Verzehrende Küsse zwischen Leben und Tod

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Gefesselt und schmerzgepeinigt kommt Ritter Sir Roger zu sich: Mit festen Stricken hat die junge Wirtin Lucy Carew ihn an eine Bettstatt gebunden! Hält sie ihn für gefährlich, für einen Dieb oder gar einen Mörder? Dabei war die zarte Schönheit mit den sturmgrauen Augen gestern Nacht, als er schwerverletzt in ihr Gasthaus taumelte, mehr als zugänglich. Oder hat er ihren verzehrenden Kuss zwischen Leben und Tod nur im Fieberwahn geträumt? Auf jeden Fall muss sie ihn rasch gehen lassen, weil ein geheimer Auftrag im Namen des Königs auf ihn wartet. Bevor Lucy auch noch sein stolzes Herz in Fesseln legt …


  • Erscheinungstag 23.07.2019
  • Bandnummer 352
  • ISBN / Artikelnummer 9783733736941
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Wacht auf, Mylord! Wir müssen aufbrechen!“

Ungeduldige Rufe drangen in Roger Danbys Träume, zerrten ihn aus dem Haus seiner Kindheit im heidebedeckten Moor auf die Schlachtfelder Frankreichs. Das Gemetzel dort empfand er beinahe als Erleichterung.

Er hatte wieder von Yorkshire geträumt, wie jede Nacht, seit er nach England zurückgekehrt war: Die endlosen purpurfarbenen Moore und tiefen Täler, die er beinahe vier Jahre lang nicht gesehen hatte. Auch die Menschen aus seiner Vergangenheit waren anwesend und machten seine Träume noch düsterer. Obwohl ihm bewusst war, dass er träumte, fühlte er den Schmerz des Verlustes. Er fragte sich, ob sie wohl so oft an ihn dachten wie er an sie und ob sein Name wohl jemals erwähnt wurde in den roten Steinmauern seines Vaterhauses.

Jemand rief noch immer seinen Namen, und ein sterbender Bogenschütze zerrte am Halsausschnitt seines Umhangs. Er hob den Arm, um den Mann abzuwehren, aber den Zug spürte er noch immer. Die Rufe gehörten nicht zu dem Traum, und als er die Augen aufschlug, sah er Thomas, seinen Knappen, der sich über ihn beugte, die Hand auf Rogers nackter Schulter.

Der junge Mann sah ihn aus großen Augen an, sein Haar war ungekämmt. Thomas hatte in Frankreich an Rogers Seite gekämpft, daher war es nicht überraschend, dass er auch in Rogers Traum auf dem Schlachtfeld stand. Aber Roger benötigte einen Moment, um den Traum vollständig abzuschütteln und in das bequeme Bett im Herrenhaus eines Adligen aus Derbyshire zurückzufinden, was sehr ungewohnt war nach Monaten, in denen er auf Strohmatten oder dem nackten Boden geschlafen hatte.

„Mylord, bitte. Wir müssen aufbrechen“, wiederholte Thomas.

Wenn er von zu Hause geträumt hatte, dann waren Rogers Nerven immer gespannt wie eine Bogensehne. Er blickte zu Thomas auf, verwirrt und irritiert durch die Federmatratze. Zwischen den Vorhängen, die vor dem Fenster hingen, fiel etwas Licht ein. In dem kalten Raum bildete sein Atem eine Wolke.

„Habe ich verschlafen?“

„Nein, es ist noch früh.“

Mit einem Stöhnen ließ Roger sich zurückfallen. Es war die dritte Nacht bei Lord Harpur in Bukestone, und sie hatten vor, am Morgen aufzubrechen, allerdings nicht so früh. Das Hausmädchen, das ihm während der Nacht Gesellschaft geleistet hatte, rollte sich zur Seite, noch immer fest schlafend. Ihre nackten Schenkel stießen gegen Rogers Hüfte, als sie sich bewegte, und er spürte einen wohligen Schauer. Er griff nach der Weinflasche, die neben ihm lag, aber die war leer.

„Der Tag ist kaum angebrochen“, murrte er. „Warum die Eile?“

Thomas lief bereits in der kleinen Kammer umher, sammelte Habseligkeiten zusammen und stopfte sie in seine Satteltasche. Rogers Stiefel und den Umhang warf er auf das Fußende des Bettes.

„Lady Harpur geruhte heute Morgen ihrer Tochter einen Besuch abzustatten“, murmelte Thomas. Seine Miene wirkte angespannt, und unter dem dünnen Bart war er sehr bleich. „Sie musste feststellen, dass Katherine nicht allein in ihrem Zimmer war – und das schon die ganze Nacht über.“

Roger fluchte. Katherine Harpur war ein Mädchen von sechzehn Jahren mit der zarten, blassen Haut ihrer Mutter und dem dunklen Lockenhaar des Vaters. Sie war reif genug, aber Roger hatte die Tändelei, die er zwischen ihr und Thomas bemerkt hatte, als nicht besorgniserregend eingestuft. Offenbar hatte er sich getäuscht. Er zwang sich aus dem Bett. Der kalte Luftzug weckte ihn schlagartig auf, aber selbst wenn es im Zimmer angenehm warm gewesen wäre, hätte ihn sein soldatischer Instinkt auf die drohende Gefahr hingewiesen, in der sie sich befanden.

„Du verdammter junger Narr! Lord Harpur hat jedes Recht, dich niederzustrecken, gleich da, wo du jetzt stehst, und ich bin fast entschlossen, ihn gewähren zu lassen.“

In Thomas’ rundem Gesicht spiegelte sich Panik wider, und Roger erinnerte sich daran, wie jung sein Kamerad noch war. Obwohl er die Schlachtfelder Europas überlebt hatte, ängstigte ihn der Gedanke an den Tod offensichtlich. Thomas ist noch keine neunzehn Jahre alt, und wenn er weiterhin so unüberlegt handelt, dann wird er dieses Alter auch nicht erreichen, dachte Roger mit der Missbilligung eines um zehn Jahre älteren Mannes. Wenn Thomas alt genug war, um es mit einer willigen Frau zu treiben, dann war er auch alt genug, um die Folgen unüberlegten Handelns zu tragen.

„Wie lange ist es her, seit du entdeckt wurdest?“

„Ich bin direkt hierhergelaufen“, sagte Thomas bedrückt. „Katherine versuchte, ihre Mutter zu überreden, nicht gleich zu Lord Harpur zu gehen, aber ich weiß nicht, wie erfolgreich sie dabei sein wird.“

Das verschaffte ihnen etwas Zeit. Wenn das Glück auf ihrer Seite war, dann hatten sie das Haus vielleicht verlassen, ehe der empörte Vater nach ihnen zu suchen begann.

„Ich habe mich hinter der Tür versteckt und bin hinausgeschlüpft, ehe man mich sah. Lady Harpur weiß vielleicht nicht, dass ich es war.“

Thomas klang hoffnungsvoll. Roger wandte sich ab, damit Thomas nicht sah, wie … verärgert er war. Wie viele dunkelhaarige Gäste hielten sich in Lord Harpurs Haus auf?

Zwei, beantwortete er sich die Frage selbst und kratzte sich den Bart, der sein Gesicht bedeckte. Mit Glück würde Katherine Harpur bestätigen, mit welchem der beiden Männer sie sich indiskret verhalten hatte, und Roger würde nicht als der Schuldige dastehen. Er war erfüllt von dem Wunsch, Thomas etwas Verstand einzuprügeln, aber Strafen und Zurechtweisungen konnten bis später warten. Jetzt war es am wichtigsten, schnell abzureisen. Ihre Mission durfte nicht durch etwas so Banales gefährdet werden, nicht wenn Roger die Gelegenheit hatte, endlich den Reichtum zu gewinnen, nach dem er sich so sehnte.

Er zog die Leinenhose an, darüber die wollene Reithose und eine Tunika. Dann warf er einen bedauernden Blick auf seine eigene Bettgefährtin. Er hatte noch auf ein Schäferstündchen mit ihr gehofft, ehe sie aufbrachen. Allein dafür verdiente Thomas schon eine Kopfnuss. Aber egal, es würde nicht lange dauern, bis er ein anderes Bett fand und zweifellos auch jemanden, der es ihm wärmte. Auf diese Weise vermied er zumindest den tränenreichen Abschied von einem Mädchen, das gehofft hatte, er würde länger bleiben, als er es eigentlich beabsichtigt hatte. Roger warf einen Farthing, einen Viertelpenny, auf das Kissen, wo ihn das Mädchen beim Aufwachen sehen würde. Die Börse mit seinen letzten Münzen befestigte er an seinem Gürtel.

Thomas hatte die Ledertaschen geholt, die ihren Besitz enthielten, darunter auch die Tasche mit dem übrigen Geld, die Roger eingerollt zwischen seiner Wäsche versteckt hatte. Schnell legte Roger das dick gepolsterte Lederwams und den Reiseumhang an, dann griff er nach seinem Schwert. Er warf einen letzten Blick in den Raum, um sich zu vergewissern, dass er nichts vergessen hatte, dann machte er sich auf den Weg in die Küche, wo, wie er wusste, die Tür nicht bewacht wurde. Sich mit dem Hausmädchen anzufreunden hatte Vorteile, an die er vorher nicht gedacht hatte, und sie konnten sich auf diese Weise unbemerkt hinausschleichen und zu den Stallungen gehen.

Lautlos wickelten sie Sackleinen um die Hufe der Pferde und nahmen die Sättel auf die Schultern. Die Tiere wieherten leise aus Protest gegen den frühen Aufbruch, und Roger blieb stehen, um über das raue Winterfell seines Braunen zu streichen. Sie führten die Pferde am Rand des Hofes entlang, und das Glück war auf ihrer Seite, als sie das Tor passierten, ohne gesehen zu werden.

Sie sattelten die Pferde, verstauten die Taschen und saßen auf. In der frostigen Morgenluft war ihr Atem zu sehen, aber es zogen sich Wolken zusammen, die andeuteten, dass der Tag wärmer und nasser werden würde. Die Pferde waren nicht aufgewärmt, und sie im Trab laufen zu lassen wäre nicht gut.

Als sie zu einer Gabelung kamen, wandte Roger sich nach rechts.

„Dies ist die falsche Richtung, Mylord. Hier sind wir bei unserer Ankunft entlanggekommen.“

Roger unterdrückte seinen Ärger und nickte. „Lord Harpur weiß, dass wir nach Cheshire wollen. Wenn er sich entschließt, uns zu verfolgen, wird er diese Richtung einschlagen, deswegen wählen wir die andere. Und jetzt los!“

Sie hielten an, als Rogers Magen zu knurren begann, saßen ab und führten die Pferde in den Schutz einiger Bäume. Kräftiger Regen hatte eingesetzt, und die beiden Männer hüllten sich in ihre mit Öl imprägnierten Wollumhänge, um sich warmzuhalten.

Kaum hatten sie sich hingesetzt, versetzte Roger Thomas eine Ohrfeige. Der junge Mann schrie leise auf.

„Was glaubst du, was du da gemacht hast?“, wollte Roger wissen. „Ich weiß, wir haben uns schon seit Monaten nicht mehr in zivilisierter Gesellschaft bewegt – und vielleicht hast du das sogar noch nie getan –, aber die Regel lautet: Wenn du mit irgendwem im Haus ins Bett gehen willst, dann such dir nicht das edelste Schmuckstück aus der Schatztruhe des Herrn aus.“

„Wir – wir haben nicht miteinander geschlafen.“ Thomas wurde rot. „Wir haben nichts Böses getan. Wir haben nur beieinander gelegen und die ganze Nacht geredet.“

Roger lachte. „Du hast deine Zeit vergeudet und Schwierigkeiten verursacht – und das für gar nichts! Wofür gibt es Frauen, wenn nicht zum Vögeln? Wenn du schon das Risiko eingehst, dass man dir die Kehle durchschneidet oder dich entmannt, dann sorge wenigstens dafür, dass du vorher deinen Spaß hattest.“

Thomas schob schmollend die Unterlippe vor. „Katherine und ich lieben einander.“

Roger starrte ihn fassungslos an.

„Nach drei Tagen in ihrer Gesellschaft! Mach dir nichts vor, Junge. Du redest dir vielleicht ein – oder vielmehr, das Mädchen redet es dir ein –, dass das Liebe ist, aber verwechsle nicht ein Zucken in deiner Hose mit einem heißen Herzen.“

Thomas wurde wieder rot. Roger lehnte sich an einen Baumstamm und kaute an seinem Daumennagel. Jetzt, da sie die Ländereien des Lord Harpur verlassen hatten, verflog sein Zorn allmählich. Er kannte das heiße Feuer, das einen Mann durchströmte und sich nicht ignorieren ließ, selbst nur zu gut, deswegen klangen seine nächsten Worte weitaus freundlicher.

„Sorge für ein Gleichgewicht zwischen dem Vergnügen und dem Ärger, der damit verbunden ist. Ich mache dir keinen Vorwurf, weil du dich von deinem Glied hast leiten lassen, aber es darf dich nicht regieren.“

Heuchler, sagte eine leise Stimme in seinem Innern. Ihm selbst war schon zu oft dasselbe passiert.

„Nicht jetzt gerade, wenn Arbeit auf uns wartet“, stellte er klar. „Wenn wir erst unsere Nachricht überbracht haben, kannst du so viele Frauen in dein Bett holen, wie du willst. Du wirst reich genug sein, um für die Besten zu bezahlen.“

„Was, wenn ich nicht bezahlen will?“, murmelte Thomas. „Was, wenn ich heiraten will?“

Roger presste die Lippen zusammen. „Dann solltest du darauf hoffen, dass der Vater des Mädchens der Meinung ist, du hast genügend in den Taschen, um dir seinen Schatz anzuvertrauen, und warte nicht zu lange, bis du dich entschieden hast, dass sie diejenige ist, die du haben willst.“

„Ist es das, was Ihr vorhabt?“, fragte Thomas.

Roger dachte an Jane de Monsort, die Frau, mit der er kurz verlobt gewesen war, bis ihr Vater entschieden hatte, dass seine Taschen nicht voll genug waren. Dank eines Auftrages bei der neu errichteten Northern Company, wo er sich als Söldner verdingt hatte, waren sie jetzt voller.

„Ich werde irgendwann heiraten müssen. Ich werde ein pflichtbewusstes, einfaches Mädchen mit guten Verbindungen und etwas Reichtum finden, das mir einen Erben schenken wird, um meinen Vater zu beschwichtigen.“ Er kratzte sich den Bauch. „Ich kann nicht sagen, dass mir das gefällt.“

Thomas schwieg. Vielleicht dachte er an Katherine Harpur. Roger dachte an ein anderes Gesicht, eines, das in ihm weit größeres Bedauern weckte, obwohl es Jahre her war, seit er es zuletzt gesehen hatte. Er hatte Joanna gemocht, die Frau seines Bruders, aber ihm war nicht bewusst gewesen, wie sehr, bis es zu spät gewesen war. Er konzentrierte sich auf das Muster, das die Regentropfen in den frischen Pfützen bildeten, anstatt in Gedanken zu den Fehlern der Vergangenheit zurückzugehen.

„Besser ist es, sich an Schankmädchen zu halten, die dir geben, was du willst, für ein Band oder ein freundliches Wort“, bemerkte er.

„Glaubt Ihr, Lord Harpur wird Männer schicken, damit sie in Frankreich kämpfen?“

Roger streckte die Beine aus, froh darüber, an etwas anderes denken zu können. Er entkorkte eine Flasche Wein und trank einen tiefen Zug.

„Andernfalls bekämen wir nicht unsere Belohnung, aber ich sehe nicht, warum er das nicht tun sollte. Lassen wir mal die Tatsache beiseite, dass du seine Tochter verführt hast – er war daran interessiert, sein Vermögen zu mehren. Der Friede wird nicht für immer bestehen, und ein Mann, der zum Kampf bereit ist, ist ein Mann, der reich werden wird.“

Ein Mann wie er selbst.

Roger hüllte sich fester in seinen Umhang.

„Wir werden hierbleiben, bis die Sonne über unsere Köpfe hinweggezogen ist. Dann werden wir denselben Weg zurückreiten.“

„An Lord Harpurs Haus vorbei anstatt über die höher gelegene Straße nach Mattonfield?“

Die Straßen, die Lord Harpurs Anwesen begrenzten, bildeten ein ungleichmäßiges Dreieck. Wenn sie die Strecke wählten, die Thomas vorschlug, dann würden sie den längsten Weg nehmen und den steilsten Hügel.

„Ja. Wir würden einen ganzen Tag länger brauchen, wenn wir über die andere Seite des Hügels reiten.“

„Wir wären in der Nähe meines Zuhauses“, sagte Thomas sehnsüchtig. „Es ist ein schönes Gasthaus, das größte an der Straße noch Mattonfield, und mein Vater würde uns herzlich willkommen heißen.“

Roger dachte über die möglichen Routen nach. Die Stimme des Jungen klang hoffnungsvoll, aber Roger wollte verdammt sein, wenn er einen Umweg nehmen würde, nur damit Thomas einen Besuch machen konnte, wie verlockend eine Nacht im Gasthaus auch klingen mochte.

„Nein, ich möchte hier fertig sein, so schnell es geht.“ Nachdenklich starrte er auf den Boden. Als Thomas sein Zuhause erwähnt hat, hatte er einen unwillkommenen Gedanken in ihm geweckt. „Ich sollte meinen Vater besuchen, ehe ich nach Frankreich zurückkehre.“

Der finstere Tonfall, der plötzlich in seiner Stimme lag, veranlasste Thomas, erschrocken aufzusehen.

„Wollt Ihr eure Familie nicht treffen?“

Roger nahm noch einen Schluck, um die Antwort noch etwas hinauszuzögern auf die Frage, die ihn beschäftigt hatte, seit er wieder einen Fuß auf englischen Boden gesetzt hatte. Endlich sprach er wieder.

„Es ist lange her. Ich habe mich im Zorn von meinem Bruder getrennt und habe gelobt, nicht zurückzukehren, ehe ich reich bin und mich bewiesen habe. Zumindest ist das jetzt in Reichweite. Lass uns etwas ruhen.“

Er schloss die Augen und lehnte sich zurück. Der Tag hatte zu unfreundlich begonnen.

Bis zum Nachmittag war das Wetter schlechter geworden, und es regnete in Strömen. Stahlgraue Wolken schoben sich über den finsteren Himmel, während sie über die Hügel nach Cheshire ritten. Das beginnende Frühjahr war in England wirklich abscheulich, und bei jeder Straßenbiegung sah Thomas elender aus, blickte hinter sich und hüllte sich enger in seinen Umhang.

„Von allen Gründen, die mich dazu verlocken, nach Frankreich zurückzukehren, könnte das Wetter der wichtigste sein“, rief Roger.

Thomas fröstelte nur und sah sich bedrückt um. Sie kamen ohne Schwierigkeiten an der Abzweigung vorbei, die zu Lord Harpurs Haus führte, und als sie außen um die bewaldeten Hügel ritten, war sich Roger fast schon sicher, dass sein Plan funktionierte. Die Anspannung, von der er gar nicht gewusst hatte, dass sie auf ihm lastete, begann nachzulassen, und er ließ sein Pferd im Schritt gehen. Dabei bewegte er den Kopf hin und her, um die Krämpfe in den Muskeln zu lösen.

Vermutlich war es diese Verlangsamung, die ihnen das Leben rettete, denn als sie den Gipfel des Hügels erreichten, stieß Thomas einen Alarmruf aus. Die Straße vor ihnen führte bergab und machte dann eine scharfe Biegung um eine große Pfütze herum. Gleich hinter der Kurve warteten drei Reiter. Wenn Roger und Thomas noch ein paar Schritte weiter geritten wären, wären die Männer so lange nicht mehr zu sehen gewesen, bis sie direkt in sie hineingeritten wären.

Die Männer hätten gewöhnliche Reisende sein können, aber sie lauerten am Straßenrand, als führten sie Böses im Schilde.

„Ich glaube, wir wurden entdeckt“, flüsterte Roger.

Thomas stöhnte auf. „Lord Harpurs Männer?“

„Wahrscheinlich“, gab Roger zurück. Das war die einfachste Antwort und die angenehmste. Der Verdacht, dass sie von Männern aus Frankreich verfolgt wurden, die ihn daran hindern sollten, seine Mission für den König zu vollenden, war ihm ein oder zweimal durch den Kopf gegangen, seit er englischen Boden betreten hatte. Roger tastete nach seinem Schwert und wünschte sich, eine Lanze zur Hand zu haben. Mit seiner Lieblingswaffe hatte er mehr Leben beendet, als er zählen mochte.

„Wir können nicht gegen sie kämpfen“, flüsterte Thomas furchtsam.

Er hatte recht. Drei Männer gegen zwei, das war keine Chancengleichheit. Roger sah sich um. Die Straße führte über den höchsten Punkt und dann um den Wald herum, und bald würde die Nacht anbrechen. Den leichteren Weg zu wählen, war am Ende ein Fehler gewesen. In der Ferne hinter dem Wald konnte Roger Lichter aus verschiedenen Dörfern sehen und dahinter eine größere Ansammlung von Lichtern. Das musste die Stadt sein, in der sich die beiden Straßen trafen.

„Wir nehmen die Abkürzung durch den Wald und versuchen, die andere Straße zu erreichen“, beschloss Roger und wünschte, er hätte diesen Weg gleich gewählt. Kurz vor dem Einbruch der Nacht querfeldein zu reiten, war riskant, aber besser, als direkt auf den Ärger zuzureiten. „Wenn wir eine dieser Siedlungen erreichen, können wir uns vielleicht verstecken.“

In der Stille der Hügel war ein Schrei zu hören. Einer der Männer des mutmaßlichen Hinterhalts zeigte auf sie. Roger verfluchte seine Dummheit. Er war so sehr damit beschäftigt gewesen, die Männer gegenüber zu beobachten, dass er nicht daran gedacht hatte, dass auch sie beide gesehen werden konnten. Auf dem höchsten Punkt des Hügels befanden sie sich genau im Blickfeld. Die Reiter kamen schon auf sie zu.

Roger verließ den Pfad und verschwand zwischen den Bäumen. Thomas folgte ihm. Eilig ritten sie in die Dunkelheit hinein und trieben ihre Pferde so schnell an, wie es im Wald möglich war. Zum ersten Mal seit seiner Rückkehr nach England war Roger froh, dass es noch früh im Jahr war. In ein paar Monaten wäre das Unterholz so dicht gewachsen, dass es ihnen unmöglich wäre, schnell zu reiten.

Ein rascher Blick nach hinten versicherte Roger, dass sie nicht verfolgt wurden, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass man ihnen von vorn entgegentreten würde. Wie aus dem Nichts erschien zu ihrer Rechten ein Reiter. Er hielt den Kopf gesenkt und kam direkt auf sie zu. Sein Gesicht war hinter einem Umhang verborgen.

Roger drehte sich im Sattel um und griff nach seinem Schwert, aber ehe er es ziehen konnte, fühlte er einen Schlag im Rücken, auf Höhe der rechten Schulter, scharf und kalt, und ihm stockte der Atem. Er hatte einmal einen Stich ins Bein bekommen, als er sich in einem französischen Gasthaus wegen einer Hure stritt, und das hatte sich ähnlich angefühlt. Es tat noch nicht richtig weh, aber er wusste aus Erfahrung, dass der Schmerz gleich einsetzen würde. Er blickte nach unten und stellte fest, dass unter seinem Schlüsselbein, ganz in der Nähe der Armbeuge, ein Pfeil herausragte.

Pfeile! Damit hatte Roger nicht gerechnet. Er begann zu lachen, dann stöhnte er, als der Schmerz sich allmählich in seinem Körper auszubreiten begann.

Jetzt drohte ihnen ernste Gefahr. Roger war klar, dass der Bogenschütze zu Pferd bereits nach seinem Köcher tastete, um den nächsten Pfeil herauszunehmen. Er musste die Zeit für sich nutzen, die jener dazu brauchte.

„Gibt mir dein Schwert!“, brüllte Roger Thomas zu.

Der Junge reichte ihm die Waffe, aber Rogers Arm verlor schon an Kraft. Er nahm das Schwert in die linke Hand, drehte sich um und hieb blindlings nach hinten. Er spürte, dass das Schwert etwas traf. Der Bogenschütze stieß ein unheimliches, wortloses Gurgeln hervor. Roger sah genauer hin und bemerkte voller Abscheu, dass er den Reiter an der Kehle getroffen hatte. Der Mann stürzte vornüber über den Hals des Pferdes. Roger erbrach sich und beugte sich vor, um dem Pferd einen Hieb mit der flachen Seite der Klinge zu versetzen. Das Tier wieherte vor Angst und Schmerz und galoppierte davon mit dem Reiter, der noch im Sattel hing. Roger trieb sein eigenes Pferd an.

„Komm mit!“, befahl er Thomas und ritt in die entgegengesetzte Richtung. Es war jetzt keine Zeit, um darüber nachzudenken, wohin sie unterwegs waren, aber er hoffte, auf das kleinere der Dörfer zuzureiten. Die beiden anderen Männer wären nicht weit hinter ihm, aber er baute darauf, dass sie verwirrt genug waren, um ihrem Kameraden zu folgen.

In Rogers Kopf drehte sich alles, und sein Arm fühlte sich eiskalt an, als sie endlich tief im Wald angelangt waren. Er konnte die Zügel kaum noch halten, und er spürte, wie er immer benommener wurde. Er biss sich auf die Lippe, der leichte Schmerz schärfte seine Sinne in fast demselben Maß, wie der größere Schmerz sie betäubte. Instinktiv griff er nach dem Pfeil, hielt dann aber inne. Ohne die Spitze untersucht zu haben, wusste er nicht, in welche Richtung er den Pfeil bewegen sollte. Im Augenblick blutete die Wunde noch wenig, aber er hatte gesehen, was geschah, wenn solche Wunden behandelt wurden. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich mit der Verwundung zu beschäftigen. Er glaubte nicht, dass sie verfolgt wurden, daher war es jetzt am wichtigsten, einen Unterschlupf zu finden.

Er hörte ein Plätschern und erkannte, dass sie einen flachen Fluss erreicht hatten und schon fast in der Mitte angekommen waren. Am anderen Ufer wurde der Baumbestand dünner. In der Dunkelheit flackerte ein einzelnes Licht auf, so kurz, dass er dachte, er hätte es sich nur eingebildet.

„Kannst du dein Zuhause finden? Wird das ein sicheres Versteck sein?“

„Ich denke schon. Ich hoffe es“, erwiderte Thomas.

„Bring mich dorthin“, befahl Roger. Das waren seine letzten Worte, ehe er im Sattel vornüber sank. Verschwommen sah er noch, wie Thomas absaß und beide Pferde am Zügel nahm. Roger schloss die Augen. Sein letzter Gedanke war, dass es ihm wenigstens erspart bliebe, sich zu überlegen, ob er nach Yorkshire zurückkehren sollte, um seine Familie zu treffen, wenn er in dieser Nacht starb.

Die Hühner waren sicher für die Nacht weggeschlossen. Jeder Fuchs, der sich selbst bedienen wollte, würde feststellen, dass er kein Glück hatte. Lucy Carew nahm die Laterne vom Boden auf und ging um das Brauhaus herum zur Tür des Gasthauses. Dabei schwenkte sie das Licht hin und her, um den Weg zu beleuchten.

Sie schob den Riegel vor die Tür. Als ein Windzug durch den Spalt in dem Vorhang aus Leinen zog, erschauerte sie. Lucy hängte ihren Umhang neben die Tür. Das Feuer war beinahe heruntergebrannt. Sie stieß den Holzscheit mit dem Schürhaken an und ließ sich auf den Hocker neben dem Kamin sinken. Der Regen hatte nachgelassen, aber der Guss vorhin hatte dazu geführt, dass seit dem Nachmittag keine Gäste mehr gekommen waren. Lucy nahm ihre Haube ab und löste den Haarzopf.

Jemand hämmerte an die Tür, und sie zuckte zusammen. Sie war schon aufgesprungen, als sie sich anders besann und sich wieder hinsetzte. Das Geld, das die Kunden für ihre Getränke bezahlten, brauchte sie dringend, aber sie hatte Kopfschmerzen, und es gab noch einiges zu tun, ehe sie zu Bett gehen konnte.

Abgesehen von der Laterne und dem Lichtschein des Feuers war es dunkel in dem Gasthaus. Wenn sie still dasaß, würden die Besucher weggehen. Sie verspürte einen Anflug von Mitleid für jene, die bei dem schlechten Wetter draußen sein mussten, aber nicht genug, um sich zu erheben und sie einzulassen.

Das Klopfen wurde lauter und drängender. Es hörte nicht auf.

Eine männliche Stimme brüllte: „Ich weiß, dass jemand da ist. Ich habe das Licht gesehen.“

Lucy erhob sich von ihrem Hocker. Sie hielt den Schürhaken hinter sich, schob den Riegel zurück und zog die Tür einen Spalt weit auf. Von draußen wurde sie mit unerwarteter Heftigkeit aufgestoßen, sodass sie mit einem Aufschrei zur Seite sprang.

Zwei Männer drängten herein. Einer hatte den Arm um die Schultern des anderen gelegt und stützte sich auf ihn. Er taumelte beim Gehen und stöhnte leise. Sein wirres schwarzes Haar verbarg sein Gesicht. Der zweite hielt unter der Last des Kameraden, der größer und schwerer war als er, den Kopf gesenkt.

Lucy presste die Zähne aufeinander.

„Um diese Zeit will ich keine Betrunkenen hier haben.“

„Er ist nicht betrunken, er ist verletzt“, stieß der Mann hervor, der den anderen stützte. Er hob den Kopf, und Lucy stieß einen überraschten Schrei aus, denn sie hatte das Gesicht nicht mehr gesehen, seit er erklärt hatte, mit König Edwards Armee in Frankreich zu kämpfen.

„Thomas! Bist du das wirklich?“

Lucy machte einen Schritt auf ihn zu, aber Thomas zog ein Kurzschwert unter seinem Umhang hervor und erhob es drohend. Als Lucy die entschlossene Miene ihres Bruders sah, die so gar nicht zu seinem freundlichen Gesicht passte, schrie sie erschrocken auf. Thomas war ein liebenswerter Junge, und ihn so zu sehen, war beunruhigend. Sie umklammerte den Schürhaken fester und wich zurück zum Fuß der Treppe.

Der Mann, den sie für betrunken gehalten hatte, hob jetzt den Kopf. Hinter dem dichten Bart sah sie ein breites Grinsen, aber es waren die Augen, die sie faszinierten. Sie waren walnussbraun, und er musterte sie mit einer Intensität, die ein Gefühl in ihr weckte, wie sie es schon sehr lange nicht mehr empfunden hatte. Sie spürte, wie sie errötete. Die Wärme breitete sich zuerst zwischen ihren Brüsten aus und stieg dann höher, bis sie begriff, dass ihr Bewunderer sie so konzentriert ansah, weil er versuchte, seinen Blick zu fokussieren.

„Was ist passiert?“

„Hinterhalt“, sagte der verletzte Mann mit schwerer Zunge. „Keine Angst, Täubchen. Wir werden dir nichts tun. Wenn du das machst, was wir dir sagen.“

„Bist du allein?“ Thomas hob wieder sein Schwert und kam auf Lucy zu. Den Kameraden zog er dabei mit sich. „War heute Abend sonst jemand hier?“

„Niemand“, entgegnete Lucy, und sie spürte, wie ihr beim Anblick der Waffe ein Schweißtropfen den Rücken hinunterlief. „Ich bin die Einzige hier.“

Abgesehen von Robbie. Furcht stieg in ihr auf, als sie an ihren Sohn dachte, der im Zimmer oben friedlich in seiner Wiege schlief. Ein Sohn, von dessen Existenz der Onkel nichts wusste.

„Thomas, was ist passiert?“, stieß sie hervor. „Du bist vor vier Jahren fortgegangen. Warum bist du hier, und wer ist das?“

„Ich war in Frankreich und habe mit der Northern Company gekämpft.“

Lucy starrte ihn an. „Ein Söldner? Du?“

„Warum bist du hier?“, fragte Thomas. „Wo ist Vater, und warum ist es um diese Zeit schon dunkel im Gasthaus?“

Lucy ließ den Kopf sinken. Als Thomas noch hier gelebt hatte, war das Gasthaus immer voll gewesen und hatte lange Öffnungszeiten gehabt. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um zu erklären, warum sich das so verändert hatte. „Ich bin zurückgekommen – um Vater zu pflegen. Thomas, es ist fast ein Jahr her, seit Vater gestorben ist“, flüsterte sie. „Ich wusste nicht, wie ich dich kontaktieren sollte.“

Thomas schüttelte den Kopf, und Trauer trat in seinen Blick.

„Nein! Ach, schwere Zeiten, Schwester.“

Lucy wurde das Herz schwer. Ein Sohn sollte solche Nachrichten nicht auf diese Art erfahren. Thomas würde den Tod ihres Vaters mehr bedauern, als sie das getan hatte. Aber er hatte auch anders als Lucy nie erlebt, welche Folgen es hatte, den Vater so sehr enttäuscht zu haben.

Der Mann stöhnte. Thomas warf einen Blick auf ihn. „Du kannst mir später mehr erzählen, aber jetzt müssen wir ihn nach oben ins Bett bringen.“

Lucy trat einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. Nicht dorthin, wo Robbie friedlich schlief, zum Glück ohne zu ahnen, welches Drama sich unter ihm abspielte. Sie versperrte den Weg und zog endlich den Schürhaken hervor, den sie wie ein Schwert hielt.

„Komm, kleine Taube“, sagte der verletzte Mann mit schwerer Zunge und grinste etwas schief. „Sei vernünftig, und wir leben alle weiter.“

Zu ihrer Überraschung machte er einen Schritt nach vorn, hob den linken Arm und schlug ihr den Haken aus der Hand. Er taumelte, als hätte er damit seine letzte Kraft verbraucht, und fiel auf sie zu. Instinktiv streckte Lucy die Arme aus, um ihn aufzufangen, und schob dabei die Hände unter seine Achseln. Sie machte einen Schritt zurück und stieß gegen die Wand, sodass er sie mit seinem Gewicht dort eingeklemmt hatte. Als etwas Scharfes durch den dicken Wollstoff ihres Kleides über ihre linke Schulter kratzte, schrie sie auf vor Schmerz. Dann sah sie, dass eine Pfeilspitze aus der rechten Schulter des Mannes ragte.

„Er ist wirklich verletzt“, rief sie aus.

„Lass mich nicht unbetrauert sterben, Täubchen“, sagte der Mann leise mit belegter Stimme.

Ehe Lucy eine Antwort darauf einfiel, hatte er den linken Arm um ihren Kopf gelegt, schob ihn zurück und küsste sie.

2. KAPITEL

Der Kuss traf Lucy überraschend, der raue Bart kratzte an ihren Wangen und Lippen, ließ sie erschauern. Seine Lippen umschlossen ihren Mund, seine Zunge berührte ihre, und sie bekam sofort weiche Knie. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, als das Verlangen sie durchströmte, und ohne es eigentlich zu wollen, erwiderte sie seinen Kuss. Wenn er so küssen konnte, während er dem Tode nahe war, wie würden sich seine Berührungen dann anfühlen, wenn er sich im Vollbesitz seiner Kräfte befand?

Beinahe sofort kam sie wieder zur Besinnung und wandte sich ruckartig ab. Er folgte ihr nach, suchte gierig nach ihrem Mund und ließ die Hand von ihrem Hals über ihren Körper gleiten bis zu ihrer Brust.

Einen Kuss konnte sie hinnehmen, aber die Berührung war zu viel. Empörung stieg in ihr auf, und jetzt war sie wieder bei klarem Verstand. Dies war nicht das erste Mal, dass ein Gast ihr seine Aufmerksamkeit aufzwingen wollte, und vermutlich würde es nicht das letzte Mal sein. Ob er verletzt war oder nicht, das machte keinen Unterschied. Sie wand sich, bis ihr Bein zwischen seinen war, und stieß dann das Knie nach oben.

Der Mann stieß einen Schmerzenslaut aus, krümmte sich und verdrehte die Augen. Sein Körper erschlaffte, und Lucy erkannte voller Entsetzen, dass er nahe daran war, die Besinnung zu verlieren. Sie schob ihre Hand auf seinen Rücken und fühlte Federn. Das Ende des Pfeils ragte heraus. Sie bekam ein schlechtes Gewissen, weil sie einem Verwundeten so etwas angetan hatte. Doch sie unterdrückte ihr Bedauern. Sie hatte nicht darum gebeten, dass man in ihr Zuhause eindrang, und auch nicht darum, geküsst zu werden. Er hatte es sich selbst zuzuschreiben.

Sie stützte ihn, so gut sie konnte, aber er war ein großer, kräftiger Mann, und sie konnte kaum atmen, als er sie mit seinem Gewicht gegen die Wand drückte. Selbst im matten Schein des Feuers sah der Mann bleich wie ein Laken aus, und sein Gesicht wirkte wächsern. Das Haar klebte an seinen Wangen. Er musste geblutet haben, aber auf dem dunklen Stoff des Umhangs war das unmöglich zu erkennen.

„Es tut mir leid“, flüsterte sie und streckte die Hand aus, um ihm das Haar aus dem Gesicht zu streichen. Seine Stirn fühlte sich kalt an, und ihre Finger wurden feucht von seinem Schweiß. Er öffnete die Augen.

„Habt Ihr Wein? Etwas Stärkeres?“, fragte er stöhnend.

„Genug davon“, rief Thomas. Vor Abscheu rümpfte er die Nase und erinnerte Lucy daran, dass er immer so prüde wie ein Mönch gewesen war, wenn es um körperliche Zuneigung ging. „Bring ihn nach oben, ehe du ihm noch mehr Schaden zufügst. Wir haben vielleicht nicht viel Zeit.“

Er zog den Verletzten von Lucy weg. Lucy beeilte sich, die Laterne zu holen, und stieß den Schürhaken zurück ins Feuer, von wo sie ihn später wieder herausnehmen konnte, wenn es nötig sein sollte.

„Bringt Wein“, stöhnte der verwundete Mann.

Lucy lief zur Theke, wo die Flaschen und Krüge aufbewahrt wurden, und fand, wonach er verlangte. Mit einer Flasche in jeder Hand folgte sie ihrem Bruder, der den Verletzten die schmale Treppe mehr oder weniger hinaufzerrte.

Im ersten Stock war es dunkel, und die Decke war niedrig. Lucys Zimmer nahm die Hälfte des Platzes ein, und es war gefüllt mit allen möglichen Schachteln und Stapeln von unbenutzten und unnützen Dingen, die wegzuwerfen sie nicht übers Herz brachte. Im anderen Zimmer wurden Strohmatten für Reisende aufbewahrt, die hier übernachten wollten, aber bis besseres Wetter kam, waren die Rahmen aufgestapelt und die Strohmatten in Öltücher gehüllt zum Schutz vor Ungeziefer. In diesen Raum wollte Lucy die beiden Männer bringen, aber Thomas betrat das Zimmer, das einst ihrem Vater gehört hatte und in dem jetzt Lucy schlief. Sie öffnete den Mund und wollte widersprechen, entschied aber, dass es besser war, nicht zu streiten. Sie hoffte, dass Thomas ihr bald eine Erklärung geben würde.

Robbies Wiege stand in der hintersten Ecke, wo er friedlich schlief, und er rührte sich zum Glück nicht, als sie eintraten. Lucy wagte es nicht, direkt in seine Richtung zu blicken aus Furcht, sie könnte die Männer auf seine Existenz aufmerksam machen. Aber sie richteten ihre Aufmerksamkeit vor allem darauf, Lucys Bett unter dem kleinen Fenster zu erreichen.

„Leg mich hin und gib mir etwas zu trinken“, murmelte der Verletzte. Sein Bewusstsein schien immer wieder zu schwinden. Lucy fragte sich, wie viel Blut er wohl verloren hatte.

Sie legten ihn aufs Bett, schoben die Decken zur Seite und rückten ihn so zurecht, dass seine Schulter über die hintere Kante ragte und das Pfeilende damit nicht die Matratze berührte. Thomas zog ihm die Stiefel aus und stellte sie neben das Bett. Lucy hielt ihm die Weinflasche hin, und er setzte sie an die Lippen, trank in tiefen Zügen, bis sie halb leer war. Dann stellte er die Flasche auf den Boden und bemühte sich, mit der linken Hand den Verschluss seines Umhangs zu öffnen. Doch seine Finger waren ungeschickt, und er stieß eine Reihe von Flüchen aus.

„Helft mir, das auszuziehen“, befahl er.

Thomas begann, an seinem Hals zu zupfen, doch der Mann schob seine Hand beiseite.

„Nicht du, Thomas. Du gehst und kümmerst dich um die Pferde. Taube, du kannst das machen.“

Lucy kniete sich neben das Bett und versuchte, das zu tun, was er von ihr erbeten hatte. Aber als sie versuchte, ihm den Umhang vom Rücken zu nehmen, steckte der Stoff am Pfeil fest. Als sie daran zerrte, stieß der Mann einen Schmerzensschrei aus. Lucy ließ los, als sie begriff, dass der Pfeil alle Stoffschichten durchstoßen hatte. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine Bewegung. Thomas zielte mit einem Dolch auf ihr Gesicht. Seine Hand zitterte, und der Ausdruck in seinen Augen wirkte ganz fremd.

„Schneid ihn los“, sagte er und drückte ihr den Dolch in die Hand. „Zieh ihm die Kleidung aus, soweit du es kannst. Wenn ich wiederkomme, ziehen wir den Pfeil heraus.“

„Wohin gehst du?“, fragte sie, beunruhigt bei der Aussicht, allein zu bleiben mit einem Mann, der vorher so gewirkt hatte, als wollte er ihr Gewalt antun. Das Wort „wir“ tröstete sie auch nicht gerade.

„Du hast gehört, was er gesagt hat. Ich muss die Pferde verstecken. Wir werden gejagt. Ich erkläre es dir nachher besser.“ Thomas sah sich voller Furcht um, als erwartete er, dass Angreifer aus der Truhe am Fußende des Bettes hervorsprangen oder hinter der Tür auftauchten. Er eilte hinaus und zog die Tür hinter sich zu.

„Wie heißt dieses Haus?“

Der Mann auf dem Bett hatte gesprochen. Seine Stimme klang rau und heiser. Lucy zuckte überrascht zusammen. Sie betrachtete ihn genauer. Hinter dem Bart hatte die Haut wieder etwas Farbe bekommen, und seine Augen besaßen mehr Leuchtkraft. Sich hinzulegen und mit Wein vollzugießen, schien seine Lebensgeister geweckt und ihm etwas Kraft zurückgegeben zu haben.

„Es hat keinen Namen“, erwiderte Lucy.

Der Mann lachte. „Ein namenloses Gasthaus. Perfekt für einen namenlosen Mann wie mich. Hat seine Herrin einen oder seid ihr ebenfalls namenlos, Taube?“

„Ich heiße Lucy Carew“, antwortete sie widerstrebend.

„Carew! Thomas’ Schwester oder seine Ehefrau?“

„Seine Schwester“, erwiderte Lucy und fragte sich, was das wohl für ein Mann sein mochte, der eine Frau küsste, die vielleicht die Ehefrau seines Freundes war.

„Gib mir mehr Wein, Lucy Carew“, verlangte der Verletzte und griff nach der Flasche. Lucy nahm sie und hielt dann inne, um selbst einen Schluck zu trinken, ehe sie sie ihm reichte. Das trug nur wenig dazu bei, ihre Nerven zu beruhigen.

Der Mann trank die Flasche leer und verschüttete einen großen Teil davon über sein Gesicht und den Hals. Lucy rümpfte vor Abscheu die Nase. Ihre Matratze würde nach Wein riechen – obwohl es schon allein ein Wunder wäre, wenn nicht auch Blut darauf kommen würde. Sie nahm den Dolch und beugte sich über das Bett, wie man sie gebeten hatte. Ihre Hände zitterten, und sie zögerte, zog ihre Hand zurück.

„Hast du noch nie vorher einen Mann ausgezogen?“, fragte er spöttisch.

„Noch nie mit einem Messer“, gab sie knapp zurück.

Er lachte.

„Ich dachte, ein hübsches Täubchen, das küssen kann wie du, muss sich im Bett auskennen.“

Sein Tonfall klang spöttisch, und Lucy errötete vor Zorn. Tadelnde Stimmen drangen an ihr Ohr, flüsterten Wörter, bei denen sie vor Scham errötete. Die Stimmen hatten recht, oder nicht? Warum sonst hätte ihr Körper auf die denkbar niedrigste Weise auf die Berührung seiner Lippen reagiert, zu der er nicht aufgefordert gewesen war?

Sie hielt seinem Blick stand, bemerkte, dass seine Augen immer verschleierter wirkten und die Farbe wieder aus seinen Wangen verschwunden war. Vermutlich würde er wieder das Bewusstsein verlieren, wenn nicht von der Verletzung, dann von dem Wein, den er getrunken hatte. Sie beugte sich vor, damit sie das Loch im Stoff um den Pfeil vorn und hinten weiten konnte. Die gefährlich aussehende Spitze war mit Blut verkrustet, genau wie seine Kleidung, und ihr wurde übel.

Sein Umhang war dick, aber die Klinge des Dolchs war scharf, und sie konnte den Stoff ohne große Mühe entfernen. Sie ließ ihn zwischen Bett und Wand fallen. Unter dem Umhang trug der Mann ein ärmelloses wattiertes Wams, das vorn gebunden wurde. Durch einen Zufall hatte der Pfeil dies nicht getroffen, sondern war ins Fleisch gegangen, in der Nähe der Armbeuge, und das Kleidungsstück war noch heil. Das Wams hatte die Farbe von Eiche, und der Umhang war von guter Qualität. Lucy fragte sich zum ersten Mal, wer der Mann sein mochte. Sie löste die Bänder des Wamses und spürte die ganze Zeit über den Blick des Mannes auf sich ruhen.

„Ihr müsst Euch aufsetzen, damit wir das ausziehen können.“

„Ihr werdet mir helfen müssen, Lucy Carew“, sagte er mit schwerer Zunge und zog eine Braue hoch.

Er lächelte sie auf genau die Art an, die vorhin ihr Herz hatte schneller schlagen lassen. Jetzt so allein mit ihm auf ihrem Bett verspürte sie einen Anflug von Furcht. Es war lange her, seit ein Mann ihr Bett geteilt hatte, und obwohl er nicht zu diesem Zweck hier war, verursachte sein Anblick ihr ein Kribbeln im Magen. Sie überlegte, wie wahrscheinlich es wohl war, dass er das wiederholte, was er unten getan hatte, und entschied, dass er nicht so aussah, als könnte er viel Schaden anrichten.

Sie saß auf der Bettkante, schob ihre Hände unter seine Achseln und zog ihn nach vorn, bis er ihr direkt von Angesicht zu Angesicht gegenübersaß. Er legte den linken Arm um ihre Taille, hielt sie fest, um selbst Halt zu finden, und versuchte dasselbe mit dem rechten Arm, hatte hier aber keine Kraft. Lucy schob ihre Hände vorn unter sein Wams und spürte auf einmal, dass sie mit den Händen über seine Brust strich. Er holte tief Luft, als sie mit den Fingern die nackte Haut an seinem Hals berührte. Er sah sie gierig an, legte den Kopf schief und öffnete die Lippen, als wollte er sie noch einmal küssen. Hastig neigte sie den Kopf, um besser sehen zu können, was sie da tat. Sie spürte, wie ihr Gesicht zu glühen begann.

„Du hast nicht nach meinem Namen gefragt, Lucy Carew“, stieß er hervor, als sie das Wams über seine Schulter schob.

„Der interessiert mich nicht“, erwiderte sie.

Gemeinsam bemühten sie sich, das Kleidungsstück abzulegen, zogen einen Arm heraus, drehten dann den Stoff, bis er sich über den Pfeil schieben ließ. Ein- oder zweimal blieb er hängen, sodass sich der Pfeil ein wenig bewegte. Jedes Mal stöhnte der Mann hörbar auf, und Lucy spürte die Finger seiner linken Hand fester an ihrer Taille. Jetzt trug er nur noch die wollene Tunika.

„Schneid sie auf“, flüsterte er und schloss die Augen. „Ich habe noch andere, und ich fürchte, ich kann nicht länger sitzen.“

Seine Hände glitten von ihrer Taille, und sie legte ihn zurück aufs Bett. Lucy machte einen langen Schnitt vom Nacken nach unten, vorbei an dem Pfeil, bis zum Saum der Tunika. Mit beiden Ärmeln machte sie dasselbe und schnitt den Stoff weg, bis der Mann nackt vor ihr lag. Lucy konzentrierte sich auf seine blutverkrustete Wunde. Sie wollte nicht daran denken, was passieren würde, wenn Thomas versuchte, den Pfeil herauszuziehen. Der Gedanke, sich daran zu beteiligen, ließ Brechreiz in ihr aufsteigen.

Der Mann schwitzte und zitterte dabei heftig, seine Brust hob und senkte sich bei jedem seiner unregelmäßigen Atemzüge. Das Ablegen des Wamses musste ihm heftige Schmerzen zugefügt haben, aber er hatte nur gestöhnt, nicht geklagt. Behutsam zog Lucy ihm die Decke bis zum Hals hoch, vorsichtig über den Pfeil hinweg. Seine Lider zuckten, aber er öffnete die Augen nicht. Er lächelte, und zum ersten Mal war das kein spöttisches, lüsternes Lächeln, und Lucy erwiderte es. Sie griff nach der zweiten Flasche – die, die das stärkere Getränk enthielt, nach dem er verlangt hatte – und hob es an seine Lippen.

Er öffnete die Augen und runzelte die Stirn, bemühte sich, den Blick zu fokussieren.

„Wenn Thomas zurückkehrt …“ Er seufzte und schwieg. Er schien wieder das Bewusstsein verloren zu haben, oder vielleicht hatte ihn auch der Wein, den er getrunken hatte, bewusstlos werden lassen.

Lucy stand angespannt neben dem Bett und wartete auf die Schritte auf der Treppe. Wo würde Thomas zwei Pferde verstecken? Die Hütte, in der sie ihr Bier braute, wäre zu klein, aber sie hoffte, er hatte nicht versucht, die Tür aufzubrechen.

Im Zimmer war es still, und als Robbie sich in seiner Wiege bewegte und leise wimmerte, klang das so laut wie ein Hahnenschrei bei Tagesanbruch. Sie warf einen Blick auf den Mann im Bett, um zu sehen, ob er es gehört hatte, aber er zeigte keine Anzeichen, dass er irgendetwas bemerkte.

Sie schlich zu der Wiege und tätschelte ihrem Sohn den Kopf, strich die dunklen Locken zurück und legte einen kühlen Finger an den roten Fleck auf seiner Wange, wo der neueste Zahn zu wachsen begonnen hatte. Er öffnete ein Auge, gähnte und schloss es wieder, rollte sich auf den Bauch und ließ den Mund offen stehen. Lucy kniete neben ihm nieder und sah zu, wie er wieder einschlief, überwältigt von der Liebe, die sie empfand. Robbie würde nie etwas erfahren von der kritischen Lage, die sich hier entwickelte, während er schlief.

Lucy verspürte Ärger über Thomas. Vor vier Jahren war er fortgegangen, mit nichts als dem Vorsatz, sein Glück als Soldat zu suchen. Es hatte keine Nachricht gegeben und keine Möglichkeit, ihn zu kontaktieren. Jetzt war er ohne jede Erklärung zurückgekehrt und hatte das Chaos mit sich gebracht. Mit etwas Glück würde er auch so bald wie möglich wieder fortgehen.

Thomas stürmte herein, und die Tür schlug gegen die Wand.

„Sir Roger, ich bin wieder da.“

Langsam drehte Lucy sich um und betrachtete den Mann auf dem Bett, erinnerte sich an die feine Kleidung, die sie ihm vom Körper geschnitten hatte, und die Art, wie er ihr Anweisungen erteilt hatte, als wäre er daran gewöhnt. Ihre Kehle war wie zugeschnürt vor Furcht, als sie sich daran erinnerte, dass sie ihn angegriffen hatte. Der kalte Schweiß brach ihr aus, als sie sich vorstellte, wie er sich rächen würde an der einfachen Frau, die es gewagt hatte, sich gegen seine Aufmerksamkeiten zu wehren.

Ihr blieb keine Zeit, um darüber nachzudenken, denn das Schlagen der Tür und Thomas’ Stimme hatten Robbie geweckt, der ein hohes Wimmern ausstieß. Er richtete sich auf und umfasste mit seinen kleinen Händen den Rand der Wiege, als er versuchte, was er kürzlich entdeckt hatte, nämlich hinauszuklettern und im Halbschlaf zu Lucys Bett zu gehen.

„Ein Kind?“ Sir Roger erwachte und drehte den Kopf, um dem Laut zu folgen.

„Mein Sohn.“

„Du hast einen Sohn? Wo ist der Vater?“ Thomas sah Lucy an, die Augen weit aufgerissen vor Erstaunen und Empörung. „Du hast gesagt, du bist allein hier.“

Lucy richtete sich auf und sah die Männer finster an. Sie hatte genug erklärt und sich entschuldigt, seit Robbie vor beinahe zwei Jahren geboren wurde, und die Scham, die schwer auf ihr gelastet hatte, war einem dumpfen Gefühl im Magen gewichen. Edelmann hin oder her, sie hatte nicht die Absicht, die Existenz ihres Sohnes einem Fremden gegenüber zu rechtfertigen. Und auch Thomas konnte auf eine Erklärung gern warten.

„Er hat keinen Vater“, gab sie kurz zurück. „Ich bin allein.“

„Gut, ich möchte keine Störungen“, stieß Sir Roger vom Bett aus hervor. Thomas sah sie nur entsetzt an.

Lucy nahm Robbie aus dem Bett und drückte ihn an ihre Brust, murmelte beruhigende Worte.

„Leg das Gör hin und komm hierher“, verlangte Sir Roger mit lauter Stimme. „Du wirst Thomas helfen, ehe ich wieder nüchtern bin.“

Lucy gab Robbie einen Kuss auf die Stirn. Er schlug mit seinen Fäusten gegen ihre Schulter und schrie lauter, tat kund, wie sehr es ihn ärgerte, geweckt worden zu sein.

„Lasst mich ihn erst beruhigen“, sagte sie und wiegte den Jungen hin und her.

„Das hier ist wichtiger als seine schlechte Laune“, murmelte Sir Roger. „Ich habe einen Pfeildurchschuss, und jeder Moment, der vergeudet wird, bringt mich näher ans Grab.“

Zweifellos hatte er recht, aber Lucy ärgerte sich über seinen Tonfall, wenn doch ihr Kind beunruhigt war.

„Er hat keine schlechte Laune. Er ist aufgeweckt worden, und sein Zimmer ist voller Fremder, die herumbrüllen. Er ist verwirrt und hat vermutlich Angst. Und außerdem bekommt er Zähne.“ Sie drückte ihren Sohn fester an sich und bemerkte, dass ihre Hände zitterten. Vielleicht hatte Robbie Angst, aber damit war er nicht allein. Jetzt, da ein vertrauter Bestandteil ihres Lebens sich in die unwirklichen Ereignisse dieses Abends gedrängt hatte, hatte sie ganz definitiv Angst.

„Je schneller du ihn zurücklegst, desto ruhiger wird er sein“, beharrte Sir Roger.

Lucy ging zum Bett, Robbie noch immer in den Armen wiegend, und blickte zu ihm hinunter.

„Ihr versteht offensichtlich nichts von Kindern.“

„Und das will ich auch nicht“, gab er voller Abscheu zurück und betrachtete dabei Robbies rotes Gesicht.

„Es ist leichter, ihn wieder hinzulegen, wenn er ruhig und schläfrig ist“, erklärte Lucy. „Andernfalls wird er stundenlang schreien und im Halbschlaf ein halbes Dutzend Mal während der Nacht in Euer Bett kriechen.“

Bei dieser Vorstellung sah Sir Roger entsetzt aus. Lucy hielt seinem Blick stand, bis er das Gesicht verzog.

„Das Täubchen ist zur Krähe geworden! Oder vielleicht eine Adlermutter, die ihr Junges verteidigt. Tu, was du tun musst, aber beeil dich. Und gib mir diese Flasche zurück. Ich muss den Schmerz betäuben. Thomas, bist du bereit?“

Lucy reichte Sir Roger die Flasche, aber statt daraus zu trinken, goss er etwas davon auf seine Schulter. Dabei wurde er bleich und fluchte, er wölbte die Brust nach oben, als die scharfe Flüssigkeit in die Wunde drang. Vor Mitgefühl verzog Lucy das Gesicht. Der Mann war unhöflich und grob, und vermutlich hatte er es verdient, dass auf ihn geschossen wurde, aber sie konnte nicht anders, es tat ihr leid, ihn in solchen Schmerzen zu sehen.

Autor

Elisabeth Hobbes

Elisabeth Hobbes‘ Karriere als Autorin begann damit, dass sie mit ihrem ersten Roman 2013 beim „So You Think You Can Write“-Wettbewerb des Verlagshauses Harlequin Enterprises den dritten Platz belegte. Sofort wurde sie von Harlequin, dem Mutterhaus von CORA, unter Vertrag genommen und hat seitdem acht historische Romane veröffentlicht.

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