzenschuhe und versetzten ihren Körper in Schwingung. Sie sprühte vor Lebendigkeit, war wie elektrisiert.

Was, um Himmels willen, war passiert? Könnte sie geheilt sein? Die Ärzte hatten ihr gesagt, es wäre möglich, dass sich eine Verletzung wie ihre zurückbildete. Aber es war so viel Zeit vergangen, dass sie es aufgegeben hatte, daran zu glauben. Sie hatte ihren Frieden mit der Stille geschlossen.

Dieser Lärm in ihrem Kopf war alles andere als friedlich. Sie konnte sich nicht auf ihre Bewegungen konzentrieren. Als sie sich zu schnell aus einem Piqué herausdrehte, klopfte ihr jemand auf die Schulter.

Aus den Augenwinkeln heraus sah sie die anderen Tänzerinnen, die sich im Gegensatz zu ihr perfekt synchron zueinander bewegten. Wie sie trugen sie eine an das Trikot angeheftete Nummer auf dem Rücken. Es war peinlich.

Sie hatte jeden Abend stundenlang im Ballettstudio der Wilde School of Dance geübt, um genau diese Situation zu vermeiden. Wann immer sie konnte, trainierte sie zusätzlich. Perfektion würde sie nie erreichen. Aber sie war entschlossen, im Takt der Musik zu bleiben.

Mit dem plötzlichen Lärm in ihrem Kopf war es einfach so schwer, sich zu konzentrieren. Sie hatte sich dreizehn Monate lang gewünscht, wieder hören zu können. Aber sie hatte sich nie vorstellen können, wie überwältigend oder erschreckend es sein würde. Sie war noch nicht einmal sicher, ob sie es sich nur einbildete.

Warum musste es mitten in dieser Audition passieren? Warum verlor sie ausgerechnet heute den Verstand? Sie hielt inne und sah, dass Madame Daria, die Lehrerin der Ballettkompanie, stirnrunzelnd vor ihr stand.

„Nummer achtundzwanzig?“

Tessa nickte. Diese Nummer würde sie an allen drei Tagen des Vortanzens tragen. Wenn sie das Auswahlverfahren überstand.

„Sie sind aus dem Takt gekommen. Fünf, sechs, sieben, acht“, zählte Madame Daria an den Fingern ab.

Obwohl sie die Laute aus dem Mund der Lehrerin hörte, klangen sie verschwommen und unverständlich. Sie musste ihr die Worte von den Lippen ablesen. Wie immer. „Ja, Ma’am. Verstanden.“ Es wurde immer seltsamer: Sie konnte hören, aber alles klang zu laut und unklar.

Sie wollte sich die Ohren zuhalten. Stattdessen bereitete sie sich auf die nächsten acht Takte vor. Aber plötzlich klatschte die Lehrerin in die Hände, und die Musik verstummte. Zum Glück. Tessa brauchte eine Minute, um einen klaren Kopf zu bekommen, und atmete einige Mal tief durch. Alles wurde jetzt wieder still. Hoffentlich würde es so bleiben. Still. Normal.

Die anderen Tänzer und Tänzerinnen schritten auf und ab. Das war der Moment, auf den alle gewartet hatten: Das Eintreffen des großen Ivanov, der aus einer Laune heraus die Karriere von Tänzern beflügeln oder zum Erliegen bringen konnte – und es oft tat. Die festen Mitglieder der Kompanie stellten sich vorne im Raum auf. Diejenigen, die zur Audition hergekommen waren, nahmen ihre Position im Hintergrund ein. Tessa würde nun aus der Entfernung von den Lippen lesen müssen, was noch schwieriger war.

Doch sie wollte nicht darum bitten, weiter vorn zu stehen. Sie hatte nie um eine Sonderbehandlung gebeten und würde bestimmt jetzt nicht damit anfangen. Neben Violet lehnte sie sich an die Ballettstange.

„Ist bei dir alles in Ordnung?“, fragte Violet.

Sie zuckte betont lässig die Schultern. „Ich stehe heute nur ein bisschen neben mir. Ich bin gleich wieder auf dem Damm.“

„Gut.“

In den verspiegelten Wänden suchte sie nach dem geeignetsten Winkel, um bestmöglich die Lippen von Madame Daria und Ivanov sehen zu können. Aus der Not heraus war sie zu einer Expertin darin geworden, die Spiegel zu ihrem Vorteil zu nutzen.

Sie hatte gelernt, sich fast einzig auf das Sehen zu verlassen. Ihr Blick fiel auf den Mann am Flügel in der Ecke mit dem finsteren Gesichtsausdruck, der ihr bekannt vorkam. Konnte sie ihren Augen jetzt auch nicht mehr trauen? Sie blinzelte ein paar Mal, um sicherzugehen. Doch, es war definitiv der unhöfliche Mann von der U-Bahn-Station – und jetzt saß er am Flügel der Ballettkompanie.

Wie hatte sie nur den Klavierspieler übersehen können? Insbesondere diesen Klavierspieler? Vielleicht weil mich das Orchester in meinem Kopf zu sehr abgelenkt hat? Sie starrte den Mann an und fragte sich, ob er möglicherweise etwas damit zu tun hatte, was ihr passierte. Das war absurd. Sie erlebte eine Art medizinisches Phänomen, und der Klavierspieler bedeutet ihr nichts.

Allerdings sah er sehr gut aus mit dem markanten Kinn und den durchdringenden blauen Augen, deren Farbe im Kontrast zu den schwarzen Haaren noch intensiver wirkte. Und diese Narbe an seinem Mundwinkel war wirklich faszinierend; sie lenkte ihre Aufmerksamkeit auf seinen Mund mit den perfekt geschwungenen, aber missmutig zusammengepressten Lippen. Warum schien er immer so verärgert zu sein?

Tessa zwang sich, den Blick zu heben, und bemerkte, dass er sie betrachtete. Er hob eine Augenbraue – bestimmt ein Zeichen dafür, dass er sie als die Tänzerin wiedererkannte, die bei seinem Klavierspiel aus dem Takt geraten war. Prompt schaute sie weg.

„Tänzer und Tänzerinnen, ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit.“ Madame Daria klatschte in die Hände und sah die Mitglieder der Kompanie an, die verglichen mit den anderen Kandidaten echte Stars waren. Doch selbst die Mitglieder der Kompanie waren gezwungen, für Ivanov vorzutanzen. Im Prinzip konnte sich niemand seiner Stelle in der Truppe sicher sein.

Tessa war froh, dass sie überhaupt noch tanzen konnte. Da sie ein Niemand war, hatte die Ballettlehrerin vielleicht schon vergessen, dass sie bei der Drehung aus dem Piqué aus dem Takt gekommen war. Unsichtbar zu sein, hatte Vorteile.

Daria deutete auf den Mann, der neben ihr stand. „Bitte heißen Sie mit mir Alexei Ivanov willkommen. Es ist uns eine Ehre, ihn als Gastchoreograf des Eröffnungsprogramms dieser Saison begrüßen zu dürfen. Er hat zugestimmt, ein neues Ballett speziell für uns zu choreografieren, das wir ab heute einstudieren werden. In drei Tagen werden zwanzig Tänzer und Tänzerinnen von Ihnen fest für dieses Ballett besetzt sein.“

Tessa klatschte wie die anderen Beifall. Unwillkürlich wanderte ihr Blick wieder zum Pianisten, bis sie bemerkte, dass er sie erneut anstarrte. Vielleicht war sie doch nicht so unsichtbar, wie sie glaubte. Die Hitze stieg ihr in die Wangen. Bleib aufmerksam. Konnte dieser Tag noch schlimmer werden? Oder noch seltsamer?

„Machen Sie jetzt alle eine Pause und seien Sie in genau zehn Minuten zurück auf Ihrem Platz. Zuerst sind die Tänzer und Tänzerinnen an der Reihe, die zur Audition hergekommen sind. Das neue Ballett beginnt mit einer großen, sehr komplizierten Gruppenchoreografie. Sie alle müssen in Bestform sein. Lassen Sie uns nicht Mr. Ivanovs Zeit verschwenden.“ Daria sah Tessa an.

Sie schluckte. Also hatte die Ballettmeisterin ihren Fehler nicht vergessen. Wieder schien sie die Stimme ihrer Mutter hören zu können.

„Du bist eine tolle Lehrerin, Tessa. Die Kinder lieben dich, und die Wilde School of Dance ist dein Zuhause. Hier wird es immer einen Platz für dich geben. Egal, was passiert.“

Aber sie wollte es sich nicht leicht machen. Sie wollte nicht für den Rest ihres Lebens Ballettlehrerin sein. Denn das hieße aufgeben. Sie wollte tanzen, nicht unterrichten. Tanzen war alles, was ihr geblieben war. Alles, was sie jemals gewollt hatte. Sie hatte zu lange zu hart gearbeitet, um jetzt alles zu vermasseln.

Sie musste es nur irgendwie schaffen, den Lärm in ihrem Kopf zu ignorieren. Verstohlen warf sie einen weiteren Blick auf den Pianisten, und tatsächlich passte der Lärm, den sie hörte, zu den Bewegungen seiner Finger auf den Klaviertasten.

Er hatte so schöne Hände. Die Eleganz und Anmut, mit denen seine Finger über die Tasten tanzten, sorgten dafür, dass ihr das Herz schwer wurde. Oder vielleicht tat ihr auch das Herz weh, weil die Musik dieses fremden Mannes das Erste gewesen war, das sie seit über einem Jahr gehört hatte.

Nicht die Tänzerinnen angaffen – das war die einzige Regel, die Julian laut Chance beherzigen sollte. Er hatte seinem langjährigen Freund versichert, das wäre kein Problem. Er kannte Chance lange genug, um keinerlei romantischen Vorstellungen über die Welt des Balletts mehr zu haben. Ballett war keine Kunst, sondern harte, schweißtreibende, fanatische Arbeit.

Außerdem hatte er kein Interesse an unterernährten Frauen, die ihn als unsichtbar betrachteten. Offen gesagt, hatte er nicht mal Interesse daran gehabt, hier zu sein. Er hätte sein Geld sparen, anlegen oder investieren sollen. Aber wie hätte er ahnen sollen, dass sein Erfolg nicht von Dauer sein würde?

Er war noch nicht einmal richtiger Pianist, verdammt noch mal. Was er Chance auch gesagt hatte, als sein Freund ihm das Jobangebot überbracht hatte. Chance hatte erwidert, dass sie keinen Mozart brauchten und er dafür gut genug wäre.

Gut genug. Wie tief er gesunken war. Seufzend wartete er darauf, dass Madame Daria ihre Ansprache beendete. Sie hatte ihn tatsächlich gebeten, sie Madame zu nennen, als würden sie im Frankreich des neunzehnten Jahrhunderts leben.

Julian sah auf seine Armbanduhr. Er machte den Job jetzt anderthalb Stunden lang und langweilte sich schrecklich. Die ganze Sache war ein Fehler gewesen. Nun, die restlichen fünf Stunden würde er überstehen und den Job dann hinwerfen. Chance würde es wahrscheinlich verstehen.

Autor

Teri Wilson
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