Trau dich im Wilden Westen (4-teilige Serie)

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AUF UMWEGEN INS GROßE GLÜCK

Was will diese Winnie Porter hier? Aidan ist außer sich, als die junge Frau plötzlich vor ihm steht: lächelnd, verlegen - und überaus sexy! Aber das darf ihn nicht interessieren, keinen weiteren Blick wird er an Winnies umwerfende Figur verschwenden! Denn die Besucherin ist die leibliche Mutter seinen Adoptivsohnes, und wenn sie so überraschend bei ihm auftaucht, kann das nur eines bedeuten: Sie will ihm sein Kind wegnehmen. Dass Winnie ganz andere Motive für ihren Besuch hat, merkt Aidan erst, als es beinahe zu spät ist. Zu spät für das Glück seines Lebens …

STARKE MÄNNER LIEBEN ZÄRTLICH

Er will sie nur vor den Traualtar führen, weil sie schwanger ist? Das kommt für Thea nicht infrage. Sie träumt von der großen Liebe. Und ist fest entschlossen, den freiheitsliebenden Rancher Johnny Griego davon zu überzeugen, dass auch starke Männer zärtlich lieben dürfen …

VOM GLÜCK ÜBERRUMPELT

Tess will sich beim Joggen eigentlich vom anstrengenden Familienalltag erholen, da prallt sie völlig unerwartet auf ihre große Jugendliebe. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Fast hätte Eli sie überfahren! Tess klopft das Herz bis zum Hals, als sie ihren Exfreund erkennt. Der inzwischen gefragte Möbeldesigner erscheint ihr größer und kräftiger als damals, aber unverändert lässig und unerschütterlich. Mehr denn je branden sehnsüchtige Erinnerungen in ihr auf, die sie nicht mehr loslassen. Zu gern wüsste sie, ob Eli noch so gut küsst wie früher …

DIE RÜCKKEHR DES COWBOYS

Ihre Kinder, das Haus, die Geldnot seit dem Tod ihres Mannes, ihre Schwangerschaft - Emma braucht Hilfe. Die sie überraschend erhält, als der Sänger Cash, ein alter Freund der Familie, vor der Tür steht. Aber instinktiv spürt die schöne Witwe, dass auch Cash etwas braucht: ein Zuhause …


  • Erscheinungstag 01.08.2019
  • Bandnummer 1 - 4
  • ISBN / Artikelnummer 9783733727109
  • Seitenanzahl 520
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Karen Templeton

Trau dich im Wilden Westen (4-teilige Serie)

IMPRESSUM

Auf Umwegen ins große Glück erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2008 by Karen Templeton-Berger
Originaltitel: „A Mother’s Wish“
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA
Band 1751 - 2010 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Stephanie Thoma-Kellner

Umschlagsmotive: Getty Images_fergregory

Veröffentlicht im ePub Format in 04/2019 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733746186

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Winnie Porter stand auf der Türschwelle von der „Skyview Gas’n’Grill“ Imbissstube, trank starken Kaffee aus einem Styroporbecher und blinzelte im Licht der Morgensonne. Über die karge Landschaft von West-Texas toste ein unbarmherziger Oktobersturm hinweg.

Na, das passt ja, dachte Winnie. In ihren Cowboystiefeln trat sie von einem Fuß auf den anderen. Dann rieb sie sich mit ihrer verschwitzten Hand den Oberschenkel. Am Ausschnitt ihres Baumwolltops kitzelten ihre feuchten Haarspitzen im Nacken und auf den Schultern.

Annabelle, ihr Border Collie, stieß mit der Schnauze gegen ihr Bein und hechelte.

„Hier, bitte. Aber nicht schon alles aufessen, noch bevor du Amarillo erreichst.“

Winnie betrachtete die prall gefüllte Plastiktüte. „Danke“, sagte sie und wappnete sich gegen die Missbilligung, die beinahe unverhohlen in den fast schwarzen Augen ihres Gegenübers schimmerte. Sie nahm die Tüte und drehte sich um, als Elektra Jones geräuschvoll durch die Nase ausatmete.

„Da ist Miss Ida noch nicht mal ’ne Woche tot …“

„Ich weiß.“

„… und du hast nichts Besseres zu tun, als quasi darum zu bitten, dass man dir noch mehr wehtut.“

„Schlimmer als das, was ich die letzten neun Jahre durchgemacht habe, kann es auch nicht werden“, sagte Winnie mit leiser Stimme und schwang sich ihren Dufflebag über die Schulter. „Und fang jetzt gar nicht erst damit an, dass du mich hier brauchst. Du weißt genauso gut wie ich, dass du den Laden hier praktisch alleine schmeißt. Vor allem im letzten Jahr …“

Die Stimme versagte ihr. Sie warf einen Blick auf das Erbe, das Ida Calhoun ihrer einzigen Enkelin hinterlassen hatte – eine heruntergekommene Mischung aus Diner, Tante-Emma-Laden und Tankstelle. Seit ihrem zehnten Geburtstag war dieser Ort für Winnie sowohl Zufluchtsort als auch Gefängnis. Und jetzt gehörte das alles ihr.

Sogar vom Grab aus schaffte es die Alte, ihren Willen durchzusetzen.

„Du wirst mich nicht mal vermissen“, behauptete Winnie.

„Also, da liegst du total daneben“, sagte Elektra mit Tränen in den Augen. Als sie Winnie an ihren üppigen Busen zog, gab diese den Versuch auf, die Fassung zu bewahren.

„Um Himmels willen, es ist doch nur für eine Woche.“

„Trotzdem.“ Elektra drückte sie ein letztes Mal und packte sie an den Schultern. „Sei bloß vorsichtig, hörst du?“

Winnie konnte nicht antworten und nickte nur.

Ein paar Minuten später dröhnten die Dixie Chicks aus dem Lautsprecher ihres alten Pick-ups, und Annabelle hielt auf dem Beifahrersitz die Schnauze in den Wind. An ein paar großen Reklameschildern vorbei fuhr Winnie auf den Highway Richtung Westen. Dabei war sogar ihr klar, dass es sich höchstwahrscheinlich um eine Irrfahrt handelte.

Stunden später kletterte Winnie vor einem winzigen, schlammfarbenen Haus aus ihrem Truck. Ein steiles Blechdach, das gar nicht zu dem Gebäude passen wollte, krönte das mitten im Wald gelegene Domizil. Freudig bellend schoss Annabelle ins dichte Unterholz aus buschigen Pinien und Lebens-Eichen. Die herbstgelben Blätter der Bäume raschelten in der Brise.

Winnie blinzelte im grellen Licht des strahlend blauen Himmels. Die abblätternde Farbe der Eingangstür hatte beinahe den gleichen Farbton. Hier lässt es sich aushalten, dachte sie und lächelte, als sie in der kalten Luft eine Gänsehaut bekam.

Winnie wandte sich wieder ihrem Auto zu, um ein langärmeliges Hemd vom Vordersitz zu zerren, als ein weißer Toyota Highlander knirschend neben ihr zum Stehen kam. Die Maklerin, dachte sie.

Einen Augenblick später wurde ihre Vermutung bestätigt, als eine hochschwangere, hübsche Frau mit dunklem Haar vorsichtig aus dem Auto stieg und ihr zurief: „Sie sind bestimmt Winnie! Ich bin Tess Montoya, wir haben miteinander telefoniert.“

Sie öffnete die Rücksitztür, um einen kleinen Jungen im Kindergartenalter aussteigen zu lassen. „Ich habe Sie ja vor zu großen Erwartungen gewarnt!“

„Soll das ein Witz sein?“ Winnie schlüpfte in ihr Hemd und lächelte dem entzückenden kleinen Jungen zu, der sich schüchtern am langen Rock seiner Mutter festklammerte. Dann drehte sie sich um und betrachtete eingehend die dunkelrosa blühenden Cosmeen auf beiden Seiten der Tür, das Paar kleine Fenster – mit blau gestrichenen Fensterrahmen, von denen ebenfalls die Farbe abblätterte …

„Ich bin jetzt schon ganz verliebt in das Haus!“, behauptete sie, nahm ihren Dufflebag und ihren Schlafsack und folgte der gesprächigen Maklerin ins Haus.

„Leider sind die elektrischen Leitungen und die Wasserleitungen manchmal unzuverlässig“, sagte Tess und rieb sich den Bauch.

Winnie wandte den Blick ab.

„Aber meine Tante – sie ist die Haushälterin des Eigentümers – hat hier eine Weile gewohnt. Daher weiß ich, dass es durchaus bewohnbar ist. Wenigstens für eine Woche! Wobei ich immer noch nicht begreifen kann, warum Sie in Tierra Rosa bleiben wollen. Also, wenn Sie Taos oder Santa Fe gesagt hätten …“

„Das ist toll. Ehrlich“, sagte Winnie und ließ ihr Gepäck auf den Boden fallen. Die Holzbohlen waren nicht gewachst und wiesen zahlreiche Schrammen auf. Langsam gewöhnten sich Winnies Augen an das milchige Licht im Inneren.

Sie sah sich um und registrierte rau verputzte, schmucklose weiße Wände, einen bienenkorbförmigen Kiva-Kamin, ein abgenutztes Ledersofa mit passendem Sessel im spanischen Missionsstil, einen überdimensionalen Schaukelstuhl und ein Doppelbett mit einem Kopfende aus Baumstämmen.

Die „Küche“ bestand aus einer alten Anrichte zwischen einem Ausguss voller Rostflecken und einem uralten Gasherd sowie einem ramponierten, weiß lasierten Tisch mit zwei Stühlen, die nicht zusammenpassten. Eine niedrige Tür führte in ein winziges Badezimmer mit einer antiken Wanne mit Vogelfüßen, die offenbar nachträglich eingebaut worden war.

Aber alles war blitzblank; weiche Handtücher hingen von schwarzen Eisenringen, und auf dem Waschbeckenrand lag ein neues Stück Seife für sie bereit. Und die dicke Decke mit den flauschigen Kissen auf dem Bett schienen nur darauf zu warten, ausprobiert zu werden. „Ich finde es … gemütlich“, sagte Winnie, und Tess lachte.

„Das ist eine freundliche Beschreibung. Es tut mir wirklich leid, aber ich muss los. Ich habe noch tausend Sachen zu erledigen. Hier haben Sie für alle Fälle meine Karte“, sagte Tess und legte ihre Visitenkarte auf den Tisch.

Dann schlurfte sie mit ihrem Babybauch mühsam zur offenen Haustür, durch die Kinderlachen hereindrang. „Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas brauchen. Oder meine Tante, die wohnt gleich da oben auf dem Berg. Ich habe ihre Nummer auch aufgeschrieben … oh! Miguel! Nein, lass den Wauwau in Ruhe!“

„Das ist wahrscheinlich eher umgekehrt“, sagte Winnie lachend und rief Annabelle zurück.

„Ich denke immer wieder darüber nach, ihm einen Hund zu schenken. Aber sein Vater ist momentan nicht hier, und in diesen Tagen kommt das Baby …“ Tess seufzte. „Jedenfalls … genießen Sie Ihren Aufenthalt. Ich habe mich gefreut, Sie kennenzulernen!“

Winnie sah dem SUV nach, wie es die ungeteerte Straße entlangrumpelte. Dann ging sie wieder ins Haus.

Prompt sprang Annabelle aufs Bett, drehte sich dreimal um sich selbst und ließ sich fallen.

Winnie zog die Hintertür auf und trat auf die kleine Lichtung hinaus, die hier in den Wald geschlagen war. Die Brise spielte mit ihren losen Haarsträhnen. Ein schriller Vogelruf ließ sie gerade noch rechtzeitig aufschauen, um einen Blick auf blaue Flügel zu erhaschen.

Sie schloss genießerisch die Augen und lächelte. Auch wenn ihr Plan nicht aufgehen sollte, nach dem letzten Jahr – nach den letzten Jahren – gab es Schlimmeres, als eine Woche in diesem Paradies zu verbringen.

Doch als sie die Augen öffnete und die frischen Reifenspuren eines Fahrrads bemerkte, die zu einem Pfad führten, der zwischen den Bäumen verschwand, verflüchtigte sich ihr Lächeln. Stirnrunzelnd drehte sie sich um und betrachtete die Spuren, die kurz vor dem Haus endeten.

Hinter ihr im Wald knackte etwas.

Winnie fuhr herum. Die Nackenhaare standen ihr zu Berge. Doch dann war ihre Angst zumindest für den Augenblick vergessen, als Annabelle auf einer begeisterten Verfolgungsjagd im Unterholz verschwand …

Sein Atem ging stoßweise, ärgerlich keuchend. Fest umklammerte der kleine Junge die Griffe seines Fahrrads. Durch die Bäume hindurch beobachtete er die Frau und ihren Hund. Heißer Zorn explodierte in seiner Brust. Bleib bloß von meinem Haus weg!, wollte er rufen, aber der Schrei blieb ihm im Halse stecken.

„Robbie! Rob-bie!“

Robbie drehte den Kopf nach Floritas Stimme um. Wenn er nicht bald wieder zurückkam, würde sie sich ängstigen und seinem Dad Bescheid sagen, und dann würde sein Dad sich auch Sorgen machen. Und das wäre total doof. Nach einem letzten Blick auf die Frau drehte er um und trat so schnell in die Pedale, wie er konnte, um heimzufahren.

Die Hühner stoben in Panik auseinander und gackerten sich die Seele aus dem Hals, als er quer durch den Hof raste, sein Rad fallen ließ und nach hinten rannte.

„Wo bist du gewesen?“, fragte Florita, als er die sonnige Küche betrat.

„Rumfahren, einfach nur so“, sagte Robbie keuchend. Er ging zum Kühlschrank, um sich eine Flasche Saft zu nehmen. Dabei konnte er spüren, wie Florita ihn von hinten mit ihren dunklen Augen ansah, fast als ob sie durch ihn hindurchschauen konnte. Er mochte Flo echt gerne. Aber auch wenn sie noch so nett war, sie war eben nicht seine Mom. Auf einmal hatte er einen Kloß im Hals. Dann merkte er, dass Flo gerade etwas zu ihm gesagt hatte. „Hm?“

Flo verdrehte die Augen. „Solltest du irgendwann mal die Ohren aufsperren und gleich hören, was ich sage, falle ich vor Schreck tot um. Ich habe gesagt, dass dein Vater runter zu Garcia’s fährt, und dich gefragt, ob du mit willst.“

„Nein, ist schon okay“, sagte Robbie.

Flo warf ihm wieder so einen Blick zu. So einen Blick, der ihm sagen sollte, dass sie ihn verstand.

Seit seine Mom tot war, verbrachte sein Dad immer mehr Zeit im Studio beim Malen und immer weniger Zeit mit ihm. Jedenfalls nicht so wie früher. Flo sagte, dass sein Dad nur versuchte, mit seinen Gefühlen fertigzuwerden, weil seine Mom gestorben war. Das machte Robbie ein bisschen wütend. Er vermisste seine Mom doch auch. Sehr sogar. Und es tat weh, dass er nicht mit seinem Dad darüber sprechen konnte. Denn immer, wenn er das versuchte, wurde sein Dad ganz trübselig. Und das machte alles nur noch schlimmer.

Irgendwann hatte Robbie die Flinte ins Korn geworfen. Es hatte ja doch keinen Sinn, oder?

„Du darfst nicht aufgeben“, sagte Flo sanft.

Wenn er nicht ging, würde sie ihn nur weiter nerven. Daher trank er den Saft aus und schleppte sich die Treppe zu Dads Studio hinauf.

Als er sein Ziel erreicht hatte, musste er blinzeln, um sich an das helle Licht zu gewöhnen. Mit den vielen Fenstern an der Decke hatte man fast das Gefühl, draußen zu sein. Vor allem, weil die Wände so hoch waren. Robbie mochte den Geruch hier. Ölfarbe und Holz und das Zeug, das sein Dad benutzte, um Leinwände weiß zu grundieren, ehe er sie bemalte.

Die Jeans von seinem Dad und sein langärmeliges T-Shirt waren über und über mit Farbe verschmiert. Er war gerade dabei, einen seiner großen Pinsel zu reinigen, und betrachtete stirnrunzelnd das Bild, an dem er gerade arbeitete. Zumindest vermutete Robbie, dass er seine Stirn in Falten gelegt hatte – es war schwierig, das genau zu sehen, weil seinem Dad die dunklen Locken tief ins Gesicht fielen.

Robbie zupfte an seinem eigenen, viel helleren Haar herum. Es war fast genauso lang. Flo wollte immer, dass sie sich die Haare schneiden ließen, aber sein Dad sagte, das wäre eben ihr wilder Einsiedler-Look. Sein Dad rasierte sich nicht mal täglich. Dazu hatte Flo auch so einiges zu sagen.

Robbie schaute sich das Bild an. Die Farben waren ganz grell, Orange und Lila und Pink und Grün, so ähnlich wie der Blick aus seinem Fenster, wenn die Sonne unterging. Aber anstatt hübsch auszusehen, wirkten die Farben, als ob sie miteinander kämpften.

„Gefällt’s dir?“, fragte sein Dad. Er hörte sich anders an als alle anderen Leute hier, weil er aus Irland kam.

Robbie drehte sich um und sah, dass sein Dad ihn mit diesem traurigen Blick betrachtete, den er so hasste. Er wandte sich eilig wieder ab. „Für wen ist das?“

„Nur für mich“, antwortete sein Vater.

„Oh“, machte Robbie. Dann fügte er hinzu: „Flo hat gesagt, dass du zu Garcia fährst.“

„Ja, die haben heute eine Lieferung für mich bekommen.“ Sein Dad ließ sich Material und anderes Zeug oft an den Laden unten am Highway schicken und nicht nach Hause. Einerseits, weil es für die Lieferwagen manchmal schwierig war, hier hochzukommen. Aber auch, damit man ihn nicht finden konnte. Er konnte es nämlich nicht leiden, wenn fremde Leute ihre Nasen in seine Angelegenheiten steckten, sagte er. „Willst du mit?“

„Klar.“ Robbie tat, als ob das keine große Sache war. Als er dann wieder zu seinem Dad hinübersah, lächelte dieser. So ein bisschen. Zumindest so, dass er Grübchen bekam. Aber seine Augen sahen immer noch so aus, als wollte er sagen, wie leid ihm das alles tat. Als ob Moms Tod irgendwie Dads schuld war.

Robbie wollte seinem Dad gerne sagen, dass er mit diesem Blödsinn aufhören sollte. Stattdessen fragte er: „Kann ich ein ‚Nutty Buddy‘-Eis kriegen?“

„Abgemacht“, antwortete sein Dad. Dann beugte er sich nach unten und hob Robbie hoch, genau wie früher.

Robbie klammerte sich an seinen Hals, und es machte ihm nicht mal etwas aus, dass das Gesicht von seinem Dad so pieksig war wie ein Stachelschwein.

Das Schild im Fenster war handgeschrieben: „Hunde und Kinder haben nur in Begleitung von Erwachsenen Zutritt.“ Eine Stadt, in der es solche Vorschriften gibt, muss man einfach lieben, dachte Winnie ironisch, als sie Annabelle vor dem Laden aus dem Truck ließ. Mit Stuckfassade und Säulenveranda verziert, stand das lang gestreckte Gebäude einsam und verlassen neben dem Highway. Dem größeren – aber trotzdem handgeschriebenen – Schild zufolge, das neben der Straße in der Erde steckte, handelte es sich außerdem um die einzige Tankstelle in Tierra Rosa.

Im Inneren entpuppte sich das Gebäude als modernes Gegenstück eines Kolonialwarenladens. Winnie sah sich kurz um und entdeckte alles nur Denkbare, von Angelhaken über Mikrowellenessen bis hin zu Motoröl, Levis Jeans und Rice Crispies. Abgesehen davon verkündete ein Schild an der Theke auch noch, dass es sich bei dem Shop um ein offizielles U.S. Postamt handelte, Postlagerung inbegriffen.

Winnie und Annabelle waren die einzigen Kunden. Neben der Kasse lehnte sich ein Mädchen im Teenageralter mit braunem Haar und extrem offenherzigen Ausschnitt über die Theke. Das Kinn in die Hand gestützt, blätterte sie ein Schulbuch durch und machte sich eifrig Notizen in einem Spiralblock.

Trotzdem ahnte Winnie irgendwie, dass sie eigentlich nichts gegen die Annäherungsversuche des großen, kräftigen Jungen mit dem kahl geschorenen Schädel an ihrer Seite einzuwenden hatte. Ganz egal, wie viel Hausaufgaben sie zu erledigen hatte.

Winnie wandte sich seufzend ab. Sie musste sich zwingen, daran zu denken, dass nicht jedes Mädchen, das ein bisschen herumknutscht, gleich schwanger wird. Dass einige von ihnen intelligent genug waren, es nicht so weit kommen zu lassen. Oder zumindest dafür zu sorgen, dass es keine Folgen hatte, wenn sie es doch taten.

„Brauchen Sie Hilfe?“, rief das Mädchen.

„Haben Sie Hundefutter?“

„Hinten an der Wand, rechts von Ihnen. Übrigens haben wir diese Woche Eis im Sonderangebot.“

„Danke“, sagte Winnie und schleppte einen Zehn-Kilo-Beutel Hundefutter zu ihrem Einkaufswagen. Dann steuerte sie die Tiefkühltruhen an, weil sich das Mädchen solche Mühe gegeben hatte, sie darauf aufmerksam zu machen. Vertieft in die Qual der Wahl zwischen Schokolade mit Minze oder Snickers-Eiscreme, hörte sie kaum, wie die Glocke über der Ladentür klingelte. Daher dauerte es auch eine Sekunde, bis die tiefe männliche Stimme mit dem irischen Akzent zu ihr durchdrang.

„Oh ja, Mr. Black“, sagte das Mädchen. „Das habe ich hier. Warten Sie, ich hole es Ihnen …“

Siedend heiß durchfuhr Winnie ein Adrenalinstoß. Einen Augenblick später tauchte ein kleiner Junge mit zotteligem hellblondem Haar auf, riss einen der Gefrierschränke auf und nahm sich ein „Nutty Buddy“-Eis. Als Winnie tief Luft holte, fuhr er herum und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an.

Winnie dachte zurück an die vergangene Woche.

Nach fünf Minuten Internetrecherche hatte sie einen Zeitschriftenartikel mit dem Foto des zurückgezogen lebenden Landschaftsmalers und seiner Frau gefunden. Das offene Lächeln der sozial engagierten Textilkünstlerin war viel entspannter und freundlicher als das ihres wesentlich jüngeren Ehemannes.

In diesem mehrseitigen Artikel waren Fotos von dem wunderbaren Refugium aus Holz und Glas, das Aidan und June Black in den Bergen nahe des malerischen Dorfes Tierra Rosa im Norden New Mexicos gebaut hatten. Eine ganze Seite widmete sich ausschließlich dem Studio mit den hohen Wänden, das eigens für die überdimensionalen Leinwände des „irischen Cowboys“ errichtet worden war.

Dann war Winnie beim Anblick der Profilaufnahme des einzigen Kindes der Blacks das Herz stehen geblieben. Der Junge war adoptiert, aber der Artikel erwähnte das nicht. Vor zwei Jahren, als das Foto gemacht wurde, war der Junge sieben Jahre alt, und sein Haar wirkte fast engelsgleich im Sonnenlicht.

Die gleiche Farbe, die auch Winnies Haar in diesem Alter hatte …

„Wuff!“

Schwanzwedelnd streckte Annabelle sich vor dem Jungen aus. Stirnrunzelnd sah dieser von der Hündin zu Winnie, dann wieder zurück. Das Tier bebte vor Vorfreude.

„Schon okay“, sagte Winnie, obwohl sie nicht wusste, wie sie es überhaupt schaffte, weiterzuatmen. „Sie würde nicht mal einer Fliege etwas zuleide tun.“

Langsam ließ sich der Junge auf ein Knie nieder, um Annabelle den Kopf zu tätscheln.

Die Hündin geriet außer Rand und Band und versuchte, ihn von oben bis unten abzulecken.

Aber nach einem kurzen Kichern rappelte sich der Junge auch schon wieder auf und richtete den Blick anklagend und argwöhnisch auf Winnie. Schmerzerfüllt. Seine Augen hatten fast die gleiche merkwürdig blaugraue Farbe wie ihre, nur hatte seine Iris goldene Flecken. „Du bist doch die Lady, die im ‚Alten Haus‘ wohnt, oder?“

Das „Alte Haus“. Als ob es sich dabei um einen Namen und nicht um eine Beschreibung handelte.

„Nur für kurze Zeit. Du … hast mich gesehen?“

„Ja. Vor ’ner Weile.“ Er reckte das spitze Kinn vor. „Zwischen den Bäumen. Ich war mit dem Fahrrad unterwegs.“

Aha, dachte Winnie. Die Reifenspuren. „Spielst du gerne da?“

„Manchmal“, sagte er schulterzuckend.

Winnie kräuselte die Lippen. Sein langes Haar sah albern aus. Es reichte ihm fast bis zu den Schultern, glänzend und lockig wie bei einem Mädchen. Trotzdem war er von Kopf bis Fuß ein Junge, mit seiner Skater-Kluft und den Löchern an den Knien seiner Jeans. Allerdings, vermutete sie, lag es wahrscheinlich nur an seiner Größe, wenn er in der Schule nicht ständig verprügelt wurde. So sah er nämlich eher wie zehn oder sogar elf aus und nicht wie ein Neunjähriger.

Mit glühenden Wangen wandte sich sie wieder dem Gefrierschrank zu und schnappte sich eine Packung Erdbeer-Käsekuchen-Eis.

„Robbie? Wo bist du denn abgeblieben?“

Beide schauten auf, als Aidan Black – viel rauer und zotteliger, als Winnie ihn in Erinnerung hatte – am Ende des Ganges auftauchte.

Winnies Herz schlug Kapriolen. Ein zweiter Blick sagte ihr, dass er jedenfalls nicht mehr der lässige, lächelnde junge Mann war, den sie zwei Wochen vor der Entbindung des Babys kennengelernt hatte, welches dann sein Sohn geworden war. Die warmen, fröhlichen grünen Augen wirkten jetzt stumpf und verschlossen. Er sieht aus wie der Teufel höchstpersönlich, dachte sie.

Ganz egal, wie sehr sie sich zwischenzeitlich verändert hatte, er hatte sie sofort wiedererkannt.

Und darüber war er kein bisschen erfreut.

Sie hatte keine schwarze Punkfrisur mehr. Aber diese graublauen Augen, ihr Profil, wie ihre langen Arme und Beine kaum zu ihrem Körper zu gehören schienen, das war unverwechselbar.

Innerlich explodierte Aidan und fluchte.

In diesem Augenblick sagte Robbie: „Sie ist die Lady, die im Alten Haus wohnt.“

Und Aidan dachte: Ich bringe Flo um. „Wir müssen los“, murmelte er, packte seinen Sohn – seinen Sohn – an der Hand und zerrte den Jungen fast nach vorne, um das Eis zu bezahlen. Dabei hoffte er, dass die Botschaft bei „der Lady“ angekommen war …

Er warf Johnny Griegos Tochter ein paar Scheine aufs Kassenbuch und ging weiter, ohne stehen zu bleiben. Dann verfrachtete er Robbie auf den Beifahrersitz seines Trucks und stürmte zur Fahrerseite.

„Dad?“, fragte Robbie vorsichtig, als sie wieder auf dem Highway waren. „Was ist los?“

Womit soll ich anfangen? dachte Aidan. „Gar nichts, Kerlchen“, brummte er und verspannte sich unwillkürlich, als sie an einer Weide vorbeifuhren, auf der ungefähr ein halbes Dutzend Pferde weidete … Aber vom Beifahrersitz war kein Mucks zu hören. Sie fuhren über eine Hügelkuppe. Auf der anderen Seite lag ein Feld voller Kürbisse.

Er warf kurz einen Blick zur Seite und versuchte herauszubekommen, ob Robbie sich wirklich so auf die Kürbisse konzentrierte, wie es den Anschein hatte.

„Wir können anhalten, wenn du willst“, schlug Aidan zögernd vor. Als Robbie stumm blieb, fügte er hinzu: „Zeitig zuschlagen, damit wir die beste Auswahl haben?“

Ein oder zwei Sekunden vergingen, ehe Robbie den Kopf schüttelte.

Aidan musste den Jungen nicht ansehen, um zu wissen, dass er Tränen in den Augen hatte.

Ihm war auch zum Heulen zumute. Aber sie fuhren einfach weiter, während ihn diese unendliche Traurigkeit zu verschlingen drohte.

Aidan wartete, bis er die gedämpften Pieptöne von Robbies Videospiel hörte, ehe er seine Haushälterin zur Rede stellte. „Und Sie sind nicht darauf gekommen, mal nachzufragen, wem Tess das Alte Haus vermietet hat?“

„Und wie hätten wir bitte wissen sollen, dass sie Robbies leibliche Mutter ist? Selbst wenn Tess mir ihren Namen gesagt hätte, hätte ich nichts damit anfangen können.“

Aidan ließ sich schwerfällig auf einen Küchenstuhl fallen und presste einen nach Terpentin riechenden Lappen zwischen seine Augenbrauen. Das stimmte schon. Flo hatte erst angefangen, für sie zu arbeiten, als Winnie Porter kein Thema mehr war. Insofern hatte es keinen Grund gegeben, ihr zu erzählen, wer Robbies leibliche Mutter war.

Aber jetzt hatte Flo sich ihm gegenüber niedergelassen und musterte ihn besorgt. Ihr Streit war bereits wieder vergessen. „Haben Sie Angst, dass die Frau Ihnen Schwierigkeiten bereiten will?“

„Angst habe ich nicht. Wütend bin ich. Dass sie einfach so reinschneit und …“ Er ballte die Hand zur Faust. „Sie hat kein Recht, so etwas zu tun.“

„Aber wenn es doch eine offene Adoption war …?“

„Eine Abmachung, die sie vor mehr als acht Jahren gekündigt hat.“

Flo schien einen Augenblick nachzudenken. „Glauben Sie, dass sie über Miss June Bescheid weiß? Dass sie jetzt aufgetaucht ist, weil sie weiß, dass Ihre Frau nicht mehr lebt?“

„Keine Ahnung“, sagte Aidan. Dann sprang er auf und nahm seine Wolljacke vom Haken. „Es ist doch kein Problem, noch etwas mit dem Essen zu warten, oder?“

„Wo wollen Sie denn hin?“

Aber Aidan war schon zur Tür hinausgerannt.

2. KAPITEL

Es lag Jahre zurück, seit Aidan bei dem achtzig Jahre alten Häuschen gewesen war, in dem er mit June gelebt hatte, als sie nach Tierra Rosa gezogen waren. Das Anwesen hatten sie wegen des Grundstücks gekauft.

Sie hatten zunächst im Alten Haus gewohnt, bis es mit Aidans Karriere gut genug lief, um das Neue Haus weiter oben auf dem Berg zu bauen. Das lag wesentlich weiter von der Zivilisation entfernt. Dabei waren weder Aidan noch June sonderlich berühmt. Damals nicht und heute auch nicht. Aidan und June legten ganz einfach Wert auf ihre Privatsphäre. Vor allem Aidan.

Obwohl er ordentlich durchgeschüttelt wurde, während sein Truck die von Lebens-Eichen gesäumte und mit gelb blühendem Hasenpinsel überwucherte Schotterstraße entlangschlingerte und holperte, schnürte es ihm die Kehle zu. Schließlich kam er mit einem Ruck vor dem Haus zum Stehen.

Der Border Collie, der auf einem sonnigen Fleckchen der niedrigen Veranda gedöst hatte, sprang sofort auf und bellte.

Einen Augenblick später wurde die Fliegengittertür aufgerissen, und Winnie Porter tauchte auf. Sie hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben. Im schwindenden Tageslicht wirkten ihre Gesichtszüge viel markanter, als Aidan sie in Erinnerung hatte. Allerdings war sie bei ihrer letzten Begegnung auch eine hochschwangere Achtzehnjährige gewesen, die laut June einen guten Teil ihrer Aufsässigkeit durch zu viel Wasser im Körpergewebe und zu viele schlaflose Nächte eingebüßt hatte.

Genau wie damals fiel Aidan besonders ihre Größe auf. In ihren Cowboystiefeln, die nur praktisch und gar nicht modisch waren, wirkte sie alles andere als weiblich. Nichts an ihr war sanft. Unordentliche weizenblonde Haarsträhnen flatterten um ein Gesicht mit schweren Augenlidern und ausgeprägten Wangenknochen.

„Ich habe ich mir schon gedacht, dass du bald hier auftauchen würdest.“

Sie blickte ihm geradewegs ins Gesicht.

Aidan kletterte aus dem Truck und näherte sich ihr gerade mal so weit, dass er mit ihr sprechen konnte. Nahe genug jedenfalls, um die Entschlossenheit in ihren Zügen zu erkennen. Sobald sie den Mund aufmachte, schnitt er ihr das Wort ab: „Verdammt noch mal, wie hast du uns gefunden?“

Winnie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr zurück.

Früher waren ihre Augen dick schwarz umrandet gewesen, und sie hatte mehr Ohrringe getragen als ein Country-Sänger Glitzerapplikationen auf dem Kostüm. Jetzt war sie völlig ungeschminkt. Und soweit Aidan das sehen konnte, trug sie überhaupt keinen Schmuck.

„Übers Internet“, sagte sie und brachte ihn damit in die Gegenwart zurück. „Dieser Zeitschriftenartikel vor ein paar Jahren. Da stand zumindest drin, dass ihr in Tierra Rosa wohnt …“

„Du hast das Recht, an Robbies Leben teilzuhaben, vor acht Jahren aufgegeben. Als du uns gebeten – ja geradezu angefleht – hast, dir nichts mehr über ihn zu schicken.“

„Ich weiß. Aber wenn du mir noch eine Chance geben könntest …“

„Eine Chance wofür? Um das Leben eines Neunjährigen aus der Bahn zu werfen?“

„Nein!“ Sie schrie das Wort fast heraus. „Das hatte ich nie vor! Niemals“, bekräftigte sie.

Aber Aidan bemerkte etwas in ihren dunklen Augen, das ihm sagte, dass da mehr dahintersteckte.

Winnie strich sich die Ponyfransen aus der Stirn. „Wenn ich eine Möglichkeit gehabt hätte, dich zu erreichen, dann hätte ich alles vorher mit June und dir abgesprochen …“

„Robbies Mutter ist tot.“

Sie taumelte buchstäblich rückwärts. „Oh mein Gott … ich hatte keine Ahnung …“

Aidan verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr verdammter Hund schlich sich heran und wedelte mit dem Schwanz, als ob er sie beide dazu bringen wollte, sich zu vertragen. „Also, warum bist du hergekommen?“

Sie steckte die Hände in die Hosentaschen und schaffte es, gleichzeitig schuldbewusst und entschlossen auszusehen. „Ich wollte ihn nur … mal sehen. Das ist alles.“

Der Hund trottete zu ihr zurück, den Blick auf seine Herrin gerichtet.

Winnie bückte sich, um die Hündin zu streicheln. Das Dämmerlicht ließ ihre Gesichtszüge weicher erscheinen. Dann blickte sie wieder zu ihm auf, und ihre Stimme klang ganz weich, als sie sagte: „June ist noch nicht lange tot, vermute ich?“

Aidan spannte sich an, um dem Schmerz zu trotzen, auch wenn es nicht mehr so schlimm war wie anfangs. Und gerade deshalb taten die Schuldgefühle inzwischen manchmal mehr weh.

„Sie ist letztes Jahr im Juli gestorben. Als die Leute von der Zeitschrift hier waren, war sie schon krank.“ Er hielt inne, die Augen auf sie gerichtet. „Die letzten paar Jahre waren hart. Vor allem für den Jungen.“

Winnie sah zuerst weg, zum feurigen Glühen des Sonnenuntergangs jenseits der Bäume. „Das kann ich mir vorstellen“, murmelte sie, ehe sie ihn wieder ansah. „Meine Großmutter ist auch gestorben. Vor einer Woche ungefähr.“

Ein Ereignis, vermutete er sofort, das etwas mit Winnies plötzlichem Auftauchen zu tun hatte. Vor seinem geistigem Auge tauchte ein Bild auf: eine hochgewachsene, herrische Frau mit feuerrotem Haar und einem Blick, der einem durch Mark und Bein ging. „Mein Beileid.“

„Nicht nötig.“

„Warum bist du dann jetzt hier?“

„Als Ida starb, ist mir plötzlich klar geworden, dass ich niemanden auf der ganzen Welt habe, den ich als Familie bezeichnen kann“, gab Winnie zu. „Keine Tanten oder Onkel, keine Cousins oder Cousinen. Niemanden. Und vielleicht ergibt das nur für mich einen Sinn, aber ich habe irgendwie … mich einfach vergewissern wollen, dass es meinem Kind gut geht. Das ist alles. Nur zur Beruhigung meines eigenen Gewissens.“

„Schön“, sagte Aidan leise. „Du hast ihn gesehen. Dann kannst du jetzt ruhigen Gewissens nach Hause zurückfahren.“

Winnie streckte den langen Hals und legte den Kopf schief. Die gestuften Enden ihrer Frisur glitten über ihre Schulter nach vorn. „Sollte man meinen“, sagte sie traurig. „Du würdest wohl nicht in Erwägung ziehen, mir zu erlauben, etwas Zeit mit Robbie zu verbringen?“

„Das meinst du doch wohl nicht ernst?“

Tränen drohten zu fließen. Nein, dachte sie. „Ich weiß, dass du mir nicht vertraust …“

„Und du verschwendest gerade unsere Zeit“, sagte Aidan, warf die Hände hoch und drehte sich zu seinem Truck um.

„Du könntest doch versuchen, mich kennenzulernen!“, schrie sie ihm nach. „So, wie ich jetzt bin. Nicht als unglücklicher Teenager, wie du mich damals genau ein einziges Mal zu Gesicht bekommen hast. Und das für gerade mal eine Stunde.“ Als er die Hand nach der Fahrertür ausstreckte, rief sie: „Ich schwöre, ich würde niemals irgendetwas tun, was meinem Kind wehtun könnte!“

Aidan wandte sich um. „Vielleicht nicht mit Absicht. Aber das Ergebnis wäre das Gleiche.“

„Aidan, ich verspreche dir, dass ich genauso wenig Interesse wie du daran habe, das Rad zurückzudrehen. Ich werde es sogar respektieren, wenn du ihm nie gesagt hast, dass er adoptiert ist …“

„Natürlich weiß er das!“, rief Aidan. Seine langen Finger umkrampften den Griff der Autotür. „Aber er hat nicht nur keinerlei Interesse an seinen leiblichen Eltern gezeigt, er ist auch immer noch fix und fertig wegen des Todes seiner Mutter. Findest du nicht, das ist momentan genug Stress für einen Neunjährigen?“

„Ja, allerdings. Ich habe dasselbe durchgemacht. Daher weiß ich ziemlich genau, wie es Robbie jetzt geht.“ Sie hielt inne. „Verdammt, er schleppt den Schmerz mit sich herum wie eiserne Ketten. Das ist so offensichtlich“, sagte sie. Du doch genauso, dachte sie, schwieg aber. Sie schluckte. „Wenn du im Augenblick nicht willst, dass er erfährt, dass ich seine leibliche Mutter bin, dann bin ich damit einverstanden.“

Aidans Entschlossenheit geriet ins Wanken.

„Bitte“, sagte sie mit sanfter Stimme. Als sie kurz seinen Arm berührte, spürte sie seine angespannten Muskeln unter dem Jeansstoff. „Ich weiß, ich verlange sehr viel von dir, und du hast jedes Recht der Welt, Nein zu sagen …“

„Das tue ich auch“, sagte er. Der harte Ausdruck kehrte in seine Augen zurück. „Sorry, Winnie“, fügte er hinzu, aber er hörte sich dabei überhaupt nicht an, als ob ihm irgendetwas leidtun würde. „Dieses Risiko kann ich nicht eingehen.“

Unglaublich, wie weh ihr das tat. Vor allem, weil sie von vornherein keine besonderen Erwartungen gehabt hatte. Sie nickte und schaute weg. Dann trat sie einen Schritt zurück, die Arme vor der Brust verschränkt. „Kennt er überhaupt meinen Namen?“

„Nein.“

Sie hob den Kopf wieder. „Hast du vor, ihm jemals von mir zu erzählen?“

„Nur wenn er mich fragt.“

Nach einem Augenblick nickte Winnie erneut. Sie hoffte bloß, dass sie es bis ins Haus schaffen würde, bevor sie in Tränen ausbrach.

„Dann fährst du also morgen wieder weg?“, hörte sie seine Frage von hinten.

„Vermutlich. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest, es war ein langer Tag …“

„Gib acht auf die Stromleitungen, die sind etwas marode.“

Winnie drehte sich verwirrt um. „Hm, ja … Tess hat das schon erwähnt …“

„Und ich nehme an, du hast ein Mobiltelefon?“

„Lädt gerade auf …“

„Dann gib mir deine Nummer“, sagte Aidan und zog sein Handy aus der Hosentasche.

„Warum?“

„Du befindest dich auf meinem Grund und Boden. Ich bin für dein Wohlergehen verantwortlich. Also gib mir schon deine Nummer, verdammt noch mal.“

Kopfschüttelnd marschierte Winnie ins Haus, fischte einen Stift aus ihrer Handtasche und schrieb ihre Nummer auf eine Papierserviette vom Burger King der Raststätte bei Moriarty. Dann ging sie wieder hinaus und hielt ihm die Serviette hin. „Lass mir deine Nummer besser auch da. Falls in der Nacht ein Rudel tollwütiger Waschbären hier einfällt.“

Winnie notierte sich die Nummer auf einer zweiten Serviette, obwohl sie sich die Zahlenfolge sofort gemerkt hatte. Danach starrten sie sich ein paar Sekunden wortlos an, bis Aidan endlich die Autotür aufmachte und in seinen Truck kletterte.

„Warte!“, rief sie ihm zu, ehe er die Tür schließen konnte.

„Was ist denn nun noch?“

„Ich habe in meinem Leben ein paar wirklich dumme Entscheidungen getroffen. Aber irgendetwas sagt mir, dass ich richtig lag, als ich dich und June als Eltern für mein Baby ausgesucht habe.“

Dann ging sie hinein und dachte bei sich: Denk da mal drüber nach, Kumpel.

Später saß Winnie in einer abgetragenen Jogginghose auf dem Bett und vertilgte ihre Eispackung in Windeseile. Während sie in die tanzenden Flammen im Kamin starrte, ging ihr auf, dass sie sich davor drückte, sich eine ganz bestimmte Frage zu stellen: Okay … und was nun?

Sie schnäuzte sich die Nase mit einer weiteren Papierserviette, und auf einmal wurde ihr bewusst, dass sie auf den ersten Blick keine Liebe für Robbie empfunden hatte. Oh, sie hatte schon etwas gespürt. Sie wusste nur nicht, wie sie dieses Gefühl definieren sollte. Neugierig vielleicht. Und ein bisschen geschockt. Aber vor allem hatte sie gedacht: wow. Das ist mein Kind.

Und was Gefühle anging … bildete sie sich das nur ein, oder sah Aidan ihr Auftauchen ebenso sehr als eine Bedrohung für sich selbst wie für seinen Sohn an? Sie hatte zwar keine Ahnung, wie sie auf diesen Gedanken kam, doch alles in allem war es daher wohl wirklich das Beste, wenn sie wieder abreiste. Man konnte schließlich nur ein gewisses Maß an Verrücktheit auf einmal ertragen …

„Ach, du lieber Gott!“, stöhnte sie, als plötzlich jemand an die Tür klopfte. Sie schaute zu ihrem Hund hinüber. Aber ihre Hündin gähnte nur und kuschelte sich noch tiefer ins weiche Deckennest, als ob sie sagen wollte: Ich bleibe hier und halte für dich das Bett warm, okay?

„Aber klar, ich wollte dich keinesfalls stören“, murmelte Winnie und schälte sich mit einem tiefen Seufzer aus der warmen Bettdecke. „Wer ist da?“, rief sie durch die glücklicherweise massive Haustür.

„Florita Pen“, antwortete eine warme Stimme mit starkem Akzent. „Die Haushälterin von Mr. Aidan. Ich … wollte nur nachsehen, ob Sie auch genug Handtücher und … alles andere haben?“

Hmm. Die Frau hörte sich ungefährlich an. Andererseits hätten manche Leute möglicherweise auch ihre Großmutter für harmlos gehalten – jedenfalls, wenn sie verrückt oder betrunken genug waren. Sie wappnete sich innerlich und öffnete die Tür.

Vor ihr stand eine Frau mittleren Alters in eng anliegender Kleidung. Winnie vermutete gleich, dass die Sache mit den Handtüchern nur eine Ausrede war. „Weiß Ihr Boss, dass Sie hier sind?“, fragte sie die Haushälterin.

Breite, knallrote Lippen verzogen sich in einem mit Feuchtigkeitscreme getränkten Gesicht zu einem Lächeln. „Sehe ich aus, als wäre ich von seinem Truck gefallen?“

„Ich mache mal Tee“, sagte Winnie und hielt die Tür auf. Dabei achtete sie darauf, mit den Füßen außer Reichweite der Stilettoabsätze zu bleiben.

„Und wo in aller Welt haben Sie sich gerade herumgetrieben?“, warf Aidan seiner Haushälterin an den Kopf, als sie sich durch die Küchentür wieder ins Haus schlich. „Als ob ich’s nicht erraten könnte.“

Nachdem Flo ihre goldfarbene Lederjacke ausgezogen und an einem Haken neben der Tür aufgehängt hatte, musterte sie Aidan und zuckte die Achseln. „Ich bin nicht Cinderella, Boss. Ihnen gegenüber muss ich für mein Kommen und Gehen keine Rechenschaft ablegen. Ich habe einfach beschlossen, mir die Lady selbst mal anzusehen.“

Dann – weil das eben so ihre Art war – ergriff sie einen Schwamm und begann, die bereits blitzblanken Arbeitsflächen noch einmal abzuwischen.

„Und?“, fragte Aidan betont geduldig.

„Sie hat schon echt ‚cojones‘ – Mumm“, sagte Flo anerkennend und zog die knochigen Schultern hoch. „Hier einfach so herzukommen, dazu gehört Mut.“

„Sie sind doch wohl hoffentlich nicht der Ansicht, dass ich ihr erlauben sollte, Robbie zu treffen?“

„Weiß ich nicht, Boss. Das ist auch nicht meine Entscheidung.“

Aidan stieß den Atem aus. „Winnie hat Stein und Bein geschworen, dass sie Robbie nicht sagen würde, wer sie ist. Aber was sollte sie daran hindern, sich das noch mal anders zu überlegen? Es braucht nur einen Ausrutscher, dann haben wir den Salat.“

Flo wusch gerade im Edelstahlabwaschbecken den Schwamm aus. Wortlos warf sie ihm einen Blick über die Schulter hinweg zu.

„Er hat doch noch nie nach seiner leiblichen Mutter gefragt, Flo …“

„Dazu ermutigen Sie ihn ja auch nicht unbedingt, oder?“

„Warum sollte ich das tun, wenn doch alles gut so ist, wie es ist?“

Die Haushälterin schleuderte den Schwamm neben den Wasserhahn und fuhr herum. Dann ergriff sie ein Geschirrtuch, um sich daran die Hände abzutrocknen.

„Gut?“ Sie gab ein bellendes Lachen von sich. „Noch nach einem Jahr schleicht Robbie ganz gedrückt hier herum und bleibt immer allein für sich … also, in meinen Augen ist das alles andere als gut. Dios mío – wann hat hier das letzte Mal jemand wirklich gelacht? Ich sage Ihnen wann!“, rief sie, während ihr die Tränen in die Augen stiegen. „Als Miss June noch am Leben war. Wenn Sie das gut nennen, dann sind Sie verrückt.“

Aidan presste die Lippen zusammen. Es stimmte schon, Robbie und er redeten kaum noch miteinander. Sogar heute Abend waren seine unbeholfenen Versuche schiefgegangen, mit seinem Sohn ein Gespräch anzufangen. Und sein Angebot, ihm bei den Hausaufgaben zu helfen, hatte Robbie kategorisch abgelehnt. Nein, es lief ganz und gar nicht gut. Aber …

„Sie hatte ihre Chance, Flo. Wir waren mehr als bereit, sie auf dem Laufenden zu halten. Und sie hat sich dagegen ausgesprochen. Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich?“

Flo verschränkte die Arme vor einer Brust, die so flach war, dass sie sich schon beinahe nach innen wölbte. „Ich will doch genauso wenig wie Sie, dass irgendjemand Robbie wehtut. Aber als Sie von Garcia zurückgekommen sind, ist er direkt ins Haus marschiert und hat angefangen, mich auszufragen, ob ich darüber Bescheid weiß, dass eine Lady im Alten Haus abgestiegen ist. Und wie es kommt, dass da bisher nie jemand gewohnt hat.“

Als sie innehielt, bemerkte Aidan ihre innere Zerrissenheit. Sie war mit sich in dieser Sache genauso wenig im Reinen, wie er es war.

„Ob ich weiß, wer sie ist“, fuhr Flo fort. „Ich habe Nein gesagt, aber es war ihm anzusehen, dass er weiter darüber nachgegrübelt hat. Und wenn er mal anfängt …“

„Aber Winnie reist morgen früh wieder ab“, sagte Aidan, „womit sich das Argument erledigt hat.“

„Meinen Sie, wenn sie weg ist, werden auch seine Fragen verschwinden?“ Als Aidan erneut das Gesicht verzog, fügte Flo hinzu: „Vielleicht sollten Sie sich mal überlegen, was Miss June tun würde? Und was sie gewollt hätte, was Sie tun?“

Ein paar Minuten später stand Aidan mit einer großen Dose Bier in der Hand draußen auf der Terrasse und schaute hinunter zum Alten Haus. Zwischen den Bäumen hindurch konnte man gerade noch die Lichtstreifen von den Fenstern des Hauses erkennen. Und in diesem Haus befand sich eine Frau, die den Mut hatte, um etwas zu bitten, auf das sie – wie sie selbst zugegeben hatte – kein Recht hatte.

Mit der Hüfte gegen das Geländer gelehnt, trank Aidan einen Schluck Bier und ließ sich ihr Anliegen noch mal durch den Kopf gehen. Winnies Anwesenheit war definitiv ein Ärgernis, das er nicht brauchen konnte. Jedoch … was würde June an seiner Stelle tun? Für wen würde sie Mitgefühl empfinden?

Was für eine dumme Frage. Er lachte kurz auf. So überglücklich seine Frau auch über Robbies Adoption damals war, gleichzeitig hatte sie sich auch Sorgen gemacht, wie Winnie damit fertigwurde. Ob sie jemanden hatte, mit dem sie reden konnte, jemanden, der verstand, was sie gerade durchlitt? Als Winnie dann den Kontakt zu ihnen abbrach, konnte er sich kaum vorstellen, dass sie diesen Schritt schwerer nehmen könnte als June.

In vielerlei Hinsicht war June unglaublich zäh gewesen. Sie hatte sich für Themen eingesetzt, mit denen sonst niemand etwas zu tun haben wollte. Falls nötig, hatte sie keine Skrupel gehabt, jemandem Schwierigkeiten zu bereiten. Aber sie hatte ein weiches Herz besessen. Sie war nicht nur einfach ein liebevoller Mensch gewesen. Es hatte eher den Anschein gehabt, als ob die Liebe ihr Daseinszweck gewesen war.

Dabei hatte sie die Augen nicht vor den Schwächen der Menschen verschlossen, sondern ihnen durch alle Fehler hindurch geradewegs ins Herz gesehen. Nur Dummheit hatte sie nicht ertragen können. Aber tief in ihrem Inneren hatte sie an das Gute im Menschen geglaubt.

Aidan sog tief die süßlich-scharfe Luft ein. Diese Mischung aus vermodernden Blättern und Kaminrauch würde ihn immer an seine Frau erinnern. Für sie war der Herbst und nicht der Frühling die Zeit für einen Neuanfang gewesen. In den leuchtenden Farben, in denen die Berge erglühten, hatte sie nicht den Tod, sondern Schönheit gesehen. Trost. Freude.

Und genau in diesem Augenblick spürte er ihre Gegenwart so deutlich, dass er kaum noch atmen konnte.

June hatte nie ausdrücklich über ihre Wünsche gesprochen, was Robbie und seine leibliche Mutter anging, doch wenn sie jetzt hier wäre …

Aber sie ist nicht hier, dachte Aidan bitter. Sonst wäre die Situation vollkommen anders. Seine oberste Pflicht war es, Robbie unter allen Umständen zu beschützen. Winnie Porter schuldete er jedenfalls absolut nichts.

Nun sei doch nicht so stur!, schien der Wind zu wispern.

Aidan fuhr so heftig zusammen, dass er beinahe die Balance verlor. Aber nur einen Augenblick später glaubte er Winnie zu hören. Ihre Stimme war genauso kräftig und entschlossen – sogar wenn sie ihn anflehte – wie Junes. Und dann noch ihre rauchblauen Augen und ihr furchtloser Blick. Aber die Frau war natürlich auch völlig übergeschnappt …

Und manchmal bedeutet das nur, dass jemand sehr mutig ist.

June schon wieder. Seine Nasenflügel blähten sich, als er tief Atem holte. Aidan kniff die Augen zusammen. Er erinnerte sich daran, was June gesagt hatte, nachdem sie Winnie getroffen hatten – wie ähnlich sie und Winnie sich waren.

„Da könntest du nicht weiter danebenliegen“, sagte Aidan laut und schüttelte den Kopf. Wer ist hier jetzt eigentlich verrückt?, war die Frage, die ihm dabei durch den Kopf ging.

Dann schauderte er, als der Wind ihm in den Rücken blies, wie zwei Hände, die ihn vorwärts schubsten. Noch beunruhigender war, dass der Wind eine Melodie zu pfeifen schien: Rede mit ihr. Nur diese drei Worte, immer und immer wieder. Bis Aidan das Gefühl hatte, noch verrückter zu werden, als er es ohnehin schon war.

Der Wind legte sich, als Aidan wieder ins Haus ging. Gott sei Dank, dachte er, warf seine Bierdose in den Müll und ging dann nach oben, um seinem Sohn Gute Nacht zu sagen. Aber Robbie schlief schon, ein Knäuel aus Bettdecke, langen Armen und Beinen, Spiderman und Transformers.

Aidan entwirrte Bettzeug und Jungen, so gut er konnte. Dann setzte er sich auf die Bettkante, um mit seiner ständig mit Ölfarbe verschmierten Hand das zottelige Haar seines Sohnes zurückzustreichen.

Das Gesicht des Jungen sprach im Schlaf eine viel deutlichere Sprache als während seiner wachen Stunden.

„Wir zwei sind ganz schön kaputt was?“, sagte Aidan mit sanfter Stimme. Die Leere in ihm schien sich auszudehnen. Man behauptete, dass es nach einem Jahr einfacher wurde. Er hatte jedoch gehofft, dass sie sich inzwischen mehr an ihre neue Lage gewöhnt hatten, als es anscheinend der Fall war.

Aidans Verlust war unwiederbringlich. Irgendwie, schien es ihm, lag gerade in dieser Hoffnungslosigkeit ein gewisser Trost. Aber für ein neunjähriges Kind …

Und für eine Frau, die vor neun Jahren wahrscheinlich ganz schön unter Druck gesetzt worden war …

Aidan stieß einen tiefen, leisen Seufzer aus, stand auf und ging aus dem Zimmer seines Sohnes. Beim Gehen griff er bereits nach seinem Mobiltelefon.

3. KAPITEL

Am nächsten Morgen wachte Winnie mit einem spitzen Schrei auf den Lippen auf, als sich eine kalte Hundeschnauze gegen ihren Rücken presste. Nach dieser Nacht in einem ungewohnten Bett fühlte sie sich völlig verkatert.

„Oh, verdammt“, murmelte sie, als sie sich daran erinnerte, dass Aidan sie zum Frühstück eingeladen und sie die Einladung angenommen hatte. Und was für eine gemeine Kombination Einsamkeit und ein weicher irischer Akzent waren. Und …

Irgendwo in der Ferne krähte ein Hahn.

Ihr Handy klingelte. „Gut, du bist wach“, sagte Aidan, als sie das Mobiltelefon ans Ohr presste. „Ich dachte, ich habe dir Bescheid gesagt, dass wir um halb neun frühstücken?“

„Es ist jetzt …“ Mit zusammengekniffenen Augen warf sie einen Blick auf ihre Uhr. „Zehn nach acht. Also kein Problem.“

„Freut mich, das zu hören“, sagte Aidan und legte auf.

Das Dorf Tierra Rosa ist auf eine merkwürdige Art reizvoll, dachte Winnie, als sie ihren Truck auf der gewundenen Hauptstraße wie auf einer Achterbahn erst rauf, dann runter manövrierte. Eine Mischung aus historischer spanischer Siedlung, Filmset aus einem Hollywood-Western und Trailerpark.

„Nein“, sagte sie zu ihrem Hund, als sie ausstieg. „Du musst hierbleiben.“

Plötzlich wurde sie vor der Begegnung so nervös, dass sie beinahe in Ohnmacht fiel.

Das Café war fast voll. Die Gäste drängten sich um ein halbes Dutzend zufällig im Raum verteilter Tische und ebenso vieler Nischen. Handgemalte Bougainvillearanken schlängelten sich unter einer Decke mit schweren Holzbalken dahin.

Dann blieb ihr Blick an Aidan hängen, der gerade aufstand. Das Licht, das durch das Fenster neben ihm fiel, schien sich an seiner kantigen Erscheinung regelrecht zu brechen. Sein weißes Hemd, das genau einen Knopf zu weit geöffnet war, leuchtete beinahe.

Aidan legte leicht den Kopf schräg. Sein Stirnrunzeln sorgte nur dafür, dass er noch mehr wie eine Mischung aus keltischem Krieger und Cowboy aussah, mit seinem wirren Haar und dem Dreitagebart. „Hast du es endlich geschafft?“, fragte er mit einem noch finstereren Blick.

Dem sollte mal einer Manieren beibringen, dachte Winnie genervt, während sie sich einen Weg durch das Labyrinth aus Tischen und Stühlen bahnte und sich darauf konzentrierte, dass Aidan alle Trümpfe in der Hand hielt. Wenn sie auch nur einen Funken Verstand hätte, dann hätte sie ihre Hormone bei ihrem Hund im Auto gelassen.

Doch je näher sie kam, desto deutlicher nahm sie nicht nur seine Muskeln und sein attraktives Aussehen wahr, sondern auch den Schmerz, der hinter dem Ärger in seinen Augen verborgen lag.

Sie hatte auf einmal einen Bärenhunger und griff nach der Speisekarte. Dabei gab sie sich Mühe, das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken. Nachdem sie ihre Wahl getroffen hatte, knallte sie die Speisekarte auf den Tisch. „Warum hast du deine Meinung geändert?“, fragte sie als Erstes. Als ein Ausdruck der Überraschung über sein Gesicht glitt, konnte sie nicht anders, als ein gewisses Maß an Genugtuung zu empfinden.

In diesem Augenblick tauchte die Bedienung auf.

Aidan wartete, bis sie die Bestellung aufgenommen hatte und wieder in der Küche verschwunden war, bis er zurückfragte: „Wie kommst du darauf, dass ich meine Meinung geändert habe?“

„Sonst hättest du mich wohl nicht zum Frühstück eingeladen, oder?“ Winnie zwang sich dazu, ihm in die Augen zu sehen. Ob sie es nun wollte oder nicht, sie konnte seinen Schmerz nachfühlen. „Ist das hier so eine Art Prüfung? Wie viele Fragen ich richtig beantworte, entscheidet darüber, ob ich Robbie sehen darf oder nicht?“

„So einfach ist das nicht.“ Bei diesen Worten wirkte er, als ob er sich nicht sehr wohl in seiner Haut fühlte.

„Nein“, sagte Winnie. „Vermutlich nicht.“

Als die Bedienung ihr Essen brachte, lehnte sie sich leicht zurück. Für den Augenblick schien es Aidan die Sprache verschlagen zu haben. Er wirkte wie gefesselt von Winnies Anblick, als sie ihr Omelett großzügig mit dickflüssiger, würzig riechender Salsa bestrich. „Vielleicht solltest du nicht so viel nehmen. Das ist keine Salsa für schwache Gemüter.“

„Ich glaube, damit werde ich schon fertig“, gab sie zurück und dachte, dass er möglicherweise sehr viel mehr meinte als nur die Salsa.

Sie nahm einen großen Happen – das Zeug hatte es in sich, aber sie hatte schon schärfer gegessen. „Wenn du mich wirklich kennenlernen willst, dann musst du mir ein paar Dinge einfach glauben. Denn mit einem halben Dutzend Leumundszeugen für meinen guten Charakter kann ich leider nicht aufwarten. Aber ich schwöre, ich bin nicht hierhergekommen, um irgendjemandem Schwierigkeiten zu machen.“

Die Salsa entfachte ein kleines Feuer in ihrem Magen. „Am allerwenigsten Robbie. Und außerdem …“

„Was?“

Winnie kaute einen Moment. Aidan wirkte sichtlich beeindruckt, dass sie kein halbes Glas Wasser hinunterkippen musste, um den Brand zu löschen. „Das trägt mir jetzt wahrscheinlich keine Pluspunkte ein, weil du sowieso schon denkst, dass ich nicht alle Tassen im Schrank habe. Aber ein paar Tage nach dem Tod meiner Großmutter …“

Sie stieß den Atem aus. „Es war fast so, als ob ich … eine Stimme hörte. Nur war es keine wirkliche Stimme, sondern … eher so etwas wie ein echt starkes Gefühl. Dass ich herkommen muss.“

Er sah sie an, als wollte er sagen: „Für wie blöd hältst du mich eigentlich?“

Sie zuckte die Achseln. „Ich weiß. Elektra hat mich auch für verrückt erklärt. Insofern geht ein weiterer Punkt an dich.“

„Elektra?“

„Sie betreibt den Imbissladen meiner Großmutter. Oder wohl jetzt meinen.“

„Du klingst nicht gerade begeistert.“

„Na ja, es ist nicht so, als hätte ich gerade eine Kette von Fünfsternehotels geerbt. Ich weiß, ich sollte dankbar sein, aber … das ist … mein Problem.“

„Inwiefern?“

„Ich würde gern etwas mit Kindern machen – immerhin bin ich ausgebildete Lehrerin – aber ich habe noch keine fünf Minuten Ruhe gehabt, um darüber überhaupt nachzudenken.“

Dann stieß sie einen Laut aus, der irgendwo zwischen Seufzer und Lachen anzusiedeln war. „Und ich sollte zumindest versuchen, hier einen guten Eindruck zu machen. Aber weißt du was? Ich bin nun mal so, wie ich bin. Entweder du akzeptierst das oder nicht. Vielleicht hältst du mich für ein bisschen komisch, aber ich bin kein schlechter Mensch. Nicht mehr.“

„Nicht mehr?“

„Ach, jetzt komm schon – als wir uns kennengelernt haben, da habe ich doch sicherlich ausgesehen wie vom Teufel besessen. Jedenfalls habe ich mich manchmal auch so gefühlt. Aber ich habe mich geändert. Das musst du mir glauben, Aidan.“ Zitternd holte sie tief Luft. „Ich schwöre es.“

Aidan schaffte es nicht, einen Funken Mitgefühl zu unterdrücken. Oh, er konnte sich klar und deutlich an die Winnie von damals erinnern. Diese riesigen blauen Augen, die eine Mischung aus Wut und Angst und Bitterkeit ausgestrahlt hatten. Aber vor allem eine unermessliche Traurigkeit, die sogar damals irgendetwas in seinem Inneren berührt hatte. „Inwiefern hast du dich angeblich geändert?“

„Nun …“, sagte sie nach einer Gedankenpause, „ich habe aufgehört, mich zum Opfer meiner Wut zu machen. Hat allerdings eine Weile gedauert …“ Sie starrte ihren Teller an und atmete schwer. „Wer hätte gedacht, dass es so viel schwieriger sein könnte, mich selbst zu lieben als meine Großmutter?“

„Sie hat nicht gerade warmherzig auf mich gewirkt“, sagte Aidan mit ruhiger Stimme.

Winnie schnaubte. „Ida konnte nicht anders, als streng zu sein. So ist sie selbst erzogen worden. Aber jedes Mal …“ Sie drehte sich zum Fenster.

Aidan sah, wie sie schwer schluckte.

„… jedes Mal, wenn sie gesagt hat ‚Du bist genau wie deine Mutter‘, war ich mehr davon überzeugt, dass sie sowieso schon das Schlimmste von mir dachte. Da konnte ich ihre Erwartungen auch gleich erfüllen.“

Aidans Magen verkrampfte sich. „Und was hat sie damit gemeint?“

Winnie lachte bitter auf. „Was ich so mitbekommen habe, hat meine Mutter wohl einen echten Dickschädel gehabt. Hat sich bei jeder Gelegenheit gegen meine Großmutter aufgelehnt. Bis sie dann das Fass zum Überlaufen gebracht hat und mit meinem Vater durchgebrannt ist, kaum dass sie achtzehn war.“

Ihr Blick traf Aidan. „Soweit ich mich erinnere, war Daddy ein sympathischer, freundlicher Mann. Nur eben nicht sehr erfolgreich.“

Aidan war klar, dass Winnie ihm nichts vormachte. Trotzdem überkam ihn eine solche Wut, dass es beinahe wehtat. Verdammt noch mal, er wollte weder für Winnie Porter noch für sonst wen Mitgefühl empfinden. In seiner Ehe war June für Mitleid und andere Gefühle zuständig gewesen. Sie hatte das große Herz gehabt. Er stach mit der Gabel in seine erkalteten Eier. „Deine Abneigung erscheint mir durchaus angebracht.“

„Vielleicht. Aber sogar mir ist klar geworden, dass das nicht gesund war. Verbitterung mit sich herumzuschleppen, macht keinen Spaß, weißt du? Es war ja an sich nicht verkehrt, dass Ida sich etwas Besseres für ihre Tochter gewünscht hat. Und als diese gestorben ist, hat sie das fast mit umgebracht. Der Himmel weiß, dass es nicht angenehm war, mit einer Frau zusammenzuleben, die ihre Enttäuschungen wie preisgekrönte Orchideen gepflegt hat. Aber es war schließlich nicht ihre Schuld, dass sie krank geworden ist. Und wenn schon sonst nichts, habe ich doch viel von ihrem Beispiel gelernt.“

„Und was wäre das?“

„Man darf seinen Schmerz nicht an anderen Menschen auslassen. Am allerwenigsten an einem unschuldigen Kind.“

Nach einer langen Pause deutete Aidan auf ihren geleerten Teller. „Bist du fertig?“, fragte er. Als Winnie nickte, winkte er der Bedienung und zog seine Kreditkarte aus der Brieftasche, um die Rechnung zu bezahlen. „Du hältst mich vermutlich für hartherzig, weil ich nicht will, dass Robbie erfährt, wer du wirklich bist.“

Sie wischte sich mit der Serviette den Mund ab. „Du bist sein Vater, Aidan. Wie du gesagt hast, habe ich alle meine Rechte in dieser Angelegenheit vor langer Zeit aufgegeben. Ich muss darauf vertrauen, dass du weißt, was am besten für deinen Sohn ist.“

„Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, was passiert, wenn er irgendwann nach dir fragt, nachdem er dich schon mal gesehen hat? Du hast mich in eine unmögliche Situation gebracht, das ist dir schon klar, oder?“

Sie lief scharlachrot an. „Es tut mir wirklich leid.“ Hastig stand sie auf und packte ihre Handtasche. „Da versuche ich dir zu erzählen, ich hätte gelernt, dass es nicht immer nur um mich geht. Und dann stellt sich heraus, dass ich genauso wie immer gehandelt habe.“

Sie straffte die Schultern und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich habe doch nur …“ Kopfschüttelnd wich sie zurück. Sie stolperte über einen leeren Stuhl, drehte sich um und ging zur Tür.

Jeder vernünftige Mensch hätte sie gehen lassen, mit ihrer ganzen Ernsthaftigkeit und ihrer Reue und diesen verdammt ausdrucksvollen Augen. Augen, die Aidan schon vor neun Jahren erschüttert hatten. Sogar, als er glücklich und verliebt gewesen war. Als wäre sie nichts weiter als das Mittel zum Zweck, Vater zu werden, für ihn gewesen. Beschämt und wütend kritzelte er seine Unterschrift auf den Beleg und rannte Winnie hinterher.

Sie hatte schon ihren Truck erreicht, als sie sich nach ihm umdrehte. Misstrauen und Scham lagen in ihrem Blick.

Heftig atmend und verdammt wütend blieb er ein paar Schritte von ihr entfernt stehen. „Na schön“, sagte er, fest entschlossen, ihr die Schuld an dem ganzen Schlamassel zu geben. „Ich bin immer noch überzeugt, dass es ein saublöder Zeitpunkt ist, um Robbie die Wahrheit zu sagen …“ Allein der Gedanke bereitete ihm Schmerzen, auch wenn er nicht genau sagen konnte, warum. „Aber vielleicht …“

Er wandte sich ab, um den Hoffnungsschimmer in ihren Augen nicht sehen zu müssen. „Wenn er dich erst mal ein bisschen kennenlernt, könnten wir es ihm vielleicht irgendwie schonend beibringen.“

Winnie runzelte die Stirn. „Bist du sicher?“

„Überhaupt nicht.“

Ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht. „In Wirklichkeit willst du doch, dass ich jetzt sage, dass ich meine Meinung geändert habe, oder?“

„Du hast ja keine Ahnung.“

Sie schaute kurz weg und sah ihm dann direkt ins Gesicht. „Ich verspreche, dass ich ihm nichts sage. Nicht, bis du einverstanden bist.“

„Komm heute Abend zum Essen vorbei“, sagte er. Dabei hatte er das Gefühl, als ob der schwankende Boden, auf dem er sich seit einem Jahr bewegte, noch mehr nachgab. „So gegen sieben. Einfach der Straße am Alten Haus vorbei folgen.“

„Was willst du ihm sagen, warum ich hier bin?“

„Keine Ahnung. Da muss ich mir noch etwas einfallen lassen.“

Sie nickte. „Danke.“

Aber Aidan wollte nicht, dass sie sich bei ihm bedankte. Er wollte mit dieser ganzen Sache nichts zu tun haben.

Winnies Nerven waren viel zu angespannt, um in das kleine Haus zurückzukehren und Löcher in die Luft zu starren. Daher beschloss sie, sich ein bisschen die Gegend anzusehen. Santa Fe entpuppte sich auf den ersten Blick als Reinfall. Die Stadt war zwar sehr hübsch, aber überlaufen. Stattdessen machte sie deshalb eine lange, gemütliche Fahrt durchs Hinterland.

Das Wetter war fast zu schön. Auf jeden Fall sorgte das Panorama aus endlos blauem Himmel und Bergen dafür, dass sich ihre Stimmung hob. Ganz abgesehen von dem klaren Kopf, den ihr dieser Blick verschaffte.

Wieder in der Stadt, war sie fast am Verhungern. Deshalb schaute sie noch mal bei dem Café vorbei. Als sie zu ihrem Truck zurückkehrte, musste sie erst mal Annabelle abwehren. Ihr Hund fand Burritos mit Steak und Käse nämlich auch sehr lecker.

Eigentlich hatte sie geplant, danach gleich zum Haus zurückzufahren und sich noch mal kurz hinzulegen. Auf keinen Fall hatte sie vorgehabt, bei dem Kürbisfeld anzuhalten, an dem sie morgens vorbeigefahren war. Aber wer konnte schon widerstehen, wenn die Nachmittagssonne Kürbisse in ihrer ganzen Pracht erstrahlen ließ, so weit das Auge reichte?

Sie jedenfalls nicht.

Als Winnie eine halbe Stunde später ein halbes Dutzend dieser riesigen Kürbisse von der Ladefläche ihres Trucks zerrte, hatte sie keinen blassen Schimmer, was sie mit ihnen anfangen sollte. Vor allem, weil sie lange vor Halloween wieder in Texas sein würde. Und als sie die Kürbisse endlich so aufgetürmt hatte, dass sie und Annabelle mit dem Ergebnis zufrieden waren, fiel ihr auf, dass die Farbe der Kürbisse überhaupt nicht zum leuchtenden Pink der Cosmeen passte.

Hungrig schlang sie ihren Burrito herunter, trank ein Glas Milch und ließ sich anschließend aufs Bett fallen. Sie schaffte es gerade noch, die Stiefel abzustreifen. Im nächsten Moment war sie schon eingeschlafen. Und wer weiß, wie lange sie geschlafen hätte, wenn nicht ungefähr eine Stunde später jemand geklopft hätte. Beim zweiten Klopfen tappte Winnie zur Tür.

Vor ihr auf der Veranda stand ein miesepetriger, neunjähriger Junge in einem staubigen Kapuzenshirt. Sein Fahrrad lag ein paar Schritte entfernt auf der Erde.

„Wer bist du eigentlich?“, fragte Robbie so genervt, als ob er schon eine ganze Weile darüber nachgedacht hatte.

Robbie wusste selbst nicht, warum es ihn so störte, dass jemand im Alten Haus wohnte. Vor allem, weil die Frau doch gesagt hatte, dass sie nur für eine Woche bleiben würde. Und als er sie im Laden getroffen hatte, da hatte sie eigentlich einen ganz netten Eindruck gemacht. Aber warum wohnte sie ausgerechnet hier?

Denn hier konnte er über seine Mom nachdenken, so viel er wollte. Manchmal redete er sogar mit ihr – obwohl er wusste, dass er nicht wirklich mit ihr sprechen konnte; er war ja kein dummes kleines Kind mehr, das an Geister glaubte. Aber so konnte er Sachen loswerden, die er seinem Dad nicht zu erzählen wagte. Zum Beispiel, wie sehr er sie immer noch vermisste. Hier durfte er auch weinen, weil keiner da war, der ihn sehen konnte.

Den ganzen Tag in der Schule musste er daran denken, dass es sich anfühlte, als ob sich diese Frau zwischen ihn und seine Mom drängte. Obwohl er wusste, dass das dämlich war. Sobald er aus dem Schulbus gestiegen war, entschloss er sich, die Frau einfach selbst zu fragen.

Doch als er sein Vorhaben in die Tat umsetzte, kam er sich albern vor. Vor allem, als die Frau ihn so komisch ansah.

„Ich heiße Winnie“, sagte sie lächelnd und trat auf die Veranda heraus. „Du bist Robbie, nicht?“

Er nickte. Dann fragte er: „Warum bist du hergekommen?“

„Ich habe einen Artikel über Tierra Rosa gelesen. Und das klang so schön, dass ich mich entschlossen habe, herzukommen. Und weil es hier keine Motels oder so gibt …“

„Ich will nicht, dass jemand hier wohnt“, sagte Robbie. Sein Gesicht wurde ganz heiß, und er wandte den Kopf ab.

Annabelle kam zu ihm und leckte ihm die Hand. Als ob das Tier wusste, wie schlecht er sich fühlte.

Statt sich aufzuregen oder wütend zu werden, steckte Winnie nur die Hände in die Hosentaschen. „Das hier ist dein Zufluchtsort, was?“

Robbies Gesicht wurde noch heißer. „So was in der Art.“

„Das habe ich nicht gewusst“, sagte Winnie mit sanfter Stimme. Dann rief sie den Hund zu sich. Einen Augenblick schwieg sie, dann meinte sie: „Ich bleibe auch nicht lange hier, das verspreche ich.“

„Im Laden hast du doch ‚eine Woche‘ gesagt.“

„Kann sein, dass ich sogar früher wieder abreise. Ich habe mich noch nicht entschieden.“

Irgendetwas an ihrem Gesicht gab Robbie das Gefühl, er würde in einen Spiegel schauen. Als ob sie genauso traurig war wie er und sich sehr darum bemühte, das nicht zu zeigen. Da fühlte er sich schlecht. Denn es war ja nicht ihre Schuld. In diesem Augenblick bemerkte er die Kürbisse. „Wenn du nicht hierbleibst, warum hast du dann die ganzen Kürbisse?“

Winnie lachte. „Das war so ein spontaner Einfall.“

Robbie starrte die Kürbisse an. „Halloween war der Lieblingsfeiertag meiner Mom.“

„Echt? Das ist auch mein Lieblingsfeiertag.“

„Schneidest du auch Fratzen in die Kürbisse?“

„Wahrscheinlich. Aber erst, wenn ich wieder zu Hause bin und erst ein paar Tage vor Halloween. Wenn ich jetzt anfange, verschrumpeln die zu schnell.“

„Ja, ich weiß.“ Er hielt inne. „Meine Mom ist gestorben. Kurz vor Halloween letztes Jahr.“

„Oh, du Armer … das tut mir leid“, sagte sie, als ob sie es tatsächlich meinte. „Meine Eltern sind auch gestorben, als ich ungefähr so alt war wie du.“

Er sah sie neugierig an.

„Wie denn?“

„Bei einem Autounfall“, sagte sie leise.

„Oh.“

Robbie hatte noch nie jemanden gekannt, der auch als Kind seine Eltern verloren hatte. Vielleicht war das der Grund, warum die Frau sich nicht so dämlich benahm – so peinlich berührt – wie viele andere Leute. Die waren alle entweder viel zu nett zu ihm, oder sie trauten sich nicht, ihm in die Augen zu sehen.

Ehe er sich genau überlegt hatte, was er eigentlich tat, hatte er sich neben sie auf die Veranda gesetzt. Der Hund brachte einen Stock.

„Wie heißt sie?“

„Annabelle. Aber manchmal nenne ich sie auch Dummbell.“

Robbie musste beinahe lachen. Er warf den Stock. Dann hörte er sich sagen: „Als Mom krank war, bin ich oft hergekommen.“

„Um allein zu sein?“

„Ja. Und jetzt ist es fast …“

„Wie?“

Er schüttelte den Kopf. Er konnte nicht glauben, dass er ihr beinahe von seinem Gefühl erzählt hatte, seine Mutter könnte jetzt hier sein. „Nix“, sagte er und zuckte die Achseln.

„Magst du eine Banane? Oder einen Müsliriegel?“

Er überlegte. „Kann ich auch beides haben?“

„Klar.“ Winnie stand auf. Als sie dem Hund befahl, draußen bei Robbie zu bleiben, zitterte ihre Stimme leicht.

Ihre Augen brannten, als sie sich an die Wand neben der Tür lehnte und darum kämpfte, ihr Zittern unter Kontrolle zu bringen. So war das nicht gedacht. Das sollte sie sich alles nicht so zu Herzen nehmen …

Sie holte tief Luft, griff sich ein paar Bananen und einen Müsliriegel vom Tisch und ging wieder nach draußen. Als sie auf die Veranda trat, hatte Robbie gerade erneut den Stock für Annabelle geworfen.

Er nahm sich eine Banane und begann sie zu schälen.

Winnie ließ sich wieder neben ihm nieder und machte sich an ihre Banane.

„Danke“, sagte er.

„Gern geschehen.“

„Hast du Geschwister?“, fragte er mit vollem Mund.

„Nein.“

Er starrte sie an. „Das heißt, du bist echt ganz allein auf der Welt?“

„Jawohl.“

Einen Augenblick starrte Robbie die Banane stirnrunzelnd an, dann biss er wieder ab. „Ich habe noch eine Mam und einen Pap in Irland. So nennt man da die Großeltern. Aber ich habe sie nur ein paarmal gesehen. Und einmal, gleich nachdem ich adoptiert worden bin, also zählt das nicht richtig.“

Das Obst lag Winnie wie ein Stein im Magen. Bitte sag jetzt nichts weiter darüber, dass du adoptiert worden bist, flehte sie innerlich. „Das sehen die bestimmt anders.“

„Vielleicht.“ Robbie aß seine Banane auf, dann riss er die Verpackung des Müsliriegels auf. „Mit Schokoladestückchen! Cool!“

Der Junge knabberte an seinem Müsliriegel und runzelte die Stirn. „Weißt du, was echt doof ist?“

Winnie hielt den Atem an. „Was denn?“

„Die Leute sagen, dass mein Dad irgendwann wieder heiratet. Und dann kriege ich eine andere Mutter.“ Als er sie ansah, konnte sie erkennen, dass er den Tränen nahe war. Der Anblick brach ihr fast das Herz. „Das ist doch dämlich, oder?“

„Ziemlich“, stimmte sie zu und hoffte, dass er nicht merkte, wie feucht ihre Augen jetzt waren. „Schließlich kann niemand anders jemals den Platz deiner Mom einnehmen, oder?“

„Nie. Und mein Dad würde nie wieder heiraten. Er ist viel zu traurig. Außerdem sagt Florita, er ist so ein Griesgram, dass ihn sowieso keine Frau nehmen würde.“

Winnie konnte ein Lachen nicht unterdrücken. Trotzdem sagte sie: „Manchmal, wenn Menschen sehr unglücklich sind, bekommen sie schlechte Laune. Es kann sein, dass es deinem Dad nicht für immer so geht.“

Robbie rieb sich mit dem Oberarm über die Augen. Dann blinzelte er und murmelte: „Ich muss los.“ Mit einem Satz sprang er von der Veranda. Er zerrte sein Fahrrad hoch und stieg in den Sattel. „Kann ich dich vielleicht morgen wieder besuchen?“

Winnie verkrampfte die gefalteten Hände, bis es wehtat. „Ich habe gedacht, du willst nicht, dass ich hier bin?“

Der Junge wurde vor Verlegenheit rot. „Das geht schon klar, wenn du hierbleibst.“

„Oh. Wow. Danke. Aber …“ Plötzlich verlor sie all ihren Mut. „Ich glaube, ich reise morgen früh wahrscheinlich ab.“

„Aber du kommst doch wieder, oder?“

„Oh, mein Lieber …“ Langsam schüttelte sie den Kopf.

„Und wenn schon! Mach doch, wozu du Lust hast!“, entfuhr dem Jungen ein ärgerlicher, verletzter Aufschrei.

Im selben Augenblick hörten sie die wütende Stimme seines Vaters: „Robbie! Was zum Teufel treibst du hier?“

Winnie sprang auf, und Robbie zuckte zusammen. Da kam Aidan auch schon aus dem Wald neben dem Haus. Trotz ihrer mühsam zurückgehaltenen Tränen konnte sie erkennen, dass er aufgebracht war.

Aidan nahm kaum wahr, wie Winnie sich verstohlen die Augen abwischte, ehe er seine Aufmerksamkeit seinem Sohn zuwandte.

Robbie wirkte eher verwirrt als schuldbewusst. „Nichts. Ich habe nur …“ Er schaute erst Winnie an, dann Aidan. „Ich wollte nur rausfinden, wer sie ist. Das ist alles …“

„Ist schon okay“, setzte Winnie an.

Aber Aidan warf ihr einen Blick zu, der sie überraschenderweise zum Verstummen brachte. Dann wandte er sich wieder an Robbie. „Du weißt genau, dass du nirgends hingehen sollst, ohne vorher mit Florita oder mir zu sprechen“, sagte er mit ruhiger Stimme. „Flo war ganz außer sich vor Sorge. Also, mach dass du nach Hause kommst, aber schnell. Und du solltest dir mal für die nächsten drei Tage abgesehen von deinem Schulweg keine Ausflüge vornehmen.“

„Dad! Das ist gemein!“

„Ab mit dir.“

Murrend machte sich der Junge auf den Weg.

Winnie kramte in ihren Hosentaschen nach einem Papiertaschentuch und schnäuzte sich. „Ich schwöre, ich hatte keine Ahnung, dass du nicht gewusst hast, wo er steckt …“

„Hast du allen Ernstes geglaubt, ich hätte ihm erlaubt, hierherzukommen?“

„Verdammt, woher soll ich das wissen? Du hast mich schließlich für heute Abend zum Essen eingeladen.“

„Hast du es ihm gesagt?“

„Dass ich seine leibliche Mutter bin? Natürlich nicht“, sagte sie. „So dumm bin ich nicht. Oder so selbstsüchtig. Er hat gefragt, wer ich bin, und ich habe ihm meinen Namen genannt. Ich habe gedacht, das kann doch nichts schaden. – Vielleicht ist das mit dem Abendessen heute doch keine so gute Idee“, fügte sie hinzu und sah ihn unschlüssig an.

„Und da schwörst du, dass du dich geändert hast“, sagte Aidan vorwurfsvoll.

Ihre Augen weiteten sich. „Ich habe ehrlich nicht geglaubt, dass ich eine echte Verbindung fühlen würde.“ Sie war sichtlich erstaunt. „Nicht nach so vielen Jahren. Und ganz sicher nicht nach zwei kurzen Gesprächen.“

Sie rieb sich die Nase. „Anscheinend bin ich wieder genau da, wo ich vor achteinhalb Jahren war.“ Ihr Blick kehrte zu ihm zurück. „Er ist wirklich ein prächtiger Junge.“

Aidan schluckte. „Dafür kannst du June danken.“

Sie musterte ihn so lange, dass er spürte, wie seine Wangen heiß wurden. „Ich wünschte, ich hätte sie besser gekannt.“

„Du hast deine Chance gehabt.“

„Ich weiß“, sagte Winnie leise. „Morgen früh fahre ich ab. Ich werde dich nicht wieder belästigen.“

Aidan war längst nicht so erleichtert, wie er erwartet hatte. Aber das ging ihm zurzeit mit allem so. Er nickte nur stumm. Als er die Kürbisse bemerkte, die auf der Veranda aufgereiht waren, runzelte er die Stirn. „Hat Robbie sonst noch irgendetwas gesagt?“

Winnie warf ihm einen merkwürdigen Blick zu. „Ich habe keine Ahnung, was du meinst.“

„Ehrlich gesagt, ich auch nicht. Er ist nur so … ich weiß einfach nicht mehr, was er denkt …“ Die Worte kamen ihm ganz gegen seinen Willen über die Lippen.

„Wenn du wissen willst, worüber wir gesprochen haben, solltest du ihn vielleicht selbst fragen“, schlug Winnie behutsam vor.

Dann verschwand sie im Haus, noch bevor Aidan die Gelegenheit hatte, ihr eine gute Fahrt zu wünschen.

Das ferne Krähen eines Hahnes begleitete Winnie, als sie am nächsten Morgen die Kürbisse auf die Ladefläche ihres Trucks wuchtete. Am liebsten hätte sie gleich am Vorabend ihre Siebensachen in den Truck geschmissen und wäre davongedüst. Doch Gott sei Dank behielt die Vernunft die Oberhand. Winnie merkte, dass sie emotional viel zu ausgelaugt war, um die lange Rückfahrt zu überstehen, vor allem in der Nacht.

„Komm!“, rief sie ihren Hund herbei. Dann kletterte sie in den Truck und setzte sich ans Steuer.

„Was zum Teufel ist das denn?“, schimpfte sie, als sie den Schlüssel im Zündschloss drehte und sich nichts … aber auch gar nichts tat. Kein Grummeln, kein Dröhnen, kein einziger Mucks.

Sie versuchte es noch einmal. Wieder nichts.

Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück und fluchte. In technischen Dingen war sie zwar kein Genie, aber sogar sie erkannte eine kaputte Batterie, wenn sie eine hörte. Oder vielmehr, nicht hörte. Aber wie konnte das sein? Vor der Reise hatte sie erst eine Wartung durchführen lassen, und das Licht hatte sie auch nicht angelassen …

Das war’s dann wohl mit ihrem dramatischen Abgang. Okay, sowieso nicht besonders dramatisch – schließlich hatte sie keinerlei Zeugen, abgesehen von ihrem Hund und den Kürbissen.

Winnie seufzte resigniert, fischte ihr Handy aus der Hemdtasche und wählte Aidans Nummer. Ebenfalls keine Reaktion, nicht mal seine Voicebox ging an. Und sie hatte keine Ahnung, wie seine Festnetznummer lautete. Oder ob er überhaupt einen normalen Telefonanschluss hatte.

Sie stieß einen zweiten Seufzer aus. Dann machte sie die Tür auf, ließ sich auf den Boden gleiten, wartete auf ihren Hund und machte sich auf den langen Weg die laubbedeckte Schotterstraße hinauf.

4. KAPITEL

„Verd…ammt“, keuchte Winnie zwanzig endlos lange Minuten später. Vor ihr lag Aidans Gebirgsrefugium: ein mehrstöckiges Gebäude aus Holz und Glas mit einem Metalldach inmitten einer von Hühnern bevölkerten Lichtung. Alle Oberflächen des Hauses verschmolzen entweder mit der Umgebung oder spiegelten sie wider. Um sie herum begackerte das Federvieh aufgeregt die Anwesenheit eines Border Collies.

Sie erklomm eine Steintreppe, die zu einer Veranda aus breiten Holzbohlen führte, und drückte auf die Türklingel. Während sie darauf wartete, dass Florita die Tür aufmachte, drehte sie sich um und bewunderte die Aussicht. Ein paar Sekunden später hörte sie, wie hinter ihr die Tür aufging, gefolgt von eisigem Schweigen.

Keine Florita.

„Du hast Hühner?“

„Flo hält Hühner“, knurrte Aidan.

„Da wir gerade von ihr sprechen … wo ist sie denn?“

„Nicht da. Einkaufen. Mit ihrer Nichte.“

„Tess? Die Schwangere …?“

„Was willst du?“

„Du bist ein echter Morgenmuffel, was?“

Aidan warf ihr einen finsteren Blick zu und schwieg.

Winnie seufzte und versuchte zu ignorieren, wie eng sich das farbverschmierte Henley-Hemd an seinen Oberkörper anschmiegte. Sein Haar war noch feucht vom Duschen. „Die Batterie von meinem Auto ist kaputt“, sagte sie. „Ich brauche ein Telefonbuch. Oder die Nummer von einem Automechaniker.“

„Hast du das Licht angelassen?“

„Nein“, sagte sie. Was soll das, dachte sie, wird das jetzt eine Quizshow, oder was?

„Dann hast du dich einfach in deinen Truck gesetzt und bist den ganzen Weg hierher gefahren, ohne vorher zu überprüfen, ob mit dem Fahrzeug auch alles in Ordnung ist?“

Winnie fragte sich, ob er irgendeine Ahnung hatte, dass er kurz davor war, sich eine Ohrfeige einzufangen. „Natürlich habe ich den Truck in der Werkstatt gehabt, bevor ich losgefahren bin. Und die Batterie ist neu. Die habe ich vor der Fahrt erst einsetzen lassen. Ich habe keine Ahnung, warum die kaputt ist. Also, wenn du mir jetzt einfach das Telefonbuch geben würdest …“

„Du bist den ganzen Weg vom Alten Haus raufgelaufen?“

Während sie sich fragte, was für Lösungsmittel er wohl über die Jahre hinweg eingeatmet hatte, murmelte sie: „Abgesehen davon, dass ich natürlich auch Annabelle hätte satteln können, war das die einzige Möglichkeit, herzukommen … Was machst du denn da?“

Aidan war dabei, sich eine Jeansjacke anzuziehen. Dann trat er auf die Veranda hinaus und machte die Tür hinter sich zu. Er ging einfach an Winnie vorbei und drehte sich erst um, als er schon halb die Treppe unten war, um sie anzufahren: „Was ist jetzt? Kommst du nun, oder kommst du nicht?“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Entschuldigung – aber bin ich gerade für eine Sekunde ohnmächtig geworden und habe einen Teil unserer Unterhaltung verpasst? Wohin soll ich bitte mitkommen?“

Daraufhin stöhnte er genervt. „Zurück zu deinem Truck, natürlich.“

„Und … warum willst du mich dahin bringen?“

Noch ein Seufzer. „Damit ich ihn mir selbst mal ansehen kann.“ Angesichts ihres verständnislosen Blickes fügte er hinzu: „Ich will ja schließlich nicht, dass du losgehst und irgendeinem Nichtsnutz teures Geld für nichts und wieder nichts in den Rachen wirfst.“ Anscheinend wurde sein Akzent stärker, je mehr er sich aufregte.

„Irgendwie machst du auf mich nicht den Eindruck, als wärst du technisch begabt“, wandte Winnie ein.

„So kann man sich täuschen. Wollen wir jetzt endlich mal los? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“

„Gib mir einfach das verdammte Telefonbuch, damit ich einen Automechaniker anrufen kann …“

„Keine Ahnung, wo das ist“, sagte Aidan und ging weiter auf seinen Truck zu.

Seufzend folgte ihm Winnie.

Zehn Minuten später verkündete Aidan sein Urteil. „Das Problem ist nicht deine Batterie“, ertönte seine gedämpfte Stimme aus den Eingeweiden ihres Trucks. „Es liegt an der Lichtmaschine.“

„Soll das ein Witz sein?“ Winnie stellte sich neben ihn, um selbst einen Blick in den Motorraum zu werfen. Sie konzentrierte sich so stark auf das Innenleben ihres Trucks, dass sie das leise, stetige Summen der Hormone in ihren Adern ignorieren konnte. „Also, das hat meiner Batterie den Garaus gemacht?“

„Sieht ganz so aus.“

Nicht, dass Winnie sich so absolut sicher war, was sie da eigentlich vor sich hatte. Aber zumindest hatte sie eine Ahnung, wozu die Lichtmaschine gut war.

Als ob er ihre Gedanken gelesen hatte, verkündete Aidan: „Die gute Nachricht ist, dass ich beides für dich auswechseln kann und du so eine Stange Geld sparst.“ Dabei hörte er sich nicht so an, als ob das unbedingt eine gute Nachricht für ihn wäre.

„Und die schlechte Nachricht?“

Er knallte die Motorhaube zu und wischte sich die Hände an einem alten Lumpen ab, den er im Auto gehabt hatte. „Warum glaubst du, dass es eine schlechte Nachricht gibt?“

„Vielleicht wegen deiner düsteren Miene?“

Einen langen Augenblick starrte er sie an, dann stöhnte er auf – wie ein Mann, dessen Geduld schon arg strapaziert war. „Wenn wir jetzt gleich nach Santa Fe fahren, schaffen wir es noch, die Ersatzteile zu besorgen, und du kannst nach dem Mittagessen losfahren.“

„Ich will dir keine solchen Umstände machen …“

„Wir können den ganzen Morgen hier stehen bleiben und endlos diskutieren. Oder du hörst auf, dich so stur zu stellen, und wir fahren los.“

„Kann Annabelle auch mitkommen?“

Noch ein Seufzer. „Ja, Annabelle darf auch mit.“

„Du kannst es echt nicht erwarten, bis ich verschwunden bin, oder?“, fragte sie. Widerwillig umrundete sie den Truck und kletterte hinter Annabelle auf den Beifahrersitz.

„Im wahrsten Sinne des Wortes“, brummte Aidan vom Fahrersitz aus. Dann legte er mit Karacho den Rückwärtsgang ein.

Du hast ja keine Ahnung, dachte Aidan, als sie auf den Highway nach Santa Fe fuhren, wie sehr ich mir wünsche, dass du endlich weg bist. Weißt du überhaupt, wie viel Schaden diese großen blauen Augen und dieser verführerische Mund anrichten? Er hatte sich nie für einen Beschützer von Frauen gehalten. Es verhielt sich ja auch nicht so, dass Winnie hilflos war. Auch wenn sie offensichtlich nicht in der Lage war, einen ordentlichen Automechaniker zu finden. Ganz und gar nicht. Trotzdem, diese Frau hatte etwas an sich …

„Weißt du wirklich, wie man eine neue Batterie und eine Lichtmaschine einbaut?“, fragte sie von der anderen Seite der viel zu kurz geratenen Sitzbank.

… was ihn noch vor dem Mittagessen in den Wahnsinn treiben würde, wenn er nicht aufpasste.

„Ja, wirklich. Die Familie meiner Mutter besteht seit Generationen aus Bauern. Schon mit vierzehn Jahren war ich ein alter Hase im Reparieren von Traktoren und Landmaschinen. Und ganz abgesehen davon: Wenn man so abgeschieden lebt wie ich, dann lernt man, sich selbst um seine Sachen zu kümmern und sich nicht darauf zu verlassen, dass irgendjemand das für einen tut.“

„Oh“, sagte sie und verstummte, in Gedanken versunken.

Für Aidan fühlte es sich fast wie ein Schlag in den Magen an, als er merkte, dass ihr Schweigen noch viel schlimmer war als ihr Geplapper. Verzweifelt versuchte er die Stille zu durchbrechen: „Was willst du tun, wenn du wieder zu Hause bist?“

„Bitte zwing mich jetzt nicht zu einer höflichen Konversation“, sagte Winnie müde. „Ich weiß, dass dich das nicht wirklich interessiert.“

Ihre Zurückweisung traf ihn mehr, als er erwartet hatte. Obwohl sie da absolut recht hatte. „Tut mir leid, wenn ich etwas … schroff wirke. Das ist wohl ein Risiko, wenn man so oft allein ist.“ Als sie nicht antwortete, warf er einen verstohlenen Blick auf ihr Profil. „Und eine bessere Entschuldigung habe ich nicht zu bieten, falls du mehr erwartet hast …“

„Oh mein Gott. War das etwa ein Versuch, witzig zu sein?“

„Nein.“

Sie lachte. Und Aidan seufzte. Tief in seinem Inneren war er ja kein schlechter Kerl. Nur eben sehr verschlossen.

„Da sind wir“, sagte er erleichtert.

Er fuhr vom Highway und bog auf den Parkplatz vom Autoteile-Shop ein. Sie stiegen aus und knallten die Autotüren beinahe gleichzeitig zu.

Winnie ging weiter zum Eingang. Sie riss die Tür zum Laden auf, bevor Aidan das für sie tun konnte.

Seltsamerweise hatte sie keinerlei Schwierigkeiten damit, dem kahlen Verkäufer mit dem Bierbauch genau zu erklären, was sie brauchte. Eines musste man dem Mann lassen: Er wartete, bis Winnie kurz wegschaute, ehe er sich mit einem Blick bei Aidan vergewisserte, ob ihre Angaben stimmten. Dann verschwand er im Lagerraum, um einen Augenblick später wieder aufzutauchen. Mit nur einer Batterie in den Händen.

„Sorry, wir haben keine Lichtmaschine vorrätig. Aber ich kann Ihnen anbieten …“ Er fing an, etwas in den Computer vor ihm einzutippen. „… wenn das für Sie in Ordnung ist, kann ich bis morgen eine Lichtmaschine aus einer Filiale aus Albuquerque kommen lassen.“

Noch einen Tag.

Das werde ich auch überstehen, sagte sich Winnie auf der Rückfahrt nach Tierra Rosa.

Während der Rückfahrt warf sie einen verstohlenen Blick auf Aidans Profil – die zusammengebissenen Zähne, die grimmige Miene, der starr geradeaus gerichtete Blick –, und versuchte herauszufinden, warum in Gottes Namen sie sich zu diesem Mann hingezogen fühlte.

Oh, klar, er sah gut aus – sofern man den Werwolf-Stil mochte. Aber das allein reichte nicht, damit sie jemanden attraktiv fand. Jedenfalls nicht mehr. Es musste schon endlos lange zurückliegen, dass sie das letzte Mal wegen durchtrainierter Muskeln und eines unwiderstehlichen Lächelns den Verstand verloren hatte. Nicht, dass Aidan über so ein Lächeln verfügte. Falls er überhaupt jemals lächelte.

Obwohl sie sich dunkel daran erinnern konnte, dass er bei ihrer ersten Begegnung oft gelächelt hatte, als er sich so sehr bemühte, sie davon zu überzeugen, dass June und er die idealen Eltern für ihr Baby sein würden …

„Ja?“, sagte Aidan gerade neben ihr. Die abgehackten Antworten, mit denen er den Anruf auf seinem Handy erwiderte, hatten Winnie aus ihren sinnlosen Gedanken aufgeschreckt. „Ich bin gerade im Auto, Robbie. Wenn die Polizei mich erwischt, gibt’s Ärger … Nein, Flo hat mir nicht Bescheid gesagt. Sie hatte vermutlich auch keine Ahnung … Ja, natürlich, ich komme gleich vorbei.“

Er knallte das Handy in den Dosenhalter und sah Winnie kurz an, und sie bekam sofort ein flaues Gefühl in der Magengegend. „Anscheinend hat Robbie vergessen, irgendjemandem Bescheid zu sagen, dass er heute früher Schulschluss hat. Flo kommt erst spät wieder nach Hause, also muss ich ihn abholen.“

Er kratzte sich am Kinn. „Er hat schon fünfzehn Minuten gewartet.“ Seine Finger spannten sich um das Lenkrad. „Und die Schule liegt auf dem Weg. Wenn ich dich zuerst absetze, kostet mich das noch mal zehn Minuten …“

„Kein Problem“, sagte Winnie. Dabei schnürte es ihr die Kehle enger zusammen, als sie es für möglich gehalten hatte.

Erneut krampften sich seine Finger ums Lenkrad. „Bist du sicher?“

„Na hör mal, Aidan. Ich bin kein Kind mehr. Ich werde damit fertig, okay?“

Zumindest würde sie ihr Allerbestes tun.

Sobald sie auf den Parkplatz der Schule einbogen, kam Robbie auf sie zugerannt. Sein Rucksack schlug ihm bei jedem Schritt ins Kreuz, und sein Haar war vom Wind zerzaust. Doch sobald er Winnie und vermutlich auch Annabelle bemerkte – die ihre Schnauze aus dem Fenster gestreckt hatte, um ihre Lebensfreude winselnd und bellend zum Ausdruck zu bringen –, blieb er wie angewurzelt stehen.

Erst als er näherkam, bemerkte Winnie die Tränenspuren auf seinen Wangen. Angesichts des Schocks über das unerwartete Wiedersehen mit Winnie schien seine Bestürzung jedoch zunächst vergessen zu sein.

Doch nur lange genug, um ihnen ein zutiefst beleidigtes „Wieso hat mich keiner abgeholt?“ entgegenzuschleudern, als er zum Hund auf den Rücksitz kletterte.

„Weil keiner gewusst hat, dass du heute eher Schluss hast“, sagte Aidan ruhig. Dann wendete er den Truck und kehrte auf die Straße zurück.

Winnie versuchte, sich auf den Blick nach vorn zu konzentrieren und nicht völlig die Fassung zu verlieren, weil sie hinter sich die Stimme ihres Kindes hören und gleichzeitig neben sich den Geruch seines Vaters wahrnehmen konnte.

„Ich dachte, du wolltest wegfahren?“, fragte Robbie fast vorwurfsvoll.

„Mein Truck ist heute Morgen nicht angesprungen. Also muss ich es morgen noch mal versuchen.“

Robbie streckte den Kopf nach vorne, was ihm eine geknurrte Ermahnung einbrachte: „Robbie! Anschnallen!“

Während er seinen Sitzgurt festzurrte, fragte der Junge: „Ist es in Ordnung, wenn Jacob später rüberkommt? So gegen zwei? Er hat gesagt, seine Mutter erlaubt es ihm, wenn du einverstanden bist.“

Winnie sah, wie Aidan die Augen verdrehte und das Gesicht verzog. Sie konnte beinahe hören, was in ihm vorging: Da hatte er schon den ganzen Morgen mit dieser blöden Autopanne vertrödelt. Und jetzt, nachdem Robbie unerwartet früh von der Schule nach Hause kam und Florita nicht da war, konnte er auch noch seinen Nachmittag abschreiben.

Aber er nickte nur. „Sicher. Warum nicht?“

So viel zum Thema Hausarrest, dachte Winnie lächelnd – bis Robbie auf einmal sagte: „Kann Winnie auch kommen? Jetzt gleich, meine ich. Nicht später.“

Sie war sich nicht sicher, wer sich bei diesen Worten mehr anspannte, Aidan oder sie.

„Hm …“, machte er.

Robbie bettelte: „Bitte!“

Winnie drehte sich um und sagte: „Ich weiß nicht … ich habe deinen Vater jetzt schon so viel Zeit gekostet, er muss wahrscheinlich wieder an die Arbeit …“

„Ist schon okay“, murmelte Aidan.

Als Robbie dann auch noch versprach, selbst für seinen Lunch zu sorgen, falls sein Dad beschäftigt sein sollte, seufzte Winnie. Was können ein paar Stunden schon schaden? dachte sie und sagte: „Das wäre toll.“ Daraufhin ließ Robbie hinter ihr einen Hurra-Schrei ertönen, der ihr gleichzeitig das Herz wärmte und ihr einen Stich versetzte.

Was geht bloß in ihrem Kopf vor? fragte sich Aidan, als er Winnie und Robbie von Zimmer zu Zimmer folgte. Immerhin musste er zugeben, dass er beeindruckt war, wie Winnie es schaffte, die Dinge zu nehmen, wie sie kamen. Zu lächeln und zu lachen, obwohl er ernsthaft bezweifelte, dass sie sich auch nur ein bisschen fröhlich fühlte.

Gleichzeitig überlegte er, dass es nichts Besseres als einen Überraschungsgast gab, um sein Zuhause mit neuen Augen zu sehen. Obwohl das Wohnzimmer und Junes Loft darüber nicht mehr die Kommandozentrale für Junes gerade aktuelle Kampagne waren, herrschte in dem Raum immer noch ein ständiges Chaos. Spielzeug und Zeitschriften und Junes riesige Kunsthandwerkssammlung lagen überall verstreut. Die Möbel schienen überhaupt nicht zusammenzupassen.

Und Winnie entging nicht das kleinste Detail.

Aidan war erstaunt, wie viel es ihm bedeutete, was sie dachte. Zweifellos suchte sie – wenn auch vielleicht nur unbewusst – nach einer Bestätigung dafür, dass sie damals eine gute Wahl für Robbie getroffen hatte.

Vor allem, wenn es um Robbies Zimmer ging. Würde Winnie die überladenen Bücherregale und seine riesige Sammlung Dinosauriermodelle und seine mit Sternbildern bemalte Zimmerdecke als Beweis dafür ansehen, dass June und er Robbie ein Leben geboten hatten, was sie sich nie hätte leisten können … oder würde sie denken, dass sie ihn zu sehr verwöhnt hatten? Dass er gut bei ihnen aufgehoben war oder … zu isoliert?

Betrachtete sie Aidans Wunsch, Robbie nicht die Wahrheit über sie zu sagen, zu Recht als Versuch, Robbie zu beschützen … oder als übertrieben fürsorglich? Wie eine Glucke?

„Dad!“, schreckte Robbie seinen Vater auf. „Musst du uns überall nachlaufen?“

Diese Abfuhr tat völlig unangemessen weh.

Winnie wurde rot und murmelte: „Weißt du, mein Lieber, deinem Dad ist wahrscheinlich nicht wohl bei dem Gedanken, dich mit mir allein zu lassen. Ich bin schließlich fast noch eine Fremde.“ Dann traf ihr Blick Aidan, und sie zog die Augenbrauen hoch, als ob sie sagen wollte: Das ist ganz allein deine Entscheidung, Kumpel.

In den Augen seines Sohnes bemerkte Aidan ein Flehen, das er nicht ganz verstand, und das ihn ziemlich beunruhigte. Irgendwann hatte er die Kontrolle verloren … June hatte die Dinge eher so genommen, wie sie eben kamen, und dem Schicksal vertraut … Gerade dieser Charakterzug hatte auf ihn so überaus anziehend gewirkt. Vielleicht war es auch diese Haltung, die er seit Junes Tod am meisten vermisste.

Daher war er äußerst erstaunt, als er sich sagen hörte: „Kein Problem. Ich gehe dann mal und kümmere mich um den Lunch. Mögt ihr überbackenen Käsetoast und Dosensuppe? Ich bin nämlich nicht unbedingt ein Meisterkoch.“

In Winnies Augen entdeckte er eine Mischung aus Dankbarkeit und Mitgefühl, die ihn völlig verunsicherte und eine tief sitzende Verspannung in seinem Inneren löste.

„Suppe und Käsetoast sind klasse“, sagte Winnie und lächelte ihn an – freundlich und nachsichtig und geduldig.

In Aidans Augen behandelte sie ihn, als sei er eine echte Nervensäge.

Nachdem Aidan verschwunden war, um sich ums Essen zu kümmern, dauerte es eine Weile, bis Winnie sich wieder auf das konzentrieren konnte, was Robbie ihr gerade erzählte. Ganz offensichtlich machte Aidan sich Sorgen darüber, was passieren könnte, wenn sie sich versprach oder Robbie aufregte.

Selbstverständlich brauchte er sich um Ersteres keine Sorgen machen – trotz des beständigen Schmerzes in ihrer Brust. Aber Winnie konnte natürlich nicht vorhersagen, wie ein Kind reagieren würde, das vor Kurzem oder auch vor längerer Zeit einen Verlust erlitten hatte.

Was würde Robbie aus der Fassung bringen? Schon aus diesem Grund wollte sie Aidans Wünsche auf jeden Fall respektieren. Ganz egal, ob er ihr vertraute oder ihr glaubte oder nicht.

Nur noch ein Tag …

„Und da oben auf den Regalen“, verkündete Robbie, „das habe ich alles aus Lego gebaut. Cool, was?“

Sie sah nach oben und nickte. „Sehr cool sogar“, sagte sie. Dabei dachte sie: Junge, Junge – du hast wirklich mächtig Glück gehabt. Sonnenlicht strömte durch ein paar riesige Fenster in ein Zimmer, das wie ein wahr gewordener Kindertraum aussah. Es war dreimal so groß wie Winnies Zimmer zu Hause und wirkte wie eine Mischung aus Spielhalle, Museum und Bibliothek.

Sie bildete sich nicht ein, dass Robbie irgendeine Ahnung davon hatte, wie viel Glück er hatte. Schließlich hatte er keinen Vergleich. Er hatte auch keine Ahnung, was ihm fehlte, wenn sie …

Oh …

Sie blieb vor einem großen Foto von Robbie und seinen Eltern stehen, das vor einigen Jahren aufgenommen worden war. Wie bei einer dieser russischen Puppen umarmte Aidan June lächelnd von hinten, während June mit strahlendem Gesicht Robbie im Arm hielt, der ganz offensichtlich kicherte. Winnie betrachtete alle drei. Aber ihr Blick verweilte ein bisschen zu lange bei Aidan.

„Das ist meine Mom“, sagte Robbie neben ihr. Er hielt einen Flugapparat aus unzähligen winzigen Plastikteilchen in der Hand.

„Das habe ich mir schon gedacht. Wie alt warst du damals?“

Er zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Fünf? Sie war noch nicht krank, das weiß ich.“ Er machte auf dem Absatz kehrt und ließ sich mit einem Plumps aufs Bett fallen. Eine Wolldecke mit breiten geometrischen Mustern in strahlenden Orange-, Gelb- und Rottönen bedeckte die breite Matratze. „Mom hat die Sterne und alles an meiner Zimmerdecke selbst gemalt.“

Folgsam schaute Winnie nach oben. „Wow. Dafür muss sie ja ewig gebraucht haben.“

„Hat sie wohl. Ich war mit Blinddarm im Krankenhaus. Als ich wieder nach Hause kam, hatte sie alles fertig.“

Winnie fühlte sich, als wenn jemand ihr ein stumpfes Messer in den Bauch gerammt hätte. Ihr Sohn hatte eine Blinddarmoperation gehabt, und sie hatte nichts davon gewusst. Nur weil sie zu feige gewesen war. Ärgerlich und aufgewühlt betrachtete sie die Bücherregale. „Das sind aber eine Menge Bücher. Hast du die alle gelesen?“

„Ein paar. Mom und Dad haben mir die anderen vorgelesen. Vor allem Mom.“ Er zögerte. „Sogar als sie schon zu krank war, um noch viel aufzustehen, hat sie mir noch vorgelesen.“

Der Schmerz in seiner Stimme trieb Winnie die Tränen in die Augen. Im gleichen Augenblick wurde ihr klar, worum es hier ging. „Es tut gut, über deine Mom zu reden, oder?“

Eine Weile drehte Robbie sein Spielzeugflugzeug immer wieder in den Händen um. Schließlich nickte er und bestätigte ihren Verdacht, als er sagte: „Dad mag es nicht, wenn ich über sie spreche.“

„Warum denkst du das?“

Der Junge zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Ich weiß es einfach.“

Winnie ließ sich neben ihm nieder. „Was ist mit Flo?“, fragte sie sanft. „Oder vielleicht jemand in deiner Schule?“

„Flo sieht immer so aus, als ob sie gleich anfängt zu weinen. Und in der Schule …“ Er stieß heftig den Atem aus, legte das Flugzeug weg und sah sie an. „Seit Mom gestorben ist, behandelt mich da keiner mehr normal. Die Erwachsenen tun alle so, als ob ich gleich ausflippen würde. Und die anderen Kinder … manchmal denke ich, sie haben Angst, wenn sie etwas zu mir über Moms Tod sagen, dass ihnen das auch passieren könnte.“ Mit einem tiefen Seufzer fügte er hinzu: „Das nervt.“

„Allerdings.“ Winnie war es nach dem Tod ihrer Eltern ganz ähnlich ergangen. Vor allem erinnerte sie sich daran, wie es war, nicht normal behandelt zu werden. Dabei wollten Kinder in dieser Situation am allermeisten, dass alles wieder wie bisher war – und zwar so bald wie möglich.

Sie zögerte. „Du solltest wirklich mit deinem Dad darüber sprechen, wie du dich fühlst.“

„Kann ich nicht.“

„Klar kannst du das.“ Sie senkte den Kopf, um sein Gesicht sehen zu können. „Möchtest du, dass ich für dich etwas zu ihm sage? Würde dir das helfen?“

Ein Schulterzucken.

„Aber wenn du mit mir darüber reden kannst …“

Autor

Karen Templeton

Manche Menschen wissen, sie sind zum Schreiben geboren. Bei Karen Templeton ließ diese Erkenntnis ein wenig auf sich warten … Davor hatte sie Gelegenheit, sehr viele verschiedene Dinge auszuprobieren, die ihr jetzt beim Schreiben zugutekommen.

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Entdecken Sie in dieser zehnteilige Serie die Geschichten von zwei Rancher-Familien, die für ihr Glück kämpfen.

AUF UMWEGEN INS GROßE GLÜCK
Was will diese Winnie Porter hier? Aidan ist außer sich, als die junge Frau plötzlich vor ihm steht: lächelnd, verlegen - und überaus sexy! Aber das darf ihn nicht interessieren, keinen weiteren Blick wird er an Winnies umwerfende Figur verschwenden! Denn die Besucherin ist die leibliche Mutter seinen Adoptivsohnes, und wenn sie so überraschend bei ihm auftaucht, kann das nur eines bedeuten ...

STARKE MÄNNER LIEBEN ZÄRTLICH
Er will sie nur vor den Traualtar führen, weil sie schwanger ist? Das kommt für Thea nicht infrage. Sie träumt von der großen Liebe. Und ist fest entschlossen, den freiheitsliebenden Rancher Johnny Griego davon zu überzeugen, dass auch starke Männer zärtlich lieben dürfen …

VOM GLÜCK ÜBERRUMPELT
Tess will sich beim Joggen eigentlich vom anstrengenden Familienalltag erholen, da prallt sie völlig unerwartet auf ihre große Jugendliebe. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Fast hätte Eli sie überfahren! Tess klopft das Herz bis zum Hals, als sie ihren Exfreund erkennt. Der inzwischen gefragte Möbeldesigner erscheint ihr größer und kräftiger als damals, aber unverändert lässig und unerschütterlich ...

DIE RÜCKKEHR DES COWBOYS
Ihre Kinder, das Haus, die Geldnot seit dem Tod ihres Mannes, ihre Schwangerschaft - Emma braucht Hilfe. Die sie überraschend erhält, als der Sänger Cash, ein alter Freund der Familie, vor der Tür steht. Aber instinktiv spürt die schöne Witwe, dass auch Cash etwas braucht: ein Zuhause …

ZUM VERZWEIFELN? ZUM VERLIEBEN!
Singledad Silas Garrett hat genaue Vorstellungen von seiner Traumfrau: Zielstrebig und ordentlich soll sie sein. Also das genaue Gegenteil von Jewel, der hübschen, aber chaotischen Lieblingsnanny seiner Söhne. Deshalb ist die magische Spannung zwischen ihnen Silas ein Rätsel …

EIN GERÜST AUS LIEBE UND HOFFNUNG
Zu Hause ist, wo das Herz heilt. Um sich nach einer Enttäuschung abzulenken, beschließt Roxie, den alten Familiensitz zu sanieren. Aber wieder droht Unruhe: Beim Arbeiten geht ihr Noah Garrett zur Hand - verboten sexy und leider mit ganz anderen Zielen im Leben als Roxie …

KÜMMERN ERLAUBT, VERLIEBEN VERBOTEN
"Pass auf sie auf!" Levi Talbot hat versprochen, sich um die Witwe seines besten Freundes zu kümmern - nicht, sich in sie zu verlieben! Doch Valerie ist einfach zu betörend. Vergeblich wehrt Levi sich dagegen, dass er die schöne junge Mutter mit jedem Tag heftiger begehrt …

SÜßE KÜSSE IM LICHTERGLANZ
So stark und gleichzeitig so verletzlich … Zach Talbot ist auf den ersten Blick fasziniert von Hollywood-Schönheit Mallory. Aber das Herz des Witwers ist noch nicht wieder frei für eine große Liebe. Daran kann auch Mallorys verheißungsvoller Blick nichts ändern …

SANTA CLAUS UND DIE LIEBE ?
Diese stillen Winternächte auf der Ranch! Deanna wird klar, sie hat in der Stadt den Zauber ihrer Heimat vermisst. Und Josh, der sie liebevoll empfängt. Doch seinen zärtlichen Küssen zu verfallen hieße auch, ihr bisheriges Leben aufzugeben. Ist sie dazu wirklich bereit?

VERRÜCKT NACH MR. PERFECT!
Männer? Für Emily sind sie nach ihrer geplatzten Hochzeit tabu … bis der verwegen attraktive Colin Talbot sie auf der Ranch ihrer Cousine wieder zum Lachen bringt. Mit ihm fühlt sie sich wie in einem neuen Leben. Aber kann der rastlose Fotojournalist ihr geben, wonach sie sich sehnt?