Pikantes Lügenspiel mit dem Viscount

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Ich werde mich um deine Tochter kümmern. Das Versprechen, das Darby Travers, Viscount Nailbourne, seinem sterbenden Freund gegeben hat, muss er einhalten! Was zu einer Herausforderung wird, als besagte Tochter vor seinem Anwesen in Wimbledon steht. Denn die kleine Marley wird von einer ebenso hinreißenden wie widerspenstigen Schönheit begleitet: Sadie Grace Boxer, der Schwester des Verstorbenen. Sadies aufsässigen Mund mit heißen Küssen zum Schweigen zu bringen, erscheint Darby bald ausgesprochen reizvoll. Oder sie gar zu seiner Viscountess zu machen? Wenn er bloß nicht das Gefühl hätte, dass sie ihm ein gefährliches Geheimnis verschweigt …


  • Erscheinungstag 16.06.2020
  • Bandnummer 354
  • ISBN / Artikelnummer 9783733749217
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

März 1814

Irgendwo in der Nähe von Montmort-Lucy, Frankreich

Im Lager wurde gemunkelt, dass die Wachen nervös seien. Dass Bonapartes Sieg über die Alliierten bei Champaubert den Sturz des französischen Kaisers lediglich hinauszögerte.

Tatsächlich war Jeremy Rigby von seinem allmorgendlichen Gesundheitsspaziergang längs der Eingrenzung des Kriegsgefangenenlagers mit der Meldung zurückgekommen, dass er zehn Wachen weniger gezählt hatte, als am Vortag auf ihrem Posten gewesen waren.

Und acht Tote mehr. Die Verwundeten erlagen ihren Verletzungen einen Monat nach ihrer Gefangennahme infolge des Mangels an Nahrung, sauberem Wasser und medizinischer Versorgung in beängstigender Zahl.

„Der Zeitpunkt könnte nicht besser gewählt sein für eine Flucht bei Nacht und Nebel“, sagte Gabriel Sinclair, als er und Rigby sich in dem wackligen Unterstand, den sie zum Schutz vor dem ausklingenden Winter und Vorfrühlingsregen errichtet hatten, zu Cooper Townsend und Darby Travers gesellten.

Der Chirurg John Hamilton hob den Blick nicht von seiner Arbeit. Er untersuchte gerade den Heilungsverlauf der Wunde, die Cooper sich zugezogen hatte, als ihn bei Champaubert eine Kugel in die Seite traf, bevor er mit Tausenden anderen in Gefangenschaft geriet. „Da wird eine scheußliche Narbe zurückbleiben, aber nachdem wir die Entzündung losgeworden sind, heilt jetzt alles gut. Du bist der Nächste, Mylord.“

Darby Travers, Viscount Nailbourne, stützte sich auf die Ellenbogen, als sich der Chirurg ihm tief gebeugt über den feuchten Boden im Entengang näherte; die unbequeme Haltung war dem niedrigen Dach und der Körpergröße des Arztes geschuldet. „Nicht nötig, John. Keine Engel haben mich in der Nacht besucht, keine pausbäckigen Putten haben ein Wunder gewirkt, und nicht einmal der Teufel hat sich die Mühe gemacht, mich in Versuchung zu führen. Das Auge ist nicht zu retten, und damit hat sich’s. In meiner Freizeit fertige ich bereits hübsche Augenklappen.“

So war Darby. Er machte aus so ziemlich allem einen Scherz. Nicht einmal seine engsten Freunde hatten eine Ahnung, ob er sich tatsächlich so unbekümmert mit seiner Verletzung abgefunden hatte, wie es den Anschein erweckte. Als seine engsten Freunde fragten sie aber nicht lange, sondern gingen darauf ein.

Der Chirurg jedoch ignorierte die Unbeschwertheit und fing an, den ausgefransten Leinenverband abzuwickeln, der einen sauberen Stofffetzen aus dem gleichen Material über dem linken Auge des Viscounts schützte. „Es ist noch zu früh, Mylord, und die Schwellung war bedenklich. Ich kann nur hoffen, dass ich beim Entfernen der Kugel zur Linderung des Drucks nicht noch mehr Schaden angerichtet habe.“

Darby sprach leise, damit die anderen ihn nicht hörten. „Ich erinnere mich an nichts, Gott sei’s gedankt, nachdem ich angeblich Rigby wissen ließ, dass ich mich setzen müsse, und dann zu Boden ging. Ich war quasi ein toter Mann, bevor du mit deinem Skalpell und deinen Blutegeln herkamst. Dir verdanke ich mein Leben, und meine Dankbarkeit kennt keine Grenzen. Also, du hast gehört, was der Captain gesagt hat. Wir vier flüchten heute Nacht. Du kommst mit.“

Hamilton schüttelte den Kopf und begann, den Verband wieder anzulegen. „Ich kann meine Patienten nicht im Stich lassen, Mylord.“

„Seit einer Woche schleicht sich Nacht für Nacht einer nach dem anderen fort, jeder, der dazu in der Lage ist. Den Wachen ist es vielleicht noch nicht aufgefallen, aber schon bald wird nicht mehr zu übersehen sein, wie sich unsere Reihen lichten. Wenigstens ein paar von uns werden unsere Truppe erreichen, und dann ist die Rettung nahe. Aber wir wissen alle, dass sie zu spät kommen könnte. Unsere ängstlichen Eroberer könnten sich der Verwundeten entledigen, bevor sie selbst sich entweder auf den Weg nach Hause machen oder sich Bonaparte anschließen. Wie die Dinge liegen, lassen sie uns ohnehin schon fast verhungern.“

„Mylord, es ist deine Pflicht, auf Biegen und Brechen zu deiner Truppe zurückzukehren, wie es die Pflicht eines jeden Soldaten ist. Meine Pflicht ist es, bei den Verwundeten zu bleiben.“ Hamilton blickte hinter sich auf die anderen, die ins Gespräch vertieft waren, dann rückte er näher. „Du sagst, du erinnerst dich an nichts, Mylord, und ich stimme dir zu: Das ist ein Segen. Aber du hast im Delirium geredet. Doch nur ich habe es gehört.“

„Ach, du liebe Zeit, John, du treibst mir die Schamesröte ins Gesicht. War das, was ich gesagt habe, denn so schrecklich?“

„Du hast von deiner Kindheit gesprochen, Mylord. Von einer bestimmten Zeit in deiner Kindheit. Ich … Ich wollte dir nur sagen, dass das, was passiert ist, nicht deine Schuld war. Kinder nehmen häufig Schuld auf sich, die nicht die ihre ist. Du bist ein guter Mensch; ihr alle seid außergewöhnlich gute Menschen.“

„Danke, John“, erwiderte Darby. „Tut mir leid, dass du mein unsinniges Gerede anhören musstest. In Wirklichkeit habe ich diese Jahre längst hinter mir gelassen. Ich habe keine Ahnung, warum ich nach so langer Zeit wieder darüber gesprochen habe. Viel lieber hätte ich dich mit Geschichten über meine Abenteuer mit den Damen erfreut.“

Der Arzt lächelte. „Du hast mit amüsanten Anekdoten nicht gespart, Mylord.“

„Na, dem Himmel sei Dank! John, wenn du es dir nicht noch anders überlegen und mit uns kommen willst, sollst du immerhin wissen, dass ich nicht vergessen werde, wie viel ich dir verdanke, nicht zuletzt mein ziemlich wertloses, marodes Leben. Wenn ich als Gegenleistung, so unzulänglich sie auch sein mag, irgendetwas für dich tun kann, darfst du nicht zögern, mich zu bitten, denn es ist dir gewährt, bei meinem Wort als Ehrenmann.“

„Du hast mehr Güte in dir, als dir meines Erachtens bewusst ist, Mylord.“ Der Arzt zögerte und blickte über das Lager hinweg, das von Tag zu Tag mehr verkam. „Ich habe Grund zu der Hoffnung, wieder nach Hause zu kommen, Sir, aber wenn nicht …“

Darby richtete sich zum Sitzen auf und streckte seine rechte Hand aus. „Ja? Sag es, John, und es sei dir gewährt.“

1. KAPITEL

London, die „Little Season“, 1815

Was hältst du von Spanien, Norton? Ich habe Erstaunliches über die Alhambra gehört, die früher als Palast der Inspiration und Vergnügungen bezeichnet wurde. Aber nein, du hast kein Interesse an Vergnügungen, oder?“

„Meine Pflichten bereiten mir größtes Vergnügen, Mylord“, antwortete der Kammerdiener in gewohnt monotonem Tonfall. „Umso mehr, wenn seine Lordschaft davon absieht zu sprechen, während ich ihn rasiere.“

Darby Travers, Viscount Nailbourne, hätte sich liebend gern erkundigt, ob die Worte seines Dieners als Drohung aufzufassen wären, verzichtete aber wohlweislich darauf. Bis der penible Mann die Klinge von seinem Hals genommen hatte, unterdrückte er klugerweise sogar das Schlucken.

„Und schon sind wir fertig, Mylord“, sagte Norton einigermaßen befriedigt, trat zurück und reichte seinem Herrn ein warmes, feuchtes Handtuch. „Das heißt, bis heute Abend. Ich möchte Sie bitten, noch einmal die Vorteile eines gut gestutzten Bartes zu erwägen.“

Darby wischte sich das Gesicht ab und warf das Handtuch dann in Nortons Richtung, erhob sich und ging hinüber zum Toilettentisch, auf dem ein ovaler Spiegel stand. „Nicht, wenn du mir weiterhin deine Barbierkünste aufzwingst, nein. Es schmerzt mich, es auszusprechen, Norton, aber dein Schnauzbart erscheint mir abgekaut, und ich bin überzeugt, dass du diesen drahtartigen Bewuchs deines Kinns benutzt, um trockenen Schlamm von meinen Reitstiefeln zu entfernen. Der Umstand, dass Stiefel wie auch Bart schwarz wie Schuhwichse und deine Haupthaar flammend rot sind, wirft für mich die Frage auf, womit du dich amüsierst, wenn ich dich allein lasse.“

Norton, ein Mann von mindestens vierzig Jahren, strich sich mit der Hand übers Haar, das er säuberlich in der Mitte gescheitelt und zu einem etwa fünfzehn Zentimeter langen Zopf gebunden trug, und zupfte dann an seinem Ziegenbart. „Rotes Gesichtshaar ist unattraktiv, Mylord.“

Darby hätte seinen neuen Kammerdiener gern gefragt, warum er seinen Farbtopf nicht auch für sein Haupthaar in Gebrauch nahm, aber womöglich hätte der Mann ihm den Grund genannt. Norton war sein dritter Kammerdiener in genauso vielen Monaten und der Einzige, der nicht ständig versuchte, ein Zusammenzucken zu verbergen, wenn er seinen Dienstherrn ohne Augenklappe sah. Allein wegen dieser kleinen Angewohnheit wäre es dem Viscount letztlich sogar egal gewesen, wenn der Mann Vergnügen daran gefunden hätte, seine Hose auf dem Kopf zu tragen.

Er griff nach seinen Bürsten und zog sie durch sein kohlschwarzes Haar. „Ich glaube, ich enthalte mich eines Kommentars dazu, Norton. Aber zurück zu Spanien. Ich bin todunglücklich, dir mitteilen zu müssen, dass wir nicht reisen können, so gern ich auch meinem Schicksal entkommen würde. Zum einen habe ich die Teilnahme an einer Geburtstagsfeier am Monatsende versprochen. Entweder an einer Geburtstags- oder an einer Trauerfeier. Noch ist niemand sicher. Meine Jacke, bitte.“

„Ja, Mylord. Kehren wir heute zurück nach London?“

„Mein Cottage gefällt dir nicht, Norton?“ Er schlüpfte in seine gut geschnittene braune Reitjacke, denn er plante noch an diesem Morgen einen Ausritt. „Ich weiß, es ist eine Idylle, aber ich glaube, der Besitz versorgt uns mit fast allem, was zum Leben notwendig ist.“

Nailbourne Farm oder das Cottage, wie Darby es nannte, war ein ausgedehnter Landsitz kurz vor Wimbledon, nur eine Stunde von London entfernt. Neben einem großen Gestüt und dreihundert Morgen Park, dem Ergebnis von Capability Browns gelungeneren Bemühungen in der Landschaftsarchitektur, umfasste der Besitz ein einzigartiges weitläufiges Herrenhaus aus Stein und Holz mit sechzehn Schlafzimmern, einem Speisesaal, der gut und gerne fünfzig Personen Platz bot, und einem Dutzend weiteren Zimmern, alles unter einem skurrilen Reetdach, das vier Dachdecker das ganze Jahr hindurch in Lohn und Brot hielt. Es konnte sich sogar eines königlichen Schlafgemachs rühmen, in dem einst tatsächlich nicht weniger als zwei englische Monarchen genächtigt hatten.

Es war das kleinste von einem halben Dutzend Nailbourne-Besitztümern.

„Nun, Norton? Habe ich recht?“

„Es ist … nützlich, Mylord.“

„Wie sehr mich das erleichtert. Ich hätte höchst ungern angeordnet, das Haus niederreißen und nach deinen Vorgaben wieder aufbauen zu lassen.“

Sarkasmus war an Norton verschwendet, wie Darby wusste, er schwirrte über ihn hinweg wie ein Vogel im Flug, aber immerhin amüsierte sich der Viscount. Im Augenblick brauchte er ziemlich dringend einen Grund zum Lachen.

„Verzeihung, Sir, aber ich sehe mich gezwungen, Sie daran zu erinnern, dass ich diese vorübergehende Stellung unter der Voraussetzung angenommen habe, die Little Season in London zu verbringen.“

Darby rückte ein letztes Mal die schwarze Augenklappe zurecht, die er sich um den Kopf gebunden hatte, drehte sich um und verbeugte sich knapp vor seinem Kammerdiener. „Und – Gott sei’s geklagt – ich habe dich enttäuscht. Ich schäme mich so und muss diese Scharte schnellstens auswetzen. Da ich heute Abend zu einer Verabredung nach London reise, hast du meine Erlaubnis, mich zu begleiten. Ich lasse dich vor deinem Lieblingsgasthaus absetzen, denn ich bin sicher, du hast eines, und werde dich abholen, bevor ich hierher, in die Wildnis, zurückkehre. Ich hoffe von Herzen, dass das deine Zustimmung findet.“

„Ja, Mylord!“, rief Norton aus und knickte zu einer tiefen Verbeugung in der Taille ein, womöglich der erste Ausdruck einer Gefühlsregung, die er sich in der Gegenwart seines Brotherrn erlaubte. „The Crown and Cock, Mylord, in der Nähe vom Piccadilly. Und wenn ich das sagen darf, Mylord, Sie sehen heute außergewöhnlich gut aus. Diese Jacke kleidet Sie mehr als vorteilhaft.“

„Ach, sei still“, winkte Darby liebenswürdig ab und stob an seinem Diener vorbei zur Treppe. Er lächelte erst, als er außer Sichtweite war. „Einen Moment lang dachte ich tatsächlich, er würde mich bitten, meinen Ring küssen zu dürfen“, brummte er vor sich hin.

Seine Stimmung mochte sich vorübergehend gehoben haben, aber das Wissen, dass Norton im Grunde recht hatte, ließ sie gleich wieder auf den Nullpunkt sinken. Seit fast einer Woche weilte er schon auf dem Landsitz und wartete auf das Eintreffen der Auswirkungen seines zwischenzeitlich vergessenen Versprechens an John Hamilton. Zugegeben, er war zweimal abends zu Partys nach London geflüchtet, doch die Tage hier waren endlos lang, während er sich wünschte, bei seinen Freunden zu sein, bevor sich alle bis zur Frühlingssaison auf ihre Landsitze zurückzogen.

Vermutlich hätte Darby sein Versprechen an den guten Arzt mit der einen oder anderen Einschränkung versehen sollen, bevor er zustimmte, die Vormundschaft für die Tochter des Mannes zu übernehmen, sollte ihm je etwas zustoßen. Er hatte angenommen, sein Versprechen beträfe Johns Tod im Lager, bevor es befreit werden konnte. Er hatte nicht damit gerechnet, mehr als achtzehn Monate später irgendeine Art von Verantwortung übernehmen zu müssen. Vor achtzehn Monaten nämlich hatte der gute Arzt das Zeitliche gesegnet.

Und doch war es so, er war im Begriff, Vormund seines eigenen Mündels zu werden. Seines weiblichen Mündels. Falls irgendeine Person für diese Aufgabe weniger geeignet war, hätte man Darby zufolge wohl lange suchen müssen. Das hatten seine Freunde allesamt lachend bestätigt und warteten mit diebischem Vergnügen darauf, zu sehen, wie er mit dieser unerwarteten Komplikation in seinem leichtlebigen Dasein zurechtkam.

Marley Hamilton. Alter unbekannt. Würde er sie auf irgendein Institut für junge Damen abschieben und sie wenigstens für ein paar Jahre vergessen können, oder musste er womöglich für die Saison des Mädchens aufkommen? War sie jung und taufrisch oder bereits jenseits von Gut und Böse?

John war Landarzt gewesen. Aus guter Familie, konnte man nur hoffen, aber würde seine Tochter vorbereitet sein für eine Saison? Oder würde sie mit Heu im Haar und Schlamm auf ihren Halbstiefeln auf dem Landsitz eintreffen und mit breitem ländlichem Akzent sprechen?

Würde er gezwungen sein, ihr von Grund auf Benimm beibringen zu müssen, um sie loswerden zu können?

Würde sie ihn etwa mit Onkel Nailbourne ansprechen?

Um Gottes willen!

„Coop hat recht“, sagte er, am Fuß der Treppe angelangt, zu sich selbst. „Ich manövriere mich wirklich in die heikelsten Situationen hinein. Wenn doch Johns Anwalt endlich eintreffen und dem Warten ein Ende machen würde, bevor ich den Verstand verliere.“

„Mylord?“, fragte der Diener, Hut, Handschuhe und Reitpeitsche seines Herrn in den Händen. „Sie führen wieder Selbstgespräche, wie Sie gestern gesagt haben?“

„Genau, Tompkins“, erwiderte er und nahm die Sachen entgegen. „Und genauso wie gestern und wahrscheinlich noch eine gewisse Zeit lang brauchst du mich einfach nicht zu beachten.“

„Ja, Mylord. Mr. Rivers hat den neuen Hengst gebracht. Er ist riesig, Mylord. Geben Sie bloß gut acht.“

„Da es dich offenbar stören würde, wenn ich mir den Hals bräche, werde ich mein Bestes tun“, versprach Darby dem jungen Burschen. Er zog sich die Handschuhe an, hielt aber mitten in der Tätigkeit inne, als dreimal heftig an die Tür geklopft wurde.

Sein Körper straffte sich und nahm unverzüglich Habachtstellung ein.

„Ah, vielleicht ist die Zeit gekommen. Merkwürdig, dass wir keine Kutsche gehört haben. Kümmere dich bitte darum, Tompkins.“

Der Junge, sommersprossig und strohblond und eher an seine üblichen Aufgaben in der Küche gewöhnt, blickte seinen Brotherrn einigermaßen bekümmert an. „Aber Mylord, Mr. Camford sagt, er nimmt alle Gäste seiner Lordschaft in Empfang, um sie richtig unterzubringen, und sie sollen dann in den Salon bestellt werden, aber erst, wenn …“

„Tompkins, ich kann natürlich nicht sicher sein, aber soviel ich weiß, stehe ich immer noch rangmäßig höher als mein Butler. Öffne. Die. Tür.“

Tompkins errötete bis unter die Haarspitzen. „Sofort, Mylord.“

„Ich muss mich dem Personal gegenüber ganz eindeutig gebieterischer zeigen“, ermahnte Darby sich selbst, legte Hut, Handschuhe und Reitpeitsche zurück auf den großen runden Tisch und trat zwei Schritte zurück, bereit, den Gast mit seiner unerwarteten Anwesenheit zu überraschen. Oder man würde ihn für Camford halten, der seiner Aufgabe nachkam, den ungeladenen Gast zu prüfen, wo er ihn unterbringen sollte.

Die Vorstellung von seinem stattlichen Butler in Reitkleidung lockte ein kleines Lächeln auf Darbys Gesicht, während Tompkins die Tür öffnete und direkt vor der Öffnung stehen blieb, sodass der Blick auf den Besucher versperrt war. Offenbar hatte Camford nicht die Zeit gehabt, die Unterweisung betreffs der Dienerpflichten des Jungen zu vervollständigen.

„Lass den Besucher bitte eintreten“, wies er den Jungen an, so überflüssig es auch erscheinen mochte, denn Tompkins wurde einfach aus dem Weg geschoben, als eine große Gestalt in schwerem Kapuzenmantel durch das Portal trat und Wasser auf den Fliesenboden tropfen ließ.

Wann hatte es zu regnen begonnen? Verabscheute Norton das Landleben dermaßen, dass er nicht einmal aus dem Fenster blickte, um sich zu vergewissern, dass sein Herr korrekt gekleidet war? Darby verabschiedete sich innerlich von der Vorstellung, heute den neuen Hengst einzureiten.

Er nahm die Gestalt näher in Augenschein. Die Worte ertrunkene Ratte schossen ihm durch den Kopf.

„Falls es dir entgangen sein sollte, junger Mann, der Eingang hat keinen Vorbau. Wie lange lässt du die Gäste seiner Lordschaft gewöhnlich schutzlos im strömenden Regen stehen?“

Eine Frau? Es war eindeutig eine Frauenstimme. Die Gestalt war groß für eine Frau, sie konnte einen Herrenmantel tragen, ohne dass er ihr sechs Nummern zu groß war. Höchstens vier, schätzte er und musterte erneut den Mantel mit den zahlreichen Pelerinen. Herrisch für eine Frau, besonders für eine, die ungeladen, unbegleitet und augenscheinlich zu Fuß einzutreffen pflegte.

„Tompkins, biete der Dame an, ihr den Mantel abzunehmen, bevor sie darin ertrinkt, sowohl im Wort- als auch im übertragenen Sinne.“

„Ja, Tompkins, tu das. Und wenn er trocken ist, magst du ihn vielleicht verbrennen. Ich habe das Gefühl, nach fünf Reisetagen in der Postkutsche steht er vor Schmutz. Und dann informierst du bitte seine Lordschaft, dass sein Mündel eingetroffen ist.“

„Ach herrje“, murmelte Darby in dem Gefühl, dass die schlimmste seiner zahlreichen Vermutungen gerade zur Tür hereingeschwemmt worden war. Jenseits von Gut und Böse, ungezogen, groß und dünn und eindeutig … „Na also, hallo.“

Die Frau hatte endlich die tropfnasse große Kapuze zurückgeschlagen. Zum Vorschein kamen ein Kopf mit einem Wust von feuchtem blondem Haar, Augen, die, vermutlich abhängig von der jeweiligen Stimmung jede Farbe von Blau über Grün bis hin zu Grau haben konnten.

In diesem Moment, als die Frau ihn direkt anschaute, tendierten sie eindeutig zu einem gewittrigen Grau.

Ihre Nase war gerade, die Lippen waren voll – wobei die obere sich vermutlich zu einem reizvollen Schmollmund verziehen konnte –, der Teint war hell und makellos, das Kinn wies ein kleines Grübchen auf. Ihr schlanker Hals konnte nur als königlich bezeichnet werden.

Außerdem war sie so groß, dass sie den kleinen Tompkins überragte, und es fehlten nur wenige Zentimeter, dann wäre sie auf Augenhöhe mit Darby gewesen, was bedeutet hätte, dass sie fast einen Meter achtzig groß war.

Erstaunlich. Man fragt sich unwillkürlich, wie viel von ihr aus Beinen besteht.

„Und Sie sind …?“, fragte sie ihn, unüberhörbar gebieterisch und ohne die geringste Spur eines ländlichen Akzents. Ihr Englisch war eher noch korrekter als seines, denn er neigte dazu, die Worte zu dehnen, wenn er sich amüsierte, und er amüsierte sich häufig. Am besten verlegte er sich auf den reinsten seiner Akzente.

Und er sollte wohl endlich aufhören zu grinsen.

„Verblüfft“, sagte Darby und verneigte sich. „Fassungslos. Perplex. Ach, und ich stecke in trockenen Kleidern. Und Sie?“

„Sie sind Viscount Nailbourne“, konterte sie, während Tompkins endlich begriff, dass er die Tür schließen sollte. „John hat mir von Ihrem Auge erzählt. Sie haben meinen Brief erhalten? Ich habe einen an jede Ihrer Adressen geschickt, die John mir vorgelegt hatte. An der ersten waren Sie nicht anwesend, und ich musste meine Suche fortsetzen.“

So sind die Frauen. Irgendwie ist anscheinend jetzt alles meine Schuld.

„Eindeutig ein Fehler meinerseits. Ich bitte tausend Mal um Vergebung“, erwiderte er und verbeugte sich erneut. „Hätten Sie etwas dagegen, dieses Gespräch oben fortzusetzen, oder fühlen Sie sich in Eingangshallen behaglicher? Ich bin so oder so vorbereitet, und Tompkins hätte bestimmt nichts dagegen zuzusehen, wie sich diese kleine Posse hier entwickelt.“

„Behaglicher fühle ich mich, wenn ich trockene Kleider am Leib habe. Derzeit liegt unser Koffer einsam und verlassen direkt hinter Ihrem Tor. Ich wüsste es sehr zu schätzen, wenn er abgeholt und in die Unterkunft gebracht werden könnte, die Sie uns zuweisen. Sobald ich Ihr Mündel versorgt habe, bin ich mehr als nur vorbereitet auf die Fortsetzung unseres Gesprächs.“

„Sie … sind gar nicht mein Mündel?“

Wer zum Teufel sind Sie dann?

Sie sah ihn an, als wäre ihm ein zweiter Kopf gewachsen. „Ganz bestimmt nicht. Ich habe das Alter überschritten, in dem man Aufsicht benötigt. Marley? Du kannst jetzt bitte herauskommen, damit ich dich mit deinem neuen Vormund bekannt machen kann.“

Die junge Frau schlug eine Seite ihres übergroßen Mantels zurück, und zum Vorschein kam ein höchstens sechs oder sieben Jahre altes Mädchen. Das Kind klammerte sich mit beiden Armen an ihre augenscheinliche Beschützerin und barg das Gesicht in deren feuchtem Musselinrock.

Ja, die Beine waren so lang …

„Marley“, drängte die Frau, „wenn du lange genug die Klette gespielt hast, kannst du vor seiner Lordschaft knicksen, wie ich es dir beigebracht habe.“

„Tu ich nicht.“ Die Worte klangen ziemlich gedämpft, waren jedoch klar verständlich.

Ich kann es dir nicht verübeln, dachte Darby.

„Es ist außerordentlich müde, das arme Schätzchen“, presste die Frau durch leicht zusammengebissene Zähne hervor, die immer noch vor Kälte leicht klapperten. „Der Kutscher wollte uns ohne Bezahlung nicht weiterfahren, deshalb mussten wir vom Tor aus zu Fuß gehen. Und dann fing es an zu regnen.“

Und wieder funkelt sie mich böse an. Offenbar habe ich auch Schuld am Regen.

Angesichts der Tatsache, dass Tor und Haus etwa eine Meile voneinander entfernt lagen, überkam Darby ein wenig Mitleid mit dem Kind. „Und sie ist vermutlich ein bisschen schüchtern, stimmt’s, Marley? Tompkins, hol auf der Stelle Mrs. Camford; sie soll sich um unsere Gäste kümmern. Aber vorher … Madam, Sie sind mir gegenüber noch immer im Vorteil, in mehr als nur einer Hinsicht. Dürfte ich Ihren Namen erfahren?“

„Verzeihen Sie, Mylord. Ich bin Mrs. Boxer. Mrs. Sadie Grace Boxer, Schwester des verstorbenen John Hamilton und Marleys Tante väterlicherseits.“

Das wurde ja immer merkwürdiger … Aber es war vielleicht auch eine Erklärung für ihre ungewöhnliche Größe. John war ebenfalls ausgesprochen hochgewachsen gewesen, wenn er sich recht erinnerte. Und auch das blonde Haar hatten sie gemeinsam.

„Boxer? S. G. Boxer? Sie haben den Brief geschrieben, den ich letzte Woche bekommen habe? Ich hatte den Eindruck, dass Johns Anwalt mich kontaktierte.“

„Dann hatten Sie den falschen Eindruck. Ich habe nie etwas Derartiges behauptet.“

„Nein? Nun ja, aber Sie wollten es ganz sicher so erscheinen lassen, Madam. Haben Sie den Brief mit Hilfe von Johns Lexikon verfasst?“

„Wollen Sie jetzt etwa andeuten, Marley und ich wären vielleicht nicht die, für die wir uns ausgeben? Stellen Sie infrage, dass Marley Johns Kind und somit jetzt Ihr Mündel ist?“

Sadie Grace Boxer war einen Schritt vorgetreten und reckte das Grübchenkinn vor. Sie sprach jetzt ein wenig gedehnt, und ihre Stimme klang wie Sahne auf Stahl. Merkwürdig, dass sie beide offenbar die gleiche Schwäche hatten, wenn auch aus anderen Gründen. Oder amüsierte sie sich etwa insgeheim? Nein, so war es nicht. Was er in diesen Augen sah, war eine Mischung aus Verwirrung und … war es Furcht? Hatte das, was er als Scherz gemeint hatte, einen Nerv getroffen?

Darby neigte leicht den Kopf. „Nein, das tue ich nicht, nicht ganz jedenfalls. Aber da Sie das Thema schon zur Sprache bringen: Haben Sie Beweise dafür, dass Sie und das Kind diejenigen sind, für die Sie sich ausgeben?“

Apropos Ratten, führte er selbst sich nicht auf wie eine, die das sinkende Schiff verlassen will? Ja, wahrscheinlich. Aber die Frau war nicht das, was er erwartet hatte, und bis er nicht herausgefunden hatte, was ihn an ihr störte, würde er wegen seines plötzlich so misstrauischen Wesens nicht übermäßig streng mit sich sein.

Mrs. Camford kam in die Eingangshalle gewuselt, gefolgt von zwei Hausmädchen; sie schüttelte bereits den Kopf und erteilte ihnen Befehle, schnellstens für frische Bettwäsche und warme Bäder und Kaminfeuer in den Schlafzimmern und im Kinderzimmer zu sorgen.

„Hat das nicht Zeit, Mylord, bis ich mich um das kleine Schätzchen gekümmert habe?“, mischte sich die Hauswirtschafterin ein, die Darby schon in kurzen Hosen gekannt und das jetzt sichtlich bibbernde blonde Mädchen mit den herzzerreißend in Tränen schwimmenden großen grünen Augen bereits ins Herz geschlossen hatte. „Ach, schau dir das Herzchen doch nur an. Komm zu Camy, Süße. Camy macht alles wieder gut.“

Darby hob eine Hand und massierte sich die Stirn, hinter der sich Kopfschmerzen ankündigten. „Schelten Sie mich, Mrs. Camford? Wohl aus gutem Grund. Ich weiß nicht, was ich mir gedacht habe. Nimm sie mit, mit meinen besten Wünschen. Ich bin in meinem Arbeitszimmer, falls mich jemand brauchen sollte.“

„Ja, Mylord, ganz recht. Hier sind Sie nun wirklich überflüssig.“

Endlich lächelte Mrs. Boxer. Natürlich musste sie lächeln. Keine Frau kann sich den kleinen Triumph versagen, wenn ein Mann gründlich in die Schranken gewiesen wird.

„Dann mache ich mich jetzt von dannen, Camy, bevor du mich ohne Abendessen zu Bett schickst.“

Sadie Grace Boxer wandte sich der Treppe zu und folgte der Hauswirtschafterin. „Wie liebenswürdig, Mylord. Komm, Marley“, rief sie über die Schulter zurück.

Statt zu gehorchen, stapfte Marley schnurstracks auf Darby zu und blieb direkt vor ihm stehen. „Du bist gemein“, verkündete sie. „Ich mag dich nicht, und ich hoffe, du stirbst.“

„Was für ein reizendes Kind du bist“, sagte er und neigte den Kopf vor ihr.

Das reizende Kind versetzte ihm mit aller Kraft, die es aufbrachte, einen Tritt gegen das Schienbein.

„Müde und hungrig“, sagte Mrs. Boxer, vielleicht zur Entschuldigung, vielleicht aber auch nicht, und kam eilends zurück, packte Marley bei den Schultern und schob sie zur Treppe.

Tompkins unterdrückte mühsam ein Kichern, und selbst Mrs. Camford lächelte, als sie sich an den Gästen vorbeidrängte, um sie ins Obergeschoss zu führen.

„Sie ist noch ein Kind“, ließ Mr. Camford sich hinter Darby vernehmen. „Mrs. Camford nimmt sich ihrer jetzt an. Sie hat sich von unseren vier Jungen keine Frechheiten bieten lassen und, Verzeihung, auch nicht von Ihnen. Ich habe zufällig gesehen, wie Sie sich die Stirn gerieben haben. Soll ich Ihnen ein wenig Laudanum bringen, Sir?“

„Nein, danke, das wird nicht nötig sein. Ich überlasse es, wenn du gestattest, dir und deiner lieben Frau, die Sache klarzustellen. Ich für meinen Teil ziehe mich in mein Arbeitszimmer zurück und lecke meine Wunden. Bitte lass Mrs. Boxer zu mir bringen, sobald es ihr genehm ist.“

Mrs. Boxer. Wenn sie nass, verfroren und schmutzig schon so gut aussah, wie würde sie dann diamantgeschmückt in Samt und Seide wirken? Mrs. Was sollte er mit einer Mrs., verdammt noch mal?

Und warum war ihre Verärgerung – ja, Verärgerung – der Angst gewichen, als er um einen Beweis für ihre Behauptung gebeten hatte? Sowohl das rechtmäßige Mündel wie auch die Schwindlerin wären sicherlich voll ausgerüstet mit Urkunden gekommen. Warum hatte diese eine Frage sie dann dermaßen aus der Fassung gebracht?

Es war ja nicht so, dass er besagte Beweise verlangt und ansonsten Tompkins befohlen hätte, sie samt Kind hinaus in den Regen zu jagen. Es gehörte sich einfach nicht, unschuldige Kinder einfach so durch die Gegend zu schubsen, als hätten sie keine Gefühle.

Die Kopfschmerzen verstärkten sich. Das Denken schmerzte, deshalb unterließ er es.

2. KAPITEL

Ich habe doch schon gesagt, dass es mir leid tut. Drei ganze Mal“, jammerte Marley und schob schmollend die Unterlippe vor. „Aber er war gemein zu uns. Ich hab’s gemerkt, denn du hast mit dieser Stimme gesprochen, die du immer hast, wenn du kurz vorm Platzen bist. Das hat Papa immer gesagt. Dann sprichst du süß wie Honig, hat Papa gesagt, und dann platzt du.“

„Ich war nicht kurz vorm Platzen“, versicherte Sadie ihrer Nichte. Die zwei hockten, endlich wieder warm und trocken, im Kinderzimmer auf dem Kaminvorleger. Sadie bürstete immer noch das dichte blonde Haar ihrer Nichte.

„Doch. Kurz vorm Platzen!“

„Na gut, vielleicht war es so. Aber seine Lordschaft ist ja wohl der unerträglichste … Nein. Das habe ich nicht gesagt. Er ist jetzt dein Vormund, Marley. Das heißt, du wirst höflich, gesittet, gehorsam sein, wenn er mit dir spricht, und du wirst ihn nie wieder gegen das Schienbein treten. Was hätte dein Papa gesagt, wenn er ein derart ungezogenes Benehmen gesehen hätte?“

„Papa ist tot“, antwortete Marley tonlos und drückte die Stoffpuppe an sich, das Liebste, was sie besaß.

Ja, John war tot. Eine Tatsache, die nicht so leicht zu vergessen war. Ihr Bruder war tot, und Marleys Welt war von einer Minute zur anderen auf den Kopf gestellt worden.

„Ich weiß, Schätzchen“, sagte Sadie und zog das Kind an sich. „Wir haben schon oft darüber gesprochen. Er ist nach der Heimkehr aus dem Krieg nie wieder richtig gesund geworden, nicht wahr? Jetzt ist er bei den Engeln, und wir sind froh und dankbar, dass er seinen Frieden gefunden hat und wieder mit deiner Mutter vereint ist. Richtig?“

Marley sah ihre Tante aus großen grünen Augen an. „Du bist doch nicht krank, Sadie, oder? Du gehst nicht zu Mama und Papa?“

Da war sie wieder, diese Angst, die Marley in sich trug, die Angst, die Sadie ihr offenbar nicht nehmen konnte.

„Nein, das habe ich nicht vor. Ich habe es dir versprochen, weißt du noch? Ich werde immer so nahe bei dir bleiben, dass du eines Tages deine Tür abschließen musst, um mich fernzuhalten.“

Der Tod an sich war ein heikles Thema, aber seine Endgültigkeit einem Kind erklären zu müssen, das konnte einem Menschen das Herz brechen.

Und jetzt war Marley anscheinend von einer neuen Angst besessen.

„Das sagst du so. Er kann dich doch nicht wegschicken, oder?“

„Es heißt ‚seine Lordschaft‘, kleines Fräulein, nicht einfach ‚er‘.“ Sadie tippte ihrer Nichte auf die Nasenspitze. „Nachdem das geklärt ist: Nein, das wird er nicht tun. Nur ein gefühlloser Grobian würde dich von deiner einzigen Blutsverwandten trennen, und dein Papa hat gesagt, der Viscount sei ein guter, ehrenhafter Mensch.“

Klang das überzeugend? Marley drückte sich kurz an sie und stand auf. Sie wirkte erleichtert. Wenn ihr Papa das gesagt hatte, musste es wahr sein.

Wenn ich selbst doch auch so sicher sein könnte, dachte Sadie, denn wir stehen beinahe mittellos und völlig ohne Ausweg da.

„Ah, und da kommt, wie versprochen, Peggy mit Milch und Kuchen für dich. Lass es dir schmecken, während ich zu seiner Lordschaft gehe und mich für die freundliche Aufnahme bedanke. Peggy?“

„Ich pass auf sie auf, Missus“, sagte das junge Mädchen und knickste. „Ich hab selbst zwei kleine Schwestern. Vielleicht singen wir ein paar Liedchen, hm, kleine Miss?“

„Vielleicht“, antwortete Marley, setzte sich an den Kindertisch in der Zimmermitte und platzierte ihre Stoffpuppe auf den Stuhl an ihrer Seite. Immerhin hatte das Kind sich ohne mit der Wimper zu zucken in die neue luxuriöse Umgebung eingefunden. „Ich kenne viele Lieder. Ganz, ganz viele.“

„Aber nicht das Lied, das gestern einer der Fahrgäste gesungen hat“, warnte Sadie und trat vor einen kleinen Spiegel, um ihr Aussehen zu überprüfen. Ihr Haar sah recht ordentlich aus, streng zurückgekämmt und im Nacken zu einem Knoten in Form einer Acht geschlungen. Der Knoten selbst war noch feucht, doch wenn sie warten wollte, bis ihr Haar vollständig trocken war, wäre es bereits Zeit für den ersten Gongschlag, der zum Abendessen rief.

Sie hatte noch nie einen Gong gehört, mit dem zum Dinner gebeten wurde, wohl aber darüber gelesen, auch über vornehme Häuser wie dieses. Welch herrlicher Ort für Marley, in einer Umgebung von solcher Schönheit und Leichtigkeit heranzuwachsen. Marley war zwar noch klein, fügte sich aber jetzt schon in ihr neues Leben ein und betrachtete die Hauswirtschafterin und Peggy als neue Freunde.

Wogegen Sadie sich fehl am Platze vorkam, wie ein Eindringling. Eine Betrügerin.

Am besten ließ sie das eventuell tückische Terrain so schnell und schmerzlos hinter sich wie möglich. Das bedeutete, dass sie seiner Lordschaft nicht noch mehr Zeit einräumen durfte, um sich Einwände oder unangenehme Fragen auszudenken, und dass sie nicht zu viel Zeit verstreichen lassen durfte, überzeugend auf solche Fragen zu antworten.

Ihre Nichte brauchte sie, so einfach war das. So kompliziert war das. Sie durfte nicht versagen.

„Aber es war so schön doof“, beschwerte sich Marley, den Mund voll Kuchen. „‚Eine hübsche Schäferin, die hütete ihre Schafe auf dem Rain‘“, sang sie mit piepsiger Kinderstimme. Mit unschuldiger Stimme. „‚Hoch zu Ross kam Ritter William, sturzbetrunken von dem Wein‘.“

„Marley Katherine, halte dich zurück.“

„Weiter weiß ich nicht. Du hast mir ja die Ohren zugehalten.“

„Dem Himmel sei Dank dafür!“, schnaubte Peggy, brach mit den Fingern ein Stück vom Kuchen ab und stopfte es ihrem neuen Schützling kurzerhand in den Mund.

„Es tut mir so leid, Peggy. Sie … sie kann sich alles, was sie hört, unglaublich gut merken und es problemlos Wort für Wort wiederholen. Das zu deiner Warnung“, erklärte Sadie, strich noch einmal ihr schlichtes hellblaues Kleid glatt und machte sich auf den Weg zur Treppe.

„Mrs. Camford lässt ausrichten, dass sie Sie in der Eingangshalle erwartet und Sie als Anstandsdame ins Arbeitszimmer seiner Lordschaft begleiten will“, rief Peggy ihr nach.

„Oh, wunderbar. Wie freundlich von ihr“, bedankte sich Sadie bei dem Mädchen.

Und murmelte vor sich hin, während sie die ersten zwei Treppenabschnitte vom Kinderzimmer im Dachgeschoss zur Eingangshalle hinabstieg. Hatte der Viscount die Angewohnheit, über weibliche Gäste herzufallen … Oder fürchtete er, sein unwillkommener Gast könnte sich von seiner männlichen Schönheit hinreißen lassen und ihn gar anfallen?

Sie verwünschte ihr Gefühl, sich auf derart unsicherem Boden zu bewegen. Bis vor wenigen Stunden war ihr überhaupt nicht in den Sinn gekommen, dass man ihr womöglich nicht glauben würde. Man kannte sie doch; jedermann wusste, dass sie aufrichtig und ehrlich war. Schade nur, dass jedermann im Dorf geblieben war.

„Mrs. Boxer“, begrüßte sie die Hauswirtschafterin, als Sadie an der letzten Treppenstufe den Fuß auf den Fliesenboden der Eingangshalle setzte.

„Mrs. Camford“, erwiderte Sadie mit einem leichten Neigen des Kopfes. Nur ein Dummkopf hätte nicht geglaubt, dass sie beide einander abschätzten und überlegten, wie es weitergehen sollte. „Noch einmal herzlichen Dank für Ihre freundliche und großzügige Aufnahme. Ich verspreche Ihnen, Miss Marley benimmt sich normalerweise bedeutend besser. Sie hat Angst, verstehen Sie, nachdem sie erst kürzlich ihren Papa und ihre Heimat verloren hat.“

„Und Sie, Mrs. Boxer, wenn ich fragen darf?“, erkundigte sich die Hauswirtschafterin und bedeutete Sadie, ihr in den rückwärtigen Teil des Hauses zu folgen. „Haben auch Sie Ihre Heimat verloren?“

Meine Heimat verloren? Ja, lassen wir’s dabei, zumal es anscheinend so leicht zu glauben ist, da Frauen von Natur aus zerbrechlich und schutzbedürftig sind, sodass kein Mensch auf den Gedanken käme, sie könnten allein zurechtkommen.

Nachdem Marley sie erst kürzlich auf ihre verräterische Neigung hingewiesen hatte, bemühte Sadie sich, ihre gedehnte Sprechweise zu unterdrücken, wenngleich sie wegen der Neugier dieser Frau die Stacheln aufstellte. Es wäre nicht angebracht, vor Wut zu platzen. Trotz allem würde sie sich an die Wahrheit halten oder zumindest möglichst nahe dranbleiben.

„Da ich bei meinem Bruder in einer von der Dorfgemeinde bereitgestellten Wohnung lebte, ja. Diese Unterkunft stand weder Miss Marley noch mir länger zur Verfügung. Aber deswegen bin ich nicht hier. Ich bin gekommen, um die Tochter meines Bruders dem Mann zu übergeben, der versprochen hat, im Fall seines Todes für sie zu sorgen. Fordert man mich auf zu gehen, werde ich gehen, sobald ich meine Nichte in guten Händen weiß.“

Sie konnte das Lächeln und die gedehnte Sprechweise nicht länger unterdrücken, als sie schloss: „Ich hoffe von Herzen, Ihrer Bitte um Informationen damit Genüge getan zu haben, Mrs. Camford, aber falls Sie meinen, sonst noch etwas wissen zu müssen, zögern Sie bitte nicht zu fragen.“

Das Erröten der Frau verriet Sadie, dass sie ihren Standpunkt klargemacht hatte und wusste, dass sie verhört, eingeschätzt, vielleicht sogar beurteilt wurde. Offenbar hatte das Personal es sich zur Aufgabe gemacht, den Viscount gut abzuschirmen. Merkwürdig, denn er kam ihr wirklich nicht gerade schutzbedürftig vor.

„Das war unhöflich von mir und außerdem unnötig. Verzeihen Sie, Mrs. Camford. Das Treffen mit seiner Lordschaft macht mich schrecklich nervös. Ich weiß, welche Zumutung wir für ihn darstellen. Nicht jeder Gentleman wäre bereit, die Vormundschaft für ein junges weibliches Mündel zu übernehmen.“

„Damit wird er schon fertig, Missus. Aber mit Ihnen hat er nicht gerechnet, wie ich vermute. Wir sind da“, sagte Mrs. Camford und legte die Hand auf den Griff einer dunklen Eichentür. „Ich schaue nach, ob seine Lordschaft bereit ist, Sie zu empfangen.“

Sadie nickte. Sie sah, dass sie an mehreren Räumen vorbeigegangen waren, die sie normalerweise liebend gern in Augenschein genommen hätte. Doch sie hatte ihre Umgebung kaum wahrgenommen. „Ja, mag sein, dass ich eine Art Überraschung war.“

„Eher ein Schock, Missus, um der Wahrheit die Ehre zu geben, und das habe ich auch Mr. Camford gesagt.“ Die Hauswirtschafterin klopfte rasch an die Tür, trat ins Zimmer, ließ nur einen kleinen Spalt hinter sich offen und sagte: „Mylord, Mrs. Boxer wartet draußen.“

„Worauf, Camy? Ich hoffe doch, ihr fehlt nichts Lebenswichtiges.“ Sadie hörte den Mann belustigt fragen: „Und seit wann sind wir hier auf dem Landsitz so förmlich? Davon habe ich anderswo mehr als genug. Lass sie rein, und dann schließe bitte die Tür hinter dir.“

Sadie gab sich größte Mühe, ein einigermaßen gefasstes Gesicht aufzusetzen, als sie ins Zimmer trat … und erst zu diesem Zeitpunkt erkannte, dass sie sich womöglich gerade freiwillig in eine Löwengrube begab.

Die Tür wurde geschlossen, und der Viscount stemmte sich von dem schwarzen Ledersofa hoch, auf dem er gesessen hatte. Gelegen hatte, berichtigte sie sich im Geiste, als sie die Schlafspuren auf seiner Wange sah, die ein gestepptes Seidenkissen hinterlassen hatte. Offenbar war er entspannt genug gewesen, um ein Nickerchen zu machen, während er auf Sadie wartete. Wie schön für ihn.

„Schließ die Tür bitte von außen, Camy. Ich glaube nicht, dass Mrs. Boxer mich beißen will.“

Sadie drehte sich um, sah die Hauswirtschafterin direkt hinter sich stehen, bedachte sie mit einem mitfühlenden Blick und zuckte mit den Achseln.

Die Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen, und Sadie war allein mit Darby Travers. Dem Mann, der Marleys Schicksal in seinen Händen hielt, auch wenn er es noch nicht wusste und es auch nicht erfahren würde, nicht, bevor Sadie sicher sein konnte, dass der Mann nicht vorhatte, sich irgendwie aus seiner neuen Verantwortung zu stehlen.

Sie beschloss, den Beweis ihrer Verwandtschaft mit John zu liefern, bevor der Mann seinen Verdacht wiederholen konnte, den er bei ihrer ersten unglückseligen Begegnung im Scherz geäußert hatte.

„John hat mir viel über Sie erzählt, Mylord, und auch über die Tage in jenem schrecklichen Lager. Sie und Ihre Freunde und so viele andere tapfere englische Soldaten, allesamt Opfer der Folgen mangelnder Führungsqualitäten. Darf ich fragen, wie es den anderen geht? Den Kommandanten Sinclair, Rigby und Cooper Townsend, der in derselben Schlacht wie Ihre Lordschaft verwundet wurde? Nach Johns Worten waren Sie einander innig verbunden und immer auf ein Abenteuer aus. Sie zu kennen, schien ihn mit Stolz zu erfüllen. Darf ich Platz nehmen?“

So. Jetzt konnte sie nur noch hoffen, dass die Erwähnung der Namen seiner Freunde als Beweis dafür, dass sie diejenige war, für die sie sich ausgab, ihr Übriges tat. Oder hatte sie zu dick aufgetragen?

Sie setzte sich, bevor er antworten konnte, und schob das gesteppte Kissen aus dem Weg. Die Seide fühlte sich noch warm an und roch schwach nach der gleichen Rasierseife, die ihr Bruder bevorzugt hatte. Sadie widerstand dem Drang, es als eine Art Schutzschild fest an die Brust zu drücken.

Ihr war längst aufgefallen, dass der Mann keineswegs gesund aussah und nicht mehr die lebhafte Präsenz wie zuvor bei ihrem Eintreffen ausstrahlte. Unter der gesunden Bräune war sein Teint jetzt ziemlich blass, und sein Haar war ein wenig zerzaust, als wäre er mit gespreizten Fingern hindurchgefahren oder hätte sich die Schädeldecke massiert.

Litt er womöglich unter Kopfschmerzen? Als bleibende Nachwirkung seiner Verletzung? Sie empfand Mitleid mit ihm, war aber nicht so dumm zu übersehen, dass sie bei dem bevorstehenden Wortgefecht vorübergehend im Vorteil sein könnte. Mit etwas Glück würden seine Beschwerden ihn aus dem Konzept bringen. John hatte ihr den Viscount als gefährlich intelligent und überaus schlagfertig geschildert, als einen Mann, der Dummheit nicht ertrug. Ihr Bruder hatte ihn bewundert, ihn und seinen Mut und sogar seinen selbstironischen Humor angesichts seiner schweren Verletzung.

„Sie erfreuen sich alle guter Gesundheit, danke der Nachfrage. Wir haben John sehr gemocht und waren tief getroffen, als wir von seinem Tod erfuhren.“ Lord Nailbourne nahm seinen Platz nicht wieder ein, sondern lehnte sich stattdessen an einen antiken geschnitzten Schreibtisch in einigen Metern Entfernung.

Wie lauteten die Vorschriften für ein Duell? Zehn Schritte, stehen bleiben, sich umdrehen und feuern? Sadie spürte die Spannung im Raum und fragte sich, ob sie allein von ihr selbst ausging, denn dieser verflixte Mann wirkte noch immer sehr gelassen.

Ob gesund oder von Schmerzen geplagt, er sah gut aus, was die Augenklappe womöglich noch unterstrich. Seine Größe hätte so manchen eingeschüchtert. Sadie bedankte sich im Geiste rasch bei ihren Eltern, denen sie ihre eigene imposante Erscheinung zuzuschreiben hatte. Wäre sie ein zierliches Ding gewesen, hätte sie sich von diesem Mann vielleicht völlig überwältigt und sich ihm unterlegen gefühlt. In Wahrheit hätte er sie aber trotz allem ein wenig eingeschüchtert, wäre nicht dieser Kissenabdruck auf seiner rechten Wange gewesen, der ihn menschlicher erscheinen ließ. Eher wie einen kleinen Jungen, der sich verkleidet hatte.

Sie war sich nicht mehr sicher, was sie erwartet hatte, denn John hatte das Alter des Viscounts nie erwähnt, aber es war nicht zu übersehen, dass noch ein paar Jährchen fehlten, bis er die dreißig überschritt. So jung und doch einer der reichsten Männer Englands, mit all den Vor- und Nachteilen, die so etwas mit sich brachte.

Und jetzt bürdete sie ihm noch eine weitere Verpflichtung auf.

„Mylord“, begann sie und suchte nach den richtigen Worten, um zu zeigen, dass sie wusste, welche Zumutung John von ihm erwartete, doch der Viscount hob die Hand und gebot ihr zu schweigen.

„Verzeihen Sie mir meine früheren Zweifel an Ihrer Identität.“

Das klang eher wie eine Provokation, doch Sadie war viel zu erleichtert, um ihn herauszufordern.

„Ich habe den Brief noch einmal gelesen, und Sie haben eindeutig nirgends behauptet, als Anwalt für John einzutreten. Sie haben sich vielmehr überhaupt nicht ausgewiesen.“

Das war unüberhörbar ein Vorwurf. Auch wenn er ihre Entschuldigung fast zurückgewiesen hatte, wollte er doch nicht alle Schuld allein auf sich nehmen.

„Nein, das habe ich wohl nicht getan“, bestätigte sie. Es hatte eine geraume Zeit und mehrerer Versuche bedurft, bis sie mit ihrem Brief zufrieden war. Den Brief, den John geschrieben hatte, hätte sie ihm nun wirklich nicht aushändigen können. Ja, John. Das war fraglos ein weniger gefährliches Thema als der Brief. „Vermutlich möchten Sie mehr über meinen Bruder erfahren.“

„Ich sage es noch einmal: Er war ein guter Mensch.“

„Ja, aber Sie fragen sich, warum er mich gebeten hat, Sie an ein Versprechen zu binden, das Sie vor so langer Zeit geleistet haben. Das ist verständlich. John wurde im Lager verwundet, kurz bevor die Russen darauf stießen und ihre Leute und die Briten befreiten, die dort gefangen waren. Er erlitt einen Bauchschuss. Er …“, Sadie zögerte, denn die Wunde in ihrem Herzen war immer noch frisch, „… hat sich nie richtig davon erholt, und dieser vergangene Sommer – die Hitze, verstehen Sie – war eine Qual für ihn. Wir wussten beide, dass es nur noch eine Frage der Zeit war. Sein Tod war in mancher Hinsicht eine Gnade.“

„Sie sagen, er wäre schon im Lager fast gestorben. Auch das tut mir von Herzen leid, Mrs. Boxer. Ich habe versucht, ihn zur Flucht mit uns zu überreden, doch er wollte seine Patienten nicht im Stich lassen. Ihr Bruder ist als Held gestorben, und da will ich zumindest zu dem Versprechen stehen, das ich ihm gegeben habe.“

Sadies Schultern entspannten sich endlich. Eine Hürde war genommen. Marley würde ein Zuhause haben.

„Er sagte, Sie seien ein ehrenhafter Mann, Sie alle seien mutige und ehrenhafte Männer. Danke. Ich weiß, dass Marley bei Ihnen in Sicherheit sein wird.“

Der Viscount stieß sich vom Schreibtisch ab. „In Sicherheit, Mrs. Boxer? Das scheint mir eine merkwürdige Wortwahl zu sein.“

Gefährlich intelligent. Das darf ich nie vergessen; ich muss immer schön auf der Hut sein.

„John hat wenig Geld hinterlassen; er verfügte über keinen Besitz. Alles, was er hatte, verdankte er unserem Dorf, und ich kann nur hoffen, dass sich binnen weniger Monate dort ein neuer Arzt niederlässt. Nur, weil ich während seiner Abwesenheit und, ja, auch nach seiner Rückkehr die Praxis leiten konnte, sind wir nicht schon vor Monaten auf die Straße gesetzt worden.“

„Tatsächlich? Man könnte meinen, Sie wären eine Frau mit verborgenen Qualitäten. Welch ein Glück für die Dorfbewohner.“

Machte er sich über sie lustig? Lobte er sie? Bezweifelte er ihre Worte? Sein Tonfall, sein Lächeln konnten auf vielerlei Art gedeutet werden.

„Man tut, was getan werden muss, besonders, wenn so viele Ärzte und Chirurgen in den Krieg gezogen sind, aber ich bin keine Ärztin. Als John nicht mehr da war, war ein qualifizierterer Ersatz erforderlich. Marley ist heimatlos, nahezu mittellos und allein, abgesehen von mir. Würden Sie sagen, dass sie sich in der Welt, wie sie heute ist, in Sicherheit befindet, Mylord?“

So, das sollte ihm genügen!

Er rieb sich die Stirn. „Anscheinend habe ich mich inzwischen weit vorgewagt, Mrs. Boxer. Also kann ich auch genauso gut noch weiter vorpreschen. Wo ist Ihr Mann? Muss ich annehmen, dass auch er verstorben ist?“

Oder ist er laut schreiend hinaus in die Nacht gerannt, um dich loszuwerden? Das sprach er nicht aus, doch Sadie war ziemlich sicher, dass er es dachte.

Doch sie war auf diese Frage vorbereitet. „Sie gehen recht in der Annahme, dass ich keinen Mann habe, Mylord. Maxwell ist seit mehr als zwei Jahren tot.“

Die reine Wahrheit, betrachtete man beide Aussagen getrennt. Erst wenn man sie in einen Zusammenhang stellte, waren ihre Worte eine faustdicke Lüge.

Der Viscount schien lange über ihre Worte nachzudenken, sie im Geiste zu wiederholen. Dann ging er um den Schreibtisch herum, blieb, Sadie den Rücken zukehrend, vor der eindrucksvollen Fensterreihe stehen und blickte auf seinen Besitz hinaus.

„Mein Beileid zu Ihrem Verlust. Aber kommen wir zurück auf mein Mündel. Ich bin nach dem Tod meiner Eltern hier auf dem Landsitz aufgewachsen“, sagte er leise, sodass Sadie sich auf dem Sofa vorbeugen musste, um ihn verstehen zu können. „Marley und ich haben etwas gemeinsam, denn ich glaube, ich war seinerzeit im gleichen Alter wie sie. Irgendwann ging ich dann zur Schule und verbrachte die Ferien stets mit den Camfords, bis ich volljährig war. Ihre Nichte wird bei ihnen in guten Händen sein, es sei denn, Sie sind der Meinung, aus mir wäre nichts geworden.“

So. Das war erledigt; er hatte es selbst ausgesprochen. Aber konnte sie sich jetzt entspannen? Sie bezweifelte es, denn sie befand sich immer noch im Zimmer, und was um alles in der Welt hatte er für sie vorgesehen? Im Grunde konnte er überhaupt nichts für sie geplant haben, oder? Für die praktische Tante.

„Danke. Nach so kurzer Bekanntschaft möchte ich wirklich keine Schlüsse ziehen, Mylord. Ich verlasse mich voll und ganz auf Johns Empfehlung.“

Er wandte sich vom Fenster ab. „Eine vorsichtige Antwort, Mrs. Boxer. Kommen wir auf Sie zurück. Haben Sie vor, hier bei Ihrer Nichte zu bleiben?“

Da war die Frage, auf die sie immer noch völlig unvorbereitet war.

„Bin ich eingeladen?“

„Nein, ich glaube nicht. Ihnen ist doch klar, dass Sie mich in eine peinliche Lage bringen. Sie sind eindeutig zu alt, um mein Mündel zu werden, aber auch zu jung und, ja, zu attraktiv, um als mein Gast hierzubleiben, ohne dass ganz Mayfair sich das Maul darüber zerreißt. Nicht, dass mich das je gestört hätte, aber Ihr Ruf steht auf dem Spiel. Deshalb denke ich, ich sollte Sie, sofern Sie einverstanden sind, in irgendeiner Funktion einstellen. Was ist Ihnen am liebsten? Gouvernante? Gesellschafterin? Erzieherin?“

Letztlich blieb ihm nichts anderes übrig, sodass sie sein Angebot nicht unbedingt als Punkt für sich verbuchen konnte.

Sie straffte sich so sehr, dass ihr Rückgrat schmerzte. „Gesellschafterin, würde ich sagen, angesichts der Tatsache, dass ich Marleys Tante bin. Dafür ist vermutlich ein Gehalt vorgesehen?“

Sein Lächeln überraschte sie und schien dazu angetan, die Anspannung sowohl aus seiner Miene als auch aus dem Zimmer zu vertreiben.

„Sie kommen schnell zur Sache, Mrs. Boxer. Dachten Sie an eine bestimmte Summe?“

„Ich würde mir nicht anmaßen …“

„Natürlich nicht.“

Jetzt war er eindeutig herablassend. Zweifellos irritierte ihn etwas, doch Sadie wusste nicht, was. Es sah fast so aus, als würde allein schon ihre Existenz ihn stören.

„Ob ich Sie als Gesellschafterin einstelle, muss ich mir noch einmal überlegen. Es wäre nicht ganz richtig, glaube ich, und auch nicht glaubwürdig. Keine Sorge, mir fällt schon etwas ein.“

„Dann warte ich Ihre Entscheidung ab, Mylord, und bin dankbar, dass Sie mich bei meiner Nichte bleiben lassen.“

„Ich bin so froh, dass ich Sie beruhigen konnte, Mrs. Boxer. Und falls Sie mir nichts mehr mitteilen wollen, was hinausgeht über meine schmerzhafte Erfahrung, dass Ihre Nichte einen Hang zu boshaften Ausfällen hat, dürfen Sie sich einstweilen zurückziehen. Falls mein Mündel angemessen in Tischmanieren unterwiesen wurde, können Sie die Mahlzeiten mit ihr im kleinen Speisezimmer einnehmen. Ich erinnere mich, dass ich mich gesträubt habe, mich zu den Mahlzeiten ins Kinderzimmer schicken zu lassen, als ich in ihrem Alter war. Allerdings bin ich heute Abend leider anderweitig verpflichtet und werde binnen einer Stunde nach London aufbrechen, um morgen zurückzukommen. Vielleicht auch erst nächste Woche.“

Sadie sprang auf und platzte heraus, bevor sie es sich überlegen konnte. „Sie werden nicht hier sein? Oh nein, das geht nicht, Mylord. Marley ist Ihr Mündel. Sie bleibt in Ihrer Nähe. Darauf muss ich bestehen.“

Hätte sie noch ungeschickter sein können?

Der Viscount kam, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, auf sie zu, blieb viel zu dicht vor ihr stehen und sah ihr in die Augen. „Darauf müssen Sie bestehen? Und warum, Mrs. Boxer?“

Sadie rang um eine plausibel erscheinende Erklärung. „Sie, hm, Marley hat gerade ihren Vater verloren. Sie … sie muss wissen, dass sie trotzdem jemandem etwas bedeutet.“

„Außer Ihnen?“

„Ja! Ja, darum geht es doch. Sie braucht … eine männliche Orientierung in ihrem Leben.“

Autor

Kasey Michaels
Als Kasey Michaels ihren ersten Roman geschrieben hatte, ahnte sie noch nicht, dass sie einmal New York Times Bestseller-Autorin werden würde. Und es hätte sie auch nicht interessiert, denn damals befand sie sich in der schwierigsten Phase ihres Lebens: Ihr geliebter achtjähriger Sohn benötigte dringend eine Nieren-Transplantation. Monatelang wachte sie...
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