Verführen Sie mich endlich, Mylord!

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Seit Kindertagen hat Harriet nur ein Ziel: Sie will den Earl of Roxley heiraten. Jetzt ist es an der Zeit! Sie muss den umschwärmten Adeligen nur beim Maskenball davon überzeugen, dass aus dem Mädchen von einst eine begehrenswerte Frau geworden ist. Schneller als gedacht kann sie ihn zu einem Kuss verlocken. Deutlich spürt sie sein Verlangen - doch nur wenige leidenschaftliche Minuten sind ihnen vergönnt. Ob Roxley sie wohl bei ihrem nächsten Treffen verführen wird? Als Harriet den stolzen Earl wiedertrifft, ist sie erschüttert: Er ist plötzlich verlobt! Dabei sieht sie doch noch immer die Leidenschaft in seinen Augen - für sie …


  • Erscheinungstag 10.03.2017
  • Bandnummer 93
  • ISBN / Artikelnummer 9783733767938
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Es ist nur eine Nacht, meine liebste, meine einzige Miss Darby, doch mehr braucht es nicht, um uns in himmlische Höhen des Entzückens zu katapultieren. Kommen Sie mit mir, und ich verspreche Ihnen, dass Sie von nun an immerdar als Königin meines Herzens regieren werden.

Prinz Sanjit zu Miss Darby in

Miss Darbys abenteuerliches Abkommen

Der Maskenball, Owle Park,
August 1810

Ah, da steckst du, Harry. Ich wage kaum zu fragen, was zum Teufel du hier treibst …“

Miss Harriet Hathaway, die sich ins stille Dunkel der Terrasse zurückgezogen hatte, drehte sich um und sah den Earl of Roxley an der offenen Tür stehen.

Na endlich, ein schöner Held! Wie Ritter Lancelot mochte er ja aussehen mit seinem schimmernden Kettenhemd, dem blauen Umhang und dem goldgeprägten ledernen Brustpanzer, ja, eine gar stattliche Figur gab er darin ab, groß und breitschultrig. Doch hatte er sich mehr als reichlich Zeit gelassen, zu ihrer Rettung herbeizueilen. Dabei hatte sie sich solche Mühe gemacht, sich so hinauszuschleichen, dass nur er es merkte.

Und da brauchte er eine halbe Stunde, um sie zu finden?

„Oh, Roxley, sind Sie es?“, gab sie sich arglos. „Ich hätte Sie kaum erkannt.“

„Ich wünschte, von dir dasselbe behaupten zu können.“ Er musterte sie vom Scheitel bis zur Sohle und runzelte die Stirn. „Meine Tante schickt mich, oh, Königin des Nils, um zu ergründen, ob Ihr Cäsar oder Marcus Antonius erwartet.“

Den halben Abend hatte sie mit allen nur erdenklichen Hallodris, Parvenüs und unpassenden Partien getanzt und immerzu darauf gewartet, dass er einschreiten würde, doch sie hatte vergeblich gehofft, und nun endlich kam er … Jedoch nicht aus eigenem Antrieb, nein, sondern auf Geheiß seiner Tante, um sie zu holen.

Doch Harriet wollte nicht klagen und sich auch nicht mit müßigen Details aufhalten. Denn nun war er hier, und das war ihre Chance.

„Weder Cäsar noch Marcus Antonius“, erwiderte sie. „Sie langweilen mich beide.“

„Die Herren dürften anderer Ansicht sein“, sagte er und trat hinaus auf die Terrasse, ließ kurz den Blick ins Dunkel der Gärten schweifen. „In diesem Kostüm hast du für reichlich Wirbel gesorgt.“

Harriet wandte sich ab und lächelte still. „Habe ich das?“ Natürlich hatte sie das, es war ihr von dem Moment an klar gewesen, als sie diesen Hauch von Kleid angelegt hatte – und beinahe sofort wieder ausgezogen und Zuflucht in einem Schäferinnenkostüm gesucht hätte. Aber als Pansy, die patente Kammerzofe ihrer Freundin Daphne, ihr dann die dunklen Locken zu kunstvollen Zöpfen geflochten und aufgesteckt und mit einem goldenen Schlangendiadem gekrönt sowie die Augen mit schwarzem Kajal geschminkt hatte, war die Sache entschieden gewesen. Kleopatra sollte es sein, ohne Wenn und Aber.

Roxley war neben sie an die Balustrade getreten. Hier, fern des stickigen Ballsaals, wehte ein laues Sommerlüftchen, mit einem Hauch von Rosenduft. Harriet atmete tief durch. Ein herrlicher Abend. Traumhaft. Nun ja, beinahe.

Würde Roxley ihr nicht schon wieder einen schiefen Seitenblick zuwerfen und die Stirn runzeln. „Du solltest nicht allein hier draußen sein.“

„Ich bin nicht allein – du bist doch da. Aber ich überlege, eine kleine Runde durch den Garten zu schlendern.“ Sie sah ihn erwartungsvoll an, doch als er nur weiter dort herumstand und sie mit finsterem Blick maß, war sie mit ihrer Geduld langsam am Ende. „Herrje, was ist denn los?“, fragte sie und stemmte die Hände in die Hüften.

„Es ist nur … dieses Kostüm“, sagte er vorwurfsvoll und wedelte vage mit den Händen, damit sie auch ja begreife, dass ihres gemeint war.

„Eigentlich hätte Daphne es tragen sollen.“

Eine Erklärung, die ihn kein bisschen zu beschwichtigen schien. „Es ist … Ich kann kaum glauben, dass meine Tante dir erlaubt hat, dich so zu zeigen.“

So viel also zum Zauber der Nacht.

„An dem Kleid ist rein gar nichts auszusetzen“, verteidigte sie sich. „Es ist ein historisches Kostüm, genau wie deines.“

Nun stell dich nicht so an, ich habe mehr an als an jenem Abend, als du mich in Sir Mauris’ Garten geküsst hast, hätte sie ihm am liebsten in Erinnerung gerufen.

Aber vielleicht hatte der Kuss sich Roxley längst nicht so eingeprägt wie ihr … Fragend sah sie ihn an, um seine Gefühle zu ergründen, und wurde nur wieder mit einem strengen Blick belohnt.

„Historisches Kostüm, dass ich nicht lache!“, schnaubte er. „Mit dem Unterschied, dass meines mich bedeckt, und das nicht zu knapp, was man von dem deinen wahrlich nicht behaupten kann. Kein Wunder, dass Marcus Antonius damals alles Ehrgefühl verloren hatte.“

Marcus Antonius, das war ihr Stichwort. Harriet preschte wacker voran, denn alles war besser, als sich weiterhin darauf gefasst zu machen, dass Roxley kein Interesse daran habe, sie noch einmal zu küssen. „Vielleicht sollte ich ja hineingehen und ihn fragen, ob nicht er mit mir durch den Garten schlendern möchte“, überlegte sie laut, woraufhin Roxleys Miene sich noch mehr verfinsterte, denn der einzige im Ballsaal befindliche Marcus Antonius war Lord Fieldgate. Und der prachtvoll verwegene Viscount hatte Harriet bereits den halben Abend in Beschlag genommen und ihr mehrfach versichert, es sei Fügung und sie seine „perfekte Kleopatra“.

Doch, wen wunderte es, Roxley fand auch daran etwas auszusetzen. „Wie praktisch für Fieldgate, dass Miss Dale vorzeitig abgereist ist, da kann er nun …“

„Durchgebrannt“, stellte Harriet klar. „Sie ist durchgebrannt.“

„Das bleibt abzuwarten“, erwiderte Roxley. „Von Durchbrennen kann nur dann die Rede sein, wenn die beiden auch tatsächlich heiraten – falls sie heiraten.“

„Das werden sie, die Frage ist nicht, ob, sondern wann.“

„Nun, wenn du das sagst.“

„Das tue ich“, bekräftigte Harriet, denn Daphne wäre niemals mit Lord Henry durchgebrannt, wäre sie sich seiner Absichten nicht ganz sicher gewesen. Niemals hätte sie das getan, nie und nimmer. Oder etwa doch? „Preston wird schon dafür sorgen“, setzte sie sicherheitshalber nach.

„Er wird sein Möglichstes tun“, seufzte Roxley. „Allerdings muss er Lord Henry und Miss Dale dazu erst einmal finden – und zwar, bevor ihr grässlicher Cousin es tut.“

Viscount Dale, dieser anmaßende Geck! Er könnte Daphnes Plan tatsächlich noch durchkreuzen, und das durfte nicht sein. Harriet wünschte ihm von Herzen, dass er mitsamt seinem Gespann im Graben landete.

„Wahre Liebe überwindet alle Hindernisse“, sagte sie zuversichtlich, denn so war es zumindest immer in ihren geliebten Miss-Darby-Romanen. Und man brauchte sich doch bloß Preston und Tabitha anzuschauen, die beiden waren der beste Beweis. Oder eben Lord Henry und Daphne, auch wenn sie dem Schicksal nicht vorgreifen wollte.

Wahre Liebe trug immer den Sieg davon.

Und nun bekamen auch sie und Roxley ihre Chance … Oder? Harriet sah ihn fragend an und suchte nach Bestätigung, aber vergeblich.

„Wahre Liebe?“, schnaubte er. „Ich muss mich doch sehr über dich wundern, Harry. Ich hatte dich immer für ein vernünftiges, durch und durch praktisches Mädchen gehalten, aber …“

So ging es noch weiter, doch Harriet hatte aufgehört zuzuhören, kaum dass dieses elende Wort gefallen war.

Mädchen.

Wobei vernünftig fast genauso schlimm war.

Würde er jemals aufhören, sie als das Mädchen von einst zu betrachten? Sie war eine erwachsene Frau, verdammt, wann sah er das endlich ein? Als er sie in London geküsst hatte, hatte er ja wohl kaum ein kleines Mädchen in ihr gesehen, oder?

Hatte er seitdem seine Meinung geändert? Sie wüsste nicht, warum. Herrje, er hatte sie doch geküsst, und zwar keineswegs unschuldig, doch nun … Sie schüttelte den Kopf, um die Zweifel zu vertreiben, die sie seit ihrer Ankunft auf dem Landsitz des Duke of Preston plagten.

Was, wenn Roxley sie als nicht würdig genug befand, seine Countess zu werden? Kein gar so abwegiger Gedanke, wenn sie sich mit dem Gros der geladenen Gäste verglich. Maß sie sich an den anderen Damen, mangelte es ihr an so einigem.

Sie hatte kein Pensionat in Bath besucht, wie es sich für eine Dame von Stand gehörte, und die damit einhergehende Bildung genossen – die sich natürlich grundlegend von jener unterschied, die der Hauslehrer ihrer Brüder ihr hatte angedeihen lassen und die so gar nicht damenhaft war.

Die Kunst der Stickerei beherrschte sie somit nicht, ebenso wenig wie die des Klavierspiels oder des Aquarellierens.

Sie war ein Wildfang gewesen, und sie war es im Grunde ihres Herzen noch immer.

Und sie lachte zu oft und zu laut, oh ja, das auch noch.

Kurzum, ihr fehlte einfach der nötige Schliff, um eine Countess zu sein. Und sei es nur die von Roxley.

Andererseits … Vielleicht legte er auf derlei Finessen ja gar keinen Wert, sagte sie sich zum bestimmt hundertsten Mal. Vielleicht war ihm an etwas ganz anderem gelegen. Vielleicht war ihm wirklich an ihr gelegen! Um das herauszufinden, gab es nur eine Möglichkeit.

Harriet reckte sich ein wenig und ließ dann eine Schulter leicht hängen, sodass die Spange, mit der ihr hauchdünnes Übergewand gehalten wurde, ins Rutschen kam. Ihr ganzes Kostüm bestand aus solchen Über- und Untergewändern, jedes für sich ein seidener Hauch, mehr die Illusion eines Kleides, als dass es einen tatsächlich bekleidete, da hatte Roxley völlig recht. Unter dem Übergewand schimmerte ein goldenes Untergewand und darunter wiederum ein Hauch von Stoff, und damit hatte es sich im Grunde schon. Raffiniert gemacht, wie es war, gab es nichts den Blicken preis, aber bei der ersten Anprobe war Harriet sich darin doch reichlich nackt und frivol vorgekommen.

Und es sollte sie wundern, wenn Roxley das ganz anders sehen würde.

Sie neigte den Kopf zur Seite und sah ihn unter langen Wimpern hervor an.

„Nun denn“, schloss er zerstreut und blickte unverwandt auf ihre Schulter. Es schien, als könne er sich nicht recht entscheiden, ob er eingreifen sollte oder nicht. Welch ein Dilemma! Um ihren Anstand zu wahren, müsste er sie berühren. So wie er sich anstellte, war es für ihn die Wahl zwischen Not und Elend.

Harriet beschloss, ihm die Entscheidung zu erleichtern, und ließ ihre Schulter noch ein wenig tiefer sinken. Vielleicht hatte Kleopatra ihren Antonius einst ganz genauso umgarnt, denn zumindest bei Roxley schien es Wunder zu wirken – wie gebannt starrte er auf die hinabgleitende Spange und ihre entblößte Schulter, mit einem Blick, bei dem es Harriet ganz warm ums Herz und ganz leicht im Kopf wurde.

Ehe das Kleid ganz hinunterrutschen konnte, rang Roxley sich mit einem tiefen Seufzer zur Tat durch, streckte beherzt die Hand aus und schob Spange und Gewand zurück an ihren Platz, wobei seine Finger flüchtig ihren Hals streiften, ihre Haut, und einen Moment ruhte seine Hand warm und fest auf ihrer Schulter. Harriet hätte sich ebenso gut vorstellen können, wie er ihr das Gewand abstreifte, die Brosche löste …

Und als ihre Blicke sich trafen, sah sie das Verlangen in seinen Augen, sie spürte es, als seine Hand unschlüssig auf ihrer Schulter verweilte, und sie wusste, dass es ein Leichtes wäre für ihn, sie jetzt in seine Arme zu ziehen und … und …

„Verdammt, Harry …“, murmelte er, ließ seine Hand sinken und trat den Rückzug an.

Er flüchtete vor ihr, der Feigling!

„Was ist denn?“, fragte sie und hoffte, unschuldiger zu klingen, als sie sich fühlte. Seine Berührung hatte sie mit einem Verlangen erfüllt, das weit über einen Kuss hinausging.

„Ich … Ach, nichts. Ich brauche einfach nur ein bisschen frische Luft. Genau. Deshalb bin ich herausgekommen, um ein bisschen frische Luft zu schnappen.“

„Ich dachte, du wärst meinetwegen gekommen – weil Lady Essex dich nach mir geschickt hat.“ Sie ließ ihre Worte ein wenig nachklingen, ehe sie meinte: „Aber wenn du gekommen bist, um frische Luft zu schnappen, dann umso besser. Genau danach steht mir auch der Sinn.“ Sie trat von der Balustrade weg und schloss sich ihm an, denn sie konnte einfach nicht anders. Sie musste es wissen.

Er warf einen Blick über die Schulter und seufzte. „Harry …“

„Ja, Roxley?“, gab sie sich ganz nonchalant.

„Du kannst nicht mit mir durch den Garten schlendern“, sagte er und zeigte zurück auf die hell erleuchtete Terrasse.

„Warum nicht?“, erwiderte sie unschuldig, als wisse sie es wirklich nicht.

Und er schien auch wenig gewillt, sie darüber zu belehren, tat es dann aber doch: „Weil es unschicklich wäre.“

„Unschicklich?“, lachte sie, als hätte er einen Witz gemacht. „Zum Henker mit der Schicklichkeit. Wie lange kennen wir einander schon?“

„Ewig“, räumte er ein.

„Na, siehst du. Und haben wir uns je skandalös betragen?“ Sie schloss zu ihm auf und umschlich ihn wie eine Katze.

Von dem einen Kuss mal abgesehen

„Nicht im eigentlichen Sinne“, brachte er schließlich heraus, wobei er ihr schon wieder wie gebannt auf die Schulter starrte, ehe er den Blick jäh abwandte.

Na, wenn das kein Geständnis war! dachte sie triumphierend. Zumindest hoffte sie, dass es eines war. „Was sollte also falsch daran sein, wenn du mich in den Garten begleitest, um ein wenig frische Luft zu schnappen? Zumal du doch meinen Brüdern versprochen hast, ein Auge auf mich zu haben – und das hast du doch, oder?“

„Nun ja …“

„Glaubst du, es wäre ihnen lieber, wenn ich mich mit Lord Fieldgate im Garten aufhalten würde?“

Oder willst du das? hätte sie am liebsten nachgesetzt. Wäre es dir lieber, mich in Gesellschaft dieses Halunken zu wissen?

„Ach, verdammt, Harry. Nein, natürlich nicht.“

Das hatte sie hören wollen. „Also?“

Sie sah, wie er mit sich rang, wie er sein Kinn vorschob und wieder zurück, bis er aussah wie Ritter Lancelot im Widerstreit zwischen Vasallentreue und weniger noblen Empfindungen.

Harriet hoffte, dass Letztere den Sieg davontragen würden.

Und zu ihrer Freude taten sie das auch. Nun ja, gewissermaßen.

Roxley brummelte Unverständliches, dann nahm er sie beim Ellenbogen und zog sie mit sich. „Na schön, dann komm! Aber mach bitte nicht wieder das mit den Wimpern, du weißt schon, was ich meine.“ Er sah sie an und schüttelte den Kopf. „Wenn deine Mutter dich so sehen könnte …“

„Ein Glück, dass sie in Kempton ist.“

„Da solltest auch du besser sein“, sagte Roxley und ließ es beinahe wie eine Drohung klingen. „Ich gebe meiner Tante die Schuld. Sie hätte dich nicht mit nach London bringen dürfen.“ Wieder ein prüfender Blick. „Es hat dich verändert. Und keineswegs zum Besseren“, setzte er nach.

„Ach, nun hab dich nicht so! Ich wüsste nicht, was gegen einen Spaziergang im Garten einzuwenden wäre. Vorhin erst habe ich mit Lord Kipps eine kleine Runde gedreht, und es war völlig unverfänglich. Ja, deine Tante hat mich gar dazu ermutigt!“

„Genau das meinte ich“, entgegnete er und klang kein bisschen erfreut.

Sie schlenderten ein Stück den Weg hinab, und gleich hinter der ersten Biegung blieben sie wie angewurzelt stehen, denn vor ihnen stand, im Schutz einer Laube, ein eng umschlungenes Paar – eine Wassernymphe mit ihrem Neptun –, und zwischen leidenschaftlichen Küssen waren geflüsterte Koseworte und Liebesschwüre zu hören.

Meine Liebste, meine Angebetete …

Oh, wie wusstest du denn, dass ich es bin?

Wie hätte ich es nicht wissen sollen?

„Siehst du?“, trumpfte Roxley auf, als sie das schamlose Paar hinter sich gelassen hatten. „Sei froh, dass du mit mir hier bist und nicht mit Fieldgate.“

„Ja, vermutlich hast du recht“, erwiderte sie und ließ deutlich Enttäuschung anklingen.

Und es sollte seine Wirkung nicht verfehlen. „Vermutlich?“, fragte der Earl und blieb stehen. „Ist dir klar, was dieser Schuft sich herausnehmen würde, wenn er hier mit dir allein wäre?“

Harriet zuckte unverbindlich mit den Schultern. Erwartete er darauf etwa eine Antwort? Also bitte! Sie hatte fünf Brüder. Sie wusste ganz genau, was Fieldgate tun würde, sobald sich ihm die Gelegenheit dazu böte.

War es nicht genau das, was auch Roxley getan hatte, als die Gelegenheit günstig war, damals in London? Zugegeben, er war in besagter Nacht nicht ganz nüchtern gewesen.

Oh, verflixt! Das hatte sie fast vergessen. Er war sogar ziemlich betrunken gewesen. Was, wenn er sich gar nicht mehr an den Kuss erinnerte? Oder, schlimmer noch, wenn er so tat, als könne er sich nicht mehr daran erinnern?

Harriet atmete tief durch. Wenn sie von Roxley auch nur die Andeutung eines Geständnisses wollte, würde sie es aus ihm herauskitzeln müssen. Sie würde ihn provozieren müssen.

Nur ein bisschen …

„Ein unverbesserlicher Schuft wie er würde sich wohl so einige Freiheiten genommen haben …“, bemerkte Harriet und schickte einen so sehnsüchtigen Seufzer hinterher, als könne sie sich nichts Schöneres vorstellen.

„Darauf kannst du wetten“, brummte Roxley und schüttelte missbilligend den Kopf, als stünden ihm solche Ansinnen völlig fern. Oh, welch ein Held er doch war!

„Meinst du wirklich?“

Er seufzte tief. „Natürlich. Er hätte es schon oben auf der Terrasse versucht.“

„Oh, gut zu wissen“, meinte sie, raffte ihren Rock und machte auf dem Absatz kehrt, um geradewegs den Ballsaal samt all seiner Verheißungen anzusteuern.

Roxley, zunächst wohl völlig perplex, holte sie kurz vor dem Paar ein, das noch immer in inniger Umarmung im Laubengang stand. „Wohin willst du denn?“, flüsterte er und zog sie, so diskret wie unter diesen Umständen möglich, von den beiden fort und weiter den zuvor eingeschlagenen Weg hinunter.

„Sollte das einem Schuft wie dir nicht klar sein? Ich wollte zum Viscount.“

„Fieldgate?“, fragte Roxley und klang ehrlich entsetzt.

„Aber ja. Von dem sprachen wir doch eben. Oder gibt es noch einen weiteren verruchten Viscount namens Fieldgate, der meiner Aufmerksamkeit entgangen sein sollte?“

Roxley schwieg, doch seine Miene war grimmig, als er mit ihr den von hohen Platanen gesäumten Weg entlangschritt.

Harriet hoffte, dass er sie geradewegs ins Verderben führte … Ach, ein so köstliches Verderben, wie die Glückliche im Laubengang es gefunden hatte! Sehr undamenhafter Neid begann sich in ihr zu regen.

„Wie kommst du überhaupt darauf, diesem Trottel Freiheiten erlauben zu wollen?“, fragte er schließlich in einem Ton, der nach einer Antwort verlangte.

„Weil ich nur ein einziges Mal geküsst worden bin, während diese Dame …“, sie warf einen kurzen Blick zurück, „… von der ich übrigens glaube, dass es Miss Nashe ist …“

Da blieb er stehen, drehte sich um, schüttelte den Kopf und ging weiter. „Das wage ich doch sehr zu …“

Doch dann schien ihm aufzugehen, dass nicht nur Harriet an diesem Abend ein unverwechselbares, wenn nicht gar unvergessliches Kostüm trug. Und ganz abgesehen von dem verräterisch gefiederten Saum, der Stunden zuvor für mächtig Wirbel gesorgt hatte, war es unverkennbar Miss Nashes neckisches Nixenkostüm.

„Siehst du wohl“, trumpfte Harriet auf, als sie sicher außer Hörweite waren. „Miss Nashe und Lord Kipps.“ Sie verkniff sich ein düpiertes Schnauben, war der Earl of Kipps doch vorhin noch mit ihr über diese Wege gewandelt und hatte dabei keinerlei Anstalten gemacht, sie zu küssen. Nun gut, sie war eben auch keine reiche Erbin wie Miss Nashe, sondern einfach nur die gute alte Harriet Hathaway, eine nicht mehr ganz junge Jungfer aus Kempton, die kaum genug Nadelgeld hatte, um sich eben jene zu kaufen.

Nadeln.

Von Hüten ganz zu schweigen.

Oh, warum nur konnte sie nicht blond und zierlich sein wie Daphne oder ein Vermögen erben wie Tabitha?

Roxley warf noch einmal einen Blick zurück auf das sich leidenschaftlich zugetane Paar. „Dann dürfte es um Mitternacht wohl eine Bekanntmachung geben. Gut für Kipps. Der Schlawiner hat sich einfach das Motto meiner Familie zu eigen gemacht.“

„Ad usque fidelis?“, fragte Harriet leicht verwundert, denn das Motto „Auf die Treue“ war wohl kaum die passende Umschreibung für das, was sich in der Laube zutrug.

„Nein, du Naseweis, unser anderes, inoffizielles Motto. Jenes, das uns Marshoms eher gerecht wird.“

„Und das wäre?“

„Gut heiraten und noch besser betrügen.“

Harriet traute ihren Ohren nicht. „Die Marshoms heißen Ehebruch gut?“

„Nein, nein.“ Er lachte. „Wir würden wohl gern, aber wir neigen leider dazu, unverbrüchlich und ein Leben lang zu lieben. Im Grunde sind wir schreckliche Romantiker und achten lediglich darauf, uns beizeiten eine vermögende Braut zu sichern. Wenn das Vermögen dann durchgebracht ist, müssen wir uns anders behelfen und auf unsere Cleverness setzen. Meine Eltern gingen in dieser Hinsicht mit gutem Beispiel voran.“

Harriet glaubte zu begreifen. „Du meinst, deine Eltern haben beim Spiel betrogen?“

„Natürlich, und wie! Irgendwie mussten sie ihre Schulden doch begleichen.“

„Dann ist es nur umso bedauerlicher“, meinte Harriet mit einem Blick zurück auf Miss Nashe und war insgeheim erleichtert, dass die Erbin ihr Komtessenkrönchen bereits bei Kipps gefunden hatte, ehe sie es auf Harriets Earl abgesehen haben konnte.

„Was?“, fragte er arglos.

„Dass Kipps Miss Nashes Gunst errungen hat, ehe du dein Augenmerk auf sie richten konntest. Und auf ihr Vermögen.“

Roxley zuckte mit den Schultern, als bedauere er es kein bisschen. Unter einem der weit ausladenden Bäume waren sie stehen geblieben. „Wenn ich ganz ehrlich bin, so verwundert mich ihre Wahl doch ein wenig.“

„Gib es nur zu, du hättest sie also doch gern geheiratet“, stichelte Harriet und lehnte sich mit der Schulter an den breiten Stamm der Platane.

Er lachte. „Nein, mein Spatz. Ich hegte keinerlei Absichten, was die Dame betrifft. Aber ich hätte darauf gewettet, dass sie sich Lord Henry an Land ziehen würde.“

Mein Spatz. Spätzchen. Harriet hätte schier geseufzt, als sie das lang vertraute Kosewort hörte. Welche Verheißung es barg! Wie ein Gänseblümchen, das man Blütenblatt um Blütenblatt befragt.

Er liebt mich …

Er liebt mich nicht …

Harriet lachte – sowohl über ihn als auch über ihre törichten Hoffnungen. „Halte dich lieber ans Kartenspiel.“ Sie ließ sich an den Baumstamm sinken, spürte ihn breit und fest und noch warm von der Sonne in ihrem Rücken.

„Du hast noch immer nicht auf meine Frage geantwortet“, sagte Roxley und grub seine Stiefelspitze in die Erde.

Harriet schaute überrascht auf. „Die da wäre?“

Er sah sie an. „Warum du mit einem Halunken wie Fieldgate hinaus in den Garten wolltest.“

„Ganz einfach: weil ich geküsst werden will – und zwar richtig. Von einem Mann, der sich darauf versteht.“ Harriet ließ einen sehnsüchtigen Blick zurück zum Haus schweifen, und die Reaktion auf ihre Andeutungen ließ nicht lange auf sich warten.

„Und zwar richtig?“, polterte Roxley los. „Das ist wirklich das Ungeheuerlichste …“

Als Harriet erneut lachte, ging ihm auf, dass er ihr in die Falle getappt war, und musste ebenfalls lachen.

„Zum Henker aber auch, Harry!“ Er stieß sich vom Baum ab. „Du wirst noch mein Untergang sein.“

„Nun, wenn du mich nicht noch einmal küsst …“

„Werde ich nicht.“

„Gut, wie du meinst“, erwiderte Harriet so leichthin, als sei seine brüske Erwiderung die geringste ihrer Sorgen.

„Das meine ich genau so.“

Herrje, musste er denn derart darauf beharren? Na bitte, beharrlich – das konnte er haben! „Aber wenn du es tätest …“

Er atmete tief durch. „Harry, lass es gut sein. Ich dich küssen? Ein Mal hat nun wirklich genügt.“

„Aha!“, trumpfte sie auf. „Du gibst es also zu.“

„Wie könnte ich es vergessen?“ Seine Stimme klang tief und leise, die Worte voller Sehnsucht.

Sie erschauerte, denn dieses Sehnen, das kannte sie nur zu gut; tief in ihrem Herzen lauerte es, rastlos und lockend.

„Allein die Vorstellung ist absurd“, fuhr er fort. „Sollte ich dich ruinieren, würden deine Brüder mich über den Haufen schießen.“

„Stimmt, wenn sie gnädig sind“, räumte sie ein. Vermutlich würde keiner der fünf es sich nehmen lassen, höchstpersönlich Hand anzulegen.

Eine Tatsache, der auch Roxley sich leider bewusst war, schien er ihre Gedanken doch geradezu lesen zu können. „Und da ich keinerlei Bedürfnis verspüre, durch ein Hathaway’sches Erschießungskommando vor der Zeit dahinzuscheiden, wird dein Wunsch, abermals geküsst zu werden, wohl unerfüllt bleiben müssen.“

Wie so vieles in ihrem Leben. Wie auch ihre Aussicht darauf, jemals geliebt zu werden. Von Herzen. Mit Leidenschaft. Ihr Blick wanderte zurück zur Laube. Oh, wie schrecklich unfair das alles war! Und doch, vor ein paar Monaten noch hätte sie derlei überhaupt nicht für möglich gehalten. Sie war zufrieden gewesen mit ihrem Leben und hatte sich damit abgefunden, als Jungfer aus Kempton niemals zu heiraten, niemals geküsst zu werden, niemals …

Doch dann, als an jenem schicksalshaften Tag Prestons Kutsche kurz vor Kempton den Geist aufgegeben und sie Roxley nach so langer Zeit wiedergesehen hatte, da war es einfach geschehen, und sie hatte angefangen, von dem Unmöglichen zu träumen.

Denn wer sagte denn, dass es wirklich unmöglich war?

Nachdem sie mit Tabitha und Daphne nach London gekommen war und ihre beiden besten Freundinnen so gänzlich unerwartet ihr Glück gefunden hatten – ach was, Glück, die große Liebe hatten sie gefunden! –, ja, da hatte auch sie zu hoffen begonnen.

Und nun stand sie hier, bei Mondschein im Garten mit dem einzigen Mann, den ihr Herz begehrte. War ein Kuss da wirklich zu viel verlangt?

„Niemand bräuchte je davon zu erfahren“, flüsterte sie.

„Irgendjemand erfährt es immer“, beschied Roxley. Er lehnte nun wie sie an dem Baum, doch auf der anderen Seite des Stamms, der wie ein unüberwindliches Hindernis zwischen ihnen stand.

„Im ton gibt es keine Geheimnisse“, setzte er nach.

Nun, ihr war es gleich, wenn alle Welt davon wusste, denn was hatte sie zu verlieren? Sie war keine Erbin mit Aussichten, und es schien eher unwahrscheinlich, dass die Verehrer demnächst bei ihr Schlange stünden und um ihre Hand anhielten.

Die Frage war nur, würde er es?

„Roxley?“

„Ja, Harry?“

Es war jedes Mal ernüchternd, wenn er sie so nannte. Musste er diesen grässlichen Spitznamen verwenden? Sie war doch kein kleiner Wildfang mehr! Oder doch? Das würde sich leicht herausfinden lassen. Sie fasste sich ein Herz. „Was siehst du, wenn du mich anschaust?“

„Nicht viel“, erwiderte er. „Wie du vielleicht schon bemerkt hast, ist es recht dunkel hier draußen.“

Sie verdrehte stumm die Augen und tastete sich, die raue Rinde unter den Fingern, um den Baum herum, bis sie neben Roxley stand. „Komm mir bitte nicht wieder mit ihm. Ihn kann ich nicht ausstehen.“

„Ihn? Wen denn?“

„Du weißt ganz genau, wen ich meine.“ So langsam verlor sie endgültig die Geduld. Wenn er es noch weitertrieb, würde sie ihre Drohung wahr machen und stehenden Fußes Fieldgate aufsuchen. „Spiel nicht den Kasper, für den ganz London dich hält.“

„Aber er ist ein ganz patenter Bursche, dieser Kasper, dieser Narr.“

„Er ist ein nervtötender Holzkopf.“

„Ach, Spätzchen, das ist doch Sinn der Sache.“

„Nein, ist es nicht. Ich weiß, wer du im Grunde genommen bist.“

„Ach, tust du das?“ Er hatte sich ihr zugewandt und flüsterte die Worte ganz dicht an ihrem Ohr.

Der Atem stockte ihr, und sie bekam nur mit Mühe ein Wort heraus, ein einziges Wort nur: „Ja.“

Denn wer hätte besser gewusst als sie, wer er war? Er war der Mann, der einzige, der jemals ihr Herz schneller hatte schlagen lassen.

Und dann kam er näher, noch näher, bis er den Saum ihres Kleides streifte und Harriet sich an den breiten Stamm der alten Platane klammerte, um nicht den Halt zu verlieren. „Niemand würde dir glauben, Spätzchen.“

Spätzchen, immerhin. Nicht Harry. Spätzchen. Sein Spätzchen.

Harriet hob den Blick und sah durchs dichte Sommerlaub einen Stern hell funkeln. Einen einzelnen schimmernden Stern, hoch oben am Nachthimmel. Wenn das kein Zeichen war, sich einen Wunsch zu erfüllen!

„Du brauchst dich nicht vor mir zu verstecken“, flüsterte sie.

Es war eine Einladung, ein Angebot, von dem sie wusste, dass er nur darauf wartete, denn ihr war nicht entgangen, wie sehr er die letzten Monate mit sich gerungen hatte, wie leid er es war, dieses Spiel, diese Rolle, hinter der er sich versteckte – der tolldreiste Narr, der nervtötende Schelm, der vom ton wohlwollend belächelt wurde.

Aber das war nicht der Mann, den sie kannte. Den sie in London, im Garten von Sir Mauris geküsst hatte. Der Earl of Roxley, den sie von Kindheit an kannte.

Oder sollte sie sagen, der Mann, den sie liebte, bewunderte, begehrte? Denn der war es, der nun vor ihr stand, den Blick auf sie geheftet und das Kinn so forsch gereckt, als sei er fest entschlossen, sich keinen Fehler zu leisten.

Nicht noch einmal.

Ach je, da hatte er sich wahrlich das richtige Kostüm für den Abend ausgesucht, Lancelot, der Ritter ohne Fehl und Tadel, hin- und hergerissen zwischen Pflicht und Leidenschaft.

Und er machte gar keinen Hehl daraus. „Warum nur mussten wir erwachsen werden, Harry?“, fragte er fast verzweifelt. „Warum konntest du nicht in Kempton bleiben, für immer mein ungebärdiger Wildfang?“

„Bin ich das nicht noch?“

„Ja, leider, doch auf eine völlig neue und ganz und gar unmögliche Weise.“

„Warum denn unmöglich, Roxley?“ Alles wäre möglich, wenn du mich nur endlich küssen würdest.

„Nein, ich habe deinen Brüdern versprochen, ein Auge auf dich zu haben.“

Harriet trat ganz nah an ihn heran und tat das Undenkbare. „Dann schließ die Augen einfach“, flüsterte sie.

1. KAPITEL

Oft sah ich schon, wie eine einzige Nacht einen Mann zugrunde gerichtet hat.

Leutnant Throckmorten zu Miss Darby in

Miss Darbys abenteuerliches Abkommen

London, April 1811

Jeder Spieler kennt diesen Moment, wenn sein Blatt sich wendet.

Und zwar nicht zum Guten. Fortuna ist eine zu launische Liebhaberin, um einem beizeiten warnend ins Ohr zu flüstern. Oh nein, wenn sie sich abwendet, dann so brüsk, dass kein Zweifel daran sein kann, von ihr verlassen worden zu sein. Wie ein Fisch auf dem Trockenen liegt man da und würde alles darum geben, dass sie einem ein wenig Luft zufächelte.

Oder einem mit ihrer strahlenden Gunst die dunklen, leeren Taschen füllte.

So erging es zumindest Tiberius Maximus Marshom, dem siebten Earl of Roxley. Roxley, dessen Glück im Spiel legendär war. Der Beträge setzte, die andere kaum zu denken wagten, und doch stets gewann.

Bislang.

Der einst so erfolgsverwöhnte Earl, der immer bündelweise Schuldscheine mit sich herumgetragen hatte, die es einzutreiben galt, suchte nun seinerseits Bekannten aus dem Weg zu gehen und das White’s zu meiden, um allen Forderungen und der Schmach seiner Pleiten zu entkommen.

Diese Pechsträhne war es auch, die ihn hierher, in die City von London, geführt hatte, in die Geschäftsräume eines gewissen Aloysius Murray.

„Wie Sie sehen, Mylord“, sagte der Kaufmann nun, die Hände auf den vor ihm liegenden Papieren gefaltet, „bleibt Ihnen kaum eine andere Wahl, als meine Tochter zu heiraten.“

Roxley betrachtete sein Gegenüber, seinen Gläubiger und vermeintlichen Wohltäter, der, hinter einem Ungetüm von Schreibtisch sitzend, auf seine Antwort wartete. Es war kurios: Bis vor zwei Tagen, als er von Mr. Murray einbestellt worden war, hatte er nicht einmal von der Existenz dieses Mannes gewusst. Dem Ernst seiner Lage zum Trotz konnte Roxley sich ein Lächeln nicht verkneifen.

Viel mehr war ihm auch nicht geblieben. Ein Marshom wusste, wann das Spiel aus war. Er stand – oder vielmehr saß – mit dem Rücken zur Wand. Aber das brauchte er diesen Emporkömmling, diesen Mr. Murray mit seiner gewiss ebenso unerfreulichen Tochter, ja nicht merken zu lassen.

Murray schob ihm die Papiere zu. „Ich habe sämtliche Ihrer Schulden beglichen, womit Sie wieder solvent wären – fürs Erste. Meines Erachtens wäre ein freundliches Dankeschön nicht zu viel verlangt.“ Er schwieg einen Moment, ehe er, als sei es ihm eben erst eingefallen, nachlegte: „Mylord.“

Roxley warf einen flüchtigen Blick auf die Unterlagen, die hastig aufs Papier geworfenen Absprachen und Übereinkünfte, und wusste, dass alle Hoffnung, die Verluste der letzten acht Monate – sein Vermögen, seinen Posten im Innenministerium, seine Reputation (oder deren bescheidene Reste) – wiedergutzumachen, dahin war.

Sein legendäres Glück hatte ihn verlassen.

Würde er dazu neigen, ehrlich mit sich zu sein, was er in der Regel tunlichst vermied, könnte er sogar den genauen Zeitpunkt benennen, als Fortuna sich von ihm abgewandt hatte.

Acht Monate war es her. Der dritte August 1810, um ganz genau zu sein. Der Abend, an dem er Harriet Hathaway geküsst hatte. Nicht zum ersten Mal, und nicht nur das.

Denn der Kuss war noch die kleinste seiner Verfehlungen mit Miss Hathaway, doch da er der Wahrheit, wie gesagt, nicht allzu gern ins Gesicht sah, tat er sich schwer, dies einzugestehen.

Ach, verdammt, wozu um den heißen Brei herumreden?

Ruiniert hatte er sie. Nicht mehr und nicht weniger.

Aber genug der Betrachtungen dieser verrückten Nacht, denn schließlich war es nicht seine unersättliche Begierde nach Harriet, die ihn in diese Bredouille gebracht hatte.

Oder?

Oh, Harry, was habe ich nur getan? dachte er, als er seine ganze Misere schwarz auf weiß auf dem Schreibtisch dieses … dieses Bürgerlichen liegen sah und ahnte, dass er niemals, wie sehr er sich auch …

Es war eine Krux.

Und damit, sich seine Gefühle für Harriet Hathaway einzugestehen, war der Wahrheit für einen Tag wirklich Genüge getan – insbesondere dieser Wahrheit!

Dafür saß er nun hier und musste seinem eigenen Ruin ins Gesicht sehen. Welch feine Ironie des Schicksals, welch eine Vergeltung gar. Denn wäre es nur ums Geld gegangen, wäre alles allein seine Schuld gewesen, gut, er hätte damit leben können. Leben müssen. Doch weit gefehlt. Sein Instinkt sagte ihm, dass weit mehr dahintersteckte als eine plötzliche Wendung des Glücks. Etwas war faul an der Sache, und zwar ganz gewaltig. Ihm kam es vor, als sei er in ein abgekartetes Spiel geraten. Aber wie und warum, das hätte er nicht sagen können.

Vor allem durfte er nicht zulassen, dass andere mit in die Sache hineingezogen und unnötig in Gefahr gebracht wurden.

So wie vermutlich Mr. Ludwick, sein Prokurist. Roxley bekam noch immer Magengrimmen, wenn er daran dachte, wie dieser von einem Tag auf den anderen verschwunden war und dabei einen nicht unbeträchtlichen Teil von Roxleys Vermögen hatte mitgehen lassen.

Der Haken war nur, dass derlei Ludwick überhaupt nicht ähnlich sah. Der Mann war integer und über jeden Zweifel erhaben. Sein plötzliches Verschwinden ließ sich einfach nicht erklären. Ein weiteres Rätsel, das sich jedoch mühelos in die Vorkommnisse der letzten Monate einreihen ließ: fehlgeschlagene Investitionen, herbe Verluste, eine nicht abreißen wollende Pechsträhne beim Spiel sowie vertrauliche Akten des Innenministeriums, die aus seinem Haus gestohlen worden waren. Die Vorfälle schienen auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben, und doch wurde er das ungute Gefühl nicht los, dass alles irgendwie zusammenhing, dass es einen roten Faden gab, der sich wie ein Fluch um sein Leben spann.

Aber wer war es, der die Strippen zog? Und warum? Roxley stand vor einem Rätsel.

Mr. Murray, dem das Zögern des Earls nicht entgangen war, beschloss, zu härteren Mitteln zu greifen, und zückte ein Schriftstück, von dem Roxley wünschte, es niemals gesehen zu haben.

Die Hypothek auf Foxgrove.

Das einzige seiner Anwesen, das nicht durch einen Erbvertrag gebunden war. Das Anwesen, dessen Erträge sämtliche Marshoms über Wasser hielten. Ohne Foxgrove …

Mr. Murray strich mit seinen tintenfleckigen Wurstfingern über die Urkunde. „Ein Haus auf dem Lande habe ich mir schon immer gewünscht. Wie ist es denn so, dieses Dorf? Kempton, nicht wahr?“

„Kempton sagten Sie?“, erwiderte Roxley, um Zeit zu schinden und wandte den Blick von Murrays gierigen Griffeln ab. „Oh, das dürfte Ihnen kaum gefallen. Über dem Dorf liegt ein Fluch.“

Auf der anderen Seite des Schreibtischs wurde es erst ganz still, dann brach Mr. Murray in lautes, wieherndes Gelächter aus. „Man hatte mich gewarnt, dass Sie ein etwas schräger Vogel wären, aber … Nein, so etwas, ein Fluch, sagt er!“ Wieder wieherte er los.

Du liebe Güte, dachte Roxley, man konnte nur hoffen, dass Murrays Tochter nicht seine Lache geerbt hatte. Nicht auszuhalten. Aber was würde er nicht alles tun, um Foxgrove zu retten und seine alten Tanten nicht ins Schuldnergefängnis wandern zu sehen …

Und wenn er dafür sorgte, dass die Tochter dieses Emporkömmlings die nächsten vierzig Jahre nichts zu lachen hatte, wäre er in jedem Fall auf der sicheren Seite.

Ein schwacher Trost, zugegeben, und nicht sehr gentlemanlike.

„Ich könnte mir vorstellen, nächste Woche mal vorbeizufahren“, überlegte Murray derweil laut. „Muss wahrscheinlich von Grund auf renoviert werden. Das kennt man ja, wenn der verarmte Adel sich mit Klauen und Zähnen ans bröckelnde Gemäuer klammert.“

Also bitte, das verbat Roxley sich doch sehr! Sein Grundbesitz samt der darauf befindlichen Häuser war sein ganzer Stolz, darauf ließ er nichts kommen. Und bislang hatte er auch immer geradezu unverschämtes Glück gehabt und die alten Kästen gut in Schuss halten können. Bislang, das war die Krux. „Wie Sie meinen“, erwiderte er. „Aber meine Tante Essex lebt derzeit auf Foxgrove und wäre gewiss wenig erpicht, wenn ihr ungebetener Besuch ins Haus schneite.“

„Nun, genau genommen ist es gar nicht mehr ihr Haus“, stellte Mr. Murray klar und strich mit seinen grässlichen Wurstfingern über die Hypothek.

Daran wollte Roxley nicht einmal denken. Tante Essex des Hauses verwiesen, in dem sie einen Großteil ihres Lebens verbracht hatte? Unvorstellbar. Zumal ihr dann keine andere Wahl bliebe, als nach London zu ziehen.

Das heißt zu ihm. Und ohne die Einkünfte von Foxgrove sähen auch Tante Eleanor in Bath sowie Ophelia und Oriel, die das Cottage bewohnten, sich gezwungen, ihrem Beispiel zu folgen. Alle alten Marshom-Jungfern unter einem Dach vereint, nämlich unter seinem. So weit durfte es nicht kommen!

Weit schlimmer noch wäre jedoch das Wissen, die Tanten im Stich gelassen zu haben. Wo sie doch ihrerseits ihm in seiner dunkelsten Stunde beigestanden hatten! Sollte er es ihnen so danken?

Vermutlich hatte er sich seinen Gewissenskonflikt anmerken lassen, denn Mr. Murray lachte stillvergnügt in sich hinein. „Da hab ich Ihnen jetzt aber ordentlich was zu knabbern gegeben, wie?“

„Mr. Murray, seien Sie versichert, dass Sie mir von dem Tag, an dem ich darüber in Kenntnis gesetzt wurde, dass Sie für sämtliche meiner Schulden einspringen wollten, ordentlich was zu knabbern gegeben haben. Und darum verraten Sie mir doch bitte eines: Wie kommen Sie auf die aberwitzige Idee, in mich zu investieren?“

Mit einem Schlag verstummte Murray und schien einen Augenblick zu zögern, hatte dann aber doch recht schnell eine Antwort parat. „Hab mir schon immer gewünscht, dass meine Tochter mal eine richtige Dame wird, und für den Anfang scheint mir der Titel einer Countess genau das Richtige.“

Roxley lag es auf der Zunge, zu fragen, ob Murray denn auch sein vorzeitiges Ableben plane, damit seine Tochter baldmöglichst eine noch bessere Partie machen könne, diesmal dann vielleicht gleich einen Duke?

„Und, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten“, setzte Murray so eilig nach, als sei ihm nun auch der Rest seiner Erklärung eingefallen, „Ihre finanzielle Misere ist nun beileibe kein Geheimnis.“

Wohl wahr, dachte Roxley und seufzte. Das waren vermutlich die ehrlichsten Worte, die dem Mann, seit Roxley sein Büro betreten hatte, über die Lippen gekommen waren. Sein spektakulärer Absturz war längst Londoner Stadtgespräch. Denn wie hatte er selbst an jenem Abend zu Harry gesagt?

Im ton gibt es keine Geheimnisse.

Genau so war es. Wie ein Lauffeuer hatte es sich verbreitet, dass dem Earl of Roxley das Wasser bis zum Hals stand. Am meisten fuchste ihn, dass all jene, die er im Laufe der Jahre ausgenommen hatte, das entwürdigende Spektakel nun mit unverhohlener Schadenfreude verfolgten. Und da fast jeder schon mal gegen ihn verloren hatte, zählte sich praktisch der gesamte ton zum begeisterten Publikum seines in ihren Augen verdienten Niedergangs.

„Sie haben die Wahl, Mylord“, sagte Murray mit einem für seine Verhältnisse feinen Lächeln und faltete die Hände über der Beweislast von Roxleys Ruin. „Entweder Sie heiraten meine Tochter, oder Ihre Tanten können den Rest ihres Lebens im Armenhaus verbringen.“

Nachdem der Earl Mr. Murrays Arbeitszimmer verlassen hatte, tat eine durch ein Bücherregal verborgene Tür sich auf, und eine hochgewachsene, dunkel gekleidete Gestalt trat heraus.

„Ich habe mich genau an Ihre Anweisungen gehalten“, beeilte Murray sich dem Mann zu versichern. „Aber er wird der Heirat nicht zustimmen, Mylord, ehe er meine Tochter nicht kennengelernt hat.“

„Er wird schon zustimmen“, erwiderte der andere mit der ihm eigenen Selbstgewissheit.

Genau diese selbstherrliche Art war es, die Murray zunehmend Bauchschmerzen bereitete. Das Ganze schmeckte ihm nicht. Ein Mitglied des Oberhauses erpressen – einen Earl? Üble Sache, wenn man es genau betrachtete.

Genauso übel wie sein Gegenüber. Auf was hatte er sich da nur eingelassen?

„Wie gesagt, ich bin ganz genau Ihren Anweisungen …“, wiederholte Mr. Murray.

Der andere zog die dunkle Braue hoch und betrachtete ihn kühl. „Ja, ich weiß“, schnitt er ihm das Wort ab. „Gut gemacht.“

„Und wegen dieser anderen Sache …“ Denn das war es, was den undurchsichtigen Fremden überhaupt erst auf Murray hatte aufmerksam werden lassen.

Doch Mylord schüttelte unwillig den Kopf. „Nicht jetzt.“

„Aber ich …“ Murray verstummte, als die dunkle Braue neuerlich nach oben schnellte.

Ludwick, Roxleys letzter Prokurist, war nun schon seit Wochen verschwunden. Spurlos. Genau wie Roxleys Geld. Murray hatte den Mann persönlich gekannt, und er war ihm immer als eine ehrliche Haut erschienen. Ganz und gar nicht der Typ, der ein Vermögen unterschlug und Frau und drei Kinder einfach sitzen ließ.

Murray schaute auf und fand den Blick des Fremden auf sich gerichtet. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Fast schien es, als könne der andere Gedanken lesen und die Fragen und Zweifel hinter seinem Schweigen hören.

„Ja, Sie haben sich genau an meine Anweisungen gehalten“, versicherte ihm der Mann mit derselben kalten Geschmeidigkeit, mit der einem in dunkler Nacht ein Messer zwischen die Rippen gleiten kann. „Sie haben Roxleys Schulden komplett übernommen und ihn so weit in die Ecke gedrängt, dass er dieser Heirat …“, er zögerte den Bruchteil einer Sekunde, „… mit Ihrer Tochter wohl oder übel zustimmen wird. Aber unsere Vereinbarung ist erst dann erfüllt, wenn er und seine elende Verwandtschaft erledigt sind und mir zufällt, was mir zusteht.“

Die kaum unterdrückte Wut, mit der jedes dieser Worte ausgespuckt wurde, ließ Murray ganz weich in den Knien werden. Umso bedachtsamer wählte er seine Antwort.

„Ihre Abneigung gegen den Earl muss … erheblich sein, wenn Sie solche Mühen auf sich nehmen.“ Er deutete vage auf die Papiere vor sich: ein Berg an Schulden, Hypotheken und Fehlinvestitionen, hinter denen, da war Murray sich mittlerweile sicher, Roxleys erbitterter Widersacher steckte. „Sie müssen ihn abgrundtief hassen, Mylord.“

„Roxley hassen?“, lachte der andere hämisch. „Weit gefehlt, guter Mann. Ich würde ihn sogar als einen Freund bezeichnen.“

Acht lange Monate. Harriet wippte ungeduldig mit dem Fuß. Acht Monate seit jener unvergesslichen Nacht auf Owle Park und dem noch denkwürdigeren Tag danach.

An dem sie hatte feststellen müssen, dass Roxley sich aus dem Staub gemacht hatte.

Dass er feige Reißaus genommen hatte.

Aus dem Haus seiner Freunde geflohen war.

Und nicht zuletzt natürlich sie im Stich gelassen hatte.

Sie könnte die Liste seiner Verfehlungen noch beliebig fortsetzen, doch damit war auch niemandem gedient, wie sie während eines tristen Herbstes und eines nicht minder trostlosen Winters hatte erkennen müssen, die ihr keine Nachricht von ihm gebracht hatten. Kein Wort, kein einziges.

Es riss nur die Wunde wieder auf, die ihr nahezu das Herz gebrochen hatte. Und sosehr sie versuchte, den Schmerz zu verwinden und die Verletzung heilen zu lassen, so blieben doch Zweifel und Fragen, die in ihr schwelten.

Warum nur, warum hatte sie sich bereit erklärt, mit nach London zu kommen?

Natürlich wüsste sie zu gern, warum Roxley sie damals hatte sitzen lassen, doch zugleich grauste ihr ein wenig davor, die Wahrheit zu erfahren. Wollte sie das wirklich wissen?

Doch dann war Lady Essex bei den Hathaways aufgekreuzt und hatte darauf bestanden, dass Harriet sie nach London begleitete, und Harriets Mutter hatte nur zu gern ihre Erlaubnis gegeben. Noch ehe sie ernsthaften Widerspruch einlegen konnte, hatten die beiden Frauen schon Harriets Sachen gepackt und sie in die Reisekutsche der Marshoms verladen lassen.

Und was hätte sie auch sagen sollen? Die Wahrheit wohl kaum.

Maman, Lady Essex, mir steht nicht der Sinn danach, in London dem Mann zu begegnen, der mich ruiniert hat. Oh ja, das wäre gewiss sehr gut aufgenommen worden.

Und so war sie nun hier, in London, und es dürfte nur noch eine Frage der Zeit, wenn nicht gar von Minuten sein, bis sie Roxley begegnete, und was, bitte schön, sollte sie dann zu ihm sagen?

Vielleicht sollte sie sich vertrauensvoll an Madame Sybille wenden, von der heute Abend alle in den höchsten Tönen schwärmten – angeblich eine Hellseherin, wer solchen Unfug denn glauben mochte. Vielleicht könnte sie für Harriet in die Zukunft blicken, oder vielmehr in die Vergangenheit, und ihr versichern, dass Roxleys schmählicher Abgang nichts weiter als ein dummes Missverständnis war.

Harriet schnaubte verächtlich, was ihr einige vorwurfsvolle Blicke älterer Damen einbrachte. Herrje, was tat sie nur hier? Sie brauchte keine Hellseherin, sie brauchte Beistand. Suchend schaute sie sich um. Wo zum Teufel steckte denn Tabitha? Oder Daphne. Die beiden wüssten, was jetzt zu tun wäre.

Das hieße natürlich, dass sie ihnen erst einmal erzählen müsste … Und Harriet wusste nicht, ob sie diese Schmach ertragen würde.

Doch dann, wie gerufen, ging ein tuschelndes Raunen durch die Schar der Gäste, woraus Harriet schloss, dass nicht nur Tabitha endlich Einzug hielt, sondern auch ihr Gatte, der berüchtigte Duke of Preston.

Tatsächlich sah sie nun die glücklich verheiratete Duchess am Arm ihres Angetrauten die Treppe zum Ballsaal herunterschreiten. Wider alle Erwartungen war es Tabitha nicht nur gelungen, das Herz dieses einst so liederlichen Lebemannes zu gewinnen, sondern auch, ihn zu zähmen.

Und wenn man schon von Schurken, Teufeln und Halunken sprach: Der Duke und die Duchess waren nicht allein gekommen. Preston trat beiseite und gab den Blick frei auf seinen Onkel, Lord Henry Seldon, der von einem Ohr zum anderen grinste und tat, als bemerke er nicht die entsetzten Blicke der Matronen, die ihm und seiner Gemahlin galten.

Daphnes Glück sprach allen Warnungen Hohn, die man den jungen Damen von Stand angedeihen ließ. Durchgebrannt ist sie, und jetzt schaut sie euch an!

Die einstige Miss Daphne Dale, nun Lady Henry, war der strahlende Beweis des Gegenteils. Im schimmernden Seidenkleid machte sie eine bezaubernde Figur, und ihr Lächeln deutete an, dass ihre so schmählich begonnene Ehe zu ihrer völligen Zufriedenheit verlief …

Harriet seufzte vor Erleichterung. Es war, als wäre ihr eine Last von der Seele genommen. Wie sehr sie ihre Freundinnen vermisst hatte! Seit die beiden verheiratet waren und in London lebten oder auf den Landgütern ihrer Gatten weilten, hatte Harriet sich in Kempton doch recht allein gefühlt, jenem Dorf, in dem sie alle drei aufgewachsen waren und das man, ohne Übertreibung, als weit abgeschieden bezeichnen konnte.

Natürlich hatte sich auch in Kempton so einiges verändert. Jahrzehnte war es her, dass eine Jungfer aus Kempton sich in die Ehe gewagt hatte, und gar Jahrhunderte, dass ein solcher Bund dem jeweiligen Gatten nicht ein schreckliches und vorzeitiges Ende beschert hätte.

Meist schon in der Hochzeitsnacht.

Es war wirklich, als hätte ein Fluch auf dem Dorf gelegen.

In den ersten Monaten nach Tabithas und Daphnes Hochzeiten hatten denn auch alle Dorfbewohner – vor allem natürlich die jungen Damen – mit angehaltenem Atem auf das Schicksal gewartet, das Lord Henry oder den Duke of Preston, wenn nicht gar beide oder, Gott bewahre, ihre Ehefrauen, heimsuchen würde.

Doch nichts war geschehen. Als weder Tabitha noch Daphne dem Wahnsinn verfielen und ihre Gatten mit Schürhaken drangsalierten, berief die Gesellschaft zur Besserung und Bekehrung Kemptons ein außerordentliches Treffen ein, um über das weitere Vorgehen zu beraten, und Lady Essex, die unangefochtene Ehrenvorsitzende aller alten Jungfern Kemptons, hatte den Fluch kurzerhand als gebannt erklärt.

„Aber wie kann das sein?“, hatte Miss Theodosia Walding wissen wollen und ihre Brille auf der Nase zurechtgerückt. Theodosia war ein überzeugter Blaustrumpf und ließ sich kein X für ein U vormachen. Sie erwartete Fakten.

„Die Liebe war es“, verkündete Lady Essex.

„Wahre Liebe“, seufzte Lavinia Tempest, und ihre Zwillingsschwester Louisa nickte beifällig.

Die anderen Jungfern, denen Lavinias Bemerkung nicht entgangen war, denn niemandem könnte je entgehen, was Lavinia vermeldete, bekamen verklärte Blicke und stimmten in das schwärmerische Seufzen ein. Nur Theodosia war noch immer nicht recht überzeugt und runzelte die Stirn, fand sie eine so gefühlsduselige Erklärung wie „Liebe“, oder gar das verschwommene „wahre Liebe“, doch wenig glaubhaft. Zu heikel waren Gefühle, zu flüchtig.

Aber lag der Beweis des Gegenteils nicht auf der Hand? Tabitha und Daphne waren glücklich verheiratet und ihre Gatten wohlauf. Der Fluch musste gebannt sein, es konnte gar nicht anders sein, und für all die Jungfern, Töchter und jungen Damen Kemptons war es somit an der Zeit, das bislang Undenkbare zu tun: ihre Aussteuer herzurichten und eine gute Partie zu machen. Wohl nie hatte Mrs. Welling, die das örtliche Bekleidungsgeschäft führte, einen solchen Ansturm erlebt!

Nur Harriet hatte sich von der allgemeinen Aufbruchstimmung nicht anstecken lassen, denn sie hatte ihr Herz schon Monate zuvor verloren.

Verloren im wahrsten Sinne des Wortes, denn alles deutete darauf hin, dass ihre Liebe nicht erwidert wurde und er sie nicht nur verlassen, sondern auch vergessen hatte.

Aber nein, das konnte nicht sein. Nicht Roxley, sagte sie sich.

Harriet seufzte, denn so ging es schon den ganzen Abend – ein endloser Refrain, der nicht verstummen wollte.

Er liebt mich. Er liebt mich nicht.

Sie reckte sich auf die Zehenspitzen, um an Prestons hochgewachsener Gestalt vorbeisehen zu können, ob nicht noch jemand mit ihnen gekommen wäre.

Roxley.

Doch zu ihrem Leidwesen keine Spur von ihm. Nirgends blitzte sein unbekümmertes Lächeln auf, sein perfekt geschnittener Weston-Rock oder dieser verschmitzte Blick, den er immer dann bekam, wenn er sich eine launige Bemerkung überlegte, die sie in schallendes Gelächter ausbrechen ließ.

Verflixt! Wo zum Teufel steckt er? Harriet begann wieder, mit dem Fuß zu wippen.

„Harriet!“, rief Tabitha, eilte zu ihr und schloss sie in ihre Arme. Beste Freundinnen seit Kindertagen, waren sie noch nie so lang voneinander getrennt gewesen. „Was habe ich dich vermisst!“

„Und ich dich erst!“, gestand Harriet. Nachdem sie sich aus Tabithas Umarmung gelöst hatte, lächelte sie Daphne an. „Und dich auch.“

„Ach was“, winkte Daphne ab. „Ich wage doch sehr zu bezweifeln, dass dir meine Kritik an deinen schlammverkrusteten Rocksäumen gefehlt hat.“

Harriet musste sich ein Lachen verkneifen. Daphnes anspruchsvoller Modesinn hatte ihr tatsächlich kein bisschen gefehlt. Und doch schloss sie die Freundin nun herzlich in die Arme und war selbst ein wenig überrascht, als Daphne die Umarmung erwiderte.

„Du hast mir gefehlt“, gestand sie Harriet. „Du und deine furchtbaren Miss-Darby-Romane.“

Harriet schossen heiße Tränen in die Augen. Vielleicht wurde ihr erst jetzt bewusst, wie einsam Kempton für sie geworden war, seit Tabitha nicht mehr im Pfarrhaus und Daphne die Straße hinunter in Dale House lebten. Wie gern würde sie ihnen erzählen … Doch sie konnte es nicht.

„Die Miss-Darby-Romane sind nicht furchtbar“, gab sie mehr aus alter Gewohnheit zurück. „Ich habe den neuesten gerade ausgelesen: Miss Darbys abenteuerliches Abkommen. Den solltet ihr euch nicht entgehen lassen. Es wird sogar richtig spannend, weil sie nämlich in die Fänge eines Sultans aus dem Morgenland gerät, der sich natürlich als … Was?!“ Harriet verstummte jäh, als sie merkte, wie ihre Freundinnen sich das Lachen wegen ihrer ungebremsten Begeisterung für Miss Darby kaum verkneifen konnten.

Preston und Lord Henry wechselten fragende Blicke und entschuldigten sich dann, um auszukundschaften, ob Lord Knolles auch noch Stärkeres als Limonade im Angebot hatte.

„Oh, nicht hinschauen, Tabitha, aber Lady Timmons ist auch hier“, raunte Daphne.

„Solange du an meiner Seite bist, wird meine Tante sich nicht einmal in meine Nähe wagen“, erwiderte Tabitha leichthin.

„Warum das denn?“, wollte Harriet wissen und spähte zu Lady Timmons hinüber, die von ihren drei Töchtern im heiratsfähigen Alter umringt wurde. Was könnte ihr denn Besseres passieren, als eine Duchess zur Nichte zu haben, um sich und ihre drei Grazien den allerbesten Kreisen zu empfehlen?

„Sie unterstellt Daphne einen verderblichen Einfluss“, vertraute Tabitha ihr an. „Sie hat mir mitgeteilt, dass sie, wenn ich an meiner Freundschaft zu Lady Henry festhalte, keinen weiteren Umgang mit mir pflegen könne, da sich dies nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren lasse.“

„Oh, du Arme! Wenn das so ist, solltest du nicht einen Augenblick von Tabithas Seite weichen“, riet Harriet Lady Henry. Endlich konnten sie ihr Lachen nicht länger zurückhalten. Es war beinahe schon absurd: Erst hatte Lady Timmons alles darangesetzt, Tabithas Heirat mit Preston zu verhindern, um dann, vor vollendete Tatsachen gestellt, alle Vorbehalte zu vergessen, wollte sie sich doch die guten Beziehungen zu einer Duchess nicht verscherzen. Welch berechnender Wankelmut! Aber den dreien sollte es nur recht sein, und sie amüsierten sich köstlich über Daphnes angeblich verderblichen Einfluss.

Und dann, als Tabitha und Daphne sich schließlich erkundigten, was es Neues in Kempton gebe – Was hatten die Tempest-Zwillinge jetzt schon wieder angestellt?, Welchen wissenschaftlichen Erkenntnissen versuchte Theodosia gerade auf den Grund zu gehen?, Was gab Lady Essex neuen Anlass zu Verdruss? –, fiel Harriet noch etwas ganz anderes auf.

Sie nahm erst Tabitha in Augenschein, dann Daphne. „Warum habt ihr das nicht gleich gesagt?“, platzte sie heraus; ja, es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte auf die sich rundenden Bäuche der beiden gezeigt, wobei Tabitha schon sichtlich weiter war als Daphne.

„Du weißt doch, dass man darüber nicht spricht“, flüsterte Tabitha, auf einmal wieder ganz die Pfarrerstochter.

„Unsinn“, fand Daphne. „Geht es um ihre Hunde und Pferde, reden unsere Männer dauernd davon! Aber wir brauchen nur anzudeuten, dass man in anderen Umständen sei, und schon führen sie sich auf, als erwarte man von ihnen, nur im Hemd die Bond Street hinunterzuspazieren.“ Sie seufzte. „Henry wollte mir gar das Tanzen verbieten, stellt euch das mal vor! Er will nicht, dass ich mich in irgendeiner Weise überanstrenge.“ Sie faltete die Hände über ihrem kleinen Bäuchlein. „So langsam beginnt er, mich an Tante Damaris zu erinnern, aber das lasse ich ihm lieber nicht zu Ohren kommen.“

„Da du gerade von deiner Verwandtschaft sprichst“, warf Harriet ein, „deine Mutter hat kürzlich allen Ernstes deinen Namen erwähnt.“

Daphnes Eltern hatten kein Wort mehr mit ihrer Tochter gesprochen, seit sie mit einem Seldon auf und davon war. So ganz begriffen hatte Harriet es nie, aber für die Dales schienen sämtliche Seldons schlimmer zu sein als der Teufel – eine herzliche Abneigung, die auf Gegenseitigkeit beruhte, und das schon seit Generationen. Dass ihre Tochter nun hinging und einen von ihnen heiratete … Nun, da fehlten einem wirklich die Worte.

„Unsere freudige Nachricht mag gewiss dazu beigetragen haben, die Wogen ein wenig zu glätten, aber ich fürchte, vor allem haben wir es Cousin Crispins jüngst erfolgter Heirat zu verdanken, dass ihre Einstellung zu meinem Ehemann und dessen Familie sich ein wenig geändert hat.“

„Dann stimmt es also?“, fragte Harriet ungläubig. „Lord Dale hat sie tatsächlich geheiratet?“

„Aber ja doch“, meinte Daphne, sichtlich erheitert, „dafür hat Mr. Muggins schon gesorgt.“

Tabitha, der es furchtbar unangenehm war, welche Rolle ihrem Hund bei Lord Dales Heiratsantrag zukam – dem Setter war es zu verdanken, dass die beiden stundenlang im Weinkeller eingesperrt gewesen waren –, wechselte rasch das Thema. „Stimmt es eigentlich, dass die Tempest-Zwillinge sich für den Rest der Saison in London aufhalten?“

Harriet nickte. „So war es geplant. Wenn nichts dazwischenkommt, werden sie in zwei Wochen anreisen. Ihre Patentante, Lady Charleton, nimmt sie unter ihre Fittiche und kommt für alle Unkosten auf.“

„Lady Charleton?“, mischte sich eine ältere Dame ein, die in der Nähe stand und die letzten Worte aufgeschnappt hatte. „Sagten Sie gerade Lady Charleton?“

„Ganz genau, Madam“, erwiderte Harriet artig.

„Sie müssen sich irren. Lady Charleton weilt nicht mehr unter uns. Wann ist sie noch gleich …?“ Sie wandte sich an ihre noch betagtere Begleiterin. „Wann ist Lady Charleton verstorben?“

„Zwei Jahre ist es jetzt her, sie schied ganz plötzlich aus dem Leben“, erinnerte die andere mit einem so bedauernden Kopfschütteln, dass die gelben Federn ihres Turbans mächtig in Aufruhr gerieten. Ein Glück nur, dass Mr. Muggins nicht zugegen war! „Eine ganz schlimme Sache, immer noch.“

„Lady Charleton ist tot?“, fragte Harriet entgeistert. „Dann muss ich mich im Namen geirrt haben.“

„Das müssen Sie wohl, junge Dame.“ Damit wandte die Matrone sich wieder ihren Mitstreiterinnen zu und weidete sich weiter am Unglück anderer Leute.

„Apropos Fittiche“, meinte Tabitha und schaute sich suchend um, „wo steckt eigentlich Lady Essex?“

„Sag bloß, die hast du auch vermisst?“, zog Harriet sie auf.

Daphne und Tabitha lachten. Die alte Jungfer konnte wirklich ein enervierender Drachen sein, aber Harriet kümmerte das nicht. „Irgendein alter Schwerenöter hat sie sofort in Beschlag genommen“, gab sie Auskunft. „Und haltet euch fest: Er hat sie Essie genannt.“

„Nein!“, entfuhr es Tabitha.

„Oh doch.“ Harriet nickte bedächtig. „Ein Lord Whenby, wenn ich es richtig verstanden habe.“

Die drei schauten verstohlen hinüber zu der alten Dame mit dem scharfen Gehör, doch der Name weckte diesmal keine Reaktion.

Daphne senkte dennoch die Stimme. „Und wer ist dieser Lord Whenby?“

Harriet zuckte die Schultern, denn sie hatte nie zuvor gehört, dass Lady Essex den Mann erwähnt hätte. „Wenn ich das wüsste! Aber es erklärt vielleicht, warum sie seit Wochen nicht ganz sie selbst zu sein scheint.“

Hier tauschten Tabitha und Daphne einen verstohlenen Blick, der andeuten mochte, dass es dafür noch einen ganz anderen Grund geben könnte.

Doch Harriet redete nun, da sie das Thema einmal angeschnitten hatte, unverdrossen weiter. „Ich hätte nicht gedacht, dass sie diese Saison überhaupt nach London fahren würde, aber vor ein paar Tagen stand sie dann plötzlich bei uns vor der Tür und wies meine Mutter an, meine Sachen zu packen.“

Wieder folgte ein stummer Blickwechsel zwischen Daphne und Tabitha, der Harriet diesmal nicht entging, doch ehe sie nachhaken konnte, was die beiden ihr verschwiegen, bekamen sie Gesellschaft, wenn auch ungebetene.

„Miss Hathaway? Sind Sie es wirklich?“

Harriet zuckte beim Klang der leidlich vertrauten Männerstimme zusammen.

„Oder sollten meine Augen oder gar mein Herz mich trügen?“ Ein elegant gekleideter Herr in edler Abendgarderobe und blitzblank gewienerten Stiefeln blieb bei ihnen stehen.

„Lord Fieldgate.“ Sie rang sich ein flüchtiges Lächeln ab und sank in einen Knicks.

Als sie sich wieder aufrichtete, griff er nach ihrer Hand und hob sie an seine Lippen. „Meine Hippolyta, längst glaubte ich Sie verloren.“

Daphne lehnte sich fragend zu Tabitha hinüber. „Hippolyta?“

„Die Königin der Amazonen“, flüsterte diese zurück.

Daphne schnaubte.

„Grob übersetzt bedeutet es so viel wie ‚ungezähmte Stute‘“, schob Tabitha noch hinterher, denn in Situationen wie diesen kam ihr die durch ihren Vater, den Pfarrer, vermittelte Bildung stets gelegen.

Daphne hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen.

„Du sagst es“, bemerkte Tabitha. „Wenn der Viscount wüsste, wie zutreffend seine charmante Bezeichnung in Harriets Fall ist …“

Harriet, die jedes Wort gehört hatte, warf den beiden einen scharfen Blick zu, als wolle sie sagen: Dumm mag er sein, aber taub ist er nicht.

„Ich bestehe auf diesen Tanz“, fuhr Fieldgate fort, der noch immer Harriets Hand hielt. „Und auf den nächsten gleich dazu.“ Niemand konnte sagen, dass es dem Viscount an Selbstbewusstsein mangelte. Oder an Charme – sein Lächeln war voller Verheißung, und unter seinem Blick konnten einer Dame durchaus die Knie weich werden. Doch Harriet war nicht jede Dame.

„Zwei Tänze? Oh nein“, beschied Harriet ihrem Verehrer, der ihr seit der letzten Saison so standhaft nachstellte. Die Trennung über Raum und Zeit hatte allem Anschein nach wenig dazu beigetragen, Fieldgates Vorliebe für sie zu dämpfen.

„Zumindest den Tanz zu Tisch“, bat er.

Den Tanz zu Tisch? Welche Anmaßung! Roxley würde das gar nicht gefallen. Ihm war es schon letzte Saison jedes Mal ein Dorn im Auge gewesen, sie mit dem Viscount tanzen zu sehen. Andererseits geschähe es dem Earl ganz recht, sich mit irgendeiner sitzen gebliebenen Debütantin zu Tisch begeben zu müssen. Erst recht, nachdem er all die Monate kein Wort von sich hatte hören lassen.

Er liebt mich, er liebt mich nicht, klopfte ihr Herz und drohte einmal mehr in den Abgrund zu springen, an dessen Rand es sich seit Monaten bewegte.

Aber damit war es jetzt genug. Heute Abend würde sie die Wahrheit herausfinden. Und wenn sie sie aus dem verflixten Mann herausschütteln müsste. Sie aus ihm herausschälen mit einem der alten Schwerter dort drüben an der Wand. Anketten würde sie ihn, wenn es sein musste, oh ja, sie würde …

Harriets Gedanken fanden ein jähes Ende, ja, die ganze Welt schien plötzlich stillzustehen, denn dort drüben stand er, auf der anderen Seite des Saals.

Roxley.

Er war also doch gekommen, war vermutlich schon eine ganze Weile hier, denn er stand von Bekannten umringt und hielt Hof, als ob nichts sei.

Er liebt dich, er liebt dich nicht, hämmerte ihr Herz.

„Dürfte ich Ihr Schweigen so deuten, dass Sie mir den Tanz zu Tisch gewähren …“ Fieldgates Worte waren schmeichelnd und voller Zuversicht.

Doch Harriet hörte ihn kaum, so laut schlug ihr Herz. Roxley! Fast hätte sie ihn im Gedränge der Gäste übersehen, doch dann, als die Menge sich einen einzigen, magischen Moment lang teilte, hatte ihr Blick ihn sofort gefunden. Roxley, mit seinem feinen, spöttischen Lächeln, das sie so sehr an ihm liebte.

Ihr stockte der Atem wie damals, als seine Lippen sie liebkost hatten, als seine Hände, als seine Berührung überall gewesen war und sie erbebt war, wie sie auch jetzt erbebte.

„Wir machen einen Fehler, Spätzchen. Einen unverzeihlichen Fehler“, hatte er in jener Nacht auf Owle Park geflüstert, während seine Lippen immer weiter abwärts gewandert waren und eine glühende Spur der Leidenschaft auf ihre Haut gebrannt hatten.

Oh bitte, lass es keinen Fehler gewesen sein, beschwor sie ihn still wie schon unzählige Male zuvor. Ohne darüber nachzudenken, machte sie einen Schritt in seine Richtung, folgte dem Verlangen, das er in jener Nacht in ihr geweckt hatte, und vergaß völlig, dass der Viscount noch immer ihre Hand hielt.

Roxley liebt mich.

Oder auch nicht, flüsterte die leise Stimme des Zweifels zurück.

„Geben Sie mir keinen Korb, meine Königin, meine Hippolyta“, schnurrte Fieldgate weiter, noch immer ganz der Galan, auch wenn selbst ihm mittlerweile klar sein dürfte, dass seine Felle wegzuschwimmen drohten.

„Ja, ja … doch, ja“, erwiderte sie zerstreut, warf einen kurzen Blick zurück und entzog ihm ihre Hand. Ja, ich kann Ihnen sehr wohl einen Korb geben, hatte sie damit sagen wollen, doch der Viscount nahm ihre Worte als Zustimmung und grinste triumphierend.

„Harriet, wir müssen dir noch etwas sagen …“, setzte Tabitha an und wollte sie zurückhalten, aber Harriet wich ihr aus.

„Ja, Liebes, du musst uns unbedingt anhören“, stimmte Daphne ein.

Wenn ihre Freundinnen sie davor warnen wollten, unnötig Zeit in Gesellschaft des Viscounts zu verbringen, so konnten sie sich ihre Worte sparen. Sie hatte nicht die Absicht, auch nur eine weitere Sekunde mit Fieldgate zu verschwenden.

Nicht jetzt, da Roxley hier war, so nah. Gleich hätte sie Antworten auf all ihre Fragen. Roxley würde sich bei ihr entschuldigen, ihr seine unsterbliche Liebe beteuern und sie in seine Arme schließen, dass ihr Hören und Sehen verging. Er würde eine Sonderlizenz besorgen und sie heiraten.

Genau so würde es sich zutragen.

So war es nämlich immer.

In deinen Romanen, mahnte die Vernunft.

„Harriet, bitte“, rief Daphne ihr nach.

Sie stellte sich taub. Was konnten sie ihr schon zu sagen haben, das wichtiger wäre, als zu ihm zu gelangen, und so beschleunigte Harriet sogar noch ihre Schritte – nur um den Weg plötzlich von ihrem Bruder Chaunce verstellt zu finden.

Zum Kuckuck aber auch! War je ein Mädchen mehr mit Brüdern gestraft worden, fünf an der Zahl, die sich immerzu in alles einmischen und alles besser wissen mussten? Richtige Quälgeister konnten sie sein. Aus dem Weg!

Doch Chaunce, ihr zweitältester Bruder, wich kein Stück von der Stelle und trug diesen Ausdruck unnachgiebiger Entschlossenheit zur Schau, den sie so gut an ihm kannte. Alle Hathaways konnten stur sein, aber gegen Chaunces Beharrlichkeit konnte man so wenig ausrichten wie gegen eine gut gefügte Ziegelmauer.

„Harry“, sagte er und gab ihr einen brüderlichen Schmatz auf die Wange. „Da bist du ja. Mutter schrieb bereits, dass du vermutlich rechtzeitig in London eintreffen würdest, um dir heute Abend die Ehre zu geben.“

Harriet konnte er nichts vormachen. Begeistert schien er nicht gerade, sich auf Lady Knolles’ Soiree vergnügen zu dürfen; vielmehr sah es so aus, als wolle er schlechte Nachrichten überbringen. Konnte Chaunce, der alte Spielverderber, nicht ein Mal, ein einziges Mal nur, fünfe gerade sein lassen und sich des Lebens erfreuen?

So wie sie es zu halten gedachte, wenn sie erst einmal mit ihrem geliebten Roxley wiedervereint wäre.

„Da hatte sie ganz recht“, beschied Harriet ihrem Bruder. „Aber wenn du mich nun entschuldigen würdest, ich …“

Chaunce warf einen Blick über die Schulter und sah, wohin sie strebte. War sein Lächeln zuvor schon bemüht gewesen, so schwand es nun ganz. „Tu es nicht, Harry. Du darfst ihm nicht so hinterherlaufen. Nicht jetzt …“

Sie gab ihrem Bruder einen gutmütigen Klaps auf den Arm und wich ihm geschickt aus. „Wenn du nicht aufpasst, wirst du noch genau so ein Langweiler wie George“, tadelte sie ihn. „Roxley ist unser Freund. Ich will ihn nur begrüßen, was ist denn dabei? Er wird sich freuen, mich zu sehen.“

Und wehe, er tat es nicht …

„Harry …“, hörte sie Chaunce hinter sich, als sie ihm in die Menge entwischte.

„Nein, Harriet, nicht!“, rief nun auch Tabitha, die ihr hinterhergeeilt war und sie endlich eingeholt hatte. „Warte, bitte.“

Doch nichts würde Harriet jetzt noch aufhalten.

Sichtlich ungehalten wandte Mr. Chaunce Hathaway sich den beiden Freundinnen seiner Schwester zu. „Sie haben ihr nichts gesagt?“

Autor

Elizabeth Boyle

Bereits für ihren ersten historischen Roman erhielt Elizabeth Boyle den RITA Award für das beste Debüt. Auszeichnungen und Bestseller-Nominierungen für weitere siebzehn Romane folgten. Inzwischen hat Elizabeth Boyle ihren Job als Rechtsanwaltsfachangestellte aufgegeben, um hauptberuflich zu schreiben. Die New-York-Times-Bestsellerautorin, die in ihrer Freizeit gern gärtnert, strickt, liest, reist und Rezepte...

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