Lady Truelove und der adlige Schuft

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Die junge Miss Clara Deverill ist verzweifelt: Solange ihre Schwester auf Reisen ist, muss sie als "Lady Truelove" deren Ratgeberkolumne in der "Weekly Gazette" übernehmen. Dabei sind Herzensangelegenheiten ihr doch ein Rätsel, unscheinbar und unerfahren, wie sie ist! Da belauscht sie in einem Teesalon ein Gespräch: Der berüchtigte Viscount of Galbraith erklärt einem Freund, wie er dem Ehejoch entkommen kann. Empört über seinen Rat, schreibt sie darüber eine Kolumne. Sehr zum Ärger des Viscounts, der wütend ins Verlagsgebäude stürmt und Lady Truelove zu sprechen verlangt! Plötzlich findet Clara sich in einem gefährlichen Ränkespiel wieder …


  • Erscheinungstag 12.07.2019
  • Bandnummer 114
  • ISBN / Artikelnummer 9783733758660
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Im Alter von zweiundzwanzig Jahren entdeckte Clara Deverill eine Schwäche an sich, von der sie bis dahin nichts geahnt hatte.

Nicht etwa ihre Schüchternheit, denn mit diesem Wesenszug war sie vertraut, weil sie sich täglich damit herumschlagen musste.

Auch handelte es sich nicht um ihr unscheinbares Äußeres. Längst hatte sie sich damit abgefunden, dass braunes Haar, ein rundliches Gesicht und eine sommersprossige Stupsnase keine Merkmale waren, die den Puls eines Mannes in die Höhe schnellen ließen. Vor allem nicht, wenn sie durch eine Figur ergänzt wurden, die eher einem jungen Mädchen als einer erwachsenen Frau entsprach.

Und ganz gewiss waren es nicht ihre traditionellen Ansichten und Wertvorstellungen. Zwar zog ihre forsche, sehr modern eingestellte Schwester Irene sie oft wegen ihrer hoffnungslos altmodischen Anschauungen auf, aber die meisten Menschen – darunter Clara – erachteten den Wunsch, einen guten Mann zu finden, zu heiraten und Mutter zu werden als durchaus erstrebenswertes Lebensziel.

Nein, gestand Clara sich ein, während sie den Blick betrübt über den Briefstapel auf ihrem Schreibtisch gleiten ließ, mein größter Makel ist Saumseligkeit. Erst vor zehn Tagen war sie auf diese beklagenswerte Facette ihres Charakters aufmerksam geworden.

Sie stützte einen Ellbogen auf den Schreibtisch und starrte, das Kinn in die Hand gelegt, das Telegramm an, das zuoberst auf dem Stapel lag. Sie hatte es so oft gelesen, dass sie es auswendig kannte.

froh dass papa wohlauf. haben viel spaß. wollen reise um acht wochen verlängern um griechenland und ägypten zu sehen. kannst lady truelove allein bewältigen nicht wahr? keine sorge schatz. wirst das großartig machen. melde dich bis zum 7. mai über cook in venedig. irene

Es freute Clara, dass ihre Schwester die Flitterwochen genoss, aber ihre Begeisterung für Irenes Plan, die Reise zu verlängern, hielt sich in Grenzen. Denn hier zu Hause lief es keineswegs so reibungslos, wie Clara in ihren Briefen behauptet hatte.

Ihr Vater hatte immer schon dem Brandy zugesprochen, und dies umso mehr, seit seine älteste Tochter auf den Kontinent gereist war. Was ihren Bruder Jonathan betraf, so hatte dieser versprochen, aus Amerika heimzukehren, um die Leitung des familieneigenen Zeitungsverlags zu übernehmen. Eigentlich hätte er bereits vor knapp zwei Monaten eintreffen sollen, war jedoch noch nicht aufgetaucht, und auf Claras schriftliche Nachfragen hatte er ausweichend geantwortet. Vor einigen Tagen hatte sie ihn per Telegramm aufgefordert, ihr ein konkretes Ankunftsdatum zu nennen, bislang war eine Reaktion ausgeblieben.

Mit alledem würde Clara ihre Schwester in den Flitterwochen jedoch nicht behelligen. Stattdessen hatte sie ihr sogleich per Antworttelegramm zugestimmt. Was sonst hätte sie tun sollen? Irene hatte sich stets um sie gekümmert und für sie gesorgt und niemals um eine Gegenleistung gebeten. Clara hätte sich eher einen Arm abgehackt, als ihr diese einmalige Reise zu verderben.

Während sie nun auf Irenes Telegramm und den Stapel an Korrespondenz blickte, musste sie einräumen, dass geschwisterliche Loyalität ihre Schattenseiten hatte. Die Lady-Truelove-Kolumnen, die Irene im Voraus verfasst hatte, reichten nur bis zu ihrer ursprünglich geplanten Rückkehr. Wenn sie die Reise verlängerte, würde es Clara obliegen, Londons Liebeskranken weise Ratschläge zu erteilen, bis Jonathan eintraf oder Irene wieder zu Hause war.

Keine Sorge, Schatz.

Diese Worte munterten Clara nicht im Mindesten auf. Irene hat leicht reden, dachte sie düster.

Ihre Schwester sorgte sich nie um irgendetwas, weshalb sollte sie auch? Sie war schön, tüchtig und strotzte vor Selbstbewusstsein. Nach dem Tod der Mutter vor zehn Jahren hatte sie den Haushalt übernommen und mit nichts als einem kümmerlichen Jahreseinkommen über Wasser gehalten. Sie hatte den heruntergewirtschafteten Zeitungsverlag der Familie wiedererstarken lassen, indem sie eine profitable Boulevardzeitung ins Leben gerufen hatte. In diesem Zusammenhang war auch Lady Truelove erschaffen worden, Londons gefragteste Ratgeberkolumnistin. Gekrönt hatte sie all diese Triumphe, indem sie den attraktiven Duke of Torquil ehelichte, eine überaus vorteilhafte Partie. Sobald sie nach England zurückkäme, würde sie sich mit dem gesellschaftlichen Einfluss einer Duchess für das Frauenwahlrecht einsetzen. Auch in dieser Hinsicht würde sie erfolgreich sein, daran hegte Clara keinerlei Zweifel. Irene hatte mit allem, was sie anpackte, Erfolg.

Wirst das großartig machen.

Würde sie das? Sie vermochte Irenes Vertrauen in ihre Fähigkeiten nicht zu teilen. Eine schüchterne, unscheinbare Frau, die stotterte, wenn sie nervös war, und noch nie den Blick eines Mannes auf sich gezogen hatte, konnte schwerlich Rat in Liebesdingen erteilen.

Genau dies war der Kern des Problems und der Grund dafür, dass sie den Briefstapel am Rand ihres Schreibtischs seit mehr als einer Woche nicht angerührt hatte. Allmählich lief ihr die Zeit davon; sie konnte es sich nicht leisten, die Sache länger hinauszuzögern.

Sie hielt sich vor Augen, was Irene alles für sie getan hatte, atmete tief durch, schob das Telegramm beiseite und griff nach dem obersten Brief des Stapels.

Ein Klopfen an der Tür ließ sie innehalten, und widersinnigerweise verspürte sie Erleichterung. Die währte allerdings nur kurz und verpuffte, sobald die Tür aufging und Mr. Beale in ihr Büro trat.

Augustus Beale war der Redakteur der Weekly Gazette. Vor ihrer Heirat hatte Irene als Redakteurin und Herausgeberin fungiert, aber bevor sie in die Flitterwochen aufgebrochen war, hatte sie Mr. Beale für die redaktionellen Aufgabenbereiche eingestellt – ein so überraschender wie untypischer Missgriff ihrerseits, wie sich alsbald herausstellte. Denn trotz seiner immensen Erfahrung sowie diverser Empfehlungsschreiben war Augustus Beale, zumindest in Claras Augen, ein widerwärtiger Mensch. Und momentan wirkte er auch noch höchst aufgebracht.

„Miss Deverill.“ Er presste ihren Namen hervor, als kostete ihn dies Mühe. „Hat sich Ihr Bruder inzwischen angekündigt?“

Diese Frage stellte er täglich, und immer gab sie ihm dieselbe Antwort, wobei sie versuchte, unbeschwert zu klingen. „Leider nicht. Aber“, fügte sie hinzu und drückte unter der Schreibtischplatte die Daumen, „bestimmt wird er im Laufe der nächsten Tage eintreffen. Kann ich Ihnen bis dahin behilflich sein?“

Er runzelte die Stirn, wodurch sich seine buschigen dunklen Brauen über der Nase trafen. Sie erinnerten Clara an eine verwilderte Eibenhecke. „Das bezweifle ich.“

„Verstehe. Nun, dann …“ Sie verstummte und schaute auffordernd Richtung Tür. Bedauerlicherweise machte Mr. Beale keine Anstalten zu gehen.

„Ich habe Lady Trueloves Kolumne noch nicht vorliegen.“

„Sie ist noch nicht da?“ Clara setzte eine überraschte Unschuldsmiene auf. Die wahre Identität der berühmten Kolumnistin war ein streng gehütetes Geheimnis, in das nicht einmal der Redakteur der Gazette eingeweiht war. „Ach, herrje. Ich verstehe nicht, wie das sein kann. Lady Truelove ist für gewöhnlich absolut zuverlässig.“

Mit langen Schritten trat er an ihren Schreibtisch und warf den Entwurf für die Montagsausgabe auf die Briefe. Aufgeschlagen war die Seite mit der in Druckschrift gesetzten Titelzeile „Liebe Lady Truelove“.

„Sehen Sie das?“, verlangte er zu wissen und stach mit einem Finger auf das große weiße Feld unterhalb des Titels ein. „Leer“, ergänzte er, als sähe sie das nicht selbst. „Diese verflixte Frau hätte schon vor zwei Tagen liefern sollen. Offenbar haben wir unterschiedliche Auffassungen von Zuverlässigkeit, Miss Deverill.“

Clara verzog schuldbewusst das Gesicht. Auch wenn sie Mr. Beale nichts abgewinnen konnte, musste sie zugeben, dass sein Unmut berechtigt war. „Ich werde Lady Truelove umgehend aufsuchen und sehen, was …“

„Tun Sie das.“ Er blaffte den Befehl, als gehörte sie zur Belegschaft. „Sagen Sie ihr, dass sie bis vier Uhr Zeit hat. Wenn ich die alberne Ratgeberkolumne bis dahin nicht vorliegen habe, werde ich etwas anderes an ihre Stelle setzen, und Ihre Lady Truelove wird ohne Arbeit dastehen.“

Damit Irene bei ihrer Rückkehr feststellte, dass das Zugpferd der Gazette verschwunden war? Was für eine entsetzliche Vorstellung! „Ich bin sicher, das wird nicht nötig sein, Mr. Beale“, versicherte Clara ihm hastig. „Wir gehen erst morgen Abend in Druck. Da bleibt mir genügend Zeit, die Kolumne persönlich abzuholen, und Ihnen, sie zu überarbeiten. Die Wortzahl mag geringfügig von dem vorgesehenen Platz abweichen, aber gewiss können Sie …“

„Meine Arbeitswoche endet freitags um fünf, Miss Deverill, also in drei Stunden. Um sechs stellt meine Frau mir das Abendessen auf den Tisch, und das werde ich nicht versäumen, nur weil sich irgendwelche törichten Weibsbilder lieber an einem Beruf versuchen, statt ihrem hart arbeitenden Gatten ein Abendessen vorzusetzen.“

Clara hatte niemals arbeiten wollen und auch nie die Neigung verspürt, für das Frauenwahlrecht auf die Straße zu gehen, so wie ihre Schwester es bekanntermaßen tat. Dennoch rührten Mr. Beales Worte an etwas in ihr, das mit Irenes Suffragetten-Ansichten sympathisierte. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte sie daher womöglich Anstoß an seiner abfälligen Bemerkung über die Rolle der Frau genommen, aber momentan befand sie sich nicht in der Position, Lady Trueloves Säumigkeit verteidigen zu können. „Ich werde die Kolumne selbst überarbeiten und den Umfang anpassen, bevor Mr. Sanders sich an den Satz macht.“

„Kümmern Sie sich darum“, blaffte er, machte dann wortlos kehrt und knallte die Bürotür hinter sich zu.

Obwohl sie froh war, ihn los zu sein, hatte sich ihre Laune durch die Konfrontation nicht eben gebessert. Statt sich an die Arbeit zu machen, fixierte sie finster die Tür, wütend nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf Jonathan, das Schicksal und sogar ihre geliebte Schwester.

So hätte es nicht laufen sollen. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass Jonathan nach Irenes Hochzeit den Verlag leiten würde. Eigentlich müsste also Jonathan hinter diesem Schreibtisch sitzen, sich mit Mr. Beale herumärgern und sich wegen Lady Truelove den Kopf zerbrechen, während Clara bei der Familie des Dukes lernte, ihre Schüchternheit abzulegen und sich in den Kreisen der feinen Gesellschaft zu bewegen. Nächste Woche begann offiziell die Saison. Wie sollte sie ein erfolgreiches Debüt geben, wenn Jonathan durch Abwesenheit glänzte und Irene später als erwartet zurückkam?

Panik mischte sich in ihre Verstimmung, doch sie rang beides nieder, ebenso einen Anflug von Selbstmitleid. Sie hatte wichtige Aufgaben zu erledigen. Clara griff nach dem Brieföffner, aber ehe sie sich an die Arbeit machen konnte, klopfte es erneut, und Annie, das Hausmädchen ihrer Familie, kam herein.

„Entschuldigen Sie bitte, Miss Clara, aber Ihr Vater möchte wissen, ob Sie heute Nachmittag zum Tee zu ihm nach oben kommen.“

Da es nach zwei war, dürfte ihr Vater dem Alkohol bereits großzügig zugesprochen haben, und sie hatte keine Lust, ihm dabei zuzuschauen, wie er sich weiter betrank. „Nein, Annie, sag ihm, dass es mir leidtut, ich aber zu beschäftigt für eine Teepause bin. Ich werde mich von ihm verabschieden, bevor ich heute Abend ins Haus des Dukes zurückkehre.“

„Jawohl, Miss.“ Annie ging, doch die Tür hatte sich kaum geschlossen, als es abermals klopfte.

„Oh, Herrgott“, murmelte Clara, ließ den Brieföffner fallen und rieb sich die Stirn. „Was ist nun schon wieder?“

Erneut klopfte es, und sie hob den Kopf. „Herein“, rief sie.

Die Tür schwang weit auf, und Miss Evelyn Huish trat ein, die Sekretärin der Gazette. „Ich bin die Nachmittagspost durchgegangen“, sagte sie. „Lady Trueloves Kolumne ist noch nicht da.“

Clara zog die Nase kraus. „Ja, das hat Mr. Beale mir bereits in aller Deutlichkeit auseinandergesetzt.“

Ihr bissiger Tonfall dürfte Evie kaum entgangen sein, aber da sie nicht nur Claras, sondern auch Mr. Beales Sekretärin war, enthielt sie sich wohlweislich eines Kommentars. Stattdessen rückte sie den Briefstapel auf ihrem Unterarm zurecht und nahm ein ungeöffnetes Schreiben, das zuoberst lag. „Nichts dabei von Lady Truelove“, sie reichte Clara den Umschlag, „aber ein Brief von Ihrem Bruder.“

„Jonathan?“, rief Clara. Erleichtert sprang sie auf und zog Evie den Brief aus den ausgestreckten Fingern. „Endlich!“

Als sie jedoch die Absenderadresse auf der Rückseite des Umschlags sah, schwand ihre Erleichterung. Jonathan war nach wie vor in Idaho, einem entlegenen, fast fünftausend Meilen entfernten Fleckchen in der amerikanischen Wildnis. Mit anderen Worten: Er war London nicht näher als vor einem Monat, als er ihr zuletzt geschrieben hatte.

Das Schlimmste befürchtend und ihn innerlich verfluchend, riss Clara den Umschlag auf und überflog die krakelige, nahezu unleserliche Schrift ihres Bruders.

„Hoffentlich keine schlechten Neuigkeiten?“

Evies Stimme ließ sie aufblicken. „Furchtbare Neuigkeiten“, erwiderte sie niedergeschlagen. „Schlimmer hätte es nicht kommen können. Er ist auf Silber gestoßen.“

„Silber?“ Evie lachte verblüfft. „Ist er Goldgräber?“

„Mein Bruder“, murmelte Clara verächtlich, „ist immer das, was ihm gerade zupasskommt, um sich seinen Pflichten zu Hause zu entziehen. Silber?“ In ihrer Empörung zerknitterte sie den Brief. „Nachdem er sieben Jahre lang durch Amerika gestreift ist, um einem fragwürdigen Unterfangen nach dem anderen nachzujagen, entdeckt er ausgerechnet jetzt, da ich ihn brauche, eine Silbermine? Dieser Schuft!“

Zu ihrem Verdruss lachte Evie erneut auf. „Aber wenn er Silber gefunden hat, ist er reich“, gab sie zu bedenken.

„Verflixt, Evie, darum geht es nicht. Er ist nicht hier und wird nun auch nicht mehr beabsichtigen, heimzukehren. Darin besteht das Problem.“ Sie stöhnte. „Und Irene dürfte längst auf dem Weg nach Griechenland sein. Was soll ich bloß tun?“

Natürlich konnte sie sich diese Frage nur allzu gut selbst beantworten. Sie saß fest und war bis zu Irenes Rückkehr nicht nur mit Lady Truelove, sondern auch mit der Zeitung, Mr. Beale und allem damit einhergehenden Ungemach geschlagen.

„Miss Huish?“, ertönte Mr. Beales erzürnte Stimme aus dem Vorzimmer. „Wenn Sie lange genug mit Miss Deverill getratscht haben, bräuchte ich Sie hier.“

„Gehen Sie nur“, sagte Clara, als Evie zögerte. „Legen Sie mir die restliche Korrespondenz einfach dort auf die Schreibtischecke.“ Sie drehte sich zu dem Regal hinter ihr um und griff nach ihrer ledernen Aktenmappe. „Ich werde mich morgen damit befassen.“

„Sie wollen an einem Samstag herkommen?“

„Ich fürchte, ich muss. Da sich mein nichtsnutziger Bruder trotz seines Versprechens aus der Verantwortung stiehlt, bleibt mir nichts anderes übrig. Zuvor allerdings“, fuhr sie fort und hielt sich ihre dringlichste Pflicht vor Augen, während sie Briefe in die Mappe stopfte, „muss ich mich mit Lady Truelove befassen. Wenn ich nicht mit ihrer Kolumne zurückkomme, trifft Mr. Beale vermutlich der Schlag. Hm …“ Sie verstummte kurz. „Eigentlich wäre das nicht das Schlechteste.“

Kichernd legte Evie die Briefe auf dem Schreibtisch ab. „Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Miss Deverill?“

„Nein, Evie, gehen Sie nur. Aber bitte sagen Sie Mr. Beale nichts von der Sache mit meinem Bruder. Sollte es notwendig werden, ihn davon in Kenntnis zu setzen, werde ich entscheiden, wann und wie dies geschieht.“

„Ja, Ma’am.“

Sie ging, und Clara verstaute die restlichen Briefe an Lady Truelove in ihrer Aktenmappe. Auch Irenes Telegramm, einen Stapel Briefpapier sowie einen Füllfederhalter packte sie ein und verließ dann das Büro, den bösen Blick ignorierend, den der Redakteur ihr zuwarf. Draußen auf dem Gehsteig wandte sie sich nach links und schritt die Belford Row entlang, so zügig, als hätte sie ein Ziel, obwohl sie in Wahrheit keine Ahnung hatte, wohin sie sich wenden sollte.

Irgendwohin, wo es ruhig war, entschied sie im Gehen. Sie brauchte einen Ort, an dem nichts sie ablenkte oder störte, an dem es keine übellaunigen Redakteure gab, an dem sie in Frieden die Ratgeberkolumne verfassen konnte.

An der Ecke blieb sie stehen. Als sie nach rechts blickte, um zu sehen, ob die Straße frei war, erspähte sie einen halben Häuserblock entfernt ein Schild mit der Aufschrift „Mrs. Mott’s Tea Emporium“.

Das war genau das, was sie suchte, denn zu dieser Tageszeit dürfte dort kaum etwas los sein. Sie wandte sich in die Richtung, betrat kurz darauf den kleinen Teeladen und fand ihre Vermutung bestätigt. Es gab keine Gäste bis auf zwei Herren, die nicht einmal aufschauten, als sie hereinkam.

Die Bedienung führte sie an einen Tisch neben dem der beiden Herren, doch da ein dichter Blickschutz aus Kübelpalmen die Sitzbereiche trennte, befürchtete Clara nicht, behelligt zu werden. Sie setzte sich, bestellte Tee und Scones und entnahm ihrer Aktenmappe Briefe und Schreibutensilien. Nachdem sie sich innerlich gewappnet hatte, endlich die Aufgabe in Angriff zu nehmen, vor der sie sich eine Woche lang gedrückt hatte, wählte sie einen Umschlag aus dem vor ihr liegenden Stapel und zog den Brief heraus.

Liebe Lady Truelove,

ich bin ein Mädchen aus vornehmem, einflussreichen Hause und möchte gern heiraten. Aber obgleich meine Eltern mich mit einer erklecklichen Mitgift ausgestattet und vergangene Saison in die Gesellschaft eingeführt haben, ist es mir nicht gelungen, einen Gatten zu finden. Ich bin nämlich furchtbar schüchtern, und dadurch habe ich mich auf gesellschaftlichem Parkett als Enttäuschung erwiesen.

Auf Bällen und Festen bin ich stets das Mauerblümchen gewesen und habe deswegen Todesqualen gelitten. Zugleich hat mich die Vorstellung, doch von einem jungen Mann bemerkt zu werden, in Angst und Schrecken versetzt. Und wann immer ich einem Angehörigen des anderen Geschlechts vorgestellt wurde, hat meine Befangenheit mich regelrecht gelähmt, vor allem, wenn ich den Betreffenden attraktiv fand. Ich habe gestottert, bin errötet und wusste nicht, was ich sagen sollte. Alles in allem habe ich mich auf Schritt und Tritt blamiert. Dass ich damit nicht eben einen günstigen Eindruck auf den jeweiligen jungen Herrn gemacht habe, brauche ich wohl nicht eigens zu erwähnen.

Nun steht die nächste Londoner Saison an, und mir graut vor einem neuerlichen Versagen. Was, wenn ich niemanden kennenlerne? Was, wenn ich als einsame alte Jungfer sterbe? Ich schreibe Ihnen, Lady Truelove, in der sehnlichen Hoffnung, dass Sie mir Wege aufzeigen können, für Männer begehrenswerter zu werden und meine Schüchternheit ihnen gegenüber abzulegen. Können Sie mir helfen?

Eine verzweifelte Debütantin

Vermutlich käme das Mädchen nicht im Traum darauf, wie gut Clara diese Misere nachvollziehen konnte. Von ein paar Details abgesehen, hätte der Brief von ihr selbst stammen können. Liebend gern hätte sie dem Mädchen geholfen, doch wie sollte sie das anstellen? Wüsste sie, wie man seine Schüchternheit überwinden und das eigene Mauerblümchendasein in einen strahlenden gesellschaftlichen Triumph verwandeln konnte, hätte sie das längst getan, sich einen Ehemann geangelt und ihre Flitterwochen genossen. Widerstrebend legte sie den Brief der „verzweifelten Debütantin“ beiseite und zog einen weiteren aus dem Stapel.

Liebe Lady Truelove,

mit nunmehr fünfundzwanzig Jahren halte ich es für an der Zeit, mir eine Frau zu suchen. Aufgrund der besonderen Ansprüche, die ich an meine Braut stelle, bedarf ich bei der Suche Ihrer Hilfe. Ich verfüge nur über beschränkte Mittel, weshalb sie eine ansehnliche Mitgift besitzen sollte. Zudem soll sie ausnehmend hübsch sein, denn ein unscheinbares Mädchen zu heiraten käme für mich keinesfalls infrage …

Clara schnaubte verächtlich und las nicht weiter. Auch sie selbst wurde von den meisten Männern, die sie kennenlernte, als unscheinbar erachtet, und bis vor Kurzem hatte sie überhaupt keine Mitgift vorweisen können. Daher berührte sie das Dilemma dieses oberflächlichen Grünschnabels nicht im Geringsten. Sie riss den Brief entzwei, legte ihn beiseite und nahm sich den nächsten vor.

Liebe Lady Truelove,

ich stecke so arg in der Klemme, dass ich nicht weiß, ob Sie mir überhaupt helfen können. Ich liebe eine junge Dame, die jedoch keinerlei Notiz von mir nimmt, denn leider bin ich weder besonders redegewandt noch attraktiv. Ich schreibe Ihnen, um Ihren Rat einzuholen. Wie kann ich die Aufmerksamkeit besagter Dame erlangen, wie sie ansprechen? Wie sollte ich mein Werben angehen? Ich wäre dankbar für jede Empfehlung, die Sie mir geben können.

Hochachtungsvoll

Sprachlos in South Kensington

Clara starrte auf die mit Tinte geschriebenen Zeilen, die ihr abermals vor Augen führten, weshalb es lachhaft war, ausgerechnet sie mit Lady Trueloves Kolumne zu betrauen. Was konnte sie diesen Leuten schon raten?

Sie schaute auf und ließ den Blick über die leeren Tische des Teeladens schweifen. Zahllose Male hatte sie selbst, gemeinsam mit anderen Mauerblümchen, an der Wand eines Ballsaals gestanden oder auf Festen unbeachtet in einer Ecke ausgeharrt. Was verstand sie schon davon, das andere Geschlecht zu betören? Ein Gespräch zu beginnen? Jemanden zu umwerben?

Sie schob die Briefe beiseite, beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch, die Stirn auf die Handballen gelegt. Sie fühlte sich hoffnungslos unzulänglich. Ich schaffe das niemals, zumindest nicht allein.

„Lieber Gott“, flüsterte sie, sich verzweifelt nach einem himmlischen Fingerzeig sehnend. „Ich bin dieser Aufgabe nicht gewachsen und könnte wirklich Hilfe gebrauchen.“

„Tatsächlich?“, raunte eine tiefe männliche Stimme, in der Erheiterung mitschwang. „Was kann ich für dich tun?“

2. KAPITEL

Ruckartig richtete Clara sich auf, doch als die Stimme erneut ertönte, erkannte sie, dass nicht etwa der Allmächtige höchstselbst gesprochen hatte, sondern einer der beiden Gentlemen am Tisch jenseits der Kübelpalmen. Er saß ihr zugewandt, sah sie jedoch nicht an, und ihr wurde klar, dass seine Worte nicht ihr gegolten hatten, sondern seinem Begleiter. Und er war ein Sterblicher, das war offenkundig.

Ein Sterblicher vielleicht, dachte sie und legte den Kopf schräg, um zwischen den Palmwedeln hindurch einen besseren Blick auf ihn zu erhaschen, aber schön wie ein Gott.

Sein kurzes, widerspenstiges Haar schimmerte in einem dunklen Goldton und fing das Licht ein, das durch die Fenster fiel. Der Blick seiner Augen, die so klar und azurblau waren wie das griechische Meer, richtete sich konzentriert auf seinen Gesprächspartner, sodass Clara sich dem unleugbaren Vergnügen hingeben konnte, ihn unbemerkt zu mustern. Sein Gesicht war makellos ebenmäßig und schmal. Die markanten Züge wirkten wie in Marmor gemeißelt, bis er lächelte, so strahlend, so berückend, dass Clara zu spüren meinte, wie ihr Herz einen Purzelbaum schlug.

„Ich helfe gern“, sagte er, „wobei ich hoffe, dass du kein Geld von mir willst. Ich bin momentan knapp bei Kasse.“

Sein Gefährte entgegnete etwas, das Clara nicht verstand, weil sie wie gebannt von dem anderen Mann war. Wer hätte es ihr verdenken können? Es geschah schließlich nicht alle Tage, dass ein goldglänzender, windzerzauster Adonis vom Berg Olymp stieg, um einen unbedeutenden kleinen Teeladen in Holborn zu beehren.

Das feine weiße Leinen, das er trug, sowie der dunkelgraue Cutaway zeichneten ihn als echten englischen Gentleman aus. Sein Körper indes – zumindest das, was sie oberhalb des Tischs davon erkennen konnte – hätte mit den breiten Schultern und dem sich nach unten hin verjüngenden Torso eher auf eine Olympiade der Antike oder ins römische Kolosseum gepasst als ins zivilisierte London des Jahres 1893.

Nun regte sich dieser Gott, diese Augenweide für die Damenwelt, auf seinem Stuhl und zuckte mit den stattlichen Schultern. Hastig wandte Clara den Blick ab. Auf keinen Fall sollte er sie dabei ertappen, wie sie ihn anstarrte. Doch als er neuerlich das Wort ergriff, konnte sie nicht widerstehen und neigte sich neugierig etwas seitwärts, um zu lauschen.

„Wofür gibt ein Mann sein Geld wohl aus, Lionel?“, fragte er nonchalant. „Wein, Weib und Gesang. Und Karten, versteht sich.“

„Aber vor allem für Weiberröcke, hm?“

Beide lachten über die Anzüglichkeit. Clara konnte sich einer gewissen Enttäuschung nicht erwehren. Offenbar war Adonis keineswegs ein hehrer Gott, sondern ein rechter Wüstling. Und Wüstlinge, das wusste sie aus der Erfahrung mit ihrem Vater, ließen sich niemals dauerhaft bekehren.

Für weitere Spekulationen bezüglich seines Charakters blieb ihr keine Muße, denn die Stimme des Mannes, der Lionel hieß, lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf das Gespräch. „Nein, ich brauche kein Geld von dir, altes Haus, sondern einen Rat in Sachen Liebe.“

Das erinnerte Clara daran, dass auch von ihr erwartet wurde, einen solchen Rat zu erteilen, und zwar noch heute Nachmittag. Sie sollte besser damit aufhören, andere Leute zu belauschen, und sich an die Arbeit machen. Aber bevor sie nach einem weiteren Brief greifen konnte, sprach Adonis abermals und ließ sie innehalten.

„Grundgütiger, Lionel, wer würde in Liebesdingen ausgerechnet mich um Rat bitten?“

Mit dieser Frage sprach er Clara aus der Seele, und sie wartete gespannt auf Lionels Antwort.

„Es geht um Dina, wie du dir denken kannst“, erwiderte dieser. „Sie macht ständig Andeutungen von wegen Heiraten, und ich muss mir etwas einfallen lassen, um ihr nicht ins Netz zu gehen. Dabei setze ich auf deine Expertise, weil du dich hervorragend auf solche Dinge verstehst.“

Clara war leicht schockiert. Adonis hingegen wirkte amüsiert.

„Und worin besteht deiner Ansicht nach mein diesbezügliches Talent?“ Er lachte leise. „Einer Ehe zu entgehen oder andere in dieser Fertigkeit zu unterweisen?“

„Sowohl als auch.“

Dies war zwar nicht die Art Problem, mit der sich Lady Truelove in ihrer Kolumne befasste, aber dennoch war Clara fasziniert. Schließlich hatte sie um Hilfe gefleht, und Hilfe kam oft in unerwarteter Gestalt daher. Sie hielt den Kopf gesenkt, damit der Mann dort drüben nicht merkte, dass sie mithörte, und beugte sich vor.

„Bist du sicher, dass du ihr nicht ins Netz gehen willst? Deine Angebetete ist eine vorteilhafte Partie. Sie ist nicht nur eine reiche Witwe, sondern auch jung, ausnehmend hübsch und höchst angenehm im Umgang – ein ziemlich guter Fang für einen bescheidenen Abgeordneten wie dich. So manch anderer würde sich an deiner Stelle glücklich schätzen.“

„Wohl wahr“, pflichtete sein Freund ihm bei, klang jedoch alles andere als glücklich. „Du aber nicht. Alle Welt weiß, wie du zur Ehe stehst.“

„Leider nicht jeder. Trotz meiner Aversion gegen diese altmodische und gänzlich überflüssige Institution sind einige meiner Angehörigen wild entschlossen, mir Fesseln anzulegen. Und um dieses Ziel zu erreichen, hetzen sie mir unermüdlich Saison für Saison verzweifelte Debütantinnen auf den Hals. Allerdings teilen nicht viele Männer meine zynischen Ansichten. Dass du so denkst, wundert mich.“

„Tue ich nicht. Es ist nur so, dass …“ Lionel seufzte tief. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich schon heiraten möchte.“

„Ah.“ Jede Menge Verständnis sprach aus diesem einen Wort. „Damit willst du wohl sagen, dass du dir nicht sicher bist, ob du sie heiraten möchtest.“

„Wahrscheinlich, ja“, murmelte Lionel, und Clara empfand spontan Mitleid für die fragliche junge Dame. „Sie gehört ganz anderen Kreisen an als ich. Ich bin ein gewöhnlicher Bursche, sie hingegen entstammt dem ton.“

„Armes Mädchen.“

„Das ist es ja gerade. Dina ist kein Mädchen. Sie ist fünf Jahre älter als ich. Und ungemein welterfahren. Als sie mir zu verstehen gab, was sie für mich empfindet, nahm ich an, dass sie bloß eine Affäre will. ‚Wieso nicht?‘, dachte ich mir und war geschmeichelt. Welcher Mann wäre das nicht gewesen?“ Wieder seufzte er. „Es schien alles ganz einfach zu sein. Unkompliziert.“

„Du redest von einer Frau, Lionel. Da ist nichts je einfach oder unkompliziert.“

„Als wüsste ich das nicht selbst. Ich hätte nur nie gedacht, sie könnte aufs Heiraten aus sein.“

„Das sind Damen im Allgemeinen immer, sobald wir mit ihnen geschlafen haben“, erklärte Adonis gedämpft, und die unverblümten Worte trieben Clara die Röte auf die Wangen. Dank der Ausführungen ihrer freimütigen Schwester wusste sie, was sich hinter dem Euphemismus „zusammen schlafen“ verbarg, und ihre Empörung in Dinas Namen wuchs. Wer immer die Frau war, offenbar wurde ihr übel mitgespielt.

„Verflixt lästig, ich weiß“, fügte Adonis noch hinzu, „aber so ist es nun einmal. Deshalb halte ich mich von unbescholtenen jungen Damen möglichst fern. Sie erwarten ausnahmslos, dass man sie heiratet.“

Und wieso auch nicht? fragte sich Clara gereizt. Zu gern hätte sie diesen Standpunkt verteidigt. Was ist falsch an dem Wunsch zu heiraten?

„Tänzerinnen und Schauspielerinnen“, fuhr er fort, ihre Entrüstung weiter anfachend, „sind keine solchen Plagegeister.“

Plagegeister? Das Wort brachte Clara in Harnisch. Frauen, die den ehrbaren Bund der Ehe anstrebten, waren also Plagegeister?

„Das ist ja alles schön und gut, aber wenig hilfreich.“

„Mein lieber Lionel, was erhoffst du dir eigentlich von mir?“

„Dass du mir hilfst, ihr nicht in die Falle zu gehen! Wobei mir schleierhaft ist, wie ich es überhaupt so weit kommen lassen konnte.“

„Haben wir das nicht geklärt? Du bist ihr bereits in die Falle gegangen, als du dich in ihr Bett hast locken lassen.“

Clara spürte, wie ihre Wangen noch heißer wurden, eine Hitze, die auch den Rest ihres Körpers ergriff. Gütiger Himmel, wer hätte gedacht, dass ein biederer Teeladen Schauplatz eines solch schändlichen Gesprächs sein konnte?

„Dabei lief alles wie am Schnürchen“, murmelte Lionel düster, während Clara sich die Hände gegen die brennenden Wangen presste. „Und kaum einen Monat später schmiedet sie Heiratspläne.“

„Frauen“, erwiderte sein Freund, „können wirklich penetrant sein.“

Clara musste sich eine Hand vor den Mund schlagen, um den erzürnten Aufschrei zu unterdrücken, der sie verraten hätte.

„Und ob“, stimmte Lionel ihm zu und lachte humorlos. „Meine Angehörigen haben sie nie kennengelernt. Verflucht, sie wissen gar nichts von ihr. So wie ihre Familie wahrscheinlich nichts von mir weiß. Bislang ist es uns gelungen, äußerst diskret zu sein. Wenn ihre Verwandten es herausfänden, wäre die Hölle los, denn für Dina bin ich eine schlechte Partie, und sie würden die Verbindung niemals billigen. Doch das stört sie anscheinend nicht. Sie ist bereit, sie allesamt zum Teufel zu schicken – mir zuliebe, sagt sie. Mir zuliebe? Verdammt, Mann, was soll ich bloß tun?“

Adonis schwieg eine Weile. Vermutlich überdachte er das Problem. „Könntest du nicht ins Ausland gehen?“, schlug er dann vor. „Dich für einige Monate nach Paris oder Rom absetzen? Die Saison beginnt gerade erst, und gewiss lässt sich Dina vom Trubel der gesellschaftlichen Ereignisse mitreißen. Wenn du zurückkehrst, dürfte sie dich längst vergessen haben.“

„Oder sie folgt mir. Dina ist nämlich keine sanftmütige, ergebene zarte Blume. Da sie reich und verwitwet ist, muss sie sich weder über Kosten noch Anstandsdamen den Kopf zerbrechen.“

„Gut möglich, aber wieso sollte sie sich die Mühe machen? Bestimmt würden bald andere Burschen bei ihr Schlange stehen und sie mit Aufmerksamkeit überhäufen, sodass sie sich keinen Deut mehr um dich scheren würde.“

„Ich schätze, du hast recht.“

Clara entging nicht, dass Lionel ob dieser Aussicht alles andere als erleichtert klang. Ist das nicht typisch Mann? fragte sie sich, und wieder regte sich der Teil ihrer Persönlichkeit, der mit den Suffragetten-Ansichten ihrer Schwester sympathisierte. Sie wollen alle Vorteile genießen und keinen der Nachteile in Kauf nehmen, nach dem Motto ‚wasch mich, aber mach mich nicht nass‘.

„Außerdem“, setzte Lionel hinzu, „ist es mir nicht möglich, ins Ausland zu gehen. Als Abgeordneter habe ich alle Hände voll zu tun. Oh, und ob ich zu tun habe“, bekräftigte er auf den abfälligen Laut seines Freundes hin, „und das Parlament tagt derzeit. Ich kann mich nicht einfach auf den Kontinent absetzen.“

„Dann bleibt dir nur ein Ausweg. Du musst die Sache beenden.“

„Wirklich?“ Lionel seufzte abermals. „Wieso können wir nicht einfach weitermachen wie bisher und schauen, wohin uns das führt?“

„Das ist keine Option, nehme ich an?“

„Ich habe es angeregt, aber sie findet das unsinnig. Sie meinte, da wir einander lieben, sei eine Heirat der konsequente nächste Schritt.“

„Liebe?“ Mit einem Mal klang Adonis’ Stimme hart und so schneidend, dass Clara erschrak. Alle Vorsicht vergessend, hob sie den Kopf und beobachtete, wie er sich vorneigte, die makellosen Züge grimmig verzogen. „Hast du ihr etwa gesagt, dass du sie liebst?“

Die Palmen neben Claras Schulter raschelten, weil Lionel sich wand wie ein zerknirschter Schuljunge und die Wedel mit dem Ellbogen in Bewegung versetzte. „Vielleicht“, murmelte er. „Im … äh … Eifer des Gefechts, sozusagen.“

Adonis lehnte sich stöhnend zurück, woraufhin Clara den Kopf rasch wieder senkte. „Von allen Torheiten ausgerechnet diese“, schimpfte er. „Ist denn in den zwanzig Jahren unserer Freundschaft gar nichts von dem, was ich dir über Frauen beigebracht habe, in deinen Hohlkopf vorgedrungen? Also ehrlich, Lionel“, fügte er hörbar entnervt hinzu, „du bist ein hoffnungsloser Fall.“

„Sie sagte, dass sie mich liebt, und ich habe nur … ich habe mich hinreißen lassen … ach, was bringt das? Für Vorwürfe ist es zu spät. Schließlich kann ich die Worte nicht zurücknehmen. Was also soll ich tun?“

„Wenn du ihr nicht den Laufpass geben, sie aber auch nicht heiraten möchtest, bleibt dir nur eines: Sie davon zu überzeugen, dass die derzeitige Situation den anderen beiden Möglichkeiten vorzuziehen ist“, antwortete sein Freund und bewies damit in Claras Augen, wie richtig sie mit ihrer Schlussfolgerung lag, dass Männer sich rücksichtslos nahmen, was sie begehrten. „Achte nur darauf, keinen ehrlosen Eindruck zu vermitteln.“

Aber er ist ehrlos, hätte Clara gern ausgerufen. So wie Sie, weil Sie ihm dazu raten!

Ehe sie der Versuchung nachgeben und ihrem Ärger Luft machen konnte, ergriff Lionel das Wort.

„Und wie, bitte schön, soll ich das anstellen? Das ist unmöglich.“

„Keineswegs. Es ist machbar. Aber ob du dazu fähig bist, Lionel, weiß ich ehrlich gesagt nicht so recht.“ Er verstummte, und obwohl Clara ihn nicht anschaute, sah sie im Geiste vor sich, wie er seinen Freund über den Tisch hinweg fixierte, Skepsis in den blauen Augen. „Es ist ein wenig heikel.“

„Trotzdem, heraus damit.“

„Du müsstest ihr eine Trennung vorschlagen.“

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich das nicht will.“

„Vorschlagen, nicht in die Tat umsetzen. So wie ich Dina kenne, wird ihr der Vorschlag nicht behagen, wenn er von deiner Seite kommt.“

„Oder sie findet die Idee großartig und lässt mich fallen wie eine heiße Kartoffel.“

„Deshalb ist es wichtig, dass du es richtig anfängst. Du musst sie bei der Hand nehmen, ihr tief in die Augen schauen, am Boden zerstört dreinblicken und ihr erklären, dass eine Ehe zwischen euch undenkbar sei.“

„Und wie soll ich das begründen?“

„Die Tatsachen sprechen für sich. Du verfügst nicht über die finanziellen Mittel für ihren Unterhalt.“

„Das stimmt. Mein Einkommen reicht kaum für mich selbst, und das weiß sie.“

„Führe ihr das eindringlich vor Augen und rege – behutsam – an, dass es womöglich besser wäre, wenn ihr euch nicht mehr trefft. Was dir natürlich zutiefst widerstrebt, weil du ihr mit Haut und Haaren verfallen bist, weil du vor lauter Sehnsucht nach ihr weder schlafen noch essen kannst, weil du nie etwas Himmlischeres erlebt hast als die Nächte mit ihr. Aber um ihretwillen fühlst du dich verpflichtet, sie ziehen zu lassen.“

Angesichts dieser als edle Selbstaufopferung getarnten Eigennützigkeit wäre Clara fast vom Stuhl aufgesprungen, doch es gelang ihr, sich zu zügeln, indem sie die Hände auf dem Tisch zu Fäusten ballte. Wenn sie doch nur ein Mann wäre! Dann könnte sie ihre Fäuste sinnvoll einsetzen und die beiden Tunichtgute fordern.

„Das bringe ich nicht über die Lippen“, wehrte Lionel ab, während Clara krampfhaft um Beherrschung rang. „Es klingt lächerlich.“

„Lächerlich? Du willst sie doch, oder?“

„Ja, aber …“

„Du möchtest sie nicht verlieren, richtig?“

„Nein, selbstredend nicht. Das sagte ich doch schon.“

„Also solltest du dich dazu durchringen, ihr einen Weg schmackhaft zu machen, der nicht mit einem Lebewohl endet – sofern du dich nicht in ein paar Wochen in der nächstbesten Pfarrkirche wiederfinden und deine gesamte Zukunft sowie deinen spärlichen Besitz einer nahezu Fremden opfern willst.“

„Aber selbst wenn ich es über mich brächte, deinen Vorschlag zu beherzigen, wie kann ich meine Worte überzeugend klingen lassen?“

„Ich empfehle dir, vorher eine oder zwei Nächte auf Essen und Schlaf zu verzichten. Das lässt dich angemessen leidend aussehen.“

„Mein Gott“, stieß Lionel glucksend hervor. „Was bist du doch für ein Schlitzohr.“

Im Gegensatz zu Lionel war Clara nicht nach Lachen zumute. Himmel, sie kochte innerlich! Dass diese arme junge Frau nach Strich und Faden betrogen und auf solch abscheuliche Weise dazu gebracht werden sollte, eine unpassende Liaison fortzuführen – der bloße Gedanke war unerträglich. Es wäre unverantwortlich, als Frau tatenlos hinzunehmen, dass eine Leidensgenossin auf Heirat hoffte, während ihr Liebster weder die Absicht noch den Wunsch hegte, ihr die Ehe anzutragen. Wenn diese ungehörige Affäre öffentlich bekannt würde, wäre die Frau blamiert und kompromittiert. Und sollte sie schwanger werden, hätte sie ihr gesellschaftliches Ansehen endgültig verwirkt und wäre ruiniert, und dem Kind würde das Stigma von Illegitimität und Schande anhaften.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Clara nicht geahnt, zu welch hinterhältigen Methoden sich manche Männer herabließen, aber die Unterhaltung am Nebentisch hatte ihr eine so kompakte wie brutale Lektion erteilt. Ihrer Meinung nach wäre es eine glückliche Fügung für die betreffende junge Dame, wenn sie sich von diesem Lionel trennte, bevor es zu spät war. Was dessen Freund anging …

Abermals lugte sie verstohlen zu dem Mann hinüber, den sie im Stillen mit Adonis verglichen hatte, und erkannte, dass der Zauber gebrochen war. Zwar war er nach wie vor attraktiv, aber er wirkte nicht länger wie ein goldener, windzerzauster Gott. Nun sah sie nur noch einen niederträchtigen Flegel, der Frauen hinters Licht führte und andere anspornte, es ihm gleichzutun.

Als Lionel sich wieder zu Wort meldete, stellte sie fest, dass ihre Neugier stärker war als ihre Entrüstung in Dinas Namen. Sie neigte sich zu den Palmen hinüber. „Selbst wenn ich ihr glaubhaft vorgaukeln könnte, dass die Vorstellung einer Trennung mich niederschmettert“, hörte sie ihn sagen, „weiß ich nicht, ob mir das etwas nützen würde. Was, wenn sie mir zustimmt und mich in die Wüste schickt?“

„Durchaus denkbar, aber ich würde wetten, dass ein Abschied von ihrer Seite halbherzig ausfiele. In Wahrheit will sie sich nämlich nicht von dir trennen. Was sie will, ist, dass du ihr mit einer dramatischen, romantischen Geste beweist, wie viel sie dir bedeutet, auch wenn du nicht bereit bist, sie zu heiraten.“

Clara biss sich fest auf die Lippe. So langsam schwante ihr, dass dieser Mann viel zu viel über Frauen wusste.

„Was für eine Geste?“ Lionel klang verwirrt.

„Wenn du sie willst, wirst du deinen Stolz über Bord werfen und sie anflehen müssen, dich nicht zu verlassen. Und sei es nur für eine weitere Nacht, eine weitere Woche – zu welchen Zugeständnissen sie auch immer bereit ist, du greifst dankbar zu. Das ist es, was sie hören will.“

„Gut möglich, aber für mich klingt das wie ausgemachter Unfug.“

„Nicht, wenn du es überzeugend darlegst. Ich zeige dir, wie.“

Zu neugierig, um Vorsicht walten zu lassen, lugte Clara abermals hinüber und sah, wie er die Bedienung heranwinkte, die just am Tisch der beiden vorüberging. Sie hatte ein Tablett in der Hand, auf dem sich, wie Clara vermutete, ihr Tee und ihre Scones befanden.

Das Mädchen blieb so abrupt stehen, dass Tee und Scones beinahe vom Tablett gerutscht wären. „Oh“, stieß sie keuchend hervor, als Adonis aufstand und ihr in die Augen sah. Clara senkte das Kinn und beobachtete ihn aus den Augenwinkeln.

„Kann ich Ihnen helfen, Sir?“, fragte das Mädchen, und der beflissene Tonfall ging ein klein wenig über das Maß an Höflichkeit hinaus, das Angestellte eines Teeladens gemeinhin an den Tag legten.

„Das können Sie, Miss …?“

„Clark, Sir. Elsie Clark.“

„Miss Clark.“ Er lächelte, und obwohl Clara dem Charme dieses Lächelns nicht länger erlag, entfaltete es bei der Bedienung seine volle Wirkung. Als Adonis ihr das Tablett abnahm, schien die arme Elsie Clark dies kaum zu bemerken.

„Ich bräuchte in der Tat Ihre Hilfe“, setzte er hinzu und wandte sich ab, um das Tablett neben sich auf einen Tisch zu stellen. „Wissen Sie, mein Freund hat sich seiner Gespielin gegenüber äußerst unbesonnen verhalten.“

Das war dem armen Mädchen offenbar zu hoch, denn es runzelte ratlos die Stirn. „Sir?“

„Die Ehre gebietet ihm, sich von einer Frau loszusagen“, erklärte er. „Sie steht gesellschaftlich weit über ihm, was ihm sehr wohl bewusst ist. Als rücksichtsvoller Gentleman weiß er natürlich auch, dass es besser wäre, sie nicht weiter zu umwerben.“

Clara schnaubte, was die drei anderen glücklicherweise nicht wahrnahmen.

„Allerdings vermag er sich nicht dazu durchzuringen, sich von ihr zu trennen“, fuhr Adonis fort. „Die Angelegenheit nimmt ihn schwer mit, und er hat mich diesbezüglich um Rat gebeten. Ich würde ihm gern vorführen, wie er das unvermeidliche Ende möglichst lange hinauszögern kann, und hierbei wären Sie mir von unschätzbarem Wert, Miss Clark.“

In Claras Augen war ein Mann, der mit einer Frau intim wurde, sie seiner Liebe versicherte, ihr eine reputierliche Ehe verweigerte und nichts Verwerfliches darin sah, weiterhin mit ihr zu schlafen, alles andere als ein Gentleman. Zwischen den Palmen hindurch musterte sie Lionel. Er machte einen gutmütigen, liebenswürdigen Eindruck, doch sie wusste, dass er nichts dergleichen war, sondern ein verachtenswerter Betrüger, ebenso wie sein Kumpan.

Wieder hob sie verstohlen den Blick und beobachtete, wie Adonis eine Hand der Bedienung ergriff. „Also, Miss Clark, wären Sie willens, mir zu assistieren?“

Nach ihrer verzückten Miene zu urteilen hätte Miss Clark alles für diesen Kerl getan. Auf ihr Nicken hin zog er sie näher an sich heran.

„Mein Liebling“, begann er, „du redest vom Heiraten, aber wie sollte uns das möglich sein? Ich bin ein Niemand, ein armer Schlucker. Du hingegen bist eine kultivierte Dame aus vornehmem Hause, bezaubernd und distinguiert.“ Er verstummte kurz und umfasste die Hand des Mädchens mit beiden Händen, ehe er fortfuhr: „Du verdienst weit mehr, als ich dir je bieten könnte. Augenblicklich magst du glauben, die Standeskluft zwischen uns wäre belanglos, doch das ist sie nicht, und ich weiß, dass du dies eines Tages erkennen wirst. Und diese Erkenntnis würde einen Keil zwischen uns treiben und unser Glück unweigerlich trüben.“

Herrje, dachte Clara und verspürte trotz ihres Zorns einen Funken widerwilliger Bewunderung. Dieser Mann mag ein Schwerenöter sein, aber darin ist er zweifelsohne sehr talentiert.

Sie riskierte einen weiteren diskreten Blick. Er sah immer noch die Kellnerin an, schenkte ihr seine volle Aufmerksamkeit. Was Elsie Clark betraf, nun, deren hingerissene Miene bestätigte Clara nur in ihrer Meinung, dass es sich bei Adonis um einen liederlichen Kerl handelte, der sich hervorragend auf Täuschung verstand.

„Mit der Ehe“, dozierte er weiter, „würde die harsche Wirklichkeit Einzug halten, die unsere Liebe nach und nach zermürben würde. Ich könnte es nicht ertragen, wenn das, was wir haben, die stürmische Leidenschaft, die wir füreinander empfinden, dem zwangsläufig profanen Ehealltag zum Opfer fiele. Was würde dann aus uns werden?“

Elsie antwortete nicht. Vermutlich hatte es dem armen Ding die Sprache verschlagen.

„Nein, Liebste, Menschen wie uns ist die Ehe verwehrt. Du verdienst sie natürlich, aber wir können unsere Herkunft nicht verleugnen. Ich verfüge nicht über die Mittel, dich angemessen zu versorgen, und vor allem entstamme ich nicht den entsprechenden Kreisen, um deiner würdig zu sein. Und was ist mit deiner Familie? Gewiss würde sie sich von dir abwenden, wenn du einen gewöhnlichen Burschen wie mich heiraten würdest. Wie könnte ich dich und die deinen je entzweien? Hältst du mich wirklich für einen solchen Schuft?“

„Ich finde Sie wundervoll“, hauchte Elsie, was Claras weiblichem Stolz gehörig gegen den Strich ging, erstens wegen des schwärmerischen Tonfalls, zweitens weil sie selbst noch vor einer knappen Viertelstunde die gleiche irrige Ansicht gehegt hatte.

„Es zerreißt mich schier, denn ich bin dir mit Leib und Seele verfallen. Aber ich könnte niemals mit dem Wissen leben, dass ich mit dieser Ehe dein Leben zerstört habe. Sofern dein Herz daran hängt, einen Gatten zu finden, werde ich weichen, denn diesen Platz einzunehmen gebührt mir nicht. Daher fürchte ich, dass wir voneinander scheiden müssen.“

Er wollte Elsies Hand loslassen, doch die war offenbar nicht geneigt, sich so schnell vom vermutlich romantischsten Moment ihres Lebens zu lösen. Vermutlich war ihr nie zuvor ein solches Maß an männlicher Aufmerksamkeit zuteilgeworden. „Gibt es denn keinen Weg für uns?“, fragte sie und klammerte sich an seine Hand. Die Verzweiflung in ihrer Stimme ließ Clara schaudern.

Er sah sie eine Weile schweigend an. „Mir fällt nur ein einziger Weg ein“, sagte er dann. „Nämlich der, den wir gegenwärtig beschreiten. Ich weiß, dass du unsere Beziehung eines Tages beenden wirst, und dass mir diese Entscheidung das Herz brechen wird. Aber ich bitte dich“, er unterbrach sich, um ihr heißblütig die Hand zu küssen, „lass es nicht heute sein.“

Elsie seufzte. Dass er soeben seine gesamte, für eine Trennung sprechende Argumentation über den Haufen geworfen hatte, entging ihr anscheinend. Verzückt himmelte sie ihn an, doch ihr blieb wenig Zeit, den gefühlsseligen Augenblick auszukosten. Mit einer Gewandtheit, die Clara nur bewundern konnte, entzog der Adonis Elsie seine Hand so geschwind, dass die ihre noch ein paar Sekunden einsam in der Luft verharrte.

„Siehst du, Lionel?“, bemerkte er im Plauderton und setzte sich wieder, sodass Clara gezwungen war, den Blick abzuwenden. „Es ist machbar.“

„Vermutlich“, pflichtete sein Freund ihm bei. „Sofern man es so anstellt wie du.“ Er lachte.

„Was meinen Sie, Elsie?“, fragte Adonis die Bedienung. Offenkundig hielt er sich für so unwiderstehlich, dass er sich die Freiheit herausnahm, sie beim Vornamen zu nennen, dieser dreiste Strolch. „Würden Sie mich sitzen lassen, wenn Sie besagte Dame wären? Oder würden Sie die Sache fortsetzen?“

„Ich glaube …“ Elsie verstummte hüstelnd, als versuchte sie, sich zu sammeln. „Ich glaube, ich würde weitermachen wollen“, brachte sie endlich heraus. „Nicht für immer, wohlgemerkt“, ergänzte sie, wie um zu zeigen, dass sie noch über einen Rest Stolz verfügte. „Als Frau muss man nämlich an die Zukunft denken.“

„Keine Frage.“ Teetassen klirrten, und als Clara hinüberlinste, sah sie, dass er das Tablett ergriff und es Elsie reichte. „Vielen Dank für Ihre freundliche Unterstützung“, sagte er.

So jovial er auch klang, Elsie war unmissverständlich entlassen, was ihr nicht entging. „Gern geschehen, Sir“, murmelte sie, nahm ihm das Tablett ab, knickste und ging.

„Und?“, wandte sich Adonis an seinen Freund, während Clara ihre Aufmerksamkeit auf die Kellnerin richtete, die mit ihrer Bestellung die Palmen umrundete. „Was denkst du?“

„Ich denke, dass du im Theater auftreten solltest“, entgegnete Lionel, während Elsie das Tablett auf Claras Tisch abstellte und das Gedeck arrangierte. „Und ich glaube, dass du mein Dilemma gelöst hast.“

„Damit verschaffst du dir lediglich etwas Zeit, Lionel, mehr nicht. Nutze sie.“

Die beiden erhoben sich. Hastig knallte Elsie das Marmeladenglas auf Claras Tisch und sauste dann blitzschnell zum Ausgang, um ihre Gäste zu verabschieden.

Die Männer traten hinter den Palmen hervor, um Elsie in den vorderen Teil des Teeladens zu folgen. Dabei kamen sie an Claras Tisch vorbei, Adonis vorweg, Lionel im Schlepptau. Sie senkte den Kopf über einen der geöffneten Briefe und tat so, als nähme sie keinerlei Notiz von ihnen. Während sie ihre Rechnung beglichen, hob Clara den Blick und sah ihnen nach. Alles, woran sie denken konnte, war die schäbige Scharade, die jene unbekannte Frau erwartete.

Jemand sollte sie vor dem warnen, was da im Gange ist, dachte Clara und beobachtete mit schmalen Augen, wie der Urheber der Intrige hinter seinem Freund den Teeladen verließ. Jemand müsste ihr erzählen, auf welch grässliche Weise ihre Zuneigung missbraucht werden sollte. Aber wie, fragte sich Clara, lässt sich das bewerkstelligen?

Stirnrunzelnd dachte sie nach.

Soweit sie das mitbekommen hatte, gehörte diese Dina dem ton an, wodurch sich gewisse Möglichkeiten auftaten. Immerhin war Clara die Enkelin eines Viscounts und seit Kurzem auch die Schwägerin eines Dukes, was ihr Zugang zu den Kreisen dieser Frau verschaffte. Doch half ihr das weiter? Sie hatte in der feinen Gesellschaft noch nicht Fuß gefasst, hatte bislang vorwiegend mit Damen verkehrt, die zur herzoglichen Familie gehörten. Und unter den wenigen anderen vornehmen Frauen, die sie getroffen hatte, war keine junge Witwe namens Dina gewesen.

Seufzend lehnte sie sich zurück. Der Nachname der Frau wäre weit dienlicher gewesen als der Vorname. Dennoch konnte sie die Schwestern des Dukes zumindest nach ihr fragen. Womöglich wussten sie, um wen es sich handelte.

Aber selbst wenn sie es herausfände – was sollte sie dann tun? Sie konnte schwerlich bei einer ihr unbekannten jungen Dame vorstellig werden, um umgehend damit herauszuplatzen, dass deren heimlicher Liebhaber ein niederträchtiger Lump war. Diese gute Tat brächte ihr vermutlich eine Ohrfeige ein.

Und außerdem, dachte sie und ließ den Blick bedrückt über den Briefstapel vor ihr gleiten, habe ich eigene Sorgen.

Plötzlich schoss ihr eine Idee durch den Kopf. Es war eine aberwitzige, schier unglaubliche Idee, die nicht nur ihr eigenes drängendes Problem lösen, sondern obendrein eine Mitschwester vor einem gebrochenen Herzen und dem gesellschaftlichen Ruin bewahren könnte.

Clara setzte sich aufrechter hin, zog den Stapel Briefpapier heran und nahm ihren Füllfederhalter zur Hand. Sie überlegte kurz, dann begann sie zu schreiben. Nur wenige Minuten später legte sie die Füllfeder beiseite und deponierte ihr Werk zuoberst auf den Briefen, von grimmiger Befriedigung erfüllt.

Ihre erste Lady-Truelove-Kolumne war fertig. Sie konnte nur hoffen, dass Dina Wer-immer-sie-war die Weekly Gazette las.

3. KAPITEL

Rex hatte nichts übrig für Feste der feinen Gesellschaft. Dank seines recht perfiden Sinns für Humor fand er die weniger feine Gesellschaft weit unterhaltsamer. Aber er war nun mal Viscount Galbraith, einziger Sohn des Earl of Leyland, und als solcher hatte er gewissen gesellschaftlichen Pflichten nachzukommen, die meist mit seiner Großtante Petunia zu tun hatten. Nicht nur, weil Tantchen derzeit seine einzige Einnahmequelle darstellte, sondern auch, weil er ihr, unabhängig davon, von Herzen zugetan war. Wenn sie daher entschied, die Saison mit einem Ball einzuläuten, war seine Anwesenheit de rigueur.

Daher ließ er sich von seinem Kammerdiener klaglos mit einer weißen Krawatte und einem Frack ausstaffieren, setzte sich einen dieser albernen Zylinder auf und spazierte gemächlich von seinem bescheidenen Stadthaus in der Half Moon Street zu Großtante Petunias noblem, mondänen Domizil in der Park Lane. Unterwegs wappnete er sich innerlich für die bevorstehenden Torturen. Mindestens zwei Stunden lang würde er sich von flatterhaften Debütantinnen auf die Zehen treten lassen und ihrem Geschwätz lauschen müssen.

Bei seiner Ankunft platzte der Ballsaal seiner Tante noch nicht aus allen Nähten, denn Rex hatte sich seiner Familie gegenüber verpflichtet, pünktlich und nicht etwa vornehm verspätet einzutreffen. Jedoch war er für den Geschmack seines Tantchens, wie sich alsbald herausstellte, immer noch nicht pünktlich genug.

„Wie ich sehe, muss es weit nach elf sein, damit du uns endlich mit deiner Anwesenheit beehrst“, empfing sie ihn vor den geöffneten Türen des Ballsaals. „Ich hatte schon befürchtet, dass ich an Altersschwäche sterbe, bevor ich dich zu sehen bekomme.“

Jeder andere hätte diese Begrüßung womöglich als kalt empfunden, doch Rex ließ sich nicht täuschen. Er beugte sich vor, um seine Großtante liebevoll auf die runzelige Wange zu küssen. „Schon nach elf, hm? Dass Sie zu dieser höchst unchristlichen Stunde überhaupt noch wach sind, Tantchen Pet.“ Nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, sah er sie betont besorgt an. „Vielleicht sollten Sie lieber einen Löffel Lebertran nehmen und sich zurückziehen? In Ihrem Alter kann man gar nicht vorsichtig genug sein.“

„Lausebengel.“ Sie deutete mit dem Kopf auf hinter sich, in den Saal, wo die Gäste sich gerade in Erwartung des ersten Tanzes zusammenfanden. „Als Belohnung für deine freche Zunge darfst du den Ball eröffnen.“

Er stöhnte. „Muss das sein? Kann Onkel Bertie das nicht übernehmen? Wo steckt der alte Knabe überhaupt?“ Er sah sich suchend um.

„Mein Neffe hat sich heute Nachmittag eine leichte Erkältung zugezogen und hütet das Bett. In spätestens zwei Tagen dürfte er wieder wohlauf sein. Meine liebe Lady Seaforth“, wandte sie sich an den nächsten Ankömmling, wobei sie Rex vielsagend mit dem Fuß anstieß.

Er ergab sich dem Schicksal, das seiner in Abwesenheit von Onkel Bertie harrte, und stellte sich neben seiner Großtante auf, um gemeinsam mit ihr Lady Seaforth und deren Töchter zu begrüßen. Letztere waren – gottlob – beide vermählt und somit kein Material für Petunias liebstes Steckenpferd.

Sein Tantchen war unvermählt und nicht mit eigenen Kindern, dafür jedoch mit einer äußerst romantischen Ader gesegnet. Es war ihre erklärte Mission, vor Ablauf ihres irdischen Daseins alle sechs ledigen Großneffen und Großnichten unter die Haube zu bringen. Dabei hatte sie es vor allem auf Rex abgesehen, weil der einmal die Grafschaft erben würde.

„Wegen einer Partnerin für den Eröffnungstanz brauchst du dich nicht zu sorgen“, bemerkte Petunia. „Ich habe dir schon eine ausgesucht.“

Das überraschte ihn nicht, aber er beschloss, den Ahnungslosen zu mimen. „Etwa Hetty?“, fragte er und ließ den Blick über die Menge gleiten, als hielte er nach seiner Lieblingscousine Ausschau. „Fabelhaft. Mit Hetty eröffne ich den Ball sehr gern.“

„Es ist nicht Henrietta“, dämpfte Tantchen seinen Enthusiasmus. „Dir steht bei der Suche nach einer Frau fürs Leben ein weit größerer Kreis zur Verfügung als deine eigenen Cousinen.“

Etliche Male schon hatte er nachdrücklich darauf hingewiesen, dass er keinerlei Absicht hegte, jemals nach einer passenden Braut Ausschau zu halten, weder jetzt noch in naher oder ferner Zukunft. Doch derlei Beteuerungen prallten an Petunias Entschlossenheit ab.

„Wirklich, Tantchen, mir ist schleierhaft, weshalb Sie sich so vehement dagegen verwehren, dass Hetty mich heiratet“, erwiderte er stattdessen, um eine ernste, aufrichtige Miene bemüht, obwohl er sie aufzog. „Damit hätten Sie gleich zwei von uns auf einen Streich vermählt. Schließlich war sich nicht einmal die Queen zu schade, ihren eigenen Cousin zu ehelichen, oder?“

Sie bedachte ihn mit einem spöttischen Blick, um anzudeuten, dass sie seine Frotzelei durchschaute. „Als Mitglied des Königshauses musste Victoria sich in ehelicher Hinsicht anderen Zwängen beugen als wir gewöhnlichen Sterblichen.“

„So kann man es auch nennen“, entgegnete er grinsend. „Aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, denn Hetty würde mich niemals als Gatten in Betracht ziehen. Der bloße Gedanke würde ihr vor Lachen die Tränen in die Augen treiben.“

„Dabei bist doch in Wahrheit du derjenige, der sich weigert, die Ehe ernst zu nehmen“, gab sie zurück.

„Ganz im Gegenteil“, konterte er prompt, „ich nehme sie überaus ernst – vor allem, wenn es darum geht, sie zu vermeiden.“

„Ehrlich, Galbraith, du treibst mich zur Weißglut. Im Herbst wirst du zweiunddreißig. Wie lange willst du dich noch gegen die wichtigste Verantwortung deiner Position sträuben?“

„Bis ich in die Grube fahre. Gern länger.“

„Ohne etwas darauf zu geben, was aus Titel und Anwesen wird. Dein Vater erwartet von dir, dass du heiratest, und zwar zu Recht. Du hast keine Brüder, und dein Onkel Albert kommt als Sohn meiner verblichenen Schwester als Erbe nicht infrage. Sofern du nicht heiratest und selbst Söhne zeugst, fällt das Ganze an den Neffen vierten Grades deines Vaters.“

Als wüsste er das alles nicht längst. Er unterdrückte ein Seufzen, während sein Tantchen fortfuhr: „Keiner von uns ist diesem Thomas Galbraith je begegnet. Er ist älter als du, hat jedoch keinen Erben, ja, er ist sogar immer noch ledig, weshalb …“

„Vielleicht hätten Sie ihn ja zu Ihrem Ball einladen sollen, hm?“

Sie ignorierte seine Stichelei. „Er besitzt eine Schusterwerkstatt in der Petticoat Lane. Eine Schusterei, ich bitte dich – wie soll ihn eine solche Existenz denn auf die Rolle als nächster Earl vorbereitet haben!“

„Ein Schuhmacher als Earl of Leyland?“ Er heuchelte Entsetzen. „Herr im Himmel, was für eine grauenhafte Vorstellung.“

„Es geht mir nicht um seinen Berufsstand. Was mir Sorgen bereitet, ist sein Mangel an Wissensgrundlagen. Thomas Galbraith hat keine Ahnung davon, was es heißt, ein Anwesen wie Braebourne zu führen.“

„Was gibt es da zu wissen? Dane ist ein fähiger Verwalter. Und da Vater ohnehin nach London gezogen ist und das Haus verpachtet hat …“

„Nur bis du heiratest.“

Dieses Mal konnte er sein Seufzen nicht unterdrücken. Er bemühte sich, möglichst beherrscht zu sprechen. „Das wird nicht geschehen, Tantchen Pet, wie ich bereits zahllose Male angemerkt habe. Und bevor wir anfangen, uns neuerlich deswegen zu streiten“, fügte er hinzu, ehe sie etwas erwidern konnte, „brauche ich einen Drink.“

Ein flüchtiger Blick über den Korridor ergab, dass die nächsten Gäste noch dabei waren, im Vestibül ihre Capes abzulegen. Rex entschuldigte sich und trat in den Ballsaal, wo er den nächstbesten Lakaien mit einem Tablett voller Silberbecher ansteuerte. Während er so tat, als müsse er überlegen, ob er sich für Rotwein oder Rumpunsch entscheiden sollte, behielt er die Tür im Auge.

Er hatte Petunia aufrichtig gern und wusste, dass dies auf Gegenseitigkeit beruhte. Aber das stählerne Blitzen, das er heute in ihren Augen sah, kündete davon, dass der vor ihm liegende Abend – wie vermutlich die gesamte Saison – für sie beide aufreibend werden würde.

Normalerweise wäre er vor dem drohenden Disput geflüchtet, indem er sich unter die Leute mischte, doch da sein Onkel als Gastgeber ausfiel, oblag es ihm, bis zum ersten Tanz an der Seite seiner Großtante die eintreffenden Gäste zu empfangen. Daher ergriff er, als er sah, wie sich der nächste Schwung Ankömmlinge näherte, einen Becher Rumpunsch und kehrte zu Petunia zurück, um brav Hände zu schütteln. Nachdem sie erneut unter sich waren, nahm Tantchen den Faden der Unterhaltung wieder auf, offenbar gewillt, es auf einen Streit ankommen zu lassen.

„Ich wage zu behaupten, dass deine Eltern schwer enttäuscht sind, weil du deine Pflichten so schmählich vernachlässigst.“

Er lachte und nahm einen tiefen Schluck von seinem Drink. „Die Erwähnung meiner Eltern wird mich schwerlich anspornen, vor den Altar zu treten, Tantchen Pet.“

„Zugegeben, die Ehe deiner Eltern war stets … schwierig, aber wenigstens sind sie ihrer höchsten Pflicht nachgekommen. Zudem“, fuhr sie fort, ehe er etwas entgegnen konnte, „solltest du ihre Situation nicht als Ausrede anführen, um dich deiner eigenen Verantwortung zu entziehen. Schließlich ist die unglückliche Verbindung der beiden kein legitimer Grund, die Institution Ehe pauschal zu verdammen.“

„Ich weiß nicht recht, ob unser Bekanntenkreis dieser Einschätzung beipflichten würde.“ Er drehte sich um und wies mit dem Glas auf die Gesellschaft im Ballsaal hinter ihnen. „Dank Mamas und Papas tief empfundener gegenseitiger Abneigung, aus der sie keinen Hehl machen, und einem eklatanten Mangel an Diskretion auf beiden Seiten hatte die Boulevardpresse keinerlei Mühe, alle Welt über den erbärmlichen Zustand der Ehe meiner Eltern au courant zu halten – von Mutters erster Affäre über jeden weiteren Skandal und jede weitere Vergeltungsmaßnahme bis hin zur Scheidung. Und ich glaube, dass unsere Freunde angesichts des Kummers, den Mutter und Vater einander im Laufe ihrer vierzehn gemeinsamen Jahre zugefügt haben, vollstes Verständnis für meine ablehnende Haltung gegenüber der Ehe empfinden.“

„Das alles ist doch seit ihrer Trennung vor einem Jahrzehnt Geschichte. Die Leute haben es längst vergessen.“

Er hielt dem gereizten Blick seiner Großtante mit unnachgiebiger Miene stand. „Ich nicht.“

Sofort wurden ihre Züge ganz weich. „Ach, mein Liebling“, sagte sie so mitfühlend, dass er wegschauen musste und das Gespräch rasch von sich ablenkte.

„Und Mutter und Vater haben es ebenfalls nicht vergessen“, fügte er hinzu. „Ganz und gar nicht, seien Sie versichert.“

Er bereute den Satz, kaum dass er ihn ausgesprochen hatte, denn Petunia stürzte sich sogleich darauf. „Und woher weißt du das?“, hakte sie nach.

Nachdem er sich nun exakt in die heikle Diskussion verstrickt sah, die er sonst tunlichst vermied, achtete er darauf, seine nächsten Worte mit Bedacht zu wählen. „Ich habe Vater besucht, als er in die Stadt gekommen ist, und er hat sich sogleich über sein Lieblingsthema ausgelassen: das treulose Wesen meiner Mutter. Daher war mein Besuch nur von kurzer Dauer.“

Autor

Laura Lee Guhrke
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