Der Duke und die verbotene Versuchung

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Sie ist die schönste Frau, die Gabriel Sinclair jemals gesehen hat - beim Anblick von Miss Thea Neville verschlägt es ihm die Sprache! Noch sprachloser ist der angehende Duke allerdings, als er erfährt, was seine Tante von ihm verlangt: Er soll die betörende Amerikanerin in die Kunst englischer Benimmregeln einführen. Damit sie in der feinen Gesellschaft möglichst schnell eine gute Partie macht! Der Gedanke, dass schon bald ein fremder Gentleman seinen Schützling sinnlich küsst, missfällt Gabriel außerordentlich. Wenn er Thea schon gesellschaftliche Regeln beibringt, will er auch derjenige sein, der sie das Lieben lehrt …


  • Erscheinungstag 16.07.2019
  • Bandnummer 342
  • ISBN / Artikelnummer 9783733736590
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Die Schlacht von Champaubert

10. Februar 1814

Gabriel Sinclair hatte seine Freunde im Lauf der Jahre schon zu zahlreichen verrückten Einsätzen oder Unternehmungen überredet, doch dabei ging es immer um Spaß, Abenteuer und, seit sie zu Männern herangewachsen waren, ziemlich oft um willige Frauen.

Was keine Erklärung dafür war, warum sie ihm dieses Mal gefolgt waren, da nichts als Kälte, Langeweile und der Verzicht aufs Mittagessen winkten – wobei Letzteres nicht unbedingt als besonders großes Opfer betrachtet werden konnte.

Große Schlachten seien nicht mehr zu erwarten, hieß es allerorten, schon gar nicht, nachdem die alliierten Truppen Napoleons Heer bei La Rothière in Grund und Boden gestampft hatten. Jetzt war jeden Tag damit zu rechnen, dass Boney abdankte, die Krone niederlegte und sie alle nach Hause gehen konnten.

„Erklär uns noch mal, warum wir hier sind, Gabe, und Frostbeulen an unsern kostbarsten Körperteilen riskieren“, sagte Cooper Townsend und wickelte sich noch fester in seinen Uniformmantel. „Hat unser russischer Freund uns am falschen Ort kampieren lassen?“

„Ich dachte, darüber wären wir uns schon einig. Alle tun so, als wäre der Krieg bereits vorbei“, brummte Gabriel und betrachtete die grobe Karte, die er zuvor gezeichnet hatte, als er allein die Gegend auskundschaftete. Es war nicht so, dass er Englands Verbündetem nicht traute, aber er setzte eben mehr Vertrauen in sich selbst. Außerdem erteilte er lieber Befehle, statt welche zu empfangen, und es ärgerte ihn, dass sie sich nun laut Befehl den Russen anschließen sollten. „Schau dir das an, Rigby“, er hielt Jeremiah Rigby die Karte unter die Nase. „Fünftausend Männer, aber von Blücher im Stich gelassen und weit auseinandergezogen wie weicher Karamell. Unser freundlicher Gastgeber, der liebe General Olsufiew, muss noch die Hälfte der benötigten Wachen aufstellen, und die wenigen, die bereits im Einsatz sind, verstecken sich nur in den Büschen und schnarchen.“

„Aber nicht die, die wir wachgetreten haben, als wir hierherkamen.“ Cooper grinste. „Mein einziges Vergnügen seit Tagen.“

Ohne auf die Bemerkung einzugehen, fuhr Gabriel fort, seine Ansicht darzulegen. „Ein kräftiger Biss in diesen dünnen Karamell, und die Franzosen haben unsere Linien durchbrochen – und wir haben keinerlei Rückendeckung bis auf einen halb zugefrorenen Fluss.“

„Ja, ja, sehr schön. Mit Worten bist du geradezu ein Künstler, Gabe. Nicht, dass ich dieses Ding entziffern könnte.“ Jeremiah Rigby stieß die jämmerliche Karte von sich. „Schlimmer noch, jetzt habe ich Appetit auf Karamell.“ Er zwinkerte Cooper zu. „Hätte auch nichts gegen ein Kaninchen einzuwenden, wenn ich’s mir recht überlege. Da wir überhaupt keine Franzosen gesichtet haben, könnten wir diese lächerliche Patrouille, zu der du uns alle geprügelt hast, Gabe, doch aufgeben und stattdessen auf die Jagd gehen.“

„Später, Leute, nicht jetzt. Unser Weltuntergangsprophet könnte doch noch recht behalten. Wäre zwar eine Schande, aber es geschehen ja ständig die merkwürdigsten Dinge.“

Sie alle wandten sich Darby Travers zu, der mit dem Fernglas träge den Horizont absuchte, weil nichts anderes zu tun war.

„Gib her, das gehört mir. Siehst du? Genau hier ist ein Name eingeritzt, gleich unter dem meines Großvaters. Er hat es geschenkt bekommen, als er am Hof von Russlands Zarin Elisabeth England repräsentierte. Wir haben eine Zeit lang dort gelebt, und so hat Papa es geschafft … Na, jedenfalls habe ich dir nicht erlaubt, es anzufassen.“ Myles Neville, der jüngste ihrer kleinen Kundschafter-Truppe, schnappte sich das Fernglas und stand auf, wurde aber von den anderen rasch an der Hose gepackt und wieder nach unten gezogen.

„Herrgott, du bist ja schlimmer als ein Kleinkind, das um seine Spielsachen streitet“, schimpfte Gabriel. „Blöde Bohnenstange. Warum schwenkst du nicht gleich eine Fahne? Was hast du entdeckt, Darby?“

„Sonne, reflektiert von Metall, genauso, wie irgendwer da drüben den Lichtreflex auf dem Fernglas gesehen haben wird. Das glaube ich zumindest. Unter den Bäumen auf der anderen Seite der Wiese. In etwa dreihundert Meter Entfernung, würde ich sagen. Ich habe es nicht nur einmal, sondern zweimal aufblitzen sehen, an zwei verschiedenen Stellen.“

„Wahrscheinlich eine von unseren Patrouillen.“ Neville hob das Fernglas an die Augen und suchte die Baumgrenze ab. „Wo? Ich kann nichts sehen.“

„Ein Wunder, dass er das Glas richtig herum hält“, murmelte Darby und rieb sich die kalten Hände.

„Also, das war gemein, Darby. Schäm dich.“ Rigby wandte sich Gabriel zu und flüsterte nicht übermäßig leise: „Erklär mir noch mal, warum wir diesen Milchbart überhaupt mitgeschleppt haben.“

„Gewiss nicht nur deshalb, weil er so nett darum gebeten hat, das kannst du mir glauben. Ich dachte, er könnte sich vielleicht als nützlich erweisen. Rückblickend war das nicht eben ein genialer Gedanke. Aber er spricht Russisch, hast du das vergessen? Der Einzige von uns, der die Sprache beherrscht, falls wir Olsufiew in aller Eile eine Nachricht schicken müssen. Andernfalls wollten wir ihn, falls du dich erinnerst, an eine Zeltstange fesseln, damit er sich nicht verläuft.“

Der junge Neville wischte sich das widerspenstige Haar aus den Augen, wirkte vorübergehend perplex, schien dann jedoch einen Entschluss zu fassen. „Ich soll gehen und dem General Meldung erstatten, nicht wahr? Aber was soll ich ihm melden? Bisher haben wir nichts außer diesen Lichtreflexen gesehen. Wir wissen doch gar nicht, ob unter den Bäumen da unsere eigene Patrouille läuft oder Boneys gesamtes Heer sich zum Angriff sammelt.“

„Kaum zu fassen, ich glaube, ich bin der gleichen Meinung wie der Kleine. Er muss wohl irgendwann einmal ein Buch gelesen haben oder so. Myles, vielleicht gibt es doch noch Hoffnung für dich.“ Gabriel spie auf den Boden.

„Tatsächlich? Dann, hm, ja … Dann mache ich mich mal auf den Weg, um … um was?“

„Um den Stab des Generals zu alarmieren, Sergeant Major Ames zu holen und ihm zu sagen, er möge zwei Dutzend von unseren Besten abkommandieren, damit sie längs der Hügelkuppe Streife gehen, und sie dann im Laufschritt zu uns schicken, wo sie weitere Befehle erhalten werden“, erwiderte Gabriel müde. „Fang mit Ames an, danach sprichst du mit dem General. Wenn du zum Sergeant Major zurückkehrst, hat der die Jungs aufgestellt. Hast du das verstanden, Myles, oder müssen wir es dir schriftlich geben?“

„Natürlich habe ich verstanden. Ich bin ausgesprochen intelligent. Deswegen konnte mein Vater mich als Adjutanten im Generalstab unterbringen, wo ich außer Gefahr … Ach, was. Wir brauchen gute englische Truppen, um diese verdammten Froschfresser im Auge zu behalten. Ihr habt die Männer in zwanzig Minuten, mein Wort als Gentleman darauf.“ Er trabte los, mit ihrem einzigen Fernglas am Gürtel.

Cooper schaute ihm versonnen nach. „Gentleman darf er sich erst dann nennen, wenn dieser verdammte Kammerdiener, den sein Vater ihm mitgegeben hat, es für nötig befindet, ihn öfter als zweimal pro Monat zu rasieren. Aber hügelabwärts, womöglich sogar auf der Flucht vor dem Feind, legt er ein gutes Tempo hin, dank seiner langen Beine und so.“

Auch Gabriel folgte der Bohnenstange mit dem Blick, beobachtete, wie die stockdürren Beine sich seltsam unkoordiniert bewegten, Myles aber irgendwie dennoch aufrecht hielten. „Väter und ihr Ehrgeiz. Neville ist der einzige Grund dafür, dass unser Truppenkontingent hier steht, um den Kleinen zu hüten, statt beim Hauptheer zu bleiben. Herrgott, wie ich den Kerl hasse. Vielleicht hätten wir Myles nicht allein losziehen lassen sollen. Es war ganz sicher nicht seine Idee, England zu verlassen. Wenn er auch nur mit einem verstauchten Knöchel zu seinem einflussreichen Papa heimkehrt, werden wir wahrscheinlich alle vor Gericht gestellt.“

„Vielleicht war die Zeltstange doch die bessere Idee. Wie lange warten wir auf ihn, Gabe?“

„Nicht lange. Nur, bis er mit unseren Männern zurückkommt. Seht es doch einfach so, Jungs: Auch, wenn Darby vielleicht nur eine unserer eigenen Patrouillen gesehen hat, sind wir Myles erst einmal los.“

Cooper grinste. „Jedes Ding hat zwei Seiten, wie man so schön sagt.“

Da sonst nichts zu tun war und selbst Darby anfing, an dem zu zweifeln, was er glaubte, gesehen zu haben, hockten sie sich nieder und behielten die Baumgrenze im Auge.

Gabe wusste, dass seine Freunde ihm hierher gefolgt waren, weil er schon seit ihrer gemeinsamen Schulzeit stets automatisch das Kommando übernahm. Aber ob das so gut war? Sie besaßen jetzt alle den gleichen Rang und hatten jeweils ihre eigenen Leute befehligt, bis sie Gabes kombinierter englisch-russischer Truppe zugewiesen wurden. Wenn sie sich nun in die Nesseln setzten, indem sie auf eigene Faust losschlugen … und dadurch ziemlich eindeutig zeigten, dass ihr Glaube an die militärische Genialität des russischen Generals sich in Grenzen hielt? Sie waren schließlich keine halbbetrunkenen Freunde, die ihre Uniformmäntel auf einer Zechtour schwungvoll wie Matadore einsetzten, um einen Stier zu verwirren, nein, sie waren bewährte Soldaten, die den möglichen Angriff eines verzweifelten Feindes diskutierten.

„Wenn ich nun recht habe?“, fragte Gabriel leise.

Cooper gähnte. „Womit?“

„Mit Bonapartes verzweifeltem Bedürfnis, einen Sieg zu erringen. Wenn er nun tatsächlich da draußen steht?“

„Ah, ich verstehe, was Sache ist, Coop“, mischte Darby sich munter ein. „Unser lieber Freund hier zweifelt tatsächlich an sich selbst. Für alles auf der Welt gibt es ein erstes Mal. Sorge dich nicht wie ein altes Weib, Gabe. Wir sind hier alle einer Meinung. Und was sollten wir an diesem gottverlassenen Ort sonst auch tun?“

„Danke, Darby, für das schwache Lob. Trotzdem hätten wir keinen großen Vorsprung, falls er sich wirklich da draußen im Wald versteckt.“

Cooper klopfte Gabriel auf den Rücken. „Die Bäume auf der anderen Seite der Wiese sind weit weg. Denk an deinen Shakespeare: ‚Nicht Tod und nicht Verderben ficht mich an, kommt Birnams Wald nicht her nach Dunsinane.‘“

Gabe lachte leise. „Tja, und was hat diese Prahlerei dem guten Macbeth genützt?“

Rigby hob den Kopf, vermutlich, um seine jämmerlich abstehenden Ohren zu spitzen. „Hört um Himmels willen auf, Shakespeare zu zitieren. Wenn Darby nicht die Prüfungsarbeit für mich geschrieben hätte, würde ich immer noch bis über beide Ohren in Theaterstücken und Sonetten stecken und allen Spaß versäumen. Was nicht heißt, dass wir im Moment viel Spaß hätten.“

Cooper streckte seine Beine auf dem kalten Boden aus, als wollte er sich für längere Zeit einrichten. „Da hast du’s, Gabe. Lass uns weiterhin dem niederträchtigen Earl of Broxley die Schuld zuschieben, der schließlich nach wie vor der Grund dafür ist, dass wir überhaupt hier halbherzig Kindermädchen für seinen Erben spielen.“

Alle schwiegen, bis Rigby sich auf den Rücken fallen ließ, sein Bein hochstreckte und wie wild seine Wade massierte. „Ein Krampf, verdammt noch mal. Wirklich, Gabe, du hast uns weiß Gott schon Besseres geboten als das hier.“ Er richtete sich auf und spähte erneut zur Baumgrenze hinüber. „Habe bislang gar nichts gesehen, nicht einmal ein Kaninchen für den Topf. Wie spät ist es, Darby, alter Knabe?“

„Fast zehn Uhr. Wir warten schon länger als zwanzig Minuten.“

Gabriel hatte inzwischen die Umgebung zu ihrer Rechten und Linken begutachtet und im Geiste bereits die Soldaten aufgestellt, die Neville mitbringen würde. Alle hundert Meter ein Mann würde reichen, und es gab reichlich Deckung. „Er sollte inzwischen eigentlich zurück sein oder zumindest den General benachrichtigt und Ames zu unserer Unterstützung geschickt haben.“

Rigby lachte schnaubend. „Wahrscheinlich musste er erst einmal die Unterhose wechseln, weil er sich aus Angst vor der Schlacht bepisst hat.“

„Horcht mal. Ist euch aufgefallen wie still es ist, trotz Rigbys Freude an seinem eigenen Witz? Keine Vögel, keine kleinen Tiere, die im Unterholz rascheln. Wir sind nicht die Einzigen, die den Atem anhalten und warten, was als Nächstes passiert.“

„Diese verdammt Ruhe, bevor die Hölle losbricht“, sagte Cooper und hob den Kopf, als wollte er Witterung aufnehmen. „Höchste Zeit, von hier zu verschwinden?“

„Höchste Zeit, von hier zu veschwinden“, stimmte Gabriel zu.

„Hat das nicht längst schon jemand vorgeschlagen?“, knurrte Rigby. „Ich weiß, ich dachte an …“

Was immer Rigby hatte sagen wollen, fiel einem kurzen Hornstoß zum Opfer, als eine Doppelreihe kampferprobter französischer Kavallerie aus dem Stand in Galopp fallend unter den Bäumen hervorbrach, gefolgt von einer scheinbar endlosen Reihe von Infanterie mit aufgepflanztem Bajonett. Hunderte von Vögeln stoben aus ihren Nestern in den Baumkronen gen Himmel, beinahe als wären sie Teil des Angriffs.

Welcher Befehlshaber schickte denn die Kavallerie zuerst? Ein verzweifelter Mann? Oder ein wahnsinnig kluger Taktiker, einer, der keine Angst hatte, seinen Angriff der Situation anzupassen. Es konnte nur Bonaparte persönlich sein, der ihnen entgegentrat. Gabriel verwünschte sich, weil er nicht jede mögliche Alternative berücksichtigt hatte. Er hatte seine Freunde in größere Gefahr gebracht, als ihnen gedroht hätte, wenn sie bei der Truppe verblieben wären.

„Weißt du eigentlich, wie sehr ich es hasse, wenn du recht hast!“, schrie Darby Gabriel an. Sie warfen ihre unförmigen Uniformmäntel ab, schnallten ihre Rucksäcke fest und liefen den Hügel hinab in Richtung der lichten Baumreihe, die sich zwischen ihnen und einer Schlangenlinie von Zelten erhob, die sich längs am Fluss entlangzog: ihr Lager, das ihnen jetzt so weit entfernt erschien.

Keine englischen Soldaten marschierten ihnen entgegen, um ihnen Deckung zu geben, bis sie ihre eigenen Linien erreichten. Kein Sergeant Major Ames, keine russischen Truppen formierten sich, die Waffen bereit, vor ihren Zelten. Und weit und breit kein Myles Neville in Sicht. Nur der Rauch von tausend kleinen Kochfeuern stieg vor ihnen auf, mitsamt dem Geruch von Borschtsch.

Hinter ihnen näherten sich rasant das Getrappel von Hufen und das Geschrei der Franzosen.

Hätte eine frühzeitige Warnung den Ausgang dieses Tages geändert? Wahrscheinlich nicht. Napoleon wusste, dass er dringend einen Sieg benötigte, um das Volk der Franzosen wieder um sich zu scharen, und auch, wenn seine Infanterie insgesamt nicht gut ausgebildet oder auch nur gut bewaffnet war, war sie den alliierten Truppen doch zahlenmäßig vierfach überlegen.

In weniger als einer Stunde wurde aus dem leichten Triumph von La Rothière die peinliche Katastrophe von Champaubert, wodurch die Stimmung zugunsten Napoleons umschlug und er den Mut zum Weiterkämpfen fasste. Schließlich hatte er nur zweihundert Männer verloren, die Alliierten hingegen mehr als viertausend, und ungezählte endeten in Gefangenschaft, darunter Olsufiew.

Wie durch ein Wunder überlebten Gabriel und seine Freunde die verheerende Niederlage, wenn auch nicht unbeschadet. Cooper Townsend hatte einen Schuss in die Seite abbekommen, und Jeremiah Rigby führte Darby Townsend, dessen Augen verbunden waren, den Pfad neben der Straße entlang.

„Aus dem Weg! Aus dem Weg!“

Der Befehl, in kehligem Französisch ausgestoßen, warnte die scheinbar endlose Reihe der Gefangenen und ließ sie in Schlamm und Matsch zu beiden Seiten der Straße stolpern, als eine weitere Equipage vorbeirollte.

Gabriel hob den Blick und sah gerade noch, dass der russische General und einige seiner Führungskräfte in einem von Pferden gezogenen Wagen an dem langen Zug der marschierenden Gefangenen vorbeikutschiert wurden. Ein hoher Dienstgrad brachte halt Privilegien mit sich, selbst bei einer Niederlage.

„Wo steckt Broxleys Balg?“, rief er, wohl wissend, dass der Mann kein Wort Englisch verstand, was ihm in diesem Moment allerdings egal war. Er lief dem Wagen hinterher und zerrte Cooper mit sich.

„Ich kann nicht mehr, Gabe“, keuchte Cooper, und seine Erschöpfung verhinderte jede weitere Verfolgung. „Hast du ihn gesehen? Ich habe ihn nicht gesehen.“

„Ich habe ihn gesehen. Er hockte direkt neben Olsufiew. Jemand hat ihn in eine russische Uniform gesteckt.“

„Dann steht er jetzt also unter dem Schutz des Generals. Das ist halt Politik, Gabe. Geld und Politik. Lass es dabei bewenden.“

Doch Gabriel war erzürnt, beinahe außer sich vor Wut und wusste nicht, wohin damit. Coop könnte sterben, und Darby hatte die Sehkraft mindestens eines Auges eingebüßt. Viele von ihren Männern lagen noch immer auf dem schlammigen Boden, wo sie verrotten würden. Die Franzosen hatten den gefallenen Feinden Stiefel und Waffen abgenommen, bevor sie das Schlachtfeld verließen.

„Wenn du deinen Papa siehst“, rief er dem weiterfahrenden Wagen nach, „sag ihm, dass ich ihn verfluche für das, was heute hier geschehen ist, und dich verfluche ich als einen verdammten Feigling!“

Er spürte den französischen Gewehrkolben nicht, der ihn seitlich am Kopf traf, doch als er halb in einer eisigen Pfütze liegend wieder zu sich kam, hatte er Kopfschmerzen, die ihn danach beinahe noch ein ganzes Jahr lang immer wieder quälen sollten.

Nicht ganz zwei Monate nach diesem, seinem letzten wahren Sieg war Napoleon schließlich gezwungen abzudanken, und endlich konnten alle heimkehren. Gabriel Sinclair und seine Freunde Jeremiah Rigby und Cooper Townsend suchten gerade bei White’s Entspannung, schlürften Wein und knackten Walnüsse, als der Letzte ihres Quartetts, Darby Travers, sich zu ihnen gesellte. Er warf eine zusammengefaltete Zeitung auf den Tisch und ließ sich mit düster-verächtlicher Miene in einen Sessel sinken.

„Lest das, meine Freunde. Myles Neville ist gerade von den Russen ausgezeichnet worden, für unverzichtbare Dienste, vermutlich an General Olsufiew, Mütterchen Russland und sämtlichen Geschöpfen Gottes. Die Zeitung berichtet, dass ihm in Paris ein Fest gegeben und ein Orden verliehen wurde. Ist das zu glauben? Dieser verdammte Earl of Broxley hat sich nicht damit zufriedengegeben, dass er seinen Sohn lebend zurückbekam, nein, irgendwie ist es ihm auch noch gelungen, den Hosenpisser zu einem Helden zu machen.“

1. KAPITEL

Cranbrook Chase, August 1815

Basil Sinclair, der sechste Duke of Cranbrook, lag im Sterben.

Vielleicht auch nicht.

Bei Basil konnte man nie sicher sein.

So ziemlich alles konnte ihn ins Bett stolpern und alle, die es hören wollten (eine schwindende Anzahl von Ohren), wissen lassen, dass er nicht mehr lange zu leben habe, im Begriff sei, das Zeitliche zu segnen, den Löffel abzugeben, den Abgang zu machen, mit den Füßen voran aus dem Haus getragen zu werden und so weiter.

Er war nicht immer so gewesen. Vor zwanzig Jahren war er ein glücklich verheirateter fünfter Sohn, führte das Leben eines verwöhnten und mit reichlich Geld ausgestatteten Mannes und bereiste mit seiner schönen Frau Vivien die Welt.

Vivien und Basil, Basil und Vivien, unbeschwert, ausgelassen, zu jedem Abenteuer bereit. Sorgenfrei.

Doch dann starb Boswell, der zweite Duke, nur wenige Tage vor seinem sechzigsten Geburtstag. Gesund wie ein Fisch im Wasser, kreuzfidel, zechfreudig, mit einer Geliebten auf dem Lande und ein, zwei Kanarienvögeln in der Stadt. Blendend aussehend (und von vielen beneidet) war er eines Abends mit einem hübschen jungen Ding am Arm auf dem Weg zur Tanzfläche, als er plötzlich stehen blieb, etwas äußerte, was sich anhörte wie „Örp?“, die Augen himmelwärts verdrehte und umfiel wie ein Stein.

Gelinde gesagt entnervend, aber der Bursche hatte auf jeden Fall ein gutes Leben gehabt. Alles in allem war es keine schlechte Art zu sterben.

Basil und Vivien hatten ihm die letzte Ehre erwiesen, auf ihre Art um ihn getrauert (mit einer Afrikareise, auf der sie alles jagten, was vier Beine und einen Schwanz hatte) und sich in der beruhigenden Gewissheit gewiegt, dass der Geldstrom unter Basils älterem Bruder Bennet ungetrübt weiterfließen würde.

Bis Bennet nur zwei Wochen vor seinem sechzigsten Geburtstag, während er, an der Seite seiner ihm kürzlich anverlobten und hoffentlich fruchtbaren Braut ein neues Paar Brauner durch den Hyde Park lenkte, ein ziemlich erstauntes „Örp?“ äußerte, die Augen verdrehte und auf den Kiesweg sackte. Zum Glück ließen sich die Braunen, die, wie man so sagt, „mehr Schein als Sein“ waren, leicht anhalten, bevor sie die Kutsche samt kreischender Verlobter in die Serpentine zogen.

Als die Neuigkeit fast ein halbes Jahr später Basil erreichte, nagte er an seiner Unterlippe, derweil seine liebste Vivien unter Uuuh und Aaah das Taj Mahal bewunderte und nicht mitbekam, dass ein winziger Keim der Sorge sich im Gehirn ihres Mannes eingenistet hatte.

Sechzehn Monate später, als Ballard (der vierte Duke für diejenigen, die den Überblick behalten wollen, und das wollte Basil auf jeden Fall), der gerade voller Raffinesse ein mittelmäßiges Blatt in einen Fünftausend-Guineas-Profit umgewandelt hatte, seinen Gewinn einsacken wollte, zögerte er plötzlich und äußerte etwas, was sich laut seinen Mitspielern anhörte wie „Örp?“. Gleichzeitig verdrehte er die Augen, und im nächsten Moment lag er mit dem Gesicht in den Spielchips.

Ballard hätte acht Tage später seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert.

„Lass mich raten“, sagte Jeremiah Rigby und hob eine Hand, um seinen Freund Gabriel bei der Wiedergabe dieser Geschichte zu unterbrechen. Die beiden Freunde saßen auf einer Bank im Garten von Cranbrook Chase. „Basil und Vivien waren auf dem Mond und verspeisten grünen Käse, als die Nachricht sie erreichte?“

Gabriel lächelte, denn er war kein gänzlich humorloser Mann, nicht mal wenn es sich um ziemlich schwarzen Humor handelte. „Nicht ganz. Sie hielten sich irgendwo in Virginia auf und besuchten einen entfernten Verwandten meiner Tante. Sie ist übrigens gerade wieder dort gewesen, das damalige Wiedersehen musste sie ja aufgrund von Onkel Ballards Tod abkürzen.“

„Dein Onkel hatte sie diesmal offenbar nicht begleitet, denn er liegt ja dort oben im Sterben.“

„Wieder einmal. Er liegt wieder einmal im Sterben. Aber lass mich zu Ende erzählen.“

„Ja, irgendwo gibt es noch einen weiteren B, nicht wahr? Der erste Duke war ein fleißiger Mann, und seine Frau war noch fleißiger. Bronson? Bundy? Baldric? Erzähl mir, dass er auf Prinneys Schoß sein Örp ausstieß, dann sterbe ich als glücklicher Mensch.“

„Bellamy, und er ließ sich gerade eine neue Garderobe anpassen, als es geschah“, fuhr Gabriel fort, ohne auf Rigbys Seitenhieb gegen den Prinzregenten einzugehen. „Man munkelt, die Weste sollte aus orangefarben gestreifter Seide sein. Das zumindest blieb der vornehmen Gesellschaft erspart.“

„Er hatte den neuen Anzug zur Feier seines sechzigsten Geburtstags in Auftrag gegeben?“

Gabriel erhob sich und zupfte seine Manschetten zurecht. Er war ein großer Mann, viel größer als sein eher untersetzter Freund, und war es daher gewohnt, auf den anderen herabzublicken, wenn er mit ihm sprach. Das tat er auch jetzt und zog in gespieltem Tadel eine Augenbraue hoch. „Wer erzählt noch mal diese Geschichte? Ja, er stand vier Tage vor seinem Sechzigsten, und in Cranbrook House am Portman Square war für den Abend danach eine ziemlich große Feier geplant. Onkel Bellamy hatte es ausdrücklich darauf angelegt, den Fluch Lügen zu strafen.“

Auch Rigby war aufgesprungen, plötzlich wieder ganz Ohr. „Ach, den zu erwähnen, hast du wohl vergessen. Es gibt einen Fluch? Bitte erzähl doch weiter. Nichts kann einen langweiligen Nachmittag so beleben wie ein guter Fluch.“

„War ja klar, dass du darauf anspringst. Ja, Onkel Basil glaubt fest daran. In dem Moment, als er die Nachricht erhielt, dass er der Erbe war – ich glaube, sie hielten sich gerade in Venedig auf –, packte er Tante Vivien ein, reiste heim und verkriecht sich seitdem hier auf Cranbrook Chase. Er ist überzeugt davon, dass sein Vater und seine Brüder zu exzessiv gelebt haben – was auch auf ihn und Tante Vivien zutrifft – und dass die neidische Schicksalsgöttin dafür einen Preis einfordert. Er hat Reisen, Wein, Gesang und Abenteuer aufgegeben. Und die Frauen. Laut Tante Vivien, die leider mit nichts außer ihrem Alter hinter dem Berg hält, ist sie in diesen Verzicht inbegriffen. Seine größte Sorge ist, dass er mit seiner Buße zu lange gezögert hat und nicht einmal lange genug leben wird, um, nun ja, Örp zu sagen.“

„Verstehe. Nein, eigentlich nicht, aber erzähl weiter. Moment. Bevor du das tust, will ich noch rasch wissen: Wie ist dein Vater eigentlich gestorben? Und wann?“

„Das hat länger gedauert, als ich dachte, trotzdem, danke für deine Sorge. Mein Vater hat die sechzig ebenfalls nicht erreicht.“

„Aha! Du selbst führst auch ein ziemlich rasantes Leben, mein Freund. Warum verkriechst du dich nicht oben bei dem Großonkel und rezitierst Psalmen?“

„Papa hat sich in einen ziemlich intimen Körperteil geschossen, als er mit seinen Freunden auf der Jagd war. Sie behaupteten, sie hätten sich ernsthaft darum bemüht, einen Druckverband anzulegen, aber schlicht nicht genug Platz dafür gefunden.“

Rigby hüstelte höflich hinter vorgehaltener Hand, zweifellos, um ein Lachen zu verbergen, und Gabriel ging genauso höflich über diese Geste hinweg. „Und bevor du fragst, mein Großvater, der Bruder des ersten Dukes, ist im Alter von zweiundachtzig Jahren friedlich im Schlaf gestorben. Ich glaube, mir droht keine Gefahr, mein einziges Problem besteht lediglich darin, dass ich nun der Alleinerbe dieses – wie die Griechen sagen – Hypochonders bin, der sich in seinem Schlafzimmer versteckt. Und sein sechzigster Geburtstag nähert sich mit Riesenschritten.“

„Sind wir also hier, um zur Feier des Tages ein Fest zu planen, oder geht es um ein Begräbnis?“

„Nichts von beidem. Ich habe einen Brief – nein, einen Befehl – von Tante Vivien erhalten, in dem sie mich über ihre unmittelbar bevorstehende Rückkehr aus Amerika informiert. Ich soll sie hier empfangen, denn, Gott steh mir bei, sie hat eine Überraschung für mich.“

„Das bedeutet vermutlich nichts Gutes?“

„Kommt darauf an. Wärst du gern das höchstwahrscheinlich einzige Kind auf der Welt gewesen, das sein Kinderzimmer mit einem ausgestopften Lemuren teilt – einem grinsenden, wohlgemerkt, der noch dazu Glasaugen hat? Außerdem besitze ich, um nur ein paar Dinge zu nennen, Kuhglocken aus der Schweiz, Hut und Stange eines Gondoliere aus Venedig und eine Art merkwürdigen weißen Kittel – ich weigere mich, ihn als Gewand zu bezeichnen – aus Indien. Auch ein Affe war vorgesehen, doch der ist leider auf der Heimreise verstorben. Den Affen hätte ich vermutlich gemocht.“

„Ich glaube, ich möchte den Lemuren sehen, bevor ich dir eine Antwort gebe. Was meinst du denn, was hat sie dir aus der Wildnis Amerikas mitgebracht? Ich habe Zeichnungen von wirklich fantastischen Federhauben gesehen, die die Indianer dort anscheinend gern tragen. Überleg mal, welche Aufregung das gäbe, wenn du mit solch einem Ding auf dem Kopf in London herumstolzieren würdest.“

Gabriel fixierte Rigby mit fragendem Blick. „Würdest du mir bitte noch mal rasch ins Gedächtnis rufen, warum ich dich mitgeschleppt habe? Du wirst dich eindeutig nicht als hilfreich erweisen.“

„Ich soll dir den Rücken stärken, wenn du die Duchess schamlos anlügst und ihr erklärst, du könntest nicht länger bleiben, weil du eine gewisse junge Dame in London umwirbst und ihr versprochen hast, dich zur ‚Kleinen Saison‘ einzufinden.“

„Ah ja, jetzt weiß ich es wieder. Aber nicht nur eine Dame. Mehrere Damen. Als letzter und einziger Erbe meines Onkels bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich heiraten und Kinder zeugen muss. Sprich um Himmels willen nie von nur einer Dame, sonst will Tante Vivien sie kennenlernen. Sie wird schon zufrieden damit sein, dass ich mir ihren Rat zu Herzen genommen habe und mich anschicke, selbst ein paar Erben hervorzubringen.“

„Wenn du schon mal dabei bist, solltest du wohl auch noch etwas anderes versuchen“, schlug sein Freund vor.

„Nämlich?“

„Da du behauptest, du wärst keineswegs scharf darauf, in absehbarer Zeit der siebte Duke zu werden, könntest du dafür Sorge tragen, dass Onkel Basil am Tag nach seinem sechzigsten Geburtstag gesund und munter aufwacht und die Sonne begrüßt.“

„Und wie soll ich das deiner Meinung nach bewerkstelligen? Nach seinen Worten wartet zwischen jetzt und November irgendwo da draußen ein Örp auf ihn.“

„Klar. Aber denk doch mal nach, Gabe. Wenn er tatsächlich vor seinem Sechzigsten ins Gras beißt, heißt das, dass fünf von den ersten sechs Dukes of Cranbrook sich mit ihrem Titel einen Fluch eingehandelt haben.“

„Das ist bislang noch keinem aufgefallen.“

Rigby grinste, und dank seines leicht rundlichen Gesichts sah er aus wie ein pausbackiger Engel. „Es wird ihnen schon auffallen, wenn ich es herumerzähle. Es ist die beste Geschichte, die ich seit Jahren gehört habe. Den ersten Duke hast du gar nicht erwähnt. War er auch ein Örp?“

Gabe wurde allmählich unbehaglich zumute, wozu Rigbys verdächtig gute Laune noch beitrug. „Er nahm an einem Jagdrennen teil, sein stets zuverlässiges Pferd scheute vor einer Hürde, und der Duke flog darüber hinweg.“

„Vielleicht hatte das Pferd ein Örp gehört und hat deswegen gescheut. Und …? Dein Gesicht verrät mir doch, dass noch mehr dahintersteckt.“

„Und der erste Duke, mit Namen Bryam, starb nur wenige Tage vor seinem sechzigsten Geburtstag.“

Rigby breitete die Arme aus. „Da hast du’s. Der Fluch der Cranbrooks. Dazu verdammt, den Löffel abzugeben, bevor sie so richtig in Fahrt gekommen sind, und ihre Nachkommen mit dem gleichen traurigen Schicksal zu belegen. Niemand wird dich heiraten wollen, Gabe. Ich hätte jedenfalls keine Lust, Kinder von dir zu bekommen.“

„Tja, den Göttern sei Dank für wenigstens das“, erwiderte Gabe sarkastisch und spitzte die Ohren, als er glaubte, eine Kutsche auf der Zufahrt zu hören. „Auf, auf. Ich glaube, meine Tante kommt. Und wenn du in ihrer Gegenwart ein Wort von dem äußerst, was in der letzten halben Stunde geredet wurde, stopfe ich dich eigenhändig aus und hänge dich neben Lord Lemur an die Wand.“

„Du hast das Ding immer noch? Du hast ihm sogar einen Namen gegeben? Und das findest du nicht irgendwie merkwürdig? Darf ich es sehen?“ Rigby beschleunigte seine Schritte, um mit dem langbeinigen Gabriel mithalten zu können, während sie gemeinsam auf die massiven Mauern von Cranbrook Chase zustrebten. „Wie auch immer, mein Alter, dir bleibt nichts anderes übrig. Irgendwie musst du Onkel Basil mindestens noch ein Jahr lang am Leben erhalten. Wenn ich dich noch einmal daran erinnern darf: Du sagtest bereits, dass du es nicht eilig damit hast, Duke zu werden.“

Gabriel blieb so abrupt stehen, dass sein Freund ihn beinahe angerempelt hätte. „Gut, du hast deinen Standpunkt klargemacht. Ich glaube nicht an diesen Fluch, denn es gibt hier keinen Fluch. Sämtliche Dukes of Cranbrook haben getrunken und gefeiert wie Imperatoren der römischen Antike und konnten sich wahrscheinlich glücklich schätzen, überhaupt so lange gelebt zu haben. Das einzige Problem meines Onkels besteht vermutlich darin, dass er sich zu Tode ängstigt. Und mir fällt nun also deiner Meinung nach die Aufgabe zu, ihn im Alleingang zu retten, ohne die geringste Ahnung, wie ich das anstellen soll, damit er nicht …“

„Nicht im Alleingang. Ich werde dich nur zu gern unterstützen. Das ist nur gerecht, zumal ich derjenige sein darf, der das Gerücht über die mit einem Fluch belegten Bs verbreiten darf, sobald wir zurück in der Stadt sind. Los jetzt, ich will unbedingt sehen, was die Duchess dir dieses Mal mitgebracht hat.“

„Was auch immer es sein mag, du kannst es haben“, verkündete Gabriel, als sie sich um das Gebäude herum der vorfahrenden Kutsche näherten.

Selbst aus der recht großen Entfernung erkannte er rasch die zierliche, weiche Gestalt seiner Tante, die sich soeben von einem Diener über die Falttreppe auf den festen Boden helfen ließ. Die Massen ihres silbrigen Haares waren zu langen mädchenhaften Locken gedreht, die ihn an Würste im Schaufenster erinnerten. Darüber hatte sie einen riesigen Schlapphut gestülpt, der anscheinend aus einem Dutzend runder Schichten von lavendelfarbener Seide gefertigt war. Ihr Kleid, von ähnlicher Farbe und aus noch mehr dünnen Seidenlagen bestehend, die im Wind wehten, war merkwürdig verkürzt und ließ ihre Knöchel und ihre kleinen Füße frei, die in Schuhen mit violetten Absätzen steckten. Das Violett nahm die Farbe der künstlichen Trauben auf, die hier und da ihren Rock zierten.

„Die Duchess?“, flüsterte Rigby. „Sie erinnert mich an … hmm, ich weiß nicht, was, aber irgendwie an Zuckerwerk.“

Doch Gabriel hörte nicht zu. Er war zu sehr in den Anblick eines weiteren Beins vertieft, eines Frauenbeins mit schmalem Fuß und den schönsten Fesseln, die er je gesehen hatte … Und er hielt sich durchaus für urteilsfähig, denn er hatte weiß Gott schon viele Fesseln gesehen.

Als Nächstes kam ein gelber Strohhut zum Vorschein, den der Diener geschickt auffing.

Erst dann schob eine junge Frau auch ihr zweites Bein aus der Kutsche und zeigte sich in Gänze. Sie posierte in einem buttergelben Kleid auf der obersten Stufe, hielt sich mit beiden Händen am Schlag fest und betrachtete ihre Umgebung.

Ihr Haar war vollkommen schwarz und zeigte auch im direkten Sonnenlicht keinen roten oder goldenen Schimmer. Sie trug es offen, sanft umschmeichelt vom Wind. Im Profil war sie eine perfekte Schönheit, von der geraden Nase mit den faszinierend geblähten Nasenflügeln bis zu der klaren Kinnlinie … und den üppig gerundeten Brüsten.

Und dann wandte sie den Kopf und blickte in Gabriels Richtung, und er sah, wie voll ihre Lippen waren, die ganz langsam zu lächeln begannen. Sommersprossen sprenkelten ihren leicht goldbraun getönten Teint. Ihre Augen waren fast so schwarz wie ihr Haar. Und ihre Augenbrauen …? Wie sollte man diese Brauen beschreiben? Sie waren dicht, setzten fast direkt über den inneren Augenwinkeln an und verliefen nahezu gerade; erst auf Höhe des Brauenknochens bogen sie sich nach unten. Sie sahen aus wie schwarze Flügel, einzigartig, faszinierend.

Sie hätte eine Kriegsgöttin sein können. Weiß Gott, in seinen unschuldigen Jugendjahren wäre er errötend ihren Spuren gefolgt und hätte womöglich sogar eine Ode auf ihre Augenbrauen verfasst. Gut, dass er inzwischen älter und klüger war.

„Ah, Gabriel, da bist du ja“, rief seine Tante und winkte mit einem spitzenbesetzten Taschentuch in seine Richtung. „Nun komm schon. Nicht trödeln, Sunny! Sieh nur, die Überraschung, die ich dir versprochen habe. Thea, wink doch Gabriel mal zu!“

„Das ist es? Das ist deine Überraschung? Sie ist deine Überraschung? Die ich haben kann, wie du gesagt hast?“ Rigby schlug ihm auf den Rücken, so heftig, dass Gabriel ins Taumeln geriet. „Du bist ein echter Freund, Sonnyboy, wirklich.“

2. KAPITEL

Dorothea Neville wandte rasch ihr Gesicht ab und senkte das Kinn, wohl wissend, dass es unhöflich wäre, über den Mann zu lachen, der dastand wie der Ochs vorm Berge, oder über den anderen, der bis über beide Ohren grinste. Natürlich sollte sie sich auch nicht fragen, welche Worte zwischen ihnen gewechselt wurden, während sie näher kamen, wenngleich sie sicher war, dass sie sich auf ihre Person bezogen.

Sie hätte ihren Hut nicht absetzen und ihr Haar nicht lösen dürfen. Doch bei geöffnetem Fenster war der Fahrtwind zu verlockend gewesen, um des Anstands wegen darauf zu verzichten.

Es war eine ihrer größten Schwächen – unter vielen, wie ihre Mutter meinte –, die noch mal zu einem schlimmen Ende führen würde, ebenfalls eine Warnung vonseiten ihrer Mutter.

Sie sah unfrisiert aus, windzerzaust, und dass sie ihren Hut mit dem Zuruf „Fang!“ dem Diener zuwarf, konnte auch nicht zu ihren besten Einfällen gerechnet werden.

Doch wer hatte gewusst, dass es vor Zeugen geschehen würde?

Und welch ein Glück, dass die Duchess das Wort ergriffen hatte, bevor Dorothea die restlichen zwei Stufen der Falttreppe hinunterspringen konnte, einfach nur froh, sich wieder bewegen zu dürfen, statt in der beengten Kutsche sitzen zu müssen, die Knie bis praktisch unters Kinn hochgezogen.

Sie stieg behutsam die Stufen hinunter, raffte ihren Rock gerade so weit, dass sie sehen konnte, wohin sie den Fuß setzte, und blieb kurz neben der Duchess stehen, bevor sie ein paar Schritte von ihr abrückte, weil sie sich in der Nähe dieser Frau immer wie eine Riesin fühlte.

Was daran lag, dass die Duchess zwar breit, aber dafür ziemlich klein war.

Nein, das stimmte nicht. Es lag daran, dass Dorothea, wie sie wohl wusste, so groß war. Sie überragte ihre eigene Mutter, ihren Stiefvater und ihre beiden Halbschwestern, erhob sich über sie wie eine hohe Eiche inmitten von Jungbäumen.

Was nicht hieß, dass sie in Gesellschaft die Schultern nach vorn zog oder versuchte, sich klein zu machen, denn sie war stolz auf ihre Größe. Sie war das Kind ihres Vaters, und er war groß gewesen, war immer noch groß, verflucht sollte er sein … Papa war womöglich so hochgewachsen wie der eine der beiden Gentlemen, die sich jetzt näherten. Ihre Hüte hatten sie abgenommen. Der größere neigte sich rasch über die Hand, die die Duchess ihm darbot.

„Tante“, sagte er. „Willkommen zu Hause. Der Duke liegt oben im Sterben.“

Die Frau runzelte die Stirn. „Schon wieder? Er hatte mir versprochen, es während meiner Abwesenheit zu unterlassen. Was ist es denn dieses Mal? Sieht er Sterne? Das hatten wir schon ziemlich lange nicht mehr.“

„Von Sternen hat er nie gesprochen, nein, aber ich entsinne mich, ihn von kranken Körpersäften sprechen gehört zu haben. Ich fürchte, ich habe ihm nicht allzu aufmerksam zugehört.“

Die Duchess nickte, und die zahlreichen seidenen Lagen ihres Huts nickten mit ihr. „Dafür brauchst du dich nicht zu entschuldigen, Sunny; das tut keiner von uns.“

Dorothea tauschte einen Blick mit dem zweiten Herrn, der offensichtlich nicht der Großneffe und Erbe war und anscheinend genauso verblüfft über diesen unbeschwerten Wortwechsel war sie. Doch dann lächelte er, und sie kam zu dem Schluss, dass sie Freunde werden würden. Sie erwiderte das Lächeln.

„Sonnyboy“, sagte der Herr und versetzte dem Großneffen einen Rippenstoß, „ob du wohl in Betracht ziehen würdest, mich der Duchess vorzustellen … und ihrer Begleitung?“

Jetzt war es offenbar an der Zeit für die beiden Herren, einen Blick zu tauschen, doch sie lächelten nicht. Vielmehr schienen sie sich für kurze unbehagliche Sekunden mit Blicken zu messen, bevor der Neffe sich an die Duchess wandte und fragte, ob es gestattet sei, ihr seinen Freund Sir Jeremiah Rigby, Baronet, vorzustellen.

Die Duchess brummte etwas halbwegs Angemessenes. Sie bot Rigby die Hand, damit er sich über diese neigen konnte, und wandte sich wieder ihrem Großneffen zu. „Gabriel, Sir Jeremiah, es ist mir ein besonderes Vergnügen, Sie beide mit meiner hübschen neuen Freundin aus Virginia bekannt zu machen: Miss Dorothea Neville. Gönne ihnen einen netten Knicks, meine Liebe, damit wir alle im Haus Schutz vor diesem lästigen Wind suchen können, bevor mein Hut sich in alle vier Himmelsrichtungen verflüchtigt.“

Thea tat wie gebeten. Die bisherige Erfahrung lehrte, dass das einfacher war, als sich alles, was die Duchess von sich gab, zu Herzen zu nehmen oder gar als Beleidigung zu betrachten. Gleichzeitig bot sie den Herren die ausgestreckte Hand. Der Baronet, der ihr ohnehin näher war, verneigte sich gekonnt darüber und trat zurück, um Gabriel Sinclair ebenfalls Gelegenheit zu dieser Höflichkeitsgeste zu geben.

Er streifte ihre Hand nur knapp und verbeugte sich eher nachlässig. Er sah ihr kurz in die Augen, bevor er den Kopf schüttelte, als wollte er irgendeinen Gedanken verwerfen. „Miss Neville“, sagte er, dann bot er seiner Tante den Arm und überließ es Rigby, Dorothea die Marmorstufen zur Eingangshalle des imposanten Gebäudes hinaufzugeleiten.

Ein kleiner Schnösel, wie? dachte sie und fixierte seinen Rücken. Er sieht extrem gut aus, aber mir wäre es lieber, er wäre sympathisch. Daran muss ich noch arbeiten, wenn ich längere Zeit in seiner Gesellschaft verbringen will.

Im Haus angekommen, verkniff sie es sich, die eindrucksvolle lichtdurchflutete Eingangshalle mit der riesigen ovalen Glaskuppel einige Stockwerke über ihrem Kopf hingerissen anzustarren. Sie merkte auch nicht an, dass die Halle riesig genug war, um darin vor großem Publikum ein Kricket-Spiel zu veranstalten, sofern die Möbel vorher ausgeräumt wurden.

Es war ja nicht so, dass architektonische Größe oder Schönheit ihr fremd waren. Virginia war übersät mit Herrenhäusern aller Art, viele von ihnen im Stil der prachtvollen Residenzen ihrer Besitzer in England erbaut.

Doch sie hatte nun mal noch nie zuvor gut drei Dutzend vergoldeter Vogelkäfige in allen Größen und Formen gesehen. Die Dinger waren offenbar planlos aufgehängt, aufgestellt, in Ecken zusammengedrängt worden, sämtlich bewohnt von einer prachtvollen Ansammlung exotischer Vögel. Vögel in allen Farben und Größen. Vögel mit Augen, die unecht wirkten, Vögel mit Schnäbeln, die gelb waren wie die Sonne oder lang und ebenholzschwarz. Orangefarbene und grüne und geradezu erschreckend leuchtend blaue Vögel, Vögel mit langen Schwanzfedern oder merkwürdigen Federhauben auf den Köpfen.

Ein regelrechter Wald aus Pflanzen, die sie nicht kannte, wuchs in riesigen Messingkübeln. Es gab Pflanzen mit schlaffen Wedeln, groß wie Elefantenohren, und hohe Bäume mit schlankem Stamm, die statt Rinde eher eine Art exotischer Schuppen aufwiesen und von einem wilden Kopfputz aus stachligem Grünzeug gekrönt waren. Die Palmen erkannte sie, denn die hatte sie bereits in Virginia gesehen. Ein Bananenbaum war ihr zwar noch nie vor die Augen gekommen, doch sie war ziemlich sicher, hier und jetzt einen vor sich zu haben, denn Büschel kleiner grüner Früchte hingen etwa fünf Meter über dem Fliesenboden in ihren Kronen.

Merkwürdig – nicht so merkwürdig wie die restliche Einrichtung, aber trotzdem zumindest bemerkenswert – war die Tatsache, dass sich auf Drittelhöhe zwischen dem Fußboden und der Kuppel beidseitig eine Art Balkon entlangzog. Eine Beobachtungsplattform? Und sie fand schon ihren Stiefvater verschroben, weil er darauf bestand, dass sein neuer Landauer kanariengelbe Räder haben musste, einfach aus dem Grund, dass er so etwas während seines letzten Englandaufenthalts im Hyde Park gesehen hatte!

Ein Pfauhahn stolzierte vorüber, gefolgt von seiner unscheinbaren Pfauhenne, blieb stehen, um seinen prachtvollen Schwanz aufzufächern, und schritt dann weiter.

Zwei livrierte Diener arbeiteten inmitten dieser Fauna und Flora, füllten Wasser nach, hoben Federn auf und kehrten, wie es aussah, hinter den Pfauen her. Einer der Käfige stand offen, darin steckte zur Hälfte ein Diener, der nach etwas griff, was Thea lieber nicht identifizieren wollte.

In zwei identischen Kaminen auf zwei gegenüberliegenden Seiten der riesigen Halle brannte Feuer, und in der Mitte befand sich ein …

„Ein Springbrunnen? Ein Wasserfall? Aber … aber das ist unmöglich.“ Thea hatte gar nichts sagen wollen, aber wie sollte man bei diesem Anblick stumm bleiben?

Sie wünschte, sie hätte ihren Hut behalten, dann hätte sie sich gegen die drückende Hitze Luft zufächeln können.

Jeremiah Rigby neigte sich ihr zu. „Wie ich hörte, haben der Duke und die Duchess früher weite Reisen unternommen und von überallher Souvenirs mitgebracht. Falls Sie noch nie einen ausgestopften Lemuren gesehen haben, möchten Sie sich später vielleicht einmal an Sonnyboy wenden.“

„Ausgestopft?“ Thea fasste den nächstbesten Käfig ins Auge und sah zu ihrer Erleichterung, dass das kleine Vogelpaar – eine Art Wellensittiche vielleicht? – eifrig die Köpfchen aneinanderrieb. „Diese Vögel sind doch alle lebendig, nicht wahr, nicht nur einige von ihnen?“

„Sind sie, und da sich unter ihnen auch Papageien und dergleichen befinden, werden einige von ihnen uns alle wohl überleben. Ich kann gar nicht sagen, wie oft mein Freund mir mit seiner Begeisterung darüber in den Ohren liegt.“

„Jetzt scherzen Sie, oder?“

„Wie verrückt. Ich fürchte, all diese hübschen Vögel werden nicht mehr in diesem prächtigen Saal leben, sobald er einzieht.“

„Hier herrscht ein ziemlich säuerlicher Geruch. Ich wusste, dass die Duchess ein Paar unserer einheimischen Kraniche nach England mitnehmen wollte, doch mein Stiefvater hat sie gewarnt: Die Vögel hätten wahrscheinlich die Reise nicht überstanden. So etwas wie dies hier habe ich mir nicht vorstellen können.“

Die Duchess, die ihre Vögel bewundert hatte, musste die letzten Worte wohl gehört haben, denn sie gesellte sich zu Thea, um sie aufzuklären. „Basil ist das Genie, das hinter allem steckt. Als er Duke wurde, habe ich mich über den traurigen, überfüllten Zustand des Aviariums beklagt, und das hier ist das Ergebnis. Das Haus meines lieben Cousins in Virginia hat ihn auf die Idee gebracht. Er fand es klug, Türen an beiden Enden des Hauses anzulegen, um im Sommer Durchzug zu ermöglichen. Deshalb ließ Basil eine stickige alte Bude abreißen, die im Wege stand, und an der Rückfront ein halbes Dutzend Fenstertüren einbauen. Recht häufig öffnen wir vorn und hinten alle Türen zum Lüften, bei mildem Wetter, versteht sich. Die Pfauen pflegen wegzulaufen, aber sie kommen immer wieder.“

Schließlich meldete sich Gabriel zu Wort. „Meine Tante vergisst zu erwähnen, dass Basil das Treppenhaus erst zumauern ließ, nachdem sich herausgestellt hatte, dass freilaufende Vögel zum Wandern tendieren. Haben wir genug gesehen?“ Er deutete auf eine Reihe von Türen rechts von ihm.

„Ja, ja, begeben wir uns nach oben“, stimmte die Duchess ihm zu. „Ich sollte allerdings sofort Basil aufsuchen.“

„Er hält sich noch“, versicherte Gabriel. „Mindestens ein paar Monate.“

Die Duchess versetzte ihm spielerisch einen Klaps auf den Arm. „Böser Junge! Er wird nicht sterben, ganz gleich, wie sehr er sich diesen albernen Fluch einredet. Und wenn er doch sterben sollte, nun, dann lasse ich nicht zu, dass er sich deswegen vorher hier verkriecht. Und darüber möchte ich mit euch reden. Komm, liebste Thea, du spielst eine große Rolle in meinen Plänen.“

Jetzt blickte der Neffe sie wieder so an, was immer auch unter so zu verstehen sein mochte. Versuchte er vielleicht, das Schielen zu erlernen? Wirklich, es war höchst beunruhigend. Sie brauchte ihn nicht. Eigentlich nicht. Sie würde tun, was sie zu tun hatte, und ihn nicht um Hilfe bitten, ganz gleich, was die Duchess dachte.

Erneut ließ sie sich von Jeremiah Rigby den Arm bieten. Einer der Diener beeilte sich, die Doppeltür zu öffnen, und Thea blickte hinauf in ein schön geschwungenes Treppenhaus, das vormals wohl sehr imposant gewesen war. Sie folgte den anderen pflichtschuldig nach oben.

„Die Tür zu Ihrer Linken, Miss Neville, öffnet sich zu dem Balkon, der übers Aviarium hinweg zum Westflügel und zu einem identischen Treppenhaus führt. Rechts von Ihnen befindet sich der Eingang zum Großen Salon. Tante?“

„Ich weiß, es sieht schrecklich aus, Sunny, aber es war notwendig.“

„Nichts von alledem war notwendig.“

Thea musste Gabriel Sinclair zustimmen. Wenn man unbedingt in einem Dschungel leben wollte, ließe sich leicht ein Dschungel finden und … nun ja, dort wohnen. Sie begann tatsächlich, Mitleid mit dem Mann zu empfinden. Vielleicht war es gar nicht so famos, wie man dachte, der Erbe eines Dukes zu sein …

Sie begaben sich in den Großen Salon, und nachdem sie neben der Duchess auf einem hübschen, mit gestreifter Seide bezogenem Sofa Platz genommen hatte, suchte sie Gabriels Blick. Sie lächelte, hoffentlich liebreizend, zog bedächtig ihre Handschuhe aus und faltete die Hände im Schoß.

„Hatten Sie eine angenehme Reise?“, erkundigte sich Gabriel.

Ah, er war offenbar der gleichen Meinung wie sie. Sie würden einfach noch mal von vorn anfangen mit ihrer Bekanntschaft.

„Sie war herrlich, Sir, ja. Wir haben Virginia mit gutem Vorsprung vor möglichen spätsommerlichen Tropenstürmen verlassen, und die gesamte Überfahrt war erfreulich ereignislos.“

So. Das war höflich, informativ, und wenn er ein wenig erstaunt über ihr klares, präzises, kultiviertes Englisch sein sollte, ließ er das nur einen flüchtigen Moment lang durchblicken.

Die Duchess machte sich bereits an dem Teetablett zu schaffen, das die Dienstboten in den Raum gebracht hatten, schenkte Tee ein und reichte dünn geschnittene Gurkensandwichs herum.

„Da hatten Sie in der Tat Glück. Ist es Ihre erste Reise nach England, Miss Neville?“ Ja, er war eindeutig neugierig. Hatte er etwa gedacht, sie würde sämtliche Vokale auf diese träge, lässige Art zerdehnen, die ihre Halbschwestern sich sehr zur Verzweiflung ihrer Mutter angewöhnt hatten?

„Ja, in der Tat.“

Sir Jeremiah blickte zu seinem Freund auf, als hätten die beiden aus ihren Worten irgendeine Schlussfolgerung gezogen. Thea war nicht sicher, ob es eine erfreuliche oder eine traurige Schlussfolgerung war, aber zweifellos war eine Entscheidung gefallen.

„Bislang bin ich nur aus England abgereist.“

Wieder ein Austausch von Blicken. Womöglich wurde die Entscheidung von eben noch einmal überdacht.

Also wirklich. Wie unhöflich von den beiden. Thea hoffte, die Duchess würde sich einmischen, die Sachlage erklären, doch ihre Gastgeberin schien völlig in das Abzählen der Zuckerwürfel für ihren Tee vertieft.

„Ich bin als Engländerin geboren, Sir. Sowohl mein Bruder als auch ich sind englische Staatsbürger, aber er war älter als ich, und da ich zweiundzwanzig Jahre alt bin, liegt das lange zurück. Er wurde vor meiner Geburt von einem Fieber dahingerafft. Wie auch immer, wir haben England verlassen, um uns in Virginia anzusiedeln, wo meine Eltern nicht auf Schritt und Tritt auf traurige Erinnerungen stoßen würden. Mama war meinethalben schrecklich betrübt; sie fürchtete, ich würde niemals eine Saison in London erleben dürfen, doch Papa versprach ihr, dafür zu sorgen, dass ich diese Gelegenheit erhalte.“ Sie senkte den Kopf und starrte auf ihre Hände, in erster Linie, damit ihre Augen Gabriel Sinclair nichts verraten konnten, was sie lieber für sich behielt. „Leider kam er während einer Reise nach England, wo er seine restlichen Angelegenheiten regeln wollte, ums Leben.“

„Eine Familie mit vielen Tragödien“, bemerkte Gabriel und nickte. „Mein Beileid.“

Thea wand sich ein wenig. Sie hatte vermutlich mehr Informationen preisgegeben, als die Männer benötigten, doch die Art, wie die beiden sie unverwandt ansahen, war nervtötend, und sie neigte zum Plappern, wenn sie nervös war. Ihre Mutter wies sie ständig darauf hin. Tatsächlich war sie eine traurige Enttäuschung für Mama, meistens zumindest. Die arme Frau wäre hier und jetzt längst in Ohnmacht gesunken, spätestens in dem Moment, als Thea ihr fortgeschrittenes Alter offenbarte.

Die Duchess hatte endlich aufgehört, in ihrem Tee zu rühren. „Theas Mutter wurde meine Busenfreundin, als ich während Basils und meiner ersten Amerikareise meinen Cousin besuchte“, erklärte sie. „Und bei meinem jetzigen Aufenthalt haben wir unsere Freundschaft aufgefrischt. Zwar hatte ich selbst nie eine Tochter, doch ich konnte ihren Schmerz nachempfinden, als sie das Versprechen ihres verstorbenen Mannes erwähnte, und auch die Enttäuschung ihrer ältesten Tochter, weil die nun nicht die Londoner Saison bekam, die ihr Vater und ihre Mutter sich so für sie gewünscht hatten. Da konnte ich gar nicht anders, als meiner Freundin anzubieten, Thea nach England mitzunehmen.“

„Und, hm, das ist meine Überraschung? Ich fürchte, ich verstehe nicht“, sagte Gabriel.

„Nicht ganz, Sunny. Deine Überraschung besteht darin, dass du Miss Neville gemeinsam mit mir in die Gesellschaft einführen wirst, wenn wir alle, Basil eingeschlossen, nach London zur ,Kleinen Saison‘ fahren.“

„Oh, ich glaube eher nicht.“ Gabriel stand auf, um sich vor Thea zu verbeugen. Eine Sturmwolke aus unterdrücktem Zorn legte sich über seine attraktiven Züge. „Auch wenn ich am Boden zerstört bin, weil ich Sie nicht begleiten kann, Miss Neville, fürchte ich, dass ich bereits andere Pläne habe, nämlich ins Meer zu steigen und mich zu ertränken. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen …?“

„Sunny!“, rief seine Tante ihm nach, während Sir Jeremiah Rigby sich laut lachend auf die Schenkel schlug.

Doch Gabriel Sinclair zögerte nicht, sondern marschierte, ohne sich noch einmal umzuschauen, aus dem Raum. Sein stürmischer Abgang hinterließ bei Thea zwei Gedanken. Erstens war hier womöglich mehr im Schwange, als sie zu wissen glaubte … Und zweitens konnten nur eine liebe alte Dame mit Silberhaar oder ein ausgemachter Idiot es wagen, diesen Mann Sunny oder Sonnyboy zu nennen.

3. KAPITEL

Gabriel wartete auf die Duchess. „Lauf nicht weg, Euer Gnaden“, sagte er, als sie endlich aus den Räumen des Dukes kam, und packte sie am Arm, bevor sie seiner gewahr wurde. „Ich glaube, du und ich, wir sollten uns irgendwohin zurückziehen, wo wir unter uns sind. Wir haben einiges zu besprechen, nicht wahr?“

Die Duchess lächelte zu ihm auf. „Willst du nicht wenigstens fragen, wie es Basil heute geht?“

„Du meinst, da Rigby und ich ja gestern eingetroffen sind, ist der alte Junge jetzt dem Grab einen Schritt näher?“

„Wir alle sind sterblich, Sunny“, betonte sie und drohte ihm mit dem Zeigefinger. „Vergiss das nicht.“

„Aber man sollte nicht darauf fixiert sein, nicht, wenn man das Leben genießen will, solange es dauert.“

Die Duchess seufzte und nickte. „Da magst du recht haben, ja. Ich glaube, allmählich langweilt er sich mit seinen eigenen Weltuntergangs-Prophezeiungen, oder aber er fühlt sich zumindest einsam. Er hat mich schrecklich vermisst, musst du wissen, und als ich ihn nun wissen ließ, dass ich gedenke, nach London zu fahren und erst nach seinem Geburtstag wiederzukommen? Tja, da hatte ich ihn schon halb in der Kutsche. Ich verlasse mich darauf, dass du ihn von seinen trüben Gedanken ablenkst, sobald wir in London sind.“

„Ich? Wieso ich?“

„Meine Güte, wieso nicht? Auch wenn ich ihn liebe, und zwar unsagbar, ist er in den vergangenen Jahren doch eine traurige Belastung für mein normalerweise fröhliches Gemüt geworden, und zwar so sehr, dass ich ihn gelegentlich verlassen muss, sonst würde ich mit nach unten gezogen, in seine Grube der Verzweiflung. Nach unten gezogen, Sunny.“

„Ja, in die Grube. Ein indiskutables Schicksal“, pflichtete Gabriel ihr bei. Er liebte seine Tante, liebte sie wirklich. Aber zuzeiten …

Die Duchess seufzte schwer. „Ich wusste mir wirklich nicht mehr anders zu helfen. Ich hatte so viel Spaß mit ihm, Sunny. Ach, wie haben wir gelacht, wie haben wir uns geliebt! Habe ich dir mal von der Nacht erzählt, als wir uns in die Pyramiden schlichen, eine Decke ausbreiteten und …“

„Zweimal. Du hast es mir zweimal erzählt. Einmal, als ich noch klein genug war, um die Sache als herrliches Abenteuer zu betrachten, und dann ein weiteres Mal, als ich rot wurde wie eine Tomate und mir am liebsten die Ohren verstopft hätte.“

„Oh“, erwiderte die Duchess leise, doch dann siegte wieder ihre Frohnatur. „Wir haben die ganze Welt bereist, neue Speisen gekostet, neue Landschaften gesehen, großartige Erfahrungen gesammelt … Bist du noch im Besitz dieser kupfernen Klangschalen, die wir aus Tibet mitbrachten?“

Gabriel massierte sich den Nacken. Seine Tante kannte ihn gut genug, um zu wissen, warum er auf sie gewartet hatte und wohin er mit ihr gehen wollte, deshalb nahm sie den längstmöglichen Umweg dorthin.

„Ganz sicher stecken sie irgendwo in einem Schrank, ja. Einer meiner Lehrer hat sie seinerzeit konfisziert, als ich sie ein bisschen zu begeistert mit dem Holzschlegel bearbeitet habe. Er ließ mich wissen, dass der Big Ben nicht annähernd so laut und misstönend läutet.“

„Sie sind eigentlich so gefertigt, dass sie melodisch klingen.“

„Dann dürften sie nicht mit einem schweren Holzschlegel versehen sein.“ Er geleitete seine Tante in ein kleines Wohnzimmer. „Ich sollte sie wohl wieder auftreiben, oder? Rigby würde vermutlich seinen Spaß daran haben, auf die Dinger einzudreschen.“

„Man drischt nicht auf eine Klangschale ein. Sie dient der Meditation, der Suche nach der eigenen Mitte, der … Ja, warum nicht, schenk dem Jungen die Klangschalen. Die Geschenke, die wir dir mitgebracht haben, waren wohl nicht besonders passend für ein kleines Kind, nicht wahr?“

„Der Lemur war eine nette Geste“, räumte Gabriel hilfreich ein. „Wenn ich auch glaube, dass ich mindestens bis zu meinem zehnten Lebensjahr nur mit brennender Kerze neben dem Bett einschlafen konnte. Aber lass uns über deine jüngste Überraschung sprechen, ja?“

„Dorothea. Scheußlicher Name. Klingt, als wäre sie jetzt schon eine bedauerliche alte Jungfer, vom Schicksal vergessen.“

„Mit zweiundzwanzig ist sie zwar noch keine alte Jungfer, aber auf dem besten Wege dorthin.“

„Wie grausam ihr Männer sein könnt. Sieh bloß um Himmels willen davon ab, wie ein Marktschreier durch Mayfair zu springen und laut zu verkünden, wie sehr sie in die Jahre gekommen ist, wird schon alles gut. Sie ist ziemlich hübsch. Danke, mein Lieber“, sagte die Duchess, als Gabriel ihr ein Glas Sherry reichte. Ihr Blick erinnerte an den eines gekränkten Hündchens, das dachte, sein Herrchen würde sich über Rotwildgedärm auf der Türschwelle freuen. „Nun ja, ich vermute, du willst über Dorothea sprechen.“

Autor

Kasey Michaels
Als Kasey Michaels ihren ersten Roman geschrieben hatte, ahnte sie noch nicht, dass sie einmal New York Times Bestseller-Autorin werden würde. Und es hätte sie auch nicht interessiert, denn damals befand sie sich in der schwierigsten Phase ihres Lebens: Ihr geliebter achtjähriger Sohn benötigte dringend eine Nieren-Transplantation. Monatelang wachte sie...
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