Zwischen Ehre und verbotenem Verlangen

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Plötzlich Millionenerbin! Marjorie McGann weiß genau, was sie mit dem Geld anstellen wird: dem gestrengen Pensionat in New York entkommen und in London ihre erste Saison begehen! Auf jedem Ball wird sie tanzen und dabei hoffentlich einen adligen Gentleman zum Heiraten finden! Doch die ehrgeizigen Pläne der rothaarigen Schönheit drohen an ihrem Vormund, dem ebenso attraktiven wie entnervenden Jonathan Deverill, zu scheitern. Er scheint entschlossen, ihr jeden Spaß zu verwehren. Bis er etwas macht, das Marjorie verblüfft, erregt und zutiefst verunsichert: Er küsst sie heiß - und wendet sich dann von ihr ab, als sei sie pures Gift für ihn …


  • Erscheinungstag 26.02.2021
  • Bandnummer 129
  • ISBN / Artikelnummer 9783751502320
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Ein angesehenes Mädchenpensionat in White Plains, New York, war nun wirklich der letzte Ort auf der Welt, an dem Jonathan Deverill erwartet hätte, sich wiederzufinden.

Zwar lebte er nun schon seit fast zehn Jahren auf dem amerikanischen Kontinent, doch den größten Teil dieser Zeit hatte er im Wilden Westen verbracht, unter Leuten, die nur sehr wenig mit vornehmer Gesellschaft zu tun hatten.

Das Büro der Direktorin der Forsyte Academy war ein nüchterner Raum mit öden grauen Tapeten und schlichtem Mobiliar, doch obwohl es hier wesentlich weniger prächtig aussah als in dem wohlhabenden englischen Haushalt, in dem er groß geworden war, ließen die Aquarellbilder an den Wänden und die Milchglasvasen voller zartlila Fliederblüten keinen Zweifel daran, dass er sich im Zimmer einer Dame befand. Und das Leben, das er seit Langem führte, bot dem Mann, zu dem er geworden war, nur äußerst selten Anlass, ein solches Zimmer zu betreten.

Mrs. Forsytes forsche Stimme riss ihn aus seinen Betrachtungen. „Nun, Mr. Deverill, da sind Sie ja endlich.“

Ihr Ton deutete an, dass er es, weil er nicht früher eingetroffen war, auf irgendeine Weise versäumt hatte, den in ihn gesetzten Erwartungen gerecht zu werden. Nun gut. Es wäre nicht das erste Mal.

„Ich bitte, meine Verspätung zu entschuldigen, Madam“, erwiderte er höflich.

Mit ihrem stahlgrauen Haar und dem strengen Zug um den Mund machte die Direktorin den Eindruck einer herben, unbeugsamen Frau, dennoch akzeptierte sie seine Entschuldigung mit einem gnädigen Nicken. „Ich nehme an, Sie wünschen Miss McGann umgehend zu sehen?“

„Das ist richtig.“

Trotz ihres Tadels wegen seiner nicht sehr zügigen Anreise schien sie es nicht eilig zu haben, den Grund seiner Anwesenheit weiter zu verfolgen. Sie legte die Karte ab, die er ihr gereicht hatte, nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz und bedeutete ihm mit einer Geste, sich auf den Stuhl ihr gegenüber zu setzen. „Ich habe sie vom Tod ihres Vaters unterrichtet“, begann sie. „Für mich kam sein Ableben nicht überraschend, da ich von seiner Krankheit wusste, seit er vor achtzehn Monaten in dieses Sanatorium in Colorado gegangen ist, aber Mr. McGann bestand darauf, dass seine Tochter nicht über seinen Zustand informiert wird. Eine nachvollziehbare Einstellung, muss ich sagen. Tuberkulose ist eine furchtbare Krankheit.“

„Ja.“ Seine Antwort war vielleicht etwas kurz angebunden, doch er wollte nicht über jene letzten Tage in Denver reden, als er hilflos mit ansehen musste, wie sein bester Freund starb – oder auch nur daran denken.

„Und nun sind also Sie Miss McGanns gesetzlicher Vormund.“ Sie musterte ihn von oben bis unten und runzelte missbilligend die Stirn. „Sie sind jünger, als ich erwartet hätte.“

Ganz offensichtlich bezweifelte sie seine Fähigkeit, sich um ein Kind zu kümmern, und wer konnte es ihr verübeln? Er und Billy McGann hatten sich viele Jahre in der wilden, rauen Welt des amerikanischen Minengeschäfts herumgetrieben und dort ein Vermögen gemacht. Von sämtlichen Personen, die ihm als mögliche Erziehungsberechtigte für ein kleines Mädchen einfielen, schien er die bei Weitem unpassendste Wahl zu sein.

„Sie müssen verstehen, Mr. Deverill, dass ich in gewisser Weise die Rolle ausgefüllt habe, die Sie nun zu übernehmen gedenken. Ihr Vater hat mir diese Verantwortung übertragen, als er das Mädchen an meiner Schule unterbrachte.“

„Natürlich.“

Die klugen blauen Augen der Direktorin verengten sich zu einem durchdringenden Blick, der ihm eindrucksvoll vermittelte, warum sie und ihre Schule einen so exzellenten Ruf genossen. Diesen Augen entging nicht viel. „Ich habe mein Bestes gegeben, um sicherzustellen, dass sie vor Schurken, Tunichtguten und Schwindlern geschützt war.“

Trotz der tragischen Umstände, die ihn hergebracht hatten, zuckte ein Lächeln um Jonathans Mundwinkel. „Ich verstehe.“

„Mr. McGann war ein sehr reicher Mann, und die Nachricht von seinem Ableben war in den Zeitungen nachzulesen. Wie kann ich sichergehen, dass Sie tatsächlich derjenige sind, der Sie zu sein behaupten? Eine Visitenkarte kann schließlich jeder drucken lassen.“

„Das stimmt.“ Er griff in die Brusttasche seiner Jacke und zog das Bündel Papier heraus, das sich in Billys Hinterlassenschaften gefunden hatte – eine exakte Reproduktion des Testaments, das sein Freund achtzehn Monate zuvor bei der New Yorker Kanzlei Jessop, Gainsborough & Smythe hinterlegt hatte. „Würde das hier Sie zufriedenstellen?“

Mrs. Forsyte nahm das Dokument, das er ihr reichte, und las es Wort für Wort durch. „Das verifiziert Ihre Identität und bestätigt, was Mr. Jessop mir mitteilte.“ Sie gab ihm das Testament zurück. „Aber ich gestehe, dass ich deshalb nicht minder erstaunt bin.“

Da war sie nicht die Einzige. Bis vor einem Monat hatte Jonathan nicht mal gewusst, dass der Mann, der seit sieben Jahren sein Freund und Partner war, überhaupt eine Tochter hatte, geschweige denn, dass er testamentarisch verfügt hatte, besagtes Kind in seine Obhut zu geben. „Aber nicht erstaunter als ich selbst, Madam“, erklärte er im Brustton der Überzeugung.

„Verzeihen Sie meine Direktheit, aber ein junger unverheirateter Mann kommt mir in dieser Rolle höchst unpassend vor. Und“, fügte sie hinzu, bevor er ihr aus vollem Herzen zustimmen konnte, „ich hätte auch nicht gedacht, dass das Mädchen einen Vormund benötigt. Nicht zu diesem Zeitpunkt.“

Der Nachdruck, mit dem sie das Wort Vormund betonte, legte die Vermutung nahe, dass sie fürchtete, Billy wäre der Meinung gewesen, dass die Forsyte Academy sich nicht ordentlich um seine Tochter gekümmert hätte und dass Jonathan nun hier war, um das Mädchen von der Schule zu nehmen. Er beeilte sich, die Direktorin zu beruhigen.

„Ich bezweifele nicht, dass Mr. McGann vollstes Vertrauen in Sie und Ihre Schule hatte, ein Vertrauen, dass ich absolut teile.“ Er faltete das Testament wieder zusammen und steckte es in seine Jackentasche. „Tatsächlich ist mein heutiger Besuch nur eine Formalität …“

„Eine Formalität?“, unterbrach sie ihn und hob überrascht die grauen Brauen.

„Ich bin auf dem Weg nach London, um meine Schwestern zu sehen, und reise von dort aus weiter nach Johannesburg. Mr. McGann hatte geschäftliche Interessen in Südafrika, um die ich mich kümmern muss. Ich rechne mit einem längeren Aufenthalt dort.“

„Ah ja.“ Sie schwieg eine Weile, um diese Information zu überdenken. „Ich gehe davon aus, dass Sie nicht vorhaben, das Mädchen mitzunehmen?“

Er schüttelte den Kopf. „Ich bin ein Fremder für sie. Sie nach nur einem Treffen zu entwurzeln und ihr das einzige Zuhause zu rauben, das sie je kannte, wäre nicht nur schmerzlich, sondern regelrecht grausam. Und was sollte ich mit ihr anstellen? Sie kann mich ja schlecht zu den Minenstädten Südafrikas begleiten.“

„Gewiss nicht“, stimmte die Direktorin ihm zu. Sie klang leicht schockiert.

„Daher halte ich es für das Beste, sie vorerst hierzulassen. Wenn das eine akzeptable Lösung ist?“

Die Frage schien Mrs. Forsyte zu belustigen, denn ihre streng zusammengepressten Lippen verzogen sich zur Andeutung eines Lächelns. „Ich fürchte, dass es möglicherweise keine akzeptable Lösung für Miss McGann sein könnte. Doch wie auch immer“, fügte sie hinzu, bevor er sie daran erinnern konnte, dass ihre Schülerin nur ein Kind war und als solches kein großes Mitspracherecht in der Angelegenheit hatte, „Ihre Verpflichtung ihr gegenüber ist mehr als eine bloße Formalität, Mr. Deverill.“

„Ich meinte ja auch nur, dass der Zweck meines heutigen Besuchs der ist, sie kennenzulernen und mich zu vergewissern, dass sie glücklich und zufrieden ist. Ich wüsste nicht, was ich momentan mehr tun könnte.“

„Wirklich nicht? Nach dem letzten Willen ihres Vaters hat sie ein beträchtliches Vermögen geerbt – das Sie verwalten sollen.“ Er hätte anmerken können, dass seine eigenen finanziellen Mittel denen seines verstorbenen Geschäftspartners entsprachen und er wenig Grund und keinerlei Bedürfnis hatte, das Erbe des Kindes zu veruntreuen, vermutete aber, dass derlei Beteuerungen Mrs. Forsyte nicht sonderlich beeindrucken würden.

„Wie Sie im Testament lesen konnten“, sagte er stattdessen, „ist das Geld in treuhänderischer Verwaltung. Keiner darf das Kapital anrühren, nicht mal ich. Und auch wenn ich mich um ihre Investments kümmern werde, so, wie ich es für ihren Vater getan habe, kann ich nur sehr wenig ohne die ausdrückliche Zustimmung von Mr. Jessop unternehmen, der ebenfalls Treuhänder ist. Miss McGanns Vermögen wird auch weiterhin gut geschützt sein.“

„Ich dachte auch nicht an das Geld selbst, sondern an die Wirkung, die es auf sie haben könnte.“

„Ich verstehe nicht ganz, was Sie mir damit sagen wollen.“

Mrs. Forsyte beugte sich vor und faltete die Hände auf der Schreibtischplatte. „Ich leite dieses Institut schon seit vielen Jahren, Mr. Deverill. Manche der Mädchen, die hierherkommen, sind an Geld gewöhnt, weil sie damit aufgewachsen sind. Sie wissen, was es bedeutet, reich zu sein. Andere sind sich dessen nicht so sehr bewusst. Miss McGann zählt zu letzterer Kategorie. Ich würde sie keinesfalls als naiv bezeichnen, doch ihr Vater wünschte, seine Tochter so gut es ging von den Versuchungen und Sünden dieser Welt abzuschirmen, und ich habe nach bestem Wissen und Gewissen versucht, seinen Wünschen zu entsprechen. Sie weiß seit einiger Zeit, dass sie eines Tages eine sehr vermögende Frau sein wird, aber das Leben hier hat sie, fürchte ich, nicht auf die reale Situation einer reichen Erbin vorbereitet.“

„Als ihr Vormund muss ich zugeben, dass ich ebenfalls nicht auf diese Situation vorbereitet bin, Madam. Doch ich werde mein Bestes tun.“

„Werden Ihre Schwestern Sie dabei unterstützen?“

Jonathan hatte keine Ahnung, wie und warum seine Schwestern zu diesem Zeitpunkt ins Spiel kommen sollten, und war auch nicht sicher, wie groß die Rolle wäre, die sie später übernehmen würden, hielt es aber nicht für sinnvoll, darauf hinzuweisen. „Sie wissen von meinen Schwestern?“

„Mr. Jessop hat mich informiert. Ihre älteste Schwester ist eine Duchess, nicht wahr, und ihre zweite eine Viscountess?“

„Ja, und ich versichere Ihnen, dass ich während meines Aufenthalts in England die Zukunft des Mädchens mit meinen beiden Schwestern besprechen werde. Kann ich sie jetzt sehen?“

Offenbar endlich zufriedengestellt, stand sie auf, woraufhin auch er sich erhob. „Warten Sie bitte hier“, sagte sie und wandte sich zur Tür. „Ich schicke Miss McGann zu Ihnen.“

Sobald er allein war, ging Jonathan zum Fenster und schaute nach draußen. Es war ein schöner Maimorgen, und während er beobachtete, wie Mädchen in Schürzenkleidern mit ihren Lehrerinnen über die gepflegte Anlage spazierten, wurde ihm klar, warum Billy sich seinerzeit dafür entschieden hatte, seine Tochter an diesem abgelegenen Ort unterzubringen, der mit seinen hohen Mauern und der strengen Direktorin beinahe einem Kloster glich – und damit eine sehr viel passendere Umgebung für ein mutterloses Mädchen darstellte als alles, was ihr Vater ihr hätte bieten können.

Warum Billy beschlossen hatte, ihn zum Vormund des Kindes zu machen, war Jonathan hingegen ein Rätsel.

In den sieben Jahren ihrer Freundschaft hatten sie reichlich getrunken, gespielt, den Frauen nachgestellt und ein hartes, raues Leben geführt. Keiner von ihnen hatte jemals den Wunsch geäußert, sich irgendwo häuslich niederzulassen.

Billy hatte offensichtlich einmal einen Versuch in diese Richtung gestartet und war daran gescheitert. Was ihn selbst betraf, so hatte Jonathan mit dem Tag seines Aufbruchs aus England sämtliche Absichten, sesshaft zu werden, aufgegeben. Während des zurückliegenden Jahrzehnts waren die drei Jahre, in denen er Silber abgebaut hatte, der längste Zeitraum an ein und demselben Ort gewesen.

Andererseits hatten Billy und er einander vertraut wie Brüder. Ihnen war gar nichts anderes übrig geblieben. Wenn zwei Männer über eine der größten Silberadern seit der Comstock Lode stolperten, dann erforderte es absolutes gegenseitiges Vertrauen, ihre Entdeckung vor Claim-Dieben und rücksichtslosen Minenkonzernen zu beschützen.

Außerdem war da noch das Vermögen. Sie hatten Silbererz im Wert von Millionen Dollar aus jener Mine in Idaho gefördert, und da Billy keinerlei finanzielles Gespür besaß, war Jonathan derjenige gewesen, der ihr Geld gewinnbringend anlegte. Er hatte seine Sache ziemlich gut gemacht, daher war es vermutlich eine sinnvolle Entscheidung, ihn zum Verwalter des Treuhandfonds zu bestimmen.

Und natürlich spielte auch Jonathans Herkunft und Erziehung eine wichtige Rolle, das hatte Billy selbst eingeräumt und der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass seine Tochter eines Tages von Jonathans Verbindungen zur feinen britischen Gesellschaft profitieren könnte. Aber wie wertvoll waren diese Verbindungen eigentlich noch? Du lieber Gott, er war ganze zehn Jahre nicht mehr in England gewesen. Und hatte niemals vorgehabt, je wieder in dieser Welt zu leben.

Er starrte auf die Mädchen und ihre Lehrerinnen hinunter und schätzte sich glücklich, dass er nicht auf der Stelle die Verantwortung für das Kind übernehmen musste. Sie würde noch ein paar Jahre hier im Pensionat bleiben, was ihm jede Menge Zeit verschaffte, Pläne zu entwickeln und Arrangements zu treffen …

„Mr. Deverill?“

Jonathan drehte sich um. Er rechnete damit, ein Schulmädchen mit Zöpfen vor sich zu sehen, doch stattdessen stand eine Frau von ungefähr zwanzig Jahren in der offenen Tür. Eine Frau von so überwältigender Schönheit, dass er unwillkürlich nach Luft schnappte.

Ihre Haut hatte den zarten Glanz von Perlen, sah dabei aber seidenweich aus. Das Haar, das sich in üppigen Locken auf ihrem Kopf türmte, war von einem strahlenden, prächtigen Rot, das in dem sonnendurchfluteten Raum wie Feuer leuchtete. Ein Kranz dichter brauner Wimpern umkränzte die großen dunklen Augen, und die vollen Lippen schimmerten rosenrot. In der asketischen Nüchternheit des Direktorinnen-Büros wirkte sie wie das blühende, kraftvolle Leben.

Das streng geschnittene schwarze Kleid passte zwar zur Umgebung, wurde ihrer Schönheit aber in keinster Weise gerecht. Als er das Monogramm an ihrem Revers entdeckte, wurde ihm klar, dass sie eine der Lehrerinnen sein musste.

Allerdings hatte sie keine Schülerin dabei, und als er an ihr vorbeiblickte, sah er kein Kind, das ihn schüchtern hinter ihren Röcken hervor musterte oder im Flur wartete.

„Mr. Deverill?“

Ihre Stimme lenkte seinen Blick wieder auf ihr Gesicht und seine Aufmerksamkeit aufs eigentliche Thema. „Ich bin Jonathan Deverill“, erwiderte er und runzelte verwirrt die Stirn. „Aber da hat es wohl ein Missverständnis gegeben. Ich bin hier, um Miss Marjorie McGann zu sehen.“

„Das sind Sie“, bestätigte sie lachend. „Und hier bin ich.“

Verdutzt blinzelte er. Ihre Worte konnten nur eine einzige Bedeutung haben, ergaben aber trotzdem keinen Sinn. Doch als er erneut das leuchtend rote Haar und die dunkelbraunen Augen musterte, traf ihn ihre Ähnlichkeit zu Billy plötzlich wie ein Schlag in die Magengrube.

Auf dem Sterbebett hatte Billy seinem Partner zum ersten Mal von Marjories Existenz erzählt und ihn angefleht, sein „kleines Mädchen“ zu beschützen und sich um sie zu kümmern. Aber während Jonathan den Blick über die perfekten Kurven ihrer Figur gleiten ließ, kam er nicht umhin festzustellen, dass es sich bei Marjorie McGann in keinerlei Hinsicht um ein kleines Mädchen handelte.

„Verdammt“, murmelte er, seine vornehme, damenhafte Umgebung vergessend und in die raue Sprache des wilden Westens zurückfallend. „Gottverfluchter heiliger Mist.“

2. KAPITEL

Er war ganz anders, als sie ihn sich ausgemalt hatte. Da sie über wenig bis gar keine Information verfügte, waren im Laufe der Jahre in ihrer Vorstellung zwei Varianten des britischen Geschäftspartners ihres Vaters entstanden. Ein silberhaariger Gentleman in Tweed und Brogues, mit hellen Augen, schwachem Kinn und Pferdegesicht – und ein stämmiger Hinterwäldler mit angegrautem Haar und Bart, der alles, was an sein kulturelles Erbe erinnerte, abgelegt hatte, Flanellhemden und Arbeitshosen trug und wie ein waschechter Minenarbeiter fluchte.

Dieser Mann war weder das eine noch das andere. Oder vielleicht eine Mischung aus beidem?

Dass er fluchte wie ein Minenarbeiter, hatte er soeben eindrucksvoll demonstriert, doch sein britischer Akzent ließ die Worte in Marjories amerikanischen Ohren eher elegant als profan klingen. Und er war tatsächlich kräftig gebaut, ziemlich groß, die breiten Schultern und die muskulöse Brust passten zu jemandem, der sich in den Bergen durchschlug, doch alles in allem war er nicht stämmig, sondern schlank – sein Oberkörper verjüngte sich zur Taille hin, die Hüften waren schmal, die Beine lang. Er trug weder Flanell und Denim noch Tweed und Brogues, sondern einen perfekt geschneiderten, einigermaßen abgetragenen Anzug aus dunkelgrauem Wollstoff. Sein kurzes Haar war weder blond noch schwarz, sondern lag im Farbton genau dazwischen, wie Tabak – dicht und dunkelbraun, mit ein paar goldenen Strähnen und ohne eine Spur von Grau.

Sie ließ den Blick zu seinem Gesicht wandern, das unerwartet jung war und kein bisschen pferdeartig. Sondern überraschend attraktiv, mit fein geschnittenen Zügen, einer kühn geschwungenen Adlernase, gebräuntem Teint und bernsteinfarbenen Augen. Er war glatt rasiert, was keinen Zweifel daran ließ, dass sein Kinn alles andere als schwach war, im Gegenteil – die markante Kontur seines Kiefers deutete auf eine gewisse Dickköpfigkeit hin.

Was sich als problematisch erweisen könnte.

„Sie sind Billys Tochter? Wirklich?“

Verdutzt über seinen ungläubigen Ton blinzelte Marjorie. „Ja, natürlich. Was?“, fügte sie hinzu, als er laut auflachte, denn ihr war nicht klar, was er so amüsant fand.

„Sie sind nicht …“ Kopfschüttelnd unterbrach er sich und rieb sich die Stirn, als wäre er über irgendetwas zutiefst verwirrt. „Sie sind nicht unbedingt das, was ich erwartet habe.“

„Dasselbe könnte ich von Ihnen sagen“, erwiderte sie mit Nachdruck.

„Kein Wunder.“ Er schaute sie an, und jeder Anflug von Humor verschwand aus seiner Miene. „Denn ich bin wirklich die letzte Person, die Ihr Vater sich für diese Aufgabe hätte aussuchen sollen.“

Bevor sie ihn kennengelernt hatte, hätte Marjorie vehement widersprochen, denn die Tatsache, dass ihr Vormund der feinen britischen Gesellschaft entstammte, fügte sich bemerkenswert gut in ihre eigenen Pläne. Doch nun, da sie Mr. Deverill getroffen hatte, fragte sie sich, ob er mit seiner Einschätzung nicht recht haben könnte.

Einen Vormund zu haben, war schon schlimm genug, aber sie hatte zumindest gehofft, dass ihrer leicht zu handhaben wäre. Doch ein weiterer Blick auf das markante schmale Gesicht und das kantige Kinn bestätigte leider die Befürchtung, dass dieser Mann ungefähr so leicht zu handhaben sein würde wie ein störrisches Maultier.

„Mir war nicht klar, dass Mädchen Ihres Alters noch zur Schule gehen“, sagte er in ihre Grübeleien hinein.

„Ich bin kein Mädchen“, entgegnete sie scharf und trat ins Zimmer. „Ich bin eine Frau.“

„Ja“, pflichtete er ihr grimmig bei. „Das sind Sie in der Tat. Unglücklicherweise hat sich niemand die Mühe gemacht, mir das mitzuteilen.“

„Oh, jetzt verstehe ich“, murmelte sie verständnisvoll. „Sie haben wohl Zöpfe und Schürzenkleid erwartet?“

„Etwas in der Art. Was machen Sie eigentlich immer noch in der Schule? Müssen junge Damen nicht irgendwann ihren Abschluss machen?“

„Das habe ich getan, vor fast drei Jahren. Seither arbeite ich hier als Lehrerin.“

„Eine ausgesprochen praktische Wahl.“

„Sehr praktisch“, bestätigte sie bitter. „Aber wohl kaum eine Wahl, da mir gar nichts anderes übrig blieb. Mein Vater wollte mich nicht bei sich haben.“

„Ich bin mir sicher, dass es weniger um das ging, was er wollte, als um das, was in Anbetracht der Umstände notwendig war. Das Leben, das Ihr Vater führte, war nicht angemessen für ein junges Mädchen.“

Mit genau dieser Begründung hatte ihr Vater ihr in seinen unregelmäßig eintreffenden Briefen seine Entscheidung erläutert, und mehr als ein Jahrzehnt lang hatte sie ihm geglaubt. Sie war überzeugt davon gewesen, dass sich alles ändern würde, sobald sie erwachsen war. Dann würde er sie zu sich holen, und sie wären wieder zusammen, wie eine richtige Familie.

Doch nach ihrem Abschluss war die Bitte, bei ihm zu leben, mit demselben abgenutzten Vorwand abgeschmettert worden, nur in leicht abgewandelter Form. Nun war sein Lebenswandel plötzlich nicht mehr unpassend für ein junges Mädchen, sondern für eine junge Frau, und Marjorie hatte endlich die brutale Wahrheit begriffen. Ihr Vater wollte sie nicht, würde sie nie wollen, und all sein Gerede, dass sie beide eines Tages zusammen sein würden, war nichts anderes gewesen als eine beschwichtigende Lüge.

Ihre Illusionen von einem Leben mit ihrem Papa zerbrachen, und ihr wurde klar, dass sie sich eine Existenz ohne ihn aufbauen musste.

Daher nahm sie Mrs. Forsytes Vorschlag an, als Lehrerin in der Schule zu bleiben. Doch es dauerte nicht lange, bis Briefe ihrer Schulfreundinnen sie auf eine neue, weit aufregendere Möglichkeit brachten, noch dazu eine, die versprach, ihr zu dem ersehnten Zuhause, zu einer eigenen Familie zu verhelfen. Und für die sie ihren widerspenstigen Erzeuger um nichts weiter bitten musste als eine Mitgift.

Wie Marjorie waren viele Forsyte-Absolventinnen die Töchter neureicher Millionäre, ohne Zugang zur vornehmen New Yorker Gesellschaft. Der verzweifelte Wunsch nach Zugehörigkeit und Rang hatte einige von ihnen nach England getrieben, auf der Suche nach einem adeligen Ehemann und einem neuen Leben. Inspiriert von ihrem Beispiel und angestachelt durch ihre Schilderungen der feinen britischen Gesellschaft, beschloss Marjorie, ihr eigenes Schicksal in diese Richtung zu lenken. Damals hätte sie nicht im Traum daran gedacht, dass der Tod ihres Vaters und sein englischer Partner ihr schon bald die perfekten Mittel in die Hand spielen würden, dieses Ziel zu erreichen.

„Vielleicht haben Sie recht“, sagte sie. „Aber was passiert jetzt?“ Sie holte tief Luft, bevor sie rasch weitersprach. „Mrs. Forsyte hat mir mitgeteilt, dass Sie vorhaben, nach London zu reisen?“ Als er nickte, stieg eine Welle der Erleichterung in ihr auf. „Großartig. Genau darauf habe ich gehofft.“

Um seine Mundwinkel zuckte ein sardonisches Lächeln. „Wie ich sehe, sind Sie ganz wild darauf, Ihren neuen Vormund loszuwerden. Nun, ich kann nicht behaupten, dass ich Ihnen das verüble.“

„Sie loszuwerden?“, wiederholte sie verwirrt. „Wohl kaum, da ich mit Ihnen kommen werde.“

Er starrte sie an, als hätte sie den Verstand verloren. „Das geht nicht.“

„Aber …“ Sie verstummte, plötzlich verunsichert. „Ich verstehe nicht. Als ich von Mr. Jessop über Ihre bevorstehende Ankunft informiert wurde, dachte ich, Sie kommen her, um mich nach London mitzunehmen.“

Er seufzte. „Offensichtlich gab es auf beiden Seiten einige Missverständnisse. Ich bin nur für einen kurzen Besuch bei meinen Schwestern in London, danach muss ich nach Südafrika reisen.“

„Südafrika?“ Marjorie traute ihren Ohren nicht.

„Ihr Treuhandfonds hat viel Geld in südafrikanische Anlagen gesteckt, und es kursieren Gerüchte, dass sich ein Krieg zwischen den Briten und den Buren zusammenbraut. Mit dem Ausbruch wird noch vor Jahresende gerechnet. Wenn es dazu kommt, könnten diese Anlagen wertlos werden. Ich muss mir ein Bild von der Situation vor Ort machen und entscheiden, was mit den Investitionen passieren soll, bevor es zu spät ist.“

Marjorie war nicht geneigt, sich ihren perfekten Plan von internationalen Streitigkeiten durchkreuzen zu lassen. England war genau der richtige Ort für Mädchen wie sie – Mädchen, die haufenweise Geld besaßen, aber keine gesellschaftliche Stellung und kein Zuhause. Und sie wusste von Mrs. Forsyte, dass seine Schwestern mit der Aristokratie verbandelt waren. Man konnte gewiss auf sie zählen, wenn es darum ging, Marjorie den Eintritt in die britische Gesellschaft zu erleichtern. Die Tatsache, dass ihr Vormund sich derweil auf einem anderen Kontinent aufhalten würde, störte nicht weiter, im Gegenteil – für Marjorie war das sogar das Sahnehäubchen bei der ganzen Angelegenheit.

Sie schenkte ihm ihr charmantestes Lächeln. „Nun, wenn Sie nach Afrika wollen, während ich in London bin, habe ich nichts dagegen.“

„Wie gesagt, es kommt nicht infrage, dass Sie mich begleiten. Sie müssen vorerst hierbleiben.“

„Hier?“ Sofort wurde sie wieder ernst. „Sie scherzen. Sie müssen scherzen.“

„Ich fürchte, nein. Ein unverheirateter Mann und eine junge unverheiratete Frau können nicht allein zusammen reisen, und da mein Schiff heute Abend ablegt, bleibt keine Zeit, eine vernünftige Anstandsdame für Sie aufzutreiben. Und da wir gerade von Zeit reden …“ Er zog eine Uhr aus seiner Westentasche und klappte sie auf. „Ich muss jetzt aufbrechen, wenn ich meinen Zug erreichen will.“

„Sie gehen?“ Das konnte nicht sein. „Schon?“

„Ich muss“, erwiderte er, geradezu schmerzhaft erleichtert über diesen Umstand, und steckte seine Uhr wieder ein. „Vor meiner Abreise treffe ich mich noch mit Mr. Jessop, um ein paar finanzielle Dinge für Sie zu regeln. Die persönlichen Dinge Ihres Vaters habe ich Ihnen mitgebracht. Er hatte nicht besonders viele, aber …“

„Ich will seine Sachen nicht.“ Sie hörte selbst, wie bitter ihr Ton war, eine Tatsache, die auch ihm nicht entging, denn seine Brauen zogen sich leicht zusammen. Ihr war egal, ob vor Erstaunen über ihre Reaktion oder vor Missbilligung. „Ich kann sie nicht gebrauchen.“

„Nun gut, aber ich lasse sie trotzdem hier, falls Sie Ihre Meinung ändern.“

Das würde sie ganz gewiss nicht, aber sie war zu absorbiert von den wirklichen Problemen, um über solche Nichtigkeiten zu streiten. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass er mit seinem Besuch einen anderen Zweck verfolgen könnte, als sie von hier fortzuholen, daher hatte sie keine Ahnung, was sie jetzt tun sollte.

„Natürlich werde ich Ihnen schreiben“, fuhr er fort, während sie sich ihre Optionen durch den Kopf gehen ließ. „Aber wenn Sie während meiner Abwesenheit irgendetwas benötigen sollten, können Sie sich jederzeit an Mr. Jessop wenden. Und machen Sie sich keine Sorgen. Wir werden nach meiner Rückkehr in aller Ruhe etwas Angemessenes arrangieren. Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Miss McGann.“ Er verbeugte sich und machte Anstalten, an ihr vorbei zur Tür zu gehen.

„Warten Sie!“, rief sie. „Sie können mich nicht einfach hierlassen.“

„Ich fürchte, ich muss. Aber es ist nur vorübergehend“, fügte er über die Schulter hinzu, während er seinen Hut vom Garderobenständer nahm. „Noch heute Nachmittag werden Mr. Jessop und ich die Modalitäten besprechen, und in meinem ersten Brief informiere ich Sie über die Ergebnisse.“ Er setzte seinen Hut auf und drehte sich zu ihr um.

„Aber ich weiß bereits, was das Beste für mich ist“, beharrte sie. „Nur, weil Sie bei ihrer Ankunft dachten, ich wäre ein Kind, brauchen Sie mich nicht wie eins zu behandeln.“

„Ich bitte um Verzeihung“, sagte er ernst, um seine Entschuldigung im nächsten Moment durch eine Erläuterung zu verderben. „Aber bis vor einem Monat wusste ich nicht mal von Ihrer Existenz, und aus dem, was Ihr Vater mir zu dem Zeitpunkt erzählte, schloss ich, dass Sie ein Schulmädchen sein müssten. Die Tatsache, dass Sie stattdessen eine erwachsene Frau sind, macht die Angelegenheit sehr viel komplizierter. Jetzt müssen gänzlich andere Maßnahmen für Sie ergriffen werden, und das braucht seine Zeit.“

Marjorie hatte zwar nicht viel Erfahrung mit dem anderen Geschlecht, aber oft genug mit den Ausflüchten von Kindern zu tun, um zu erkennen, wenn ein erwachsener Mann ihr auswich. „Wie reizend zu wissen, dass ich Ihnen wichtig genug bin, um für mich auf dem Weg von einer Seite des Globus zur anderen eine halbe Stunde zu erübrigen. Da Sie beabsichtigen, mich hier einfach zurückzulassen, frage ich mich, warum Sie sich überhaupt die Mühe gemacht haben herzukommen. Sie hätten einfach einen Brief schreiben und mir Sachen meines Vaters schicken können. Wäre das nicht ausreichend gewesen?“

„Es wäre mit Sicherheit bequemer gewesen“, entgegnete er trocken, ohne auf ihren Sarkasmus einzugehen. „Wäre meiner Verantwortung aber nicht gerecht geworden.“

„Das sagen ausgerechnet Sie“, murmelte sie. „Reden von Verantwortung und laufen gleichzeitig davor weg.“

Ihre Worte schienen ins Schwarze getroffen zu haben, denn er verspannte sich sichtlich. „Das lässt sich leider nicht ändern. Ich hielt Sie, wie gesagt, für ein Kind, das noch zur Schule geht, und wollte Sie bei diesem Besuch einfach nur sehen, die Direktorin kennenlernen und mich vergewissern, dass Sie hier für den Moment gut aufgehoben sind.“

„Aber das bin ich nicht.“

„Nein? Werden Sie vernachlässigt? Schlecht behandelt? Geschlagen?“

Hilflos starrte Marjorie ihn an, und in ihrem Magen bildete sich ein eisiger Klumpen, als ihr klar wurde, dass sie keine Antwort hatte, die er akzeptieren würde. Ein Vormund würde die Tatsache, dass sie hier wie eine Nonne im Kloster lebte, nicht als Misshandlung betrachten. Eher im Gegenteil.

Denk nach, Marjorie, befahl sie sich. Überleg dir, wie du seine Meinung ändern und ihn dazu bewegen kannst, dich mitzunehmen.

„Es geht nicht um Misshandlung“, meinte sie schließlich. „Mrs. Forsyte war immer sehr freundlich. Aber ich bin zwanzig Jahre alt. Finden Sie nicht, dass es an der Zeit ist, von hier fortzugehen und mein eigenes Leben zu führen?“

„Unbedingt. Ich werde die Situation, wie erwähnt, mit Mr. Jessop diskutieren und während meiner Reise seine Vorschläge überdenken. Und dann entscheiden, wie es mit Ihnen weitergeht.“

Marjorie holte tief Luft, versuchte, ihre Enttäuschung beiseitezuschieben und sich ins Unvermeidliche zu schicken. „Und wie lange werden Sie weg sein?“

„Vielleicht acht Monate. Schwer zu sagen, da die Situation in Südafrika so unsicher …“

„Acht Monate?“, fiel Marjorie ihm ins Wort, zu entsetzt von dieser Perspektive, um auf Höflichkeit zu achten. „Acht Monate?“

„Ich wünschte, ich könnte Ihnen Genaueres sagen, aber das kann ich nicht, bevor ich die Lage vor Ort sondiert habe. Ich kehre so schnell wie möglich zurück, das verspreche ich Ihnen.“

Acht Monate klangen für sie nicht nach einer schnellen Rückkehr. Sie kamen ihr, angesichts der Tatsache, dass sie diesen Zeitraum in derselben biederen Umgebung zubringen würde, in der sie bereits zwei Drittel ihres Lebens verbracht hatte, vielmehr wie eine Ewigkeit vor. Wie die Dinge hier lagen, hatte sie das Beste daraus gemacht und auch durchaus Spaß an ihrer Arbeit als Lehrerin, aber es war nicht die Art Leben, die sie sich wünschte.

Sie wollte das tun, was ihre Schulfreundinnen getan hatten. Sie wollte debütieren, zu Bällen und Partys gehen und junge Männer kennenlernen. Sie wollte Romantik, Liebeswerben, einen Mann heiraten, der sie liebte, und Kinder. Sie wollte ein Zuhause, eine Familie, einen Ort, an den sie gehörte. Sie wollte … verdammt, sie wollte gewollt werden.

Sie startete einen weiteren verzweifelten Versuch. „Warum kann ich jetzt nicht einfach mit Ihnen nach London kommen? Ich könnte debütieren, die Saison genießen … Oh, warum denn nicht?“, platzte sie ungehalten heraus, als er den Kopf schüttelte.

„Miss McGann, ich verstehe, dass Sie sich die Vergnügungen der feinen Gesellschaft wünschen, und Sie sollen sie auch bekommen, versprochen. Diese Dinge müssen jedoch warten.“

„Aber die Saison in London fängt jetzt an. Es ist der perfekte Zeitpunkt zu debütieren, einen Ehemann zu finden. Vielleicht geht es mir ja so wie einigen meiner Freundinnen“, fuhr sie fort, einen Moment lang abgelenkt von all den wundervollen romantischen Möglichkeiten, die vor ihr lagen, „und ich heirate einen Mann mit Adelstitel und Landbesitz …“

Sein Stöhnen unterbrach ihren Redefluss. „Was findet ihr Amerikaner nur so verlockend an Adelstiteln? Die sind bedeutungsloser Blödsinn.“

„Das stimmt nicht. Ein adeliger Ehemann verleiht einem Mädchen wie mir gesellschaftliche Stellung, etwas, das ich hier in New York niemals haben könnte, egal wie viel Geld mein Vater mir hinterlassen hat.“

„Mag sein, trotzdem ist es viel zu früh, über diese Dinge zu sprechen. Sie sind in Trauer, das ist wohl kaum der richtige Moment, die Londoner Saison zu genießen. Die Trauerzeit ist eine Phase der Zurückgezogenheit und der Besinnung.“

Marjorie hätte ihm gern gesagt, dass sie mehr als genug Zurückgezogenheit hinter sich hatte. Sie hätte ihn auch darauf hinweisen können, dass sie nicht beabsichtigte, auch nur einen Tag um einen Mann zu trauern, der sich vor mehr als dreizehn Jahren auf Nimmerwiedersehen aus dem Staub gemacht hatte und bis auf ein paar Briefe nie mehr von sich hören ließ. Doch da ihr neuer Vormund bereits mehr als erpicht darauf war, von hier zu verschwinden, beherrschte sie sich. Das Entscheidende war schließlich, ihn dazu zu bringen, sie nicht zurückzulassen.

„Ich kann ebenso gut in London trauern wie hier.“ Sie versuchte, vernünftig und pflichtbewusst zu klingen. „Ich könnte bei Ihren Schwestern wohnen. Eine Duchess und eine Viscountess wären doch gewiss geeignete Anstandsdamen.“

„Ein Mädchen, selbst eins in Trauer, in die Gesellschaft einzuführen, ist eine schwere Verantwortung. Meine Schwestern müssen die Chance bekommen, frei zu entscheiden, ob sie diese Verantwortung übernehmen wollen, vor allem für ein Mädchen, das sie gar nicht kennen, eine Amerikanerin, die nichts vom britischen Lebensstil weiß, eine Erbin, die so reich ist, dass sie automatisch zur begehrten Beute für Mitgiftjäger wird. Ich habe meine Schwestern seit zehn Jahren nicht gesehen, Miss McGann, und beabsichtige keinesfalls, ihnen nach so langer Zeit eine derartige Bürde aufzunötigen, ohne zunächst ihr Einverständnis einzuholen und mich ihrer willigen Bereitschaft zu vergewissern.“

Sie war eine Bürde. Natürlich war sie das. Das wusste sie seit langer Zeit, die Vernachlässigung durch ihren Vater war in dieser Hinsicht unmissverständlich gewesen. Dennoch tat es weh, diese Tatsache so unverblümt vor Augen geführt zu bekommen. Marjorie wandte den Blick ab und blinzelte heftig. Ihre Enttäuschung löste sich in Verzweiflung auf. „Nichts hat sich geändert“, sagte sie. „Ich hänge immer noch in der Vorhölle fest und werde alt und grau, während das Leben an mir vorbeizieht.“

„Es gibt keinen Anlass, derart melodramatisch zu werden. So lang sind acht Monate nun auch wieder nicht, und hier an der Forsyte Academy, wo Sie eine Beschäftigung haben, wird die Zeit umso schneller vergehen. Es ist ja nicht so, als bliebe Ihnen nicht reichlich Gelegenheit, das Leben zu genießen. Sie sind erst zwanzig.“

„Ich bin fast einundzwanzig. In einem Jahr befinde ich mich an der Schwelle zur alten Jungfer.“

Aus irgendeinem Grund entlockte ihm das ein Lächeln. „Sie werden keine Probleme haben, einen Gatten zu finden, wenn es so weit ist.“ Das Lächeln wurde zynischer. „Schon gar keinen mit Adelstitel. Glauben Sie mir, Englands Aristokraten finden Ihre fette amerikanische Mitgift in der nächsten Saison noch ebenso begehrenswert, wie sie es in dieser tun würden.“

Marjorie hatte nicht vor, einen Mann zu heiraten, der sie nur ihres Geldes wegen wollte. Sie wünschte sich auch Liebe und sah nicht ein, warum sie nicht beides haben konnte, doch bevor sie diesen wichtigen Punkt klarstellen konnte, ergriff ihr Vormund erneut das Wort.

„Selbstverständlich benötigt eine Erbin wie Sie eine angemessene gesellschaftliche Stellung, und Ihre Trauerperiode gibt uns die Zeit, sie Ihnen zu schaffen. Sollten Mr. Jessop und ich zu dem Schluss gelangen, dass eine Londoner Saison das Richtige für Sie ist, und vorausgesetzt, meine Schwestern erklären sich bereit, Sie unter ihre Fittiche zu nehmen, werde ich dafür sorgen, dass Sie im nächsten Jahr debütieren. Wir können diese Pläne im Detail besprechen, wenn ich zurückkomme.“

Wenn ich zurückkomme …

Diese Worte hallten aus der Vergangenheit wider, denn exakt dasselbe hatte ihr Vater gesagt, als sie sieben Jahre alt gewesen war. Es waren die letzten Worte, die sie aus seinem Munde gehört hatte.

Wenn ich zurückkomme …

Er war niemals zu ihr zurückgekommen. Und nun würde er es auch nie mehr tun.

Plötzlich flammte brennender Schmerz in ihr auf, gemischt mit Zorn, Gefühle, die so heiß und wild waren, dass sie sich die Arme fest um den Oberkörper schlingen musste, um diese Emotionen in Schach zu halten.

Sie würde nicht weinen, schwor sie sich, nicht um einen Mann, der in dreizehn Jahren kaum einen Gedanken an sie verschwendet hatte. Und sie würde auch nicht wieder verlassen werden und sich an die Hoffnung auf irgendeine Zukunft klammern, die niemals eintreten würde.

„Mir ist klar, dass Sie enttäuscht sind“, sagte er in ihr Schweigen hinein, und sein freundlicher Ton brannte wie Salz in ihren Wunden. „Und ob Sie es glauben oder nicht, ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man meint, dass einem alle Träume zunichte gemacht werden. Aber ich werde nicht zulassen, dass Ihnen das passiert. Wir werden einen guten Platz im Leben für Sie finden, aber Sie müssen Geduld haben, während ich entscheide, auf welche Weise wir das am besten erreichen.“

Marjorie war nicht geneigt, irgendeinen Mann, und sei es auch ihr Vormund, entscheiden zu lassen, was das Beste für sie war, schon gar nicht, wenn besagter Mann nicht im Geringsten bereit zu sein schien, ihre Meinung in dieser Angelegenheit zu berücksichtigen. Doch sie erkannte, dass sein Entschluss gefasst war und jedes weitere Argument sinnlos wäre, daher stieß sie einen scheinbar resignierten Seufzer aus, während sie schon an einem neuen Plan tüftelte. „Vermutlich haben Sie recht. Dann sollten Sie wohl jetzt gehen, sonst verpassen Sie noch Ihren Zug.“

„Gibt es noch irgendetwas, das Sie brauchen, bevor ich aufbreche? Haben Sie Nadelgeld?“

„Eine finanzielle Zuwendung, meinen Sie? Mr. Jessop sendet mir jeden Monat zehn Dollar.“

„Ist das alles?“

Sie sagte ihm nicht, dass es mehr als genug war. In all den Jahren hatte sie nicht mal einen Bruchteil ihres Taschengeldes verbraucht. Wofür sollte sie es hier schon ausgeben? „Ich fürchte, ja.“

„Dann werde ich bei meinem Treffen mit Mr. Jessop veranlassen, dass Sie ab sofort mehr bekommen.“

Marjorie bedachte ihn mit einem überzeugend dankbaren Blick. „Vielen Dank.“

„Keine Ursache. Es ist das Mindeste, was ich tun kann.“

„Sie werden schreiben?“ Marjorie legte die Hände zusammen, bemüht, den Eindruck einer langmütigen kleinen Frau zu erwecken.

„Jeden Monat. Und wenn Sie mich erreichen wollen, kontaktieren Sie Mr. Jessop. Er wird wissen, wo ich zu finden bin.“

„Heute Abend gehen Sie an Bord, sagten Sie?“ Er nickte. „Gute Reise, Mr. Deverill“, sprach sie weiter. „Ich hoffe, Sie fahren mit einem der White-Star-Schiffe? Die sollen ja, wie man hört, äußerst komfortabel sein.“

„Nein, es handelt sich um ein Cunard-Schiff. Ich glaube, die Neptun. Aber jetzt muss ich wirklich los.“

Sie streckte ihm die Rechte entgegen, in der Erwartung, dass er sie schüttelte, doch zu ihrer Überraschung beugte er sich über ihre Hand und hob sie an seinen Mund. Und obwohl sie ihren neuen Vormund für wenig hilfreich und ziemlich begriffsstutzig hielt, empfand sie doch ein unverkennbares Prickeln, als seine Lippen ihre Knöchel streiften.

Ein Handkuss mochte für die meisten jungen Damen etwas ganz Alltägliches sein, doch für Marjorie war er die erste auch nur ansatzweise romantische Berührung überhaupt und bekräftigte sämtliche Gründe, warum sie auf keinen Fall länger darauf warten würde, dass ihr Leben endlich anfing.

Er ließ ihre Hand los. „Leben Sie wohl, Miss McGann. Wir sehen uns bald wieder.“

Damit wandte er sich um, trat auf den Flur hinaus und ging zur Treppe.

„Das werden wir ganz bestimmt, Mr. Deverill“, flüsterte sie, lehnte sich aus der Bürotür und starrte aus verengten Augen auf seinen breiten Rücken, der sich immer weiter von ihr entfernte. „Und zwar sehr viel eher, als Sie glauben.“

3. KAPITEL

Sie können sich sicher vorstellen, wie entsetzt ich war.“

„Ja, in der Tat.“ Arthur Jessop reichte Jonathan ein Glas Whiskey und ließ sich mit seinem eigenen Getränk auf das entgegengesetzte Ende der Ledercouch in seinem Büro sinken. „Es war ein großer Fehler von Mr. McGann, Sie als Vormund zu bestimmen, ohne alle Details zu benennen. Wir haben ihm dazu geraten, die Fakten offen auf den Tisch zu legen. Ich dachte, er hätte es getan.“

„Hat er nicht“, entgegnete Jonathan. „Bis kurz vor seinem Tod hat Billy nicht mal erwähnt, dass er eine Tochter hat, und nach dem, was er mir schließlich erzählte, musste ich annehmen, dass es sich um ein Kind handelt. Herauszufinden, dass sie eine erwachsene Frau ist …“

Er brach ab, als die wohlproportionierte Figur und das hinreißende Gesicht seines neuen Mündels vor seinem geistigen Auge auftauchten, und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas. „Wie gesagt, es war ein Schock.“

„Und ihr Alter verändert Ihre eigene Sicht auf die Ihnen übertragene Verantwortung, nicht wahr?“

Jonathan schaute ihn betrübt an. „Sollte es das nicht?“

„Ich vermute, es ist unvermeidlich. Haben Sie das Gefühl, dass Ihnen die Aufgabe über den Kopf wächst?“

Oh Gott, ja.

Doch er sprach diese Worte nicht laut aus. So verlockend der Gedanke auch war, dem anderen Treuhänder des Mädchens das ganze Chaos vor die Füße zu werfen, die Loyalität zu seinem verstorbenen Freund hielt zurück. Er hatte Billy ein Versprechen gegeben, dem er sich verpflichtet fühlte – es zu brechen, war ausgeschlossen. „Billy McGann war wie ein Bruder für mich“, erklärte er. „Und ich werde für seine Tochter tun, was ich kann. Aber …“

„Aber?“, hakte Mr. Jessop nach, als Jonathan verstummte.

„Ich komme nicht umhin, mich zu fragen, wie geeignet ich für diese Angelegenheit bin. Ein Schulkind ist eine Sache. Eine Frau im heiratsfähigen Alter etwas ganz anderes. Selbst Mrs. Forsyte äußerte Zweifel an dem Arrangement.“

„Ja, ja“, meinte Jessop, eine Antwort, die Jonathan extrem unbefriedigend fand. Hatte der Kerl keine sinnvollen Ratschläge?

„Sie wollte nach London reisen“, verkündete er und nahm mit Genugtuung zur Kenntnis, wie der Anwalt sich verspannte. „Mit mir, jetzt, heute Abend.“

„Das wäre äußerst überstürzt. Ganz zu schweigen von unangebracht. Sie ist in Trauer.“

„Das scheint sie nicht weiter zu stören. Sie will die Saison mitnehmen und einen Ehemann finden“, fuhr Jonathan, dem die Missbilligung seines Gesprächspartners nicht entging, mitleidlos fort. „Wenn möglich, einen mit Adelstitel.“

„Sie müssen jeden ihrer Verehrer strengstens unter die Lupe nehmen, vor allem jene adeligen Gentlemen, die sie während einer Londoner Saison kennenlernt. Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, Mr. Deverill, aber nach meiner Erfahrung haben es die meisten dieser britischen Lords, die unsere amerikanischen Erbinnen heiraten, aufs Geld abgesehen.“

„Oh, ich fühle mich nicht im Geringsten beleidigt, und ich stimme Ihnen voll und ganz zu. Glauben Sie mir, ich hege keinerlei Illusionen über die Aristokratie.“

Der Anwalt entspannte sich. „Ich bin erleichtert, das zu hören, wenngleich etwas überrascht. Soweit ich weiß, war Ihre verstorbene Mutter die Tochter eines Viscounts?“

„Das stimmt. Sie hat unter ihrem Stand geheiratet und wurde deshalb von ihren Angehörigen verleugnet.“ Jonathan versuchte gar nicht erst, seine Verachtung für die versnobte britische Oberschicht zu verbergen. „Unsere Familie war im Zeitungsgeschäft – Emporkömmlinge, die es nicht wert waren, überhaupt wahrgenommen zu werden, vor allem, nachdem mein Vater die Firma durch Misswirtschaft in den Ruin getrieben hatte. Erst vor sechs Jahren begann die Gesellschaft, ihre Haltung uns gegenüber zu ändern.“

„Lag das an Ihrer Silbermine oder an der Heirat Ihrer ältesten Schwester?“

„Wohl an beidem. Es gibt nichts Besseres als Millionen auf der Bank und einen Duke in der Familie, um die eigene soziale Stellung aufzuwerten. Meine zweite Schwester hat ebenfalls in den ton eingeheiratet.“

„Und Ihren Schwestern gefällt dieses Leben?“

„Ihren Briefen nach schon, auch wenn ich nie verstehen werde, warum. Aber das Wichtigste ist, dass die beiden glücklich sind. Sie verdienen ein bisschen Glück. Unser Vater, möge seine elendige Seele in Frieden ruhen, war ein schwieriger Mann. Und ich“, fügte er fröhlich hinzu, „war wohl genauso schwierig, zumindest vertrat er diese Meinung. Als ich achtzehn war, warf er mich raus, enterbte mich und forderte mich auf, gefälligst meinen eigenen Weg zu machen.“

„Was Sie dann ja auch getan haben.“

Jonathan schüttelte den Kopf. „Billy war derjenige, der die Mine entdeckt hat. Ich habe ihm lediglich geholfen, Gewinn daraus zu schlagen.“

„Da sind Sie zu bescheiden. Mr. McGann war zwar ein exzellenter Bergbauingenieur, verfügte aber über keinerlei Geschäftssinn. Es war weise von ihm, Ihnen die Finanzen anzuvertrauen. Die von Ihnen getätigten Anlagen haben Ihnen beiden ein sehr viel größeres Vermögen eingebracht, als die Mine allein es getan hätte.“

„Ich muss zugeben, dass ich die Herausforderung genieße, Geld zu vermehren.“

„Und es auszugeben?“

„Das ist viel uninteressanter.“

„Gesprochen wie ein echter Entrepreneur.“ Jessop lachte leise in sich hinein. „Sie hegen also nicht den Wunsch, sich ins Privatleben zurückzuziehen, ein Gut zu kaufen, eine Dame zu heiraten und der örtliche Squire irgendeines englischen Dorfs zu werden?“

„Um Gottes willen! Ich bin nicht der sesshafte Typ. Das war ich mal …“ Er trank einen Schluck Whiskey. „Aber nicht mehr.“

Seine Gedanken wanderten zurück zu seiner Jugend, und er hörte wieder die anerkennende Stimme seines Großvaters, der aus einer Handvoll Zeitungen ein florierendes Verlagshaus gemacht hatte.

Eines Tages wirst du Deverill Publishing übernehmen und ausbauen. Du wirst derjenige sein, der meinen Traum weiterführt.

Es war auch Jonathans Traum gewesen, bis der Tod seines Großvaters alles geändert hatte.

Das ist jetzt meine Firma, hallte es ihm durch den Kopf. Die Stimme seines Vaters verhöhnte ihn noch von jenseits des Grabes. Wenn ich deinen Rat benötigen sollte, wie man sie leitet, dann frage ich danach, Junge.

Mit Mühe kehrte er aus der Vergangenheit zurück. „Nein, Mr. Jessop, ich fürchte, dass es mir auch ohne Billy an meiner Seite weiter bestimmt ist, durch die Welt zu ziehen. Der sprichwörtliche Wandervogel.“

„Das ist das Bild, das jeder Junggeselle von sich hat.“ Jessop lächelte. „Bis Amors Pfeil ihn trifft.“

Jonathan dachte an seine bisherigen Erfahrungen auf diesem Gebiet, an das Mädchen, das ihn wahnsinnig geliebt hatte, solange er der Enkel eines reichen Zeitungsverlegers gewesen war, und dessen Zuneigung in dem Moment erloschen war, als sein Vater ihn enterbte. Er dachte an seine Eltern – an seine Mutter, die von ihrer Familie und ihren Freunden ausgestoßen worden war, weil sie einen bürgerlichen Mittelklasse-Lebemann liebte, und an seinen Vater, dessen angeborene Schwächen nach dem Tod seiner Frau so offensichtlich geworden waren. Nein, sämtliche Illusionen, die Jonathan jemals über Liebe, Ehe oder alles andere gehegt haben mochte, waren längst zerplatzt.

„Keine Angst“, versicherte er dem Anwalt und schlug sich an die Brust. „Ich trage einen Panzer ums Herz.“ Das wissende Lächeln des anderen entging ihm nicht, doch bevor der verheiratete Mr. Jessop sich darüber auslassen konnte, dass alle Männer irgendwann im Joch der Ehe landeten, wechselte er das Thema, denn die Zeit drängte. „Wegen Billys Anlagen …“, er deutete auf die Unterlagen, die neben ihnen auf dem Tisch lagen. „Ich bin besorgt wegen der Investments in Südafrika. Diese Angelegenheit mit den Buren fährt sich langsam fest.“

„Ja, Sie tun recht daran, sich jetzt darum zu kümmern, bevor es schlimmer wird. Noch werfen die Investments Gewinne ab, aber wenn die Lage dort unten unsicher wird, dürfte der Wert der Papiere rapide sinken.“

„So schnell es geht, telegrafiere ich Ihnen, was zu tun ist. Außerdem würde ich mir gerne ein paar Bergbau-Konzerne anschauen, die sich gerade in Ostafrika formieren. Was halten Sie von Billys anderen Investments?“

„Wie gesagt, Sie haben Ihre Sache gut gemacht. Ich denke, dass sie weiterhin ordentliche Gewinne abwerfen werden. Haben Sie irgendwelche Pläne für das Mädchen?“

„Mein ursprünglicher Plan war“, entgegnete Jonathan trocken, „dass sie noch ein halbes Dutzend Jahre zur Schule geht.“

„Und nun?“

„Sie muss vorerst bleiben, wo sie ist, bis ich aus Afrika zurückkehre und sie abhole. Bis dahin werde ich neue Arrangements für sie getroffen haben. In der Zwischenzeit ist sie, wie ich annehme, in der Forsyte Academy gut aufgehoben? Man passt auf sie auf, achtet auf angemessenen Umgang, all das?“

„Oh ja. Mrs. Forsyte ist eine exzellente Person und sehr fähige Anstandsdame. Wie hat das Mädchen denn darauf reagiert, dass es zurückbleiben muss? Sie war wohl enttäuscht, dass sie nicht gleich mit Ihnen nach London reisen kann?“

„Das war sie, aber ich habe erklärt, dass uns keine andere Wahl bleibt.“

„Und das hat sie gefasst aufgenommen?“

„Nun ja, einigermaßen.“ Doch noch während er sprach, wurde Jonathan plötzlich unsicher. Er wusste nicht genau, ob das, was er empfand, Zweifel oder Schuldgefühl war. „Es kann dort nicht besonders unterhaltsam für sie sein. Besuchen Sie sie doch bitte öfter mal, während ich weg bin, um zu sehen, wie es ihr geht. Nehmen Sie sie mit in die Stadt, führen Sie sie zum Essen aus oder in die Oper, sobald die Trauerphase es erlaubt.“

„Meine Frau und ich haben so etwas in der Vergangenheit gelegentlich getan. Es wäre uns ein Vergnügen, damit fortzufahren.“

„Und verdoppeln Sie ihr Nadelgeld. Vielleicht trösten diese Dinge sie ja über die Wartezeit bis zu meiner Rückkehr hinweg.“

„Aber was wollen Sie dann mit ihr machen?“

Jonathan überlegte. „Sie hat überhaupt keine Familie?“

„Ihre Mutter stammte aus Südafrika, wo es noch ein paar Verwandte geben müsste – sehr entfernte, fürchte ich. Ihr Vater war Waise, daher hat sie hier keinerlei Verbindungen.“

„Das heißt, die New Yorker werden sie nie akzeptieren, trotz all ihrer Millionen. So gesehen, hat das Mädchen selbst vielleicht bereits den besten Plan für ihre Zukunft entworfen.“

„Gut möglich. Aber wäre das Mr. McGann recht gewesen?“

„Ja, das wäre es.“ Jonathan seufzte. „Kurz vor seinem Tod, als er mir sagte, dass er mich zum Vormund des Mädchens bestimmt hat, gab er zu, dass meine gesellschaftlichen Beziehungen ein Grund für diese Entscheidung waren. Das Mädchen wird Damen brauchen, die es unter ihre Fittiche nehmen, und ich weiß, dass er hoffte, meine Schwestern würden sich dazu bereit erklären.“

Er verschwieg, dass er sich der Zustimmung seiner Schwestern nicht sicher war, nicht, nachdem er sie vor all den Jahren so im Stich gelassen hatte. „Ich habe kein Recht, meine Schwestern in dieser Angelegenheit zu vereinnahmen, bevor ich das Ganze mit ihnen besprochen habe. Doch eine Millionenerbin kann nicht für alle Zeiten vor der guten Gesellschaft weggesperrt werden, und die Ehe mit einem Aristokraten würde ihr eine angemessene Position verschaffen.“

„Das stimmt, aber es gibt Risiken. Ihr Geld bleibt nur so lange im Treuhandfonds, bis sie heiratet oder dreißig wird, je nachdem, was zuerst passiert. Die Nachricht vom Tod ihres Vaters und Gerüchte über ihr gigantisches Erbe haben es schon in die New Yorker Zeitungen geschafft. Wir müssen unser Bestes geben, das Mädchen vor Mitgiftjägern zu schützen.“

„Natürlich.“ Jonathan erwiderte den durchtriebenen Blick des Anwalts mit unnachgiebiger Miene. „Doch ich kann wohl davon ausgehen, dass Ihre Firma dazu imstande wäre, einen wasserdichten Ehevertrag aufzusetzen, sollte sich die Notwendigkeit ergeben?“

Mr. Jessop lächelte. „Wir können das Geld so festzurren, dass niemand es in seine gierigen Finger bekommt.“

Damit war Jonathan zufriedengestellt. Er warf einen Blick auf die Wanduhr und stellte sein Glas ab. „Wenn das alles ist, sollte ich jetzt aufbrechen.“

„Eine Sache müssen wir noch entscheiden, bevor Sie aufbrechen. Was machen wir mit den Juwelen?“

Verwirrt runzelte Jonathan die Stirn. „Den Rose of Shoshone meinen Sie? Ich dachte, ihr Vater hat den Stein von Charles Tiffany schleifen und fassen lassen. Befindet er sich nicht im Tiffany-Tresor?“

„Oh ja“, beeilte sich der Anwalt zu versichern. „Außerdem liegt dort noch eine beachtliche Menge an ungeschliffenen Steinen. Als Bergbauingenieur hat Mr. McGann im Laufe der Jahre viele Edelsteine gesammelt.“

„Ja, ich weiß. Zwar hat Silber ihn reich gemacht, aber Edelsteine waren seine Leidenschaft. Deshalb ist er nach Südafrika gegangen – und auch nach Idaho. Aber, um auf Ihre Frage zurückzukommen, warum müssen wir irgendwas bezüglich der Steine entscheiden?“

„Sie beabsichtigen, die nächsten acht Monate in Südafrika zu verbringen?“

„So ungefähr, ja. Warum?“

„Miss McGann soll die Juwelen erhalten, wenn sie einundzwanzig wird, und ihr Geburtstag ist am dreizehnten August. Ab dem Zeitpunkt gehören die Steine nicht mehr zum Treuhandfond, und wir sind verpflichtet, sie auszuhändigen.“

Jonathan überlegte kurz. „Weiß sie davon?“, fragte er dann. „Oder sonst irgendwer?“

„Soweit ich weiß, nicht. Doch nach der offiziellen Testamentseröffnung ist jeder Punkt in Mr. McGanns letztem Willen der Öffentlichkeit zugänglich, und die Existenz einer Halskette mit einem lupenreinen, zweiunddreißigkarätigen rosa Saphir ist genau die Art Sensation, auf die die Presse sich stürzen wird.“

„Können wir den Schmuck bis zu meiner Rückkehr nicht einfach dort lassen, wo er ist?“

Unwillig runzelte der Anwalt die Stirn. „Als Testamentsvollstrecker bin ich gesetzlich verpflichtet, jede einzelne im letzten Willen festgelegte Bestimmung zu erfüllen. Und selbst wenn das Gesetz es nicht verlangen würde, wäre es mir ein moralisches Bedürfnis.“

Jonathan war versucht, eine ironische Bemerkung über Anwälte und Moral vom Stapel zu lassen, bezweifelte aber, dass Mr. Jessop den Scherz wohlwollend aufnehmen würde. „Aber was sollte sie damit anfangen? Sie ist in Trauer und darf bis April ohnehin keinen Schmuck tragen.“

„Nicht in der Öffentlichkeit, aber glauben Sie wirklich, dass sie eine unbezahlbare Kette aus rosa Saphir und weißen Diamanten bis April unberührt und ungetragen in einem Tresor lassen würde?“

„Vermutlich nicht“, räumte Jonathan seufzend ein. „Sie wird die Kette griffbereit haben wollen, um sie anzuprobieren und ihren Freundinnen vorzuführen.“

„Genau. Wir können ihr Erbe sehr viel leichter schützen als ihre Juwelen. Die sind natürlich versichert, aber es wäre ein Jammer, wenn sie gestohlen würden.“

Nachdenklich musterte Jonathan den Anwalt, der sich um eine weltläufige Miene bemühte. „Ich nehme an, Sie haben einen Vorschlag?“

„Ihre Juwelen bleiben bis zum dreizehnten August Teil des Treuhandfonds, das heißt, wir können noch nach Belieben damit schalten und walten. Wenn man sie jetzt nach London bringen und beispielsweise im Tresor ihres Schwagers, des Dukes, verwahren würde …“ Er verstummte erwartungsvoll.

Jonathan stieß ein freudloses Lachen aus. „Ich soll also, zusätzlich zu der Aufgabe, das Leben einer schönen jungen Erbin zu organisieren, auch noch von jetzt auf gleich ihren Schmuck im Wert von einer halben Million Dollar über den Atlantik transportieren?“

„Sie könnten einen Pinkerton-Mann dafür engagieren.“

Das stimmte, aber Jonathan war nie besonders vertrauensselig gewesen. Außerdem bezweifelte er, dass irgendein Vertreter der bekannten Detektiv-Agentur den Schmuck des Mädchens besser hüten könnte als er selbst, immerhin hatten er und Billy Dutzende Claim-Diebe und die Schergen von vier an ihrer Silberader interessierten Minenkonzernen abgewehrt.

„Tiffany gibt mir die Juwelen mit, wenn ich die Treuhand-Papiere und meine Bevollmächtigung vorlege?“

„Selbstverständlich.“

Jonathan klaubte die erwähnten Dokumente vom Tisch und stand auf. „Nun, wenn ich noch zu Tiffany muss, bevor mein Schiff ablegt, sollte ich jetzt wirklich aufbrechen.“

„Telegrafieren Sie mir, sobald die Steine sicher in London verwahrt sind? Und lassen Sie mich wissen, was Sie für die Zukunft des Mädchen ins Auge fassen?“

„Mache ich. Und wir sehen uns im Winter, wenn ich zurückkomme, um sie abzuholen.“ Er streckte seine Rechte aus. „Bis dahin vertraue ich Miss McGann Ihrer Obhut an.“

„Mrs. Forsyte und ich werden weiterhin gut auf sie aufpassen“, versicherte der Anwalt, während er sich erhob und die dargebotene Hand schüttelte.

Beide Männer wandten sich zur Tür des Büros. „Wir müssen uns nicht nur um die britischen Mitgiftjäger Gedanken machen“, warnte Jonathan.

„Oh, gegen diese Art Gefahr ist Mrs. Forsyte bestens gewappnet“, erwiderte Mr. Jessop. „Kein Mann wird in die Nähe des Mädchens kommen. Und ich bezweifle, dass jene mit unlauteren Absichten es überhaupt versuchen, denn ich werde dafür sorgen, dass die Entschlossenheit ihres Vormunds, einen wasserdichten Ehevertrag aufsetzen zu lassen, sofort an die Presse gelangt.“ Er lächelte. „Ich versichere Ihnen, dass sich während ihrer Abwesenheit kein Schurke an Ihr Mündel heranmacht und mit ihr zu den Niagarafällen durchbrennt.“

Die Neptun war ein neuer Dampfer, das beste Schiff, das die Cunard Line derzeit zu bieten hatte, mit allen Annehmlichkeiten, die ein vermögender Mann erwarten konnte. Seine Kabine war eine großzügig geschnittene Salon-Suite, mit Fenstern zur Promenade, frischer sauberer Bettwäsche und einer Matratze und Kissen aus weichsten Daunen. Doch das Allerbeste war das Bad. Als Jonathan sich in die Wanne gleiten ließ, konnte er ein wohliges Stöhnen nicht unterdrücken. Heiße Bäder waren ein Vergnügen, das sich ihm während der vergangenen zehn Jahre nur sehr sporadisch geboten hatte.

Um so ausgiebiger genoss er jetzt das dampfend heiße Wasser aus der Leitung und die feine Olivenölseife. Nachdem er sich abgespült hatte, stand er auf, um nach einem der dicken Frottierhandtücher zu greifen, die an Wandhaken hingen, änderte dann aber seine Meinung.

Miss McGanns Juwelen lagen sicher im Tresor der Neptun, und in der vor ihm liegenden Woche würde er nichts anderes zu tun haben, als das Schiff zu erkunden, Tontauben vom Achterdeck zu schießen, Bücher zu lesen und im Raucherkabinett alten Portwein zu trinken. Momentan befand er sich in einer luxuriösen Badewanne, und das Wasser war immer noch warm. Warum sollte er es verschwenden?

Er ließ sich wieder zurücksinken. Seine nach Tagen in überfüllten Zügen verkrampften Muskeln entspannten sich langsam, die Augen fielen ihm zu und er döste weg.

Etwas weckte ihn, und er fuhr hoch, um reflexartig nach seinem Revolver zu greifen, bis ihm wieder einfiel, dass er die Waffe nicht brauchte. Er badete nicht in einem eisigen Bergbach, wo ein Claim-Räuber aus dem Hinterhalt auf ihn schießen könnte, und lag auch nicht in einem angeschlagenen Blechbottich über einem Saloon, wo irgendein betrunkener Goldgräber plötzlich eine Kugel durch die Decke jagen könnte. Vielmehr befand er sich in einem luxuriösen Badezimmer auf einem Dampfschiff, das ihn nach Hause brachte.

Nach Hause.

Wie merkwürdig diese Vorstellung für ihn war. Als er England vor einem Jahrzehnt den Rücken kehrte, hatte er auch die Scherben seiner Träume, seines Herzens und seiner Zukunft hinter sich gelassen. Seither war eine der beiden Hütten, die er und Billy sich im Silver Valley in Idaho gebaut hatten, einem Zuhause am nächsten gekommen. Und das waren grob zusammengezimmerte Schuppen aus Kiefernholz und Dachpappe gewesen, die ihnen notdürftige Unterkunft gewährt hatten, während sie hektisch Silbererz aus ihrer Mine schürften.

Die Hütten gab es nicht mehr, sie hatten sie, zusammen mit dem Großteil ihrer Anteile an der Mine, vor zweieinhalb Jahren verkauft, als Billy diesen Husten bekam, einen hackenden, schleimigen Husten, der einfach nicht besser wurde. Böses ahnend, drängte Jonathan darauf, sein Freund möge einen Arzt aufsuchen, doch Billy zuckte nur wegwerfend mit den Schultern. Fast ein Jahr später begann er, Blut zu spucken, und bestätigte damit Jonathans Befürchtungen.

Der schleppte ihn umgehend in eins der berühmten Lungensanatorien nach Colorado, doch die Ärzte konnten nicht viel für seinen Freund tun. Tuberkulose war immer tödlich.

In seiner Wanne beugte Jonathan sich vor, stützte die Ellbogen auf seine angezogenen Knie und legte das Gesicht in die Hände. Der Schmerz über Billys Tod presste ihm die Brust zusammen wie ein Schraubstock.

Er schloss die Lider, doch seltsamerweise sah er nicht etwa das Bild seines sterbenden Freundes vor sich. Sondern das Mädchen mit seinem flammend roten Haar und den dunklen Augen. Vor einem Monat war es ihm einfach erschienen, Billy das Versprechen zu geben, sich um seine Tochter zu kümmern. Erst jetzt, nachdem er herausgefunden hatte, dass sie eine erwachsene Frau mit hinreißendem Gesicht und dem Körper einer Göttin war, wurde er sich der enormen Verantwortung wirklich bewusst.

Ein Klopfen an der Kabinentür riss ihn aus seinen Grübeleien. Er begriff, dass es sich um dasselbe Geräusch handelte, das ihn vor ein paar Sekunden geweckt hatte, hörte, wie ein Schlüssel gedreht und eine Tür geöffnet wurde. Schließlich rief eine muntere Stimme seinen Namen.

„Tee, Mr. Deverill“, verkündete ein junger Mann vom Eingang seiner Suite her. „Wie Sie bestellt haben. Und ich habe die Sandwiches und Kuchen aufgedeckt.“

Jonathan richtete sich auf. „Danke!“, rief er zurück. „Trinkgeld liegt bereit“, fügte er hinzu, als ihm die Münzen einfielen, die er vorhin beim Entleeren seiner Taschen auf den Tisch geworfen hatte.

„Vielen Dank, Sir.“ Der dankbare Ton des Kellners deutete darauf hin, dass es sich um ziemlich viel Kleingeld handeln musste. Er hörte Geschirr klappern und das Kratzen von Münzen, die von einer glatten Oberfläche gewischt wurden, und dann noch einmal die Stimme des Kellners. „Kann ich noch etwas für Sie tun, Mr. Deverill?“

„Nein.“ Er erhob sich, stieg aus der Wanne und nahm ein Handtuch vom Haken. „Ich klingele, wenn ich noch etwas benötigen sollte.“

„Ja, Sir. Noch mal vielen Dank.“

Während er sich abtrocknete, hörte Jonathan, wie die Kabinentür geschlossen und der Schlüssel umgedreht wurde. Er warf das Handtuch zur Seite, ging zum Waschtisch, öffnete seinen Rasierkasten und drehte den Heißwasserhahn auf.

Der Schaum war bereits geschlagen, als Jonathan sich an den Tee erinnerte und beschloss, ihn zu trinken, bevor er kalt wurde. Er legte den eingeseiften Pinsel hin, stellte das Wasser ab und warf sich seinen Morgenrock über.

Während er noch den Gürtel zuknotete, schob er die Badezimmertür mit der Schulter auf, doch der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihn im Türrahmen verharren. „Was zum Teufel“, murmelte er.

Auf dem Petit-Point-Sofa in seiner Kabine saß Marjorie McGann im Licht einer Lampe, das ihr rotes Haar aufleuchten ließ, und verspeiste Crumpets.

4. KAPITEL

Hätte Jonathan noch irgendwelche Zweifel gehegt, dass es eine furchtbare Idee gewesen war, ihn zum Vormund der Tochter seines besten Freundes zu machen, wären sie nun durch die Tatsache zerschmettert worden, das Miss McGann hier in seiner Kabine saß, auf einem Schiff, dass den Atlantik überquerte, statt in der sicheren Abgeschiedenheit der Forsyte Academy.

„Was machen Sie hier?“, fragte er. Er schaute an ihr vorbei zu den Fenstern zum Promenadendeck und stellte erleichtert fest, dass sie zumindest nicht die Vorhänge aufgezogen hatte. Doch die Erleichterung war nicht von Dauer, als ihm bewusst wurde, dass sie den New Yorker Hafen schon weit hinter sich gelassen hatten und es keine Möglichkeit gab, sie zurückzuschicken. „Ich habe Sie in White Plains zurückgelassen.“

„Glücklicherweise bin ich imstande, Fahrrad zu fahren, eine Zugfahrkarte zu erwerben und eine Mietdroschke anzuhalten. Und da Sie mir den Namen des Schiffes, auf dem Sie Ihre Passage buchten, mitgeteilt haben …“ Sie unterbrach sich, um den letzten Bissen Crumpet in den Mund zu stecken und nach einem Sandwich zu greifen. Dann lehnte sie sich lächelnd zurück und wirkte ausgesprochen selbstzufrieden. „Und jetzt bin ich hier.“

„Wie sind Sie in meine Kabine gekommen?“

„Mit dem Kellner.“ Sie schaute ihn entschuldigend an und biss in ihr Sandwich. „Ich fürchte, er hält uns beide für schrecklich verdorben.“

Autor

Laura Lee Guhrke
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