Das skandalöse Verlangen des Earls

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Was nutzt es Amanda, dass ihr verstorbener Vater höchsten Wert auf ihre Bildung gelegt hat? Nichts! Bittere Armut droht - bis sie zufällig erfährt, dass der verwitwete Earl of Kenyon einen Hauslehrer für seine Söhne sucht. Entschlossen schneidet Amanda die langen Locken ab, schlüpft in einen Anzug: Voilà! Fertig ist der Hauslehrer! Ihre Schützlinge hat sie bald fest im Griff. Aber dass sie ihr Herz nach innigen Gesprächen restlos an den Earl verliert, droht ihr zum Verhängnis zu werden. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er ihr pikantes Spiel durchschaut. Amanda weiß, dass er ihr seine eigenen verwirrenden Gefühle niemals verzeihen wird …


  • Erscheinungstag 29.05.2020
  • Bandnummer 122
  • ISBN / Artikelnummer 9783733748654
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

London, 1893

Und weg ist sie …“

Der zehnjährige Owen St. Clair trat zu seinem Bruder ans Fenster, stützte die Ellbogen auf den Fenstersims und das Kinn in die Hand, und so schauten sie ihrem ehemaligen Kindermädchen hinterher, einer gestrengen, stets in Schwarz gekleideten Witwe namens Mrs. Hornsby, wie sie unten an der Straße in eine Droschke stieg. „Aber wir sind ja selber schuld.“

„Quatsch, sind wir nicht.“ Colin, der genau achtzehn Minuten älter war als sein Bruder, schüttelte so entschieden den Kopf, dass sein ohnehin nur schwer zu bändigender roter Haarschopf noch strubbeliger wurde. „Ist es vielleicht unsere Schuld, dass die Hornsby keine Frösche mag?“

„Vielleicht hätten wir ihn nicht in ihre Hutschachtel stecken sollen.“ Owen seufzte, als die Droschke samt Mrs. Hornsby um die nächste Ecke bog und ihren Blicken entschwand. „Drei Kindermädchen in sechs Monaten. Damit dürfte es eins zu viel gewesen sein, Colin. Ein Versuch noch, hat Papa gesagt, dann bringt er uns nach Harrow.“

Ernüchtert von der unerfreulichen Aussicht, aufs Internat geschickt zu werden, ließen die Zwillinge sich vom Fenster auf den Boden der Bibliothek sinken und dachten über das ihnen drohende Schicksal nach.

„Wir können nicht zulassen, dass Papa uns wegschickt“, stellte Colin schließlich fest. „Ohne uns wäre er völlig aufgeschmissen. Und was soll aus Oscar werden?“

Beide schaute sie zu dem grau getigerten Kater auf, den sie vor anderthalb Jahren im Park von einem Baum gerettet hatten. Oscar thronte auf einer der Sessellehnen, blinzelte schläfrig aus grünen Augen und schien sich der düsteren Zukunft nicht bewusst, die seinen beiden zweibeinigen Freunden blühte.

„Er würde einsam sein“, sagte Owen. „Papa ist die ganze Zeit weg, und die Dienstboten mögen ihn nicht, weil er keine Mäuse jagt. Womöglich vergessen sie, ihn zu füttern. Oder sie geben ihn fort.“

„Dagegen müssen wir etwas tun.“„Vielleicht können wir ihn ja mitnehmen. Katzen sind in Harrow bestimmt nicht erlaubt, aber …“

„Ich rede nicht von Oscar.“ Colin wandte sich an seinen Bruder. „Ich rede von uns und dass wir aufs Internat sollen. Oscar hätte nichts zu befürchten, wenn wir Papa davon überzeugen könnten, uns nicht wegzuschicken.“

Einen Moment herrschte Schweigen, während die beiden Jungen weiter über das Problem nachdachten.

„Vielleicht“, meinte Owen schließlich, „könnten wir uns selbst ein neues Kindermädchen suchen, ehe Papa davon Wind bekommt. Eine, die nett ist und auch Spaß versteht. Dann könnten wir ihn vor vollendete Tatsachen stellen.“

„Ein fait accompli“, sagte Colin gewichtig, auch wenn sein Französisch sehr englisch klang.

„Genau.“ Owen nickte entschieden. „Und wenn wir schon jemanden gefunden haben, wird Papa bestimmt nicht sauer sein, dass Nanny Hornsby weg ist. Oder?“

„Das vielleicht nicht, aber …“ Colin überlegte einen Moment und verzog dann das sommersprossige Gesicht, als habe er in einen sauren Apfel gebissen. „Wir wollten doch kein Kindermädchen mehr.“

„Nein, das nicht, aber bleibt uns eine andere Wahl?“

„Vielleicht sollten wir nach dem suchen, was wir wirklich wollen.“

„Du meinst …“ Owen schaute seinen Bruder ungläubig an. „Du meinst eine neue Mutter?“

„Warum nicht? Da reden wir doch schon ewig drüber.“

„Ich weiß, aber …“

„Ein weiteres Kindermädchen wäre wirklich übel. Und aufs Internat geschickt zu werden wäre noch schlimmer.“

„Das stimmt, aber …“

„Irgendwann wird Papa ganz sicher wieder heiraten“, unterbrach Colin seinen Bruder. „Was, wenn er sich eine aussucht, die uns nicht mag?“

„Dann wären wir im Nu in Harrow. Aber trotzdem …“

„Wenn wir eine Frau für ihn finden, die uns mag und ein gutes Wort für uns einlegt, kommen wir vielleicht ganz um die Schule herum.“

„Möglich“, meinte Owen, auch wenn es nicht so klang, als räume er diesem Plan große Erfolgsaussichten ein. „Aber Papa wird nie wieder heiraten. Das hat er schon hundert Mal gesagt.“

„Dann müssen wir eben eine finden, die so umwerfend ist, dass er es sich anders überlegt. Hübsch müsste sie natürlich sein.“

„Und nett. Sie darf uns keine Pomade ins Haar schmieren und nicht schimpfen, wenn wir uns ein Loch in die Hose reißen.“

Colin nickte. „Klug muss sie auch sein, so wie Mama. Und Katzen mögen.“

Oscar miaute, als wolle er dem Plan schon mal seine Zustimmung geben.

„Allerdings gibt es ein Problem“, merkte Owen an. „Wie sollen wir so jemand finden?“

„Das ist die Frage, allerdings.“

Beide Jungen verfielen erneut in Schweigen und dachten angestrengt nach.

„Wir könnten eine Annonce in Tante Claras Zeitung aufgeben“, schlug Owen plötzlich vor. „Männer inserieren in den Zeitungen andauernd nach Ehefrauen.“

„Aber keine Gentlemen – und Papa ist ein Gentleman. Moment … ich hab’s!“ Colin sprang auf und lief durch die Bibliothek zum Schreibtisch. Unter dem gespannten Blick seines Bruders holte er einen Bogen Papier aus der mittleren Schublade und schloss sie wieder.

„Was hast du vor?“, wollte Owen wissen, stand nun ebenfalls auf und kam zum Schreibtisch, während sein Bruder bereits nach der Schreibfeder griff, die neben dem Tintenfass in einem silbernen Halter steckte. „An wen schreibst du?“

„Wem schreiben alle, die ein Problem auf dem Herzen haben?“, erwiderte Colin grinsend, als er die Feder ins Tintenfass tauchte. „Ich schreibe an Lady Truelove.“

Wer höflich sein wollte, hätte Amanda Leighton eine Frau von Welt genannt. Wer Wert auf Moral und den guten Ton legte, würde sie wohl etwas anderes, weit weniger Romantisches heißen.

Aber wie dem auch sei, an den Tatsachen war nicht zu rütteln, und obwohl Amanda mit ihren achtundzwanzig Jahren bereits auf zwei Kontinenten gelebt, die Universität besucht, einen Beruf ergriffen, sich einen Liebhaber genommen und ihren guten Ruf verloren hatte, so war ihr doch jene Errungenschaft verwehrt geblieben, die in den Augen der Gesellschaft als die für ihr Geschlecht einzig erstrebenswerte galt: Amanda hatte nie einen Mann gefunden, der sie geheiratet hätte.

Andererseits war sie auch nie sonderlich darauf erpicht gewesen. Nachdem sie ihre Mutter recht früh verloren hatte, hatte ihr Vater sie großgezogen, ein Universitätsprofessor, dem das traditionelle, ganz auf den Ehestand ausgerichtete und im Grunde ziemlich lächerliche Bildungsangebot für junge Mädchen schon immer ein Ärgernis gewesen war, weshalb er Amanda höchstpersönlich eine erstklassige Schulbildung hatte angedeihen lassen, die jedes Jungen würdig war. Zu alledem hatte er ihr beigebracht, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und sich dabei nicht weiblicher Listen zu bedienen, sondern ihren Verstand einzusetzen.

Und so war sie Lehrerin geworden und verdiente sich seit sechs Jahren ihren Lebensunterhalt, indem sie ihren Verstand einsetzte. Leider begriff nicht jeder Dienstherr, dass außer besagtem Verstand nichts an Amanda zur freien Verfügung stand.

Als Mr. Oswald Bartlett sie auf eine Weise berührt hatte, wie kein Dienstherr es jemals tun sollte, hatte Amanda ihre wissenschaftliche Kenntnis der männlichen Anatomie durch den punktgenauen Einsatz eines Knies unter Beweis gestellt. Leider hatte sie das auch ihre Stelle gekostet.

Nicht dass die Stelle als Gouvernante von Mr. Bartletts vier Töchtern sonderlich reizvoll gewesen wäre. Wie interessant konnte es schon sein, vier jungen Mädchen französische Konversation beizubringen, Walzertanz und artige Knickse, zumal dann, wenn weder die Damen selbst noch deren Vater darüber hinausgehende geistige Ambitionen hatten? Allerdings hatte die Stelle ihr auch ein Dach über dem Kopf beschert, zwei Mahlzeiten am Tag und ein zwar bescheidenes, aber immerhin sicheres Einkommen.

Jetzt war sie arbeitslos und musste sich dank besagten Knies ohne Referenz auf die Suche nach einer neuen Stelle begeben.

Amanda lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, schaute von ihrem Tee auf, der längst kalt geworden war, und merkte, wie das Serviermädchen, das sie vor einer halben Stunde so freundlich bedient hatte, ungeduldige Blicke in ihre Richtung warf. Anscheinend war das Gastrecht, das sie sich mit einer Tasse Tee und einem Rosinenbrötchen in Mrs. Mott’s Tea Emporium erworben hatte, ausgereizt, aber Amanda machte dennoch keine Anstalten aufzubrechen. Es war zu früh, um schon aufzugeben und in ihr bescheidenes Quartier zurückzukehren, und wohin sollte sie sonst?

Den letzten Monat hatte sie damit verbracht, sich bei jeder Stellenvermittlung in London vorzustellen, aber vergebens. Obwohl alle Agenturen von ihrer akademischen Ausbildung beeindruckt waren, war sie doch kein einziges Mal zu einem Vorstellungsgespräch als Gouvernante geschickt worden. Ihr Abschluss am Girton College konnte immer nur so lange Eindruck schinden, bis die unvermeidliche Frage kam, was sie nach ihrem Studium gemacht habe. Sowie sich herausstellte, dass sie ebenjene Amanda Leighton war, die einst an der Willowbank Academy unterrichtet und ihren Ruf mit einem handfesten Skandal ruiniert hatte, zeigte niemand sich mehr sonderlich gewogen, ihr eine Stelle zu vermitteln, und wer konnte es ihnen verdenken?

Willowbank war die renommierteste Bildungseinrichtung für junge Damen in England, aber wenn eine der Lehrerinnen sich den Sohn des größten und einflussreichsten Mäzens besagter Einrichtung zum Liebhaber nahm, war dies auf Jahre hinaus ein Skandal, zumal dann, wenn dem Techtelmechtel keine Heirat folgte. Ihre Tage als Lehrerin waren somit gezählt, denn wer würde seine Töchter einer derart skandalösen Person anvertrauen wollen? Nur Mr. Bartlett hatte da eine gnädige Ausnahme gemacht und dafür ganz eigene Gründe gehabt, wie sich leider erst im Nachhinein zeigte.

Dieser Tage unterrichtete sie nur noch ein paar Leute aus der Nachbarschaft, was aber längst nicht genug einbrachte, um davon Essen und Miete zu bezahlen. Wenn sie nicht bald eine neue Stelle fand, wären ihre mageren Ersparnisse aufgebraucht. Nur leider waren ihre Aussichten auf eine anständige Beschäftigung gering und wurden mit jedem Tag, der erfolglos verstrich, nur noch geringer.

Die Bemühungen ihres Vaters, vier Jahre Studium und Abschluss mit Auszeichnung, fünf Jahre als Lehrerin an einer der besten Schulen des Landes – alles zunichtegemacht von einem einzigen Fehler, der ihr niemals hätte passieren dürfen. Sie konnte nur froh sein, dass ihr Vater das nicht mehr erleben musste; sie war seines Andenkens nicht würdig. Es hätte niemals geschehen dürfen. Sie war aufgeklärt und gebildet, verfügte über gesunden Menschenverstand und genügend Lebenserfahrung, und doch hatte sie sich Hals über Kopf in einen Mann verliebt, weil er gesagt hatte, ihre Augen wären wie das Licht der Sonne in den Tiefen des Waldes. Nie hätte sie sich träumen lassen, dass ein Mann, nicht einmal ein Aristokrat, so wunderbar poetisch sein könnte. Oder sie derart dumm.

Amanda trank den Rest ihres Tees und schaute aus dem Fenster. Da sie ihre Uhr vor ein paar Tagen verpfändet hatte, wusste sie nicht, wie spät es war, aber sicher schon spät genug für die Abendzeitungen, und sie beschloss, sich einmal mehr die Anzeigen anzusehen. Die Zeitungen durchzublättern, ohne dafür zu zahlen, war heikel, aber Amanda konnte es sich nicht leisten, jedes Mal eine zu kaufen. Eigentlich konnte sie es sich überhaupt nicht leisten. Die zwölf Pence in ihrer Handtasche und jene fünfzehn Shilling, die sie unter ihrer Matratze versteckt hatte, waren ihre letzte finanzielle Reserve.

Wenn sie nicht bald etwas fand, würde sie Papas Bücher oder den Schmuck ihrer Mutter verkaufen müssen. Damit käme sie zwar durch den Herbst, aber was sollte aus ihr im Winter werden?

Angst ließ Amanda frösteln und brachte sie auf die Beine. Sie versuchte, alle düsteren Gedanken an die Zukunft zu verdrängen, zog ihren Mantel über und wickelte das Rosinenbrötchen, das ihr Abendessen sein würde, in ein Taschentuch und steckte es sich in die Jackentasche. Dann zahlte sie und verließ Mrs. Motts Teestube, um einen Zeitungsverkäufer zu suchen, aber sie war kaum einen Block weit gegangen, als ihr ein auf ein Ladenfenster gemalter Schriftzug auffiel und sie innehalten ließ.

Deverill Newspapers Limited stand dort in goldenen Lettern. Herausgeber des London Daily Standard und der Weekly Gazette.

Vielleicht gehe ich meine Stellensuche ja von der verkehrten Seite an, dachte sie, während sie das Firmensignet betrachtete. Was, wenn sie, statt die offenen Stellen durchzusehen, selber annoncierte? Sie würde ihre Qualifikationen auflisten und sich als Gouvernante anbieten. Allein die Erwähnung Girtons würde ihr einige Anfragen einbringen, vielleicht sogar ein paar Vorstellungsgespräche. Und wenn sie ihre Vergangenheit nur hinreichend verbrämte, könnte sie schon bald eine neue Stelle haben.

Selber aktiv zu werden entsprach ihr viel eher, als geduldig darauf zu warten, dass ein Angebot ihren Weg kreuzte. Doch ein Blick durch das Fenster ließ sie zweifeln, ob ihr Plan wirklich so klug war, zumindest, was dieses Zeitungshaus anging, denn entweder gab man gerade das Geschäft auf oder die Redaktion zog um. Kisten stapelten sich an der hinteren Wand, und das meiste Mobiliar schien bereits außer Haus gebracht.

Eine Person hielt indes noch die Stellung, stellte sie zufrieden fest, als ihr Blick auf den hochgewachsenen blonden Mann fiel, der in einem Karton kramte, der auf dem einzigen noch verbliebenen Schreibtisch stand. Vielleicht könnte er ihr weiterhelfen.

Sie öffnete die Tür, und der Mann schaute auf, doch sein überraschend attraktives Gesicht ließ Amandas Puls nicht schneller schlagen. Ihre Affäre mit Lord Halsbury und die nachfolgende Schmach hatten sie von allen romantischen Vorstellungen geheilt, die sie sich je von den Männern gemacht hatte, ob sie nun attraktiv waren oder nicht. Außerdem setzte sie andere Prioritäten.

„Sie wünschen, Miss?“ Er trat hinter dem Schreibtisch hervor und kam auf sie zu. „Kann ich Ihnen weiterhelfen?“

„Das weiß ich noch nicht. Ich wollte eine Annonce aufgeben, aber …“ Sie schaute sich um. „Hat die Zeitung den Betrieb eingestellt?“

„Nein, nein“, versicherte er ihr, „auch wenn es im Augenblick den Anschein haben mag. Wir ziehen lediglich in größere Geschäftsräume um.“

„Wir?“, wiederholte Amanda, der sein feiner Zwirn sofort auffiel, als er vor ihr stand. „Sie sehen überhaupt nicht aus wie ein Bürogehilfe oder ein Journalist.“

Er musste lachen. „Vermutlich nicht“, räumte er ein und verneigte sich. „Ich bin Viscount Galbraith.“

Das überraschte Amanda erst recht, und sowie er ihre Verwunderung bemerkte, lachte er erneut und zeigte auf das Firmensignet. „Meine Frau Clara war eine Deverill, bevor sie mich geheiratet hat. Ihr und ihrer Schwester, der Duchess of Torquil, gehört das Verlagshaus.“

„Ein von Frauen geführtes Unternehmen?“, zeigte Amanda sich beeindruckt. „Das ist ungewöhnlich.“

„Sie haben natürlich einen ganzen Stab von Mitarbeitern, aber im Augenblick sind alle drüben in den neuen Räumen und versuchen, den Laden zum Laufen zu bringen, ehe meine Frau und ich in die Flitterwochen auf den Kontinent fahren. Eigentlich bin ich nur hier, weil ich meine Taschenuhr vermisse, und meine Frau meinte, sie wäre mir bestimmt in eine dieser Kisten gefallen, weshalb ich mich gerade an die Suche gemacht habe.“

„Dann will ich Sie nicht aufhalten, Mylord.“ Mit einem Knicks wandte sie sich zum Gehen, doch seine Stimme hielt sie zurück.

„Wenn Sie nur eine Annonce aufgeben möchten, notieren Sie den Text doch eben kurz. Ich leite ihn dann weiter.“

„Ich möchte Ihnen keine unnötigen Mühen bereiten.“

„Das macht überhaupt keine Mühe. Sowie ich meine Uhr gefunden habe, werde ich noch einmal in die Fleet Street fahren und könnte Ihre Anzeige gleich mitnehmen. Wenn wir Glück haben, finde ich sogar noch etwas zum Schreiben für Sie.“ Er kehrte an den Schreibtisch zurück, kramte in den Kisten und brachte ein zerknittertes Blatt Papier sowie einen Bleistiftstummel zum Vorschein.

„Nicht gerade erste Wahl“, meinte er entschuldigend, während er das Papier glattstrich und ihr beides brachte, „doch es sollte seinen Zweck erfüllen.“

Dankend nahm sie Blatt und Stift entgegen. „Das ist sehr freundlich von Ihnen. Wie viel …“ Sie merkte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg, galt es doch als schrecklich vulgär, einem Adeligen gegenüber Geld auch bloß zu erwähnen, aber was blieb ihr anderes übrig? „Mit welchen Kosten muss ich rechnen für eine Annonce?“

„Welche Kosten?“ Einen Moment schien er völlig perplex, dann lachte er, als wolle er ihr versichern, dass er keinen Anstoß an ihrer Frage genommen habe. „Da muss ich ehrlich gesagt passen“, gestand er. „Welchen Preis hielten Sie denn für angemessen?“

„Umsonst wäre vermutlich zu viel verlangt, oder?“, gab sie zurück, doch ließ ihr Stolz sie die Worte, die sie ohnehin nur halb im Scherz dahingesagt hatte, sogleich bereuen. „Verzeihen Sie, ich wollte Ihre Freundlichkeit nicht ausnutzen“, setzte sie nach. „Natürlich zahle ich den regulären Satz.“

Mit wachen blauen Augen musterte er sie, wobei ihm die abgestoßenen Säume an ihrem Rock und ihrem Mantel kaum entgangen sein dürften, doch ließ er sich nicht anmerken, welche Schlüsse er daraus zog. „Wollen wir einen Halfpenny pro Wort sagen?“, schlug er vor. „Bei drei Tagen Laufzeit?“

Das ließe sich, wenn sie sich kurz fasste, sogar mit ihren recht überschaubaren Mitteln bewerkstelligen. Mit einem erleichterten Nicken stimmte sie zu, und Lord Galbraith deutete auf die lange Arbeitsbank neben der Tür und zog einen Drehhocker darunter hervor, damit sie sich setzen konnte.

„Jetzt müssten Sie mich allerdings wieder entschuldigen“, meinte er, sowie sie Platz genommen hatte. „Ich will derweil die Suche nach dieser verflixten Uhr fortsetzen.“

Er kehrte an den Schreibtisch zurück, hatte sich aber kaum über die geöffnete Kiste gebeugt, als erneut die Tür aufging und ein Mann hereinkam, der auf den ersten Blick ebenso attraktiv war wie der Viscount, sich ansonsten aber von ihm unterschied wie Tag und Nacht.

Lord Galbraith hatte die Miene eines Mannes, der Freude am Leben hatte und ein umgängliches Temperament, ein Mann, der mit seinem blonden Haar, den feinen Gesichtszügen und dem freundlichen Lächeln wie ein gütiger Engel wirkte.

Ganz anders der Mann, der nun in der Tür stand. An ihm war so gar nichts engelsgleich. Allenfalls an einen gefallenen Engel ließ er denken, einen, der vor langer Zeit schon gestürzt und sehr unsanft gelandet war.

Unter der Krempe eines grauen Filzhuts stachen seine Augen in einem klaren, fast durchscheinenden Grün hervor, ein Grün, das an Flaschenglas erinnerte – kühl und seltsam, bar allen Gefühls und jeder menschlichen Regung, ein Eindruck, der nur ein wenig von den dichten, braunen, beneidenswert langen Wimpern gemildert wurde, die seine Augen umkränzten.

Der Rest seines Gesichts war allerdings weder milde noch einnehmend. Harte, wie aus Marmor gemeißelte Züge, die von jener exquisiten Ausdruckslosigkeit waren, wie man sie bei antiken Skulpturen sah. Dabei wirkte er seltsam müde und abgespannt und ließ die breiten Schultern in einer Weise hängen, die Amanda mehr als eine Ermüdung des Geistes als des Körpers deutete. Obwohl er gewiss nur ein paar Jahre älter war als sie, hatten sich um seinen Mund und die Augen tiefe Linien eingegraben, und auch wenn sie natürlich nicht wissen konnte, ob es Spuren des Leids oder eines ungezügelten Lebenswandels waren, so erzählten sie doch von einem Mann, der bereits alles erlebt und gesehen hatte und nicht das geringste Interesse verspürte, die gemachten Erfahrungen zu wiederholen.

Kurz fiel sein Blick in ihre Richtung, doch schien er sie kaum wahrzunehmen, als er sich auch schon wieder abwandte. Die meisten Frauen wären wohl in ihrer Eitelkeit gekränkt, dachte Amanda mit leiser Belustigung, aber nach Kenneth Halsbury und Mr. Bartlett empfand sie ein derart unverhohlenes männliches Desinteresse fast als Erleichterung.

„Ah, Jamie“, begrüßte Lord Galbraith den Besucher. „Ich nehme an, du hast meine Nachricht erhalten?“

„Das habe ich, doch als ich eben in den neuen Redaktionsräumen vorbeischaute, sagte mir Clara, du wärst hier und ich solle umgehend mit dir sprechen. Und weil mich natürlich brennend interessiert, was so wichtig sein könnte, kam ich auf direktem Weg hierher.“ Seine Stimme klang vornehm und distinguiert, wenn auch etwas träge, und ließ der Bekundung brennenden Interesses zum Trotz keinerlei Neugier erkennen.

„Es geht um die Jungen.“

Etwas regte sich in dieser harten, teilnahmslosen Miene, ein leises Lebenszeichen. Und als er nun auf den Freund zuging, zeugten seine knappen Bewegungen von einer mühsam beherrschten Kraft, die sich deutlicher nicht hätte abheben können von der gelangweilten Art, die er zuvor an den Tag gelegt hatte.

„Was ist mit den Jungen?“, fragte er mit neuer Dringlichkeit. „Ich wage es kaum zu fragen“, setzte er nach, als er vor dem Schreibtisch stehen blieb, „aber was weißt du, was ich nicht weiß?“

„Sie haben an die Zeitung geschrieben. Ich bekam den Brief heute Morgen.“

„Meine Söhne schreiben an Zeitungen?“ Er entspannte sich und lachte. „Ist das alles?“

„Ob das alles ist?“, wiederholte Galbraith. „Du weißt doch noch gar nicht, was sie geschrieben haben.“

„Kommt es denn darauf an?“, meinte Jamie mit einem Schulterzucken. „Mal wieder einer ihrer Streiche, wie es aussieht. Anscheinend einer der harmloseren.“

„Wenn du wüsstest, worum es geht, dürftest du anderer Meinung sein. Auch haben sie es wohl kaum als Streich gemeint.“

„Wie du weißt, nehmen meine Söhne nur selten etwas ernst, Rex. Sie sind ständig zu Schabernack aufgelegt. Was glaubst du, warum sie einen so hohen Verschleiß an Kindermädchen haben?“

„Sie haben an Lady Truelove geschrieben und sie um Rat gebeten bei der Suche nach einer neuen Mutter.“

„Wie bitte?“ Er erstarrte, und selbst im Profil konnte Amanda sehen, wie alle Belustigung aus seinem Gesicht wich. Die Nachricht schien ihn tief zu treffen. „Aber die beiden wissen, dass ich nicht wieder heiraten werde – wir haben das besprochen.“

„Sie scheinen zu hoffen, du könntest es dir noch mal anders überlegen.“ Galbraith holte einen zusammengefalteten Zettel aus der Brusttasche seines Jacketts. „Hier, lies selbst.“

„Was macht dich eigentlich so sicher, dass meine Söhne das geschrieben haben?“, fragte Jamie, als er den Zettel entgegennahm und auseinanderfaltete. „Haben sie mit ihrem Namen unterschrieben?“

„Nur mit dem Decknamen Mutterlos in Mayfair“, erwiderte Galbraith. „Allerdings gaben sie ihre Anschrift an, damit Lady Truelove ihnen zurückschreiben kann, und falls du nicht in den letzten beiden Tagen aus der Stadtresidenz des Dukes ausgezogen bist oder anderer Leute mutterlose Kinder sich dort einquartiert haben, dürfte dieser Brief eindeutig von deinen Söhnen sein.“

„Das ist doch wirklich … Das ist das Dümmste und Lachhafteste, was sie sich jemals …“ Er seufzte, nahm sich den Brief vor und schaute erst wieder auf, als er zu Ende gelesen hatte. „Jetzt haben sie den Bogen endgültig überspannt“, stellte er fest und warf das Blatt vor sich auf den Schreibtisch. „Mir reicht’s. Jetzt kommen sie aufs Internat.“

„Findest du das nicht etwas übertrieben? Einer Ratgeberkolumnistin zu schreiben ist nun wahrlich nicht das Schlimmste, was sie sich je geleistet hätten.“

„Wenn du damit meinst, dass es nicht so schlimm ist, wie Feuerwerkskörper im Salon zu zünden und die Vorhänge in Brand zu setzen“, erwiderte der leidgeplagte Vater, „oder meinem Kammerdiener Juckpulver in die Wäsche zu streuen, dann hast du vermutlich recht.“

Amanda musste sich ein Lachen verkneifen. Das schienen ja zwei richtige Schlingel zu sein! Sehr einfallsreich, auch wenn sie dabei wohl etwas über die Stränge schlugen.

„Glück im Unglück“, fuhr der Vater der beiden fort, „dass sie Lady Truelove ihr Herz ausgeschüttet haben. Hätten sie sich an eine andere Zeitung gewandt, hättest du den Brief nicht zu Gesicht bekommen und das Ganze wäre womöglich so abgedruckt worden.“ Er setzte seinen Hut ab, warf ihn ebenfalls auf den Schreibtisch und fuhr sich mit der Hand durchs tabakbraune Haar. „Nicht auszudenken, welche Wellen das geschlagen hätte. Mutterlos in Mayfair … Zwillingsbuben, die dringend eine Mutter brauchen, weil sie die ewigen Kindermädchen leid sind … Jeder hätte sofort gewusst, dass es sich um meine Jungs handelt.“

„Vermutlich. Den beiden eilt in Sachen Kindermädchen ja ein gewisser Ruf voraus.“

„Einen solchen Brief in den Zeitungen abgedruckt zu sehen, wäre der reinste Albtraum. Mich haben auch so schon genügend Debütantinnen im Visier.“

„Schlimm“, pflichtete Galbraith ihm bei. „Ganz schlimm.“

Jamie schenkte dem leisen Spott des Freundes keine Beachtung. „Kaum eine hat sich die Mühe gemacht, als ich bloß der Zweitgeborene war. Als einfacher Abgeordneter mit bescheidenen Einkünften kannst du keinen Staat machen, aber jetzt …“ Er lachte freudlos. „Schon erstaunlich, wie sehr ich an Attraktivität gewonnen habe, seit ich der direkte Erbe des Marquess of Rolleston bin. Der arme Geoff war gerade mal einen Monat unter der Erde, als erste junge Damen mitfühlende Bemerkungen zu meinem einsamen Witwerdasein zu machen begannen. Glaub mir, das ist wirklich das Letzte, was ich brauche – geheuchelte Sorge um meine Jungs, die sich so sehr nach mütterlicher Zuneigung sehnen, dass sie jetzt sogar schon an die Zeitung schreiben.“

„Es ist ja gerade noch mal gut gegangen. Und du meintest das sicher nicht ernst, dass du sie deswegen aufs Internat schicken willst, oder?“

„Warum sollte ich sie nicht aufs Internat schicken?“, ging Jamie in die Defensive. „Bei allem, was sie sich in der letzten Zeit geleistet haben, hätten sie es sich redlich verdient. Zumal es gerade gut passen würde, nachdem sich ihr letztes Kindermädchen verabschiedet hat.“

„Schon wieder eine weg? Was war es denn diesmal?“

„Das Übliche. Sie haben der armen Frau das Leben zur Hölle gemacht, bis sie aufgegeben hat.“

Amanda zog die Augenbrauen hoch. Du liebe Güte, was stellten diese Lümmel bloß mit ihren Kindermädchen an? Den Knallfröschen und dem Juckpulver nach zu urteilen, musste man vermutlich auf alles gefasst sein, aber Galbraiths nächste Worte sollten sie davon abhalten, die Fülle der Möglichkeiten weiter zu durchdenken.

„Das Schuljahr hat aber schon begonnen.“

„Wenn Torquil ein gutes Wort einlegt, wird man sie dennoch nehmen.“

„Da unser geschätzter Schwager ein Duke ist, könntest du recht haben, aber die Jungen dürften es als Nachzügler in Harrow nicht leicht haben. Warum engagierst du nicht einfach ein neues Kindermädchen und wartest bis zum nächsten Jahr?“

„Weil ich, nachdem sich im Laufe der letzten drei Jahre ein Dutzend Nannys die Klinke in die Hand gegeben hat, wohl oder übel zu dem Schluss gelangen muss, dass es keine Frau zu geben scheint, die meiner Söhne Herr werden kann.“

Wieder musste Amanda sich ein Lachen verkneifen, und sie begann sich zu fragen, wie wohl die Reaktionen wären, würde sie seine Überzeugung offen anzweifeln und auf der Chance bestehen, ihm als nächstes Kindermädchen der Jungen das Gegenteil zu beweisen. Eine verlockende Idee, doch nachdem sie einen Moment nachgedacht hatte, verwarf sie den Plan wieder.

Zwar brauchte sie dringend eine neue Stelle, aber dem Vernehmen nach würden die schwer zu bändigenden Söhne dieses Herrn wohl bei nächster Gelegenheit aufs Internat geschickt werden, womit ein Kindermädchen sich erübrigte. Und wie sie aus leidiger Erfahrung wusste, begab man sich als Frau in eine heikle Situation, wenn man eine Stelle im Haushalt eines Witwers antrat. Amanda maß die Statur des Mannes mit flüchtigem Blick und kam zu dem Schluss, dass er nicht so leicht außer Gefecht zu setzen wäre wie der korpulente, schon etwas in die Jahre gekommene Mr. Bartlett. Alles in allem, schloss sie, war sie doch nicht verzweifelt genug, sich noch einmal dem Risiko unerwünschter Avancen auszusetzen.

Sie versuchte, sich auf ihr eigenes Problem zu konzentrieren, und während sie auf das leere Blatt vor sich blickte, verloren die Stimmen der beiden Männer sich im Hintergrund. „Stelle gesucht“, schrieb sie. „Dame mit Girton-Abschluss sucht Arbeit als Gouvernante. Sauber, ordentlich und respektabel.“

Beim letzten Wort stockte sie. Respektabel? Aber was sollte sie sonst schreiben?

Während sie noch nach ein, zwei Wendungen suchte, die sie bei künftigen Dienstherren in bestem Lichte erscheinen ließen, vernahm sie wieder die Stimme des Viscounts, dessen eindringlicher Ton durch ihre Gedanken brach.

„Sei ganz ehrlich, Jamie – ist das Internat wirklich die beste Lösung? Oder machst du es dir damit nicht etwas zu leicht?“

„Pass auf, was du sagst, Rex“, erwiderte Jamie, und obwohl er es ganz unverfänglich klingen ließ, war die Warnung doch unmissverständlich.

Galbraith schien es nicht zu merken. Oder es war ihm gleich. „Mir ist bewusst, dass dein Mandat im Unterhaus den Großteil deiner Zeit beansprucht. Und es ist völlig verständlich, dass du jede freie Minute beschäftigt sein willst, um auf andere Gedanken zu kommen. Patricia zu verlieren, muss ein schwerer Schlag gewesen sein, aber vergiss die Jungen nicht – für sie war es auch nicht leicht.“

„Glaubst du, das wüsste ich nicht?“, entgegnete Jamie scharf. „Verdammt, Rex, ich weiß ja, wie gern du dieser Tage anderen guten Ratschläge erteilst, aber …“

Galbraith brachte ihn mit einem Räuspern zum Schweigen, und als Jamie schließlich weitersprach, schien er sich beruhigt zu haben und schalt den Freund nicht länger für dessen gut gemeinte Ratschläge. „Zum jetzigen Zeitpunkt sehe ich keinen Grund, warum ich sie nicht aufs Internat schicken sollte. Alt genug sind sie.“

„Gerade so. Aber meinst du denn, sie sind überhaupt schon bereit für Harrow?“

Jamie ließ ein kurzes, freudloses Lachen hören. „Frag lieber, ob Harrow für die beiden bereit ist. Ich kann froh sein, wenn sie das erste Halbjahr ohne Schulverweis durchstehen.“

„Du hast mich falsch verstanden. Ich meinte, ob sie in akademischer Hinsicht schon so weit sind.“

Die Worte schienen einen Nerv zu treffen, denn Jamie fluchte leise und wandte den Blick ab.

„Es könnte schwierig werden“, räumte er schließlich ein. „Die Kindermädchen haben ihnen die schulischen Grundlagen beigebracht – Lesen, Schreiben, Rechnen, wohl auch ein bisschen Französisch …“ Er verzog gequält das Gesicht. „Alles etwas dürftig, ich weiß.“

„Es dürfte kaum reichen, um sie auf Harrow und Cambridge vorzubereiten.“

„Von einer Nanny kann man nicht mehr verlangen. Eine Frau könnte die Jungs ohnehin nicht auf Harrow und Cambridge vorbereiten.“

Fast wäre Amanda ein höhnisches Schnauben herausgerutscht. Herrje, wenn sie solchen Unsinn geglaubt hätte, würde sie sich niemals für Girton beworben, geschweige denn ihr Studium mit Auszeichnung abgeschlossen haben. Und Girton war, wie sie dem Herrn gern in Erinnerung gerufen hätte, ein College – wenn auch für Frauen – der Universität Cambridge!

Ehe Amanda dem Impuls nachgeben konnte, einen dieser Gedanken laut auszusprechen, kam ihr Jamie zuvor.

„Ich denke, was die beiden jetzt brauchen“, sagte er bedächtig, „ist ein Hauslehrer.“

Bei den Worten verflüchtigte sich Amandas Entrüstung und ihr Herz zog sich vor Sehnsucht zusammen. Könnte sie doch nur als Hauslehrerin arbeiten!

Im Gegensatz zu Gouvernanten waren Hauslehrer in aller Regel Männer, weshalb es ihnen nicht nur erlaubt war, sondern geradezu von ihnen verlangt wurde, dass sie ordentliche Fächer wie Mathematik, Naturwissenschaften und Geschichte unterrichteten und nicht bloß Französisch, ein bisschen Walzertanz und Etikette.

Aber sich eine solche Stelle zu wünschen, war vergebens, weshalb Amanda sich wieder auf ihr eigentliches Vorhaben konzentrierte. Sie las die Anzeige noch einmal durch, setzte die Anschrift ihrer Unterkunft darunter sowie die Bitte, ihr bei Interesse dorthin zu schreiben. Zufrieden legte sie den Stift beiseite. Jetzt brauchte sie nur noch die Annonce zu bezahlen, aber als sie sich umdrehte, fand sie die beiden Männer noch immer in ihr Gespräch vertieft.

„Jamie, dass sie an Lady Truelove geschrieben haben, zeigt doch nur, dass sie sich eine Mutter wünschen. Und auch dringend eine bräuchten, wenn man nach ihrem Betragen geht.“

„Sie hatten eine Mutter – eine einzige. Und die ist gestorben. Jede Stiefmutter wäre immer nur ein zweitklassiger Ersatz, und den brauchen sie nun wirklich nicht.“

„Und was ist mit dir? Ist dir jemals der Gedanke gekommen, dass du vielleicht wieder heiraten solltest?“

„Das sind ziemlich vermessene Worte für den berüchtigsten Junggesellen der letzten Saison.“

„Aber in dieser Saison bin ich der glücklichste Ehemann auf Erden.“

Jamie schnaubte. „Du bist gerade mal eine Woche verheiratet. Ich finde nicht, dass das schon zählt.“

„Doch, tut es, Jamie, denn ich weiß, wie glücklich ich mich schätzen kann. Hör mir zu, mein Freund“, setze er mit ernster Stimme nach, „Patricia hat uns vor über drei Jahren verlassen und du hast seit ihrem Tod wie ein Mönch gelebt. Seit du deinen Sitz im Unterhaus hast, schindest du dich wie ein Hund. Wäre es nicht schön, nach einem langen harten Tag in Westminster in ein gemütliches Heim zurückzukehren, zu einer liebenden Ehefrau? Für die Jungen wäre es sicher auch von Vorteil.“

„Genug.“ Obwohl er die Stimme nicht erhoben hatte, fuhr das Wort wie ein Peitschenhieb durch den fast leeren Raum. „Ich werde nicht wieder heiraten. Niemals. Ich brauche keine Ehefrau – und ich will auch keine. Damit werden die Jungen sich abfinden müssen.“

Galbraith grinste. „Wie übellaunig du dieser Tage bist! Eine Ehefrau mag dir verzichtbar scheinen, mein Freund, aber eine Frau könntest du gut gebrauchen. Sehr sogar.“

„Solange sie ihre Dienste nicht stundenweise anbietet, habe ich kein Interesse.“

Erst traute Amanda ihren Ohren kaum, dann ließen die Worte ihre Wangen glühen, was nur einmal mehr bewies, dass einen selbst als Frau von Welt mit ramponierter Unschuld und ruinierter Reputation noch so einiges in Verlegenheit bringen konnte.

Sie räusperte sich diskret, worauf die beiden Männer sich nach ihr umsahen. Aus dem Anflug von Überraschung in ihren Gesichtern schloss Amanda, dass man ihre Anwesenheit wohl völlig vergessen hatte.

Einen Moment herrschte peinliche Stille, dann griff Jamie nach seinem Hut. „Was ich brauche, ist ein Hauslehrer, der meine Söhne auf Harrow vorbereitet. Weshalb ich mich jetzt mal besser auf die Suche mache.“

„Merrick’s Employment Agency könnte dir sicher ein paar Kandidaten vermitteln. Und ich werde die Kollegen bitten, in unseren Blättern zu inserieren sowie nach Gesuchen Ausschau zu halten und dir umgehend Bescheid zu geben, wenn sich etwas findet. Würde der Dienstag dir für die Vorstellungsgespräche passen?“

„Doch, das sollte sich einrichten lassen, auch wenn mir schleierhaft ist, wie die Bediensteten die Bengel bis dahin im Zaum halten wollen. Jetzt, da der Rest der Familie auf dem Lande weilt, sind nur noch mein Kammerherr, ein Hausdiener und die Hilfsköchin im Haus. Bis Dienstag dürften die Zwillinge sie allesamt um den Verstand gebracht haben.“

„Du könntest dich zur Abwechslung auch mal selbst um deine Sprösslinge kümmern. In der sitzungsfreien Zeit dürfte dein Mandat dich wohl nicht so sehr beanspruchen.“

„Was nicht heißt, dass ich mir einfach freinehmen könnte.“ Jamie griff nach dem Brief seiner Söhne und steckte ihn ein. „Ab morgen bin ich für drei Tage bei einer von Windermeres Wochenendklausuren, wo wir meine Gesetzesvorlage zum Bildungswesen ausarbeiten wollen. Colonel Forrester besteht auf Änderungen, ohne die er uns seine Zustimmung verweigern wird. Und danach muss ich für ein paar Wochen nach York und …“

„Sowie das Parlament nicht tagt, reist du kreuz und quer durchs Land. Das dürfte mit ein Grund sein, warum deine Jungen ständig über die Stränge schlagen.“

„Auf deine weisen Ratschläge kann ich verzichten, Rex, aber wenn du, bevor du mit Clara in die Flitterwochen aufbrichst, noch ein gutes Werk tun willst, kannst du mir gern dabei helfen, einen Hauslehrer zu finden – da würdest du dich wirklich nützlich machen.“

Damit setzte er seinen Hut auf, nickte dem Freund zum Abschied zu und wandte sich zum Gehen.

Amanda senkte den Blick schnell wieder auf ihre Anzeige und tat, als sei sie tief in die Lektüre der wenigen Zeilen versunken, als er, ohne sie im Geringsten zu beachten, an ihr vorbeiging. Ich könnte mich auf diese Stelle bewerben, dachte sie, kaum dass die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte. Wenn ich nur ein Mann wäre.

Nur leider konnten Frauen keine Hauslehrerinnen sein – schon gar nicht für Jungen. Es gehörte sich einfach nicht. Und von den gesellschaftlichen Konventionen einmal abgesehen, war sie wenig gewillt, sich erneut ins Visier eines Witwers zu begeben, selbst dann nicht, wenn dieser noch tief zu trauern und keinerlei Interesse an irgendwelchen Avancen zu haben schien. Zudem hatte der fragliche Witwer klargestellt, dass er nicht glaube, eine Frau könne seiner Söhne Herr werden, was wiederum hieß, er würde sie ohnehin nicht einstellen.

Hinter sich hörte sie Galbraiths Schritte näher kommen, und Amanda schreckte aus ihren Überlegungen hoch.

„Verzeihen Sie, dass ich Sie so lange habe warten lassen“, meinte er und blieb neben ihr stehen, als sie den Stuhl zurückschob und aufstand.

„Keine Ursache, Mylord.“ Amanda reichte ihm den Zettel mit ihrer Anzeige mitsamt des geliehenen Bleistifts und griff nach ihrer Handtasche. „Einen Halfpenny pro Wort hatten wir vereinbart, nicht wahr? Für drei Tage?“

Als er nickte, öffnete sie ihre Geldbörse und zählte den Betrag ab. „Wäre es möglich, die Annonce in die nächsten drei Ausgaben des London Daily Standard zu setzen?“, fragte sie und gab ihm das Geld.

„Natürlich.“ Er warf einen Blick auf das Blatt in seiner Hand und sah dann wieder sie an. „Wenn Sie ein Mann wären, hätte ich bei Ihrer Ausbildung schon die passende Stelle für Sie“, meinte er lächelnd. „Schade, dass Frauen nicht Hauslehrer werden können.“

„Allerdings“, sagte sie aus tiefstem Herzen und wandte sich ab. „Sehr schade.“

Bis Amanda ihre Unterkunft in Bloomsbury erreichte, war es fast schon dunkel. Zum Glück war ihre Straße gut beleuchtet, das Haus respektabel und ihre Zimmerwirtin freundlich und entgegenkommend. Aber wenn sie nicht bald Arbeit fände, würde sie sich ein billigeres Quartier suchen müssen, was dunklere Straßen und eine schlechtere Gegend bedeutete.

Sie versuchte nicht daran zu denken, als sie das Haus betrat und an der Tür zum Wohnzimmer kurz stehen blieb, um ihrer Zimmerwirtin Mrs. Finch einen guten Abend zu wünschen. Dann stieg sie die fünf Stockwerke hinauf zu ihrer kleinen Wohnung unter dem Dach. Durch das einzige Fenster fiel gerade noch so viel Tageslicht herein, dass sie Lampe und Streichhölzer fand, ohne lange herumtasten zu müssen. Doch als dann heller Lichtschein das kleine Zimmer erfüllte, entmutigte sie der Anblick des spärlichen Mobiliars und der abgenutzten Teppiche gar noch mehr, als sie es ohnehin schon war.

Jahre des Studiums und ein erstklassiger Abschluss, auf den ich viel Arbeit und Energie verwandt habe, dachte sie, während sie Hut und Mantel ablegte. Und was habe ich damit angefangen? Weggeschmissen für die Liebesschwüre eines poetisch veranlagten Aristokraten, dessen Verse dann letztlich doch mehr taugten als sein Charakter.

Papa wäre so enttäuscht von ihr.

Ihr Herz krampfte sich zusammen, und Amanda schob den Gedanken an ihren Vater schnell wieder beiseite, denn es schmerzte einfach zu sehr, sich immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass sie alles, was er für sie getan hatte, achtlos fortgeworfen hatte. Sie hängte Hut und Mantel an die Garderobenhaken neben der Tür und zog dann auch ihre Jacke aus, wobei ihr auffiel, dass der mittlere Knopf sich gelöst hatte.

Damit sie es nicht vergaß, wollte sie ihn besser gleich annähen und ging hinüber zum Waschtisch, schob die Schüssel und den Krug aus cremefarbenem Porzellan beiseite und breitete die Jacke auf der grünen Marmorplatte aus. Sie bückte sich nach ihrem Nähkörbchen, doch als sie sich wieder aufrichtete, fiel ihr Blick auf ihr Spiegelbild und ließ sie innehalten. Wenn sie das Gesicht, das ihr da entgegensah, so betrachtete, konnte sie sich beim besten Willen nicht erklären, was an ihr war, das erst die Leidenschaft eines jungen empfindsamen Gentlemans geweckt hatte und dann die eines gesetzten Bankiers in mittleren Jahren. Zumal sie keinen der beiden ermutigt hatte.

Meine Haare dürften es wohl kaum sein, die mich zur Verführerin wider Willen machen, dachte sie und zog eine Grimasse. Zwar hatte sie ihre Mähne störrischer schwarzer Locken heute Morgen mit Haarnadeln und Kämmen gebändigt, aber dank des feuchten Wetters kringelten sie sich nun auf eine Weise, die sie doch sehr an das Fell eines Pudels erinnerte.

Amanda seufzte und wandte sich wieder ihrem Gesicht zu.

Hässlich war es nicht, keineswegs, aber es schien ihr auch nicht sonderlich verführerisch. Kurze Wimpern, gerade Nase, energisches Kinn, markanter Kiefer, mit anderen Worten: ein ziemlich durchschnittliches Gesicht. Nichts daran schien ihr auffällig oder gar lasziv. Unter schwarzen Brauen, die zu gerade waren, als dass man sie noch anmutig hätte nennen können, schaute ihr ein Paar grünbrauner Augen entgegen, in denen zwar durchaus kleine goldene Sprenkel aufschimmerten, aber an das Licht der Sonne in den Tiefen des Waldes erinnerte es nun nicht gerade. Auf gar keinen Fall blickte ihr hier das Gesicht einer Verführerin entgegen, der man ein Haus in diskreter Nachbarschaft, Geld und Geschmeide geboten hatte, aber keinen Ehering.

Sie stellte das Nähkörbchen ab und sah an sich hinab, auch wenn sie wusste, dass ihre Figur wohl kaum des Rätsels Lösung sein konnte. Zum einen war sie größer als so mancher Mann, ihren einstigen Geliebten und ihren einstigen Dienstherrn eingeschlossen. Zum anderen wollte ihre Taille – oder das, was sich als solche ausgab – sich einfach nicht in die modische Wespenform bringen lassen, so eng sie ihr Korsett auch schnürte. Und ihre Kleider dürften auch kaum begehrliche Blicke auf sich ziehen, denn sie kleidete sich schlicht und bescheiden, fast schon prüde. Ein schwarzer Rock zur weißen, hoch geschlossenen Bluse, ein gerüschtes Jabot, eine Brosche aus Elfenbein. Kurzum, die übliche Aufmachung einer ganz und gar durchschnittlichen Frau aus dem Bürgertum.

Aufmachung.

Das Wort brachte etwas in ihr zum Klingen, und Amanda betrachtete sich plötzlich mit ganz anderen Augen. Ihre Haare, der Rock, das Korsett, die Brosche – das waren alles Äußerlichkeiten! Doch indem sie sich so zurechtmachte, setzte sie sich Gefahren aus, mit denen Männer sich wohl kaum konfrontiert sahen. Wäre sie ein Mann gewesen, hätte sie weder ihre Stelle verloren noch würde eine Affäre sie ruiniert haben. Sie wäre nicht von ihrem Dienstherrn bedrängt worden. Von Männern erwartete man ja geradezu, dass sie ein gesundes körperliches Verlangen hatten, man gestand ihnen Affären und Liebschaften zu. Bei Frauen, das hatte sie selbst nur zu schmerzlich erfahren, verhielt es sich anders.

Ihre Kleidung gab sie nicht bloß auf den ersten Blick als Frau zu erkennen, sondern wies ihr damit auch ihren Platz in der Welt zu, und solange sie eine Frau war, würde sie aus eigener Kraft nur wenig daran ändern können. Ihre Affäre mit Lord Halsbury war ein dummer Fehler gewesen, aber selbst wenn sie sich diesen Fehler nicht geleistet hätte, wären die Möglichkeiten, die das Leben ihr bot, immer noch deutlich beschränkter gewesen als die eines Mannes. Sie konnte noch so klug, noch so gebildet sein, sie konnte sich noch so sehr anstrengen, es würde nie reichen, denn an der Tatsache, dass sie eine Frau war, konnte sie ebenso wenig ändern wie daran, dass die Gesellschaft Frauen als zweitklassig ansah.

Schade, dass Frauen nicht Hauslehrer werden können.

Viscount Galbraiths Worte hallten wie ein fernes Echo in ihr wider, während sie sich im Spiegel betrachtete. Nur ein Mann konnte die wirklich anspruchsvollen Fächer unterrichten. Nur ein Mann, dachte sie und berührte mit einer Hand ihr Haar, ist vor den Avancen seines Dienstherrn sicher.

Nur ein Mann …

Plötzlich begann Amanda, alle Haarnadeln und Kämme herauszuziehen. Die Hände zitterten ihr, als ihre rabenschwarzen Locken ihr Strähne um Strähne über die Schultern fielen. Sie schüttelte ihr Haar aus und warf die Nadeln und Kämme vor sich auf den Tisch, und wie sie über die kalte Marmorplatte klimperten, überkam sie auf einmal das seltsam befreiende Gefühl, ihre Ketten abgeworfen zu haben.

Dann richtete sie ihr Augenmerk wieder auf den Spiegel, fasste sich ein Herz und griff in den Nähkorb. Doch hier hielt sie inne, und ihr Mut drohte sie zu verlassen.

Sieh nur, wie du ausschaust!, rief sie ihrem Spiegelbild in stummer Ermunterung zu. Wie eine Vogelscheuche. Du hast deine Haare doch nie gemocht.

Außerdem war sie ruiniert, rief sie sich in Erinnerung. Ruiniert und nahezu mittellos. Im Grunde hatte sie nichts mehr zu verlieren. Sie konnte es sich nicht leisten, jetzt wegen ihrer Haare sentimental zu werden.

Amanda atmete tief durch und griff zur Schere.

2. KAPITEL

Alle Welt wusste, dass James St. Clair, einst Zweitgeborener des Marquess of Rolleston, immer schon das schwarze Schaf der Familie gewesen war und vom Tag seiner Geburt an nichts als Ärger gemacht hatte. Bereits als Kind war ihm vom Vater prophezeit worden, dass aus ihm nichts werden würde, und er hatte seine gesamte Jugend darauf verwandt, den Worten des alten Herrn gerecht zu werden. Noch ehe er zwanzig war, hatte man ihn sowohl von Harrow als auch aus Cambridge verwiesen – und nur dank eines väterlichen Machtwortes wieder aufgenommen –, ihm sowohl im White’s als auch im Boodle’s Hausverbot erteilt, und sein Vater hatte ihn sicher ein halbes Dutzend Male enterbt. Nach seinem Studium schien es ihm das Vernünftigste, die genossene Bildung bestmöglich zu verschleudern, indem er zechend und ausschweifend durch sämtliche Wirtshäuser zog, die London von South Kensington bis Spitalfields zu bieten hatte, und sich in jeder Form des Glücksspiels hervortat.

Doch mit einundzwanzig sollte ihm, den düsteren Prophezeiungen seines Vaters zum Trotz, ein veritabler Erfolg vergönnt sein. Jamie gewann die Hand von Lady Patricia Cavanaugh, der Schwester des Duke of Torquil, die im Jahr ihres Debüts als Fang der Saison galt, und durch die Heirat mit ihr fand der missratene Sohn schließlich Gnade vor den Augen des Marquess.

Was einer gewissen Ironie nicht entbehrte, war es ihm doch nie darum gegangen, vor dem Alten gut dazustehen. Sein Vater war ein ausgemachter Mistkerl, und wenn für Jamie bei der Wahl seiner Braut Rollestons Wünsche eine Rolle gespielt hätten, würde er wohl eine Revuetänzerin geheiratet haben, um dem alten Bastard so richtig eins auszuwischen. Dass er sich in die Schwester eines Dukes verliebt hatte, geschah ohne jede Absicht, doch Pat zuliebe verordnete er sich fortan einen gesitteteren Lebenswandel. Und nachdem sie ihm Zwillinge geschenkt hatte, schwor Jamie sich, seinen Söhnen ein anderer, ein besserer Vater zu sein als der grausame, bösartige Mann, der ihn gezeugt hatte.

Eine Dekade später jedoch lag seine geliebte Pat bereits seit drei Jahren unter der Erde, und ohne sie fühlte Jamie sich abermals so leer und verloren wie damals, ehe sie in sein Leben getreten war. Und seinem Vorhaben zum Trotz, es besser zu machen als sein Vater, erwiesen sich seine Söhne doch als ebenso wilde und unbändige Rangen, wie Jamie es in ihrem Alter gewesen war. Und wenn er sich das jüngste Gemetzel im Kinderzimmer so anschaute, kam ihm gar die Befürchtung, sie könnten noch schlimmer sein.

„Woher zum Henker haben sie die rote Farbe?“, wollte er von Samuel wissen, der sich mit einem Putzlappen und einer Dose Terpentin nützlich zu machen versuchte. „Nach der Geschichte mit Nanny Hornsby und dem Frosch hätten sie die ganze Woche Stubenarrest haben sollen und meines Wissens stehen hier oben keine Farbtöpfe herum.“

„Es tut mir furchtbar leid, Sir“, brach es schuldbewusst aus dem Diener heraus. „Ich war natürlich hier, um ein Auge auf sie zu haben, aber dann hat es unten geläutet, und Mrs. Richmond war gerade zum Metzger gegangen, weshalb ich selbst nach unten und zur Tür ging. Es war Lady Tattinger, die sich nur nach der Duchess erkundigen wollte. Ich sagte ihr, dass ihre Gnaden bereits die Stadt verlassen hätte, aber Sie wissen ja, wenn die Baroness einmal anfängt zu reden, ist kein Halten mehr, und ich konnte ihr ja schlecht die Tür vor der Nase …“

„Ja, ja, schon gut“, kürzte Jamie die endlose Geschichte ab und zeigte auf die roten Pinselstriche, die in langen kleckernden Rinnsalen über die weiß verputzten Wänden liefen. „Aber die Farbe, Samuel, woher haben sie die Farbe?“

„Nun, ich fürchte, die habe ich ihnen gegeben. Sie wollten, wenn ihr Stubenarrest vorbei wäre, unbedingt Minigolf spielen“, fuhr er hastig fort, ehe Jamie ihn erneut unterbrechen konnte. „Doch als ich das Spiel vom Speicher holte, sah ich, dass die Farbe der Zahlen ganz abgeblättert und verblichen war, und so schlug ich den beiden vor, die Törchen neu zu bemalen. Verstehen sie, Sir, dann wären sie beschäftigt gewesen, und solange sie etwas Sinnvolles zu tun haben, machen sie auch keinen Ärger. Aber wir hatten kaum angefangen, als es klingelte und ich nach unten gegangen bin … Ich war wirklich nicht lange fort, ein paar Minuten vielleicht … Wie hätte ich denn … hätte niemals gedacht …“, stammelte er und wirkte auf einmal viel jünger als seine fünfundzwanzig Jahre. Schließlich gab er sich einen Ruck und straffte die Schultern. „Soll ich meine Sachen packen, Sir?“

„Sie glauben, ich will Sie hinauswerfen?“, fragte Jamie bestürzt. „Du liebe Güte, nein! Mit den beiden Jungs brauche ich jede Hilfe, derer ich habhaft werden kann. Keine Sorge, Samuel, Ihre Stelle ist Ihnen sicher.“

Der Diener schien über diese Nachricht nicht ganz so erleichtert zu sein, wie man hätte meinen sollen. „Danke, Sir.“

„Und was diese Schweinerei angeht, so sparen Sie sich die Mühe. Das sollen die Schlingel selber sauber machen, es scheint mir nur eine gerechte Strafe zu sein.“

„Wenn Sie mir die Bemerkung verzeihen, Sir, aber ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, ihnen Terpentin an die Hand zu geben. Nach dem Feuerwerk im Salon …“

Den Rest ließ der Diener unausgesprochen, aber es reichte schon, um vor Jamies Augen einen zweiten Großbrand von London heraufzubeschwören. „Da haben Sie natürlich recht“, pflichtete er flugs bei. „Dann kümmern Sie sich um einen Maler, der das Ganze in Ordnung bringt.“

„Ja, Sir. Danke, Sir.“

„Wo sind die Jungs jetzt?“ Jamie schaute zur Tür, die zu den Schlafräumen führte. „Auf ihren Zimmern?“

„Oh nein, Sir. Ich wollte sie hier oben nicht dabeihaben.“ Samuel wedelte mit dem Lappen durch die Luft. „Wegen der Dämpfe.“

„Gewiss“, musste Jamie ihm erneut beipflichten und wich unwillkürlich zurück, als der beißende Geruch des Terpentins ihm in die Nase stieg. „Dann hat Hoskins vermutlich ein Auge auf sie?“

„Nein, Sir. Die Sache ist nämlich die, äh … Mr. Hoskins ist … er … ah …“

Der Diener hielt in seinem Stammeln inne, und Jamie fühlte sich von diesem schuldbewussten Herumdrucksen auf eine harte Probe gestellt. „Herrgott nochmal, Samuel, Sie wollen mir doch nicht etwa sagen, dass auch mein Kammerdiener das Weite gesucht hat?“

Das Schweigen des Dieners war ihm Antwort genug.

„Was haben sie ihm diesmal angetan?“, wollte Jamie wissen. „Wieder Juckpulver? Oder ein Abführmittel im Tee?“

„Mylord, ich glaube nicht, dass es etwas war, das die Jungen ihm getan haben. Zumindest nichts Bestimmtes. Soweit ich weiß, hat Mr. Hoskins Ihnen auch eine Nachricht hinterlassen, worin er seine Gründe vermutlich darlegt.“

„Auf seine Erklärung kommt es nicht an. Wir wissen beide, warum er gegangen ist.“ Samuel, so stellte er etwas konsterniert fest, versuchte nicht, dieser Behauptung zu widersprechen. „Dann sind die Jungs bei Mrs. Richmond?“

„Ja, Mylord. Ich bat sie, den beiden ihr Abendbrot in der Küche zu servieren. Hier oben zu essen, wäre dem Appetit doch etwas abträglich.“

Jamie warf einen Blick auf die grausig verschandelten Wände und war froh, dass Torquil nicht hier war und Zeuge dieses jüngsten Übergriffs auf die herzogliche Stadtresidenz wurde. „Verdient hätten sie es.“

„Das mag sein, aber es wäre nicht gut für ihre Gesundheit.“

In Anbetracht der von Terpentindämpfen geschwängerten Luft musste Jamie ihm erneut recht geben. „Dann werden sie heute Nacht wohl auch nicht hier schlafen können. Am besten richten Sie schon mal eines der anderen Zimmer her.“

„Wird gemacht, Sir. Und was haben Sie jetzt vor? Mit den Jungen, meine ich.“

„Stimmt, irgendetwas werde ich tun müssen“, murmelte er und sah der Aussicht mit ähnlicher Vorfreude entgegen wie Besuchen beim Zahnarzt. „Was genau, kann ich noch nicht sagen, scheint jede Strafe doch ihre Wirkung zu verfehlen.“ Er überlegte einen Moment, dann schluckte er seinen Stolz hinunter und rang sich ein Lächeln ab. „Sie kennen meine Söhne doch fast besser als ich, Samuel. Wenn Sie einen Vorschlag hätten, wäre ich Ihnen sehr verbunden.“

Der Diener hob die Schultern und ließ sie in einer hilflosen Geste wieder sinken, die aber doch mehr sagte als alle Worte.

Jamie wunderte es nicht. „Na gut“, seufzte er, „dann will ich Sie nicht länger aufhalten.“

Er verließ das Kinderzimmer und ging hinunter in die Küche, wo die Zwillinge gerade mit dem ihnen eigenen Heißhunger Kalbspastete, Schottische Eier und Teekuchen verdrückten und, wie er kummervoll feststellte, nicht einen Hauch von schlechtem Gewissen zeigten, dass sie die Wände des Kinderzimmers verunstaltet und binnen vierundzwanzig Stunden gleich zwei Bedienstete vergrault hatten.

Entschlossenen Schrittes betrat er die Küche, und beim Klang seiner Stiefel schauten beide von ihrem Essen auf. Ein Blick in seine Miene genügte, schon fielen die Gabeln klirrend auf halb leergeputzte Teller, und vorbei war es mit der fröhlichen Unbekümmertheit.

„Guten Abend, Gentlemen“, sagte er in strengem Ton und verschränkte die Arme. „Wie ich höre, hattet ihr einen sehr geschäftigen Tag, habt Briefe an die Zeitung geschrieben …“

„Woher weißt du das mit der Zeitung, Papa?“, fiel Colin ihm ins Wort.

„Unterbrich mich nicht“, wies Jamie ihn zurecht, denn auf Ablenkungsmanöver hatte er nun wahrlich keine Lust. „Ich weiß davon, weil ich alles erfahre, was ihr zwei so anstellt. Ich weiß von den Fröschen, die ihr der armen Mrs. Hornsby in die Hutschachtel gesetzt habt – was dann auch der Grund war, warum sie gekündigt hat. Ich weiß von der Schweinerei, die ihr oben an den Wänden des Kinderzimmers veranstaltet habt. Und ich weiß, dass euer schlechtes Betragen mich jetzt auch noch meinen Kammerdiener gekostet hat.“

Sie ließen die Köpfe hängen, aber so sehr er auch glauben wollte, dass die gezeigte Reue echt war, hatte Jamie dergleichen doch schon zu oft erlebt, um nicht zu wissen, dass der Wunsch hier Vater des Gedankens war. Er seufzte still und trat zu den zwei Missetätern an den Tisch.

Im Vorübergehen nickte er Mrs. Richmond zu, die am Herd stand, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich seinen Söhnen gegenüber. Bis jetzt hatte er keinen blassen Schimmer gehabt, was er sagen oder tun sollte, aber als er jetzt ihre reuig geneigten Köpfe betrachtete, kam ihm einzig der Gedanke, wie sehr ihre roten Haarschöpfe doch dem ihrer Mutter glichen und um wie viel besser Pat mit den Jungs umzugehen gewusst hatte.

„Ist euch beiden bewusst, was ihr getan habt?“, fragte er schließlich, und weil das selbst in seinen eigenen Ohren zu nichtig und dumm klang, setzte er nach: „Wisst ihr, welchen Ärger ihr euch damit eingehandelt habt?“

Die beiden nickten, aber weil sie weder zu ihm aufschauten noch etwas erwiderten, wusste Jamie einmal mehr nicht weiter.

Irgendeine Strafe würde er verhängen müssen. Er dachte zurück an seine Kindheit und die ungezählten Male, die er ins Arbeitszimmer seines Vaters zitiert worden war, daran, wie er vornüber gebeugt dagestanden hatte, die Zähne zusammengebissen und den Blick auf den Boden geheftet, und nur das Knallen der Weidengerte im Zimmer zu hören gewesen war. Er hatte als Kind die körperliche Bestrafung schmerzlich gekannt und beabsichtigte nicht, seinen Söhnen anzutun, was er so grausam am eigenen Leibe erfahren musste. Aber was blieb sonst? Was blieb, was er nicht längst probiert hatte?

Plötzlich ergriff ein Gefühl völliger Unzulänglichkeit von ihm Besitz. Unzulänglichkeit und Verzweiflung.

Ich schaffe das nicht, Pat, dachte er. Ich schaffe das nicht ohne dich.

Doch noch während er dies dachte, wurde ihm bewusst, dass ihm keine andere Wahl blieb. „Warum?“, fragte er und versuchte Zeit zu schinden, in der ihm vielleicht doch noch ein Geistesblitz käme, irgendeine Idee, die über die Methoden seines Vaters und seine eigenen gescheiterten Versuche der Disziplinierung hinausgingen. „Was habt ihr euch dabei gedacht? Warum habt ihr die Wände des Kinderzimmers verschandelt?“

„Wir haben überhaupt nichts verschandelt“, murmelte Owen, ohne den Blick von seinem Teller zu heben. „Wir wollten sie bloß anmalen.“

„Aber warum?“

„Weil sie dann rot wären, Papa“, sagte Colin, als sei damit alles erklärt. Und als Jamie darauf nichts erwiderte, denn er wusste ehrlich nicht, was er sagen sollte, schaute Colin schließlich auf. Tränen schimmerten in seinen blauen Augen. „Weil Rot Mamas Lieblingsfarbe war.“

Und noch ehe er sich dagegen wehren konnte, schoss Jamie eine Erinnerung durch den Kopf, die Erinnerung daran, wie Pat sich für einen Ball zurechtmachte. Fünf, sechs Jahre musste es her sein und eigentlich war nichts Besonderes daran gewesen, aber noch immer konnte er sich an jedes noch so kleine Detail jenes Abends erinnern. Das rote Kleid, in dem sie einfach umwerfend aussah, ihre kupferroten Locken, die im Schein der Lampe schimmerten, ihr verschmitztes sommersprossiges Gesicht, als sie ihm über die Schulter einen Blick zuwarf, ihr ausgelassenes Lachen über die verdrießliche Bemerkung der Dienerin, dass Rothaarige kein Rot tragen sollten.

Ich bitte Sie, Parker, wissen Sie denn noch immer nicht, dass ich niemals das tue, was man von mir erwartet?

Der Schmerz bohrte sich wie ein Messer in sein Herz. Jamie sprang auf und wollte nur noch weg. „Na gut, aber macht so etwas nie wieder, ja?“, meinte er und wandte sich rasch ab, ehe einer der Zwillinge merkte, was in ihm vorging. Sie hatten schon genug durchgemacht; sie mussten nicht auch noch seinen Schmerz mit ansehen.

Er ging zum Herd, wo Mrs. Richmond gerade Würstchen im Teigmantel auf zwei Teller verteilte, und versuchte sich wieder halbwegs zu fassen. „Samuel meinte, mein Kammerdiener habe den Dienst quittiert. Hat er ein Kündigungsschreiben hinterlassen?“

„Das hat er, Mylord.“ Sie legte ihren Kochlöffel beiseite, zog den Brief aus ihrer Schürzentasche und reichte ihn Jamie.

Er las sich durch, was Hoskins ihm mitzuteilen hatte, und auch wenn die Zwillinge nicht ausdrücklich als Kündigungsgrund genannt waren, so konnte Jamie sich doch des Verdachts nicht erwehren, dass der Wunsch seines ehemaligen Kammerdieners nach einer Stelle, die ihm regelmäßige Reisen auf den Kontinent ermögliche, lediglich ein Vorwand war.

„Wie Sie wissen, Mrs. Richmond“, sagte er, während er den Brief wieder zusammenfaltete und einsteckte, „werde ich morgen nach Kent zu Lord Windermere fahren und über das Wochenende dort bleiben. Kann ich, nachdem Nanny Hornsby uns verlassen hat, darauf zählen, dass Sie Samuel zur Seite stehen und sich während meiner Abwesenheit um die Jungen kümmern werden?“

„Natürlich, Mylord“, antwortete sie, wenn auch alles andere als begeistert.

Jamie konnte wohl kaum zimperlich sein; jede Form der Zustimmung kam ihm nur recht. „Danke“, sagte er und wandte sich erleichtert zum Gehen. Weit kam er allerdings nicht.

„Mylord?“

Wie ertappt blieb er stehen und sah sich kurz um. „Ja?“

„Wann …“ Sie räusperte sich. „Wann, wenn Sie die Frage entschuldigen, wäre mit einem neuen Kindermädchen zu rechnen?“

Jamie wandte den Kopf in die andere Richtung und fand die bangen Blicke seiner Söhne auf sich gerichtet.

„Ich werde kein weiteres Kindermädchen mehr einstellen“, sagte er, wieder an die Köchin gewandt, während hinter ihm erleichterte Jubelrufe ertönten.

Bei Mrs. Richmond löste diese Nachricht längst nicht dieselben Gefühle aus wie bei den Jungen. „Kein Kindermädchen mehr?“, murmelte sie und wurde ungewohnt blass um die Nase.

„Ich bin zu dem Schluss gelangt, dass uns mit einem Hauslehrer besser gedient ist. Ein richtig strenger Schulmeister“, setzte er nach und hörte mit Genugtuung, wie die Freudenschreie seiner Söhne kleinlauter Stille wichen. „Ein Mann von Zucht und Ordnung, dem ich freie Hand lassen werde. Bei ihm werden meine Söhne schon spuren, da können Sie ganz unbesorgt sein, Mrs. Richmond. Am Dienstag werden sich einige Kandidaten vorstellen, und ich bin sehr zuversichtlich, bis zum Abend jemanden gefunden zu haben.“

„Am Dienstag?“ Die Köchin schluckte. „Warum denn erst am Dienstag?“

„Weil ich vorher nicht da bin, Mrs. Richmond. Und es sind ja bloß noch vier Tage.“

„Vier Tage können sehr lang sein, Mylord.“

„Wir werden einfach das Beste daraus machen müssen.“

Und damit wandte er sich nun endgültig zum Gehen, aber ehe er durch die Tür war, hörte er noch, was Mrs. Richmond ihm leise grummelnd hinterherschickte – und es konnte kein Zweifel daran sein, dass es für seine Ohren bestimmt war.

„Sie haben gut reden! Sie sind ja nicht da. Sie sind nie da.“

Die meisten Männer hätten einer Bediensteten eine solche Unverschämtheit wohl kaum durchgehen lassen, aber Jamie konnte sich diesen Luxus nicht leisten. Er brauchte jede Hilfe, die er kriegen konnte. Außerdem hatte er noch nie viel davon gehalten, jemanden dafür abzustrafen, dass er die Wahrheit sagte.

Für Jamie erwiesen sich die nächsten Tage als ausgesprochen produktiv. In der ländlich entspannten Atmosphäre, die Gespräche aufgelockert von geselligem Forellenfischen und der Moorhuhnjagd, hatte Colonel Forrester sich schließlich erweichen lassen, für Jamies Gesetzesvorlage zu stimmen, sowie die neue Sitzungsperiode begann.

Da Colonel Forrester beileibe nicht der einzige Gast Lord Windermeres war, konnte Jamie ein recht abwechslungsreiches Wochenende verbringen, das ihm willkommene Erholung bot von seinem erdrückenden Arbeitspensum, auch wenn er sich während der drei Tage keinerlei Illusionen hingab, Samuel und Mrs. Richmond könnte eine ähnlich erfreuliche Pause vergönnt sein. Bei seiner Rückkehr am Montagnachmittag stellte er erleichtert fest, dass seine zwei verbliebenen Bediensteten seine Abwesenheit immerhin nicht dazu genutzt hatten, sich ebenfalls aus dem Staub zu machen.

Dennoch wollte Jamie sein Glück nicht überstrapazieren. Gleich nach seiner Rückkehr wandte er sich an die einschlägigen Stellenvermittlungen und verbrachte den ganzen Dienstag damit, Gespräche mit den aussichtsreichsten Bewerbern zu führen. Eigentlich hatte er noch am selben Tag einen Hauslehrer einstellen wollen, aber am späten Nachmittag begann er zu fürchten, sein Plan könne etwas unrealistisch gewesen sein.

Trotz der von Galbraith geschalteten Zeitungsannonce und den Bemühungen der diversen Agenturen fanden sich nur zwölf Kandidaten zum Vorstellungsgespräch ein, was einmal mehr zeigte, dass seine Söhne sich bereits einen gewissen Ruf erworben hatten. Und als sei das nicht schon schlimm genug, fand Jamie unter den Kandidaten nicht einen, den er auch nur in die engere Wahl gezogen hätte.

Manche wirkten so schüchtern und verzagt, dass der Gedanke, sie hinauf zu den Zwillingen zu schicken, ihm vorkam, als würde man arglose Lämmer zur Schlachtbank führen. Andere waren zu alt und gebrechlich, um mit seinen lebhaften Söhnen mithalten zu können, und wieder andere erinnerten ihn zu sehr an seinen Vater, als dass die Vorstellung ihm behagte, ihnen seine Söhne anzuvertrauen. Einer beschrieb seine Lehrmethoden gar in so drastischer Weise, dass es Jamie bei dem Gedanken graute, ihn überhaupt jemals in der Nähe von Kindern zu wissen.

Blieben noch jene, die so dröge und langweilig waren, dass sie selbst einen Toten hätten einschläfern können.

„Lord Kenyon?“

Autor

Laura Lee Guhrke
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