Der Wikinger und die stumme Heilerin

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Ist er bereits in der Götterhalle Walhalla? Vor dem schwer verletzten Wikinger Danr Sigurdsson steht eine zarte, mysteriöse Frau, begleitet von zwei großen Wölfen – doch noch lebt er! Mit sanften Berührungen versorgt die stumme Heilerin Sissa seine Wunden und weckt in dem Genesenden ein loderndes Verlangen, dem er nicht nachgeben darf. Denn Danr hat jeglicher Liebeslust abgeschworen, bis er den Schuldigen am Massaker an seiner Familie gefunden und gerichtet hat. Aber Sissa bleibt fortan an seiner Seite. Und dem Liebreiz der stillen Schönheit zu widerstehen, wird für den rachedurstigen Wikinger zu einem Kampf gegen sein eigenes blutendes Herz …


  • Erscheinungstag 24.01.2023
  • Bandnummer 383
  • ISBN / Artikelnummer 9783751515931
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Die Insel Skíð (im heutigen Schottland)

Im Jahr 877

Die Frau tauchte buchstäblich aus dem Nichts auf. Eben war Danr Sigurdsson noch allein gewesen, als er im Schutz der knorrigen und verdrehten Wurzeln einer alten Eiche dagelegen hatte. Und im nächsten Moment stand sie über ihn gebeugt vor ihm und hielt ihm die Spitze eines Speers an den Hals.

Er sah sie an und überlegte beiläufig, wer sie wohl war und woher sie kommen mochte, gab diese Bemühungen dann aber auf und schloss die Augen.

Kopf und Brust schmerzten pochend. Sein Puls schlug so schnell und so brutal, dass es sich anfühlte, als wollte sich sein Herz den Weg nach draußen freisprengen.

Angesichts der großen Menge Blut, die er in den letzten Stunden verloren hatte, verwunderte es ihn, dass dieses Herz überhaupt noch schlug. Wenn er ganz ruhig dalag, konnte er beinahe vergessen, dass ihm eine Klinge eine tiefe Wunde zugefügt hatte, indem sie sich durch Haut, Muskeln und Sehnen geschnitten hatte. Wenn er sich überhaupt nicht rührte und so gut wie gar nicht atmete, war er sogar nahezu in der Lage, einfach alles zu vergessen.

Das Rascheln des Laubs in den Baumkronen war nur noch ein weit entferntes Gemurmel, und der Lichtschein, der durch seine Lider drang, wurde immer schwächer. Gleichzeitig nahm er diesen Schein nur noch wie durch einen Tunnel wahr, dessen anderes Ende sich beharrlich weiter zusammenzog und ihn allmählich in völliger Schwärze versinken ließ.

Etwas drückte gegen seinen Hals, und er zwang sich dazu, die Augen wieder zu öffnen. Diese Frau war immer noch da, sie stieß ihn mit der stumpfen Seite ihres Speers leicht an. Was wollte sie von ihm? Drohte sie ihm? Falls ja, dann war das vollkommen überflüssig, denn in diesem Moment hätte er sich nicht einmal mit einem jungen Kätzchen anlegen können.

Die Luft an sich fühlte sich unglaublich schwer an und drückte ihn so zu Boden, als wäre ein Baum umgefallen und auf seiner Brust gelandet. Er würde so oder so sterben, ob sie ihn mit ihrem Speer nun auch noch durchbohrte oder nicht. Er war ja nicht einmal in der Lage, dagegen zu protestieren. Vielleicht war es sogar das Beste, wenn sie ihn tötete und dem Elend ein schnelles Ende bereitete. Dann würde er zwar ein weiteres Mal seine Brüder enttäuschen, aber zumindest hätte er versucht, seinen Schwur zu erfüllen.

Er bewegte den unversehrten Arm ein wenig, um die Finger um das Heft seines Schwerts Bitterblade zu legen. Er war entschlossen, wie ein Krieger zu sterben, auch wenn er sich nicht mehr zur Wehr setzen konnte. Die Frau zeigte keinerlei Regung, was ihm Unbehagen bereitete. Konnte es sein, dass er sich ihre Anwesenheit nur einbildete? Oder war sie so etwas wie eine Erscheinung?

Tatsächlich sah sie wie eine Erscheinung aus mit ihrem schmalen, ausdruckslosen Gesicht, das mit gräulichen Striemen überzogen war, und mit ihrer wilden Frisur aus teils geflochtenen, teils offenen Haaren, die ihr wie eine Decke aus goldenem Heu auf den Schultern lagen. Er fand, dass sie eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrem Speer hatte, da sie ebenfalls schmal und schlank war. Die Brust war flach, die Schultern waren in etwa so breit wie ihre Hüften.

Es ärgerte ihn, dass er davon überhaupt Notiz nahm, aber offenbar hatte Rurik mit dem recht, was er stets zu sagen pflegte: Danr würde sich sogar dann noch für das Aussehen einer Frau interessieren, wenn er längst auf dem Sterbebett lag. Das hier würde sein Sterbebett sein, und er machte sich Gedanken über das Erscheinungsbild einer Frau, die vermutlich im Begriff war, ihn zu töten. In gewisser Weise war das sogar angemessen, denn eine Frau hatte ihm – wenn auch nur widerwillig – das Leben geschenkt, und jetzt würde eine Frau es ihm wieder nehmen. Es wäre eine angemessene Vergeltung dafür, dass er in seinem Leben so viele Frauen kennengelernt und sich dennoch von einer nach der anderen nach kurzer Zeit wieder abgewandt hatte.

Er wartete und hätte sich am liebsten unter dem eindringlichen, forschenden Blick gewunden, den sie ihm wortlos zuwarf, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre. Selbst aus dieser ungünstigen Position heraus konnte er sehen, wie fesselnd ihre blassen Augen waren, die ihn an Perlen einer Auster erinnerten. Die Farbe passte genau zu dem Himmel über ihr, der grau schimmerte und von silbrigen Sprenkeln übersät war, die wie Schnee aussahen. Schnee?

Irgendwie brachte er ein kurzes Lachen zustande. Ja, das musste nun wirklich sein Ende sein. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass es kalt genug für Schnee war, geschweige denn, dass die Jahreszeit für Schnee überhaupt schon angefangen hatte. Doch als er darüber nachdachte, bemerkte er die weißen Wölkchen, die sich beim Ausatmen vor seinem Mund bildeten. Bei der Frau konnte er genau das Gleiche beobachten, womit der Beweis erbracht war, dass sie aus Fleisch und Blut war, auch wenn sie noch so sehr nach einer Erscheinung aussah.

Die Luft ringsum war erfüllt von Schneeflocken, die sich auf seinen verwundeten und blutverschmierten Körper legten, um ihn mit einer dünnen weißen Schicht zu überziehen. So viel hatten er und seine Brüder durchmachen müssen, so weit waren sie gereist und hatten von Maerr über Éireann bis hin nach Konstantinopel und Alba gegen so viele Feinde gekämpft, und nun würde er hier allein im Wald sterben und unter einer Schneeschicht verschwinden. Vermutlich würde er für Monate hier liegen, von der Kälte völlig durchdrungen, sodass sein Leib bis zum Frühjahr nicht würde verwesen können. Vielleicht würde ja Hilda diejenige sein, die ihn hier entdeckte. Dann würde sie wissen, dass sie am Ende doch noch gewonnen hatte.

Er gab ein missbilligendes Brummen von sich, dann schien sein Herz zu erstarren, als ein Knurren als Antwort auf seinen Laut kam. Seine Nackenhaare richteten sich auf, und mit großer Mühe schaffte er es, den Kopf weit genug zu heben. Sein Herz schlug gleich doppelt so schnell wie zuvor, als er den Wolf sah … nein, als er zwei Wölfe sah, die sich ihm durchs Unterholz näherten. Beide hatten sie die Reißzähne gebleckt und musterten ihn. Zweifellos waren sie vom Geruch seines Bluts angelockt worden.

Hastig sah er wieder zu der Frau und versuchte, sie mit seinen Blicken vor der Gefahr zu warnen, da seine Kehle so ausgedörrt war, dass er keinen Ton mehr herausbekam. Sie schien ihn nicht zu verstehen und sah ihn weiter mit ausdrucksloser Miene an, während sich die Wölfe näherten und sich wie zwei finstere Wächter rechts und links neben die Unbekannte stellten.

Womöglich ist sie ja doch eine Erscheinung, überlegte Danr, dem ein eisiger Schauer über den ganzen Körper lief. Vielleicht war sie eine jener erbarmungslosen Eisjungfrauen, von denen seine Mutter oft erzählt hatte, als er und Rurik noch ganz jung gewesen waren. Ein übernatürliches Wesen, das nicht nur den Tieren im Wald Befehle geben konnte, sondern auch die Macht über die Elemente besaß.

Sollte sie tatsächlich ein solches Wesen sein, dann war er ganz und gar ihrer Gnade ausgeliefert. Sie konnte mit ihm anstellen, wonach ihr der Sinn stand, und er konnte nichts dagegen unternehmen. Er schluckte und wartete, dass sie über sein Schicksal entschied. Mit dem Speer würde es wenigstens schnell gehen. Aber wenn sie ihn von ihren Wölfen zerfleischen lassen wollte … Nein, nicht einmal er hatte ein solches Ende verdient.

Oder doch?

Er ließ den Kopf auf den Boden sinken und schloss abermals einen Moment lang die Augen, während kalte Flocken auf seinen Lidern landeten und an den Wimpern hängen blieben. Als er wieder hochsah, waren die Frau und die beiden Wölfe spurlos verschwunden. Das Einzige, was er noch sehen konnte, war Schnee.

1. KAPITEL

Sechs Stunden zuvor

So einfach konnte es gar nicht sein.

Danr stand nahe dem Waldrand und beobachtete im Schutz der Bäume eine einsame Gestalt, die am steinigen Ufer des Sees gleich unter ihm entlangging. Er konnte das Gesicht der Frau nur von der Seite sehen, dennoch gab es keinen Zweifel, dass es sich um Hilda handelte. Selbst wenn sie nicht ihre dunklen Haare zu einem bis zu den Knien reichenden Zopf geflochten hätte, erkannte er sie immer noch an der vertrauten steifen Körperhaltung, ebenso an der von sich eingenommenen leicht schrägen Kopfhaltung und dem trotzig vorgestreckten Kinn. Er musste ihr auch nicht ins Gesicht sehen, um zu erfahren, welche Miene sie zur Schau stellte. Er kannte diesen Gesichtsausdruck, der kundtat, dass sie in ganz Maerr die einzige wirklich wichtige Frau war, niemals zuvor hatte es eine Frau wie sie gegeben. Sie war die Frau von Jarl Sigurd und damit hundertmal wichtiger als Danrs leibliche Mutter, die dessen Geliebte gewesen war.

Doch diese Zeiten lagen lange zurück.

Vor drei Jahren war alles anders geworden, denn mit dem blutigen Massaker am Tag der Hochzeit seines Halbbruders Alarr war die Welt, so wie sie ihnen vertraut gewesen war, auf den Kopf gestellt worden. Ihr Zuhause war zerstört, der Ruf der Familie ruiniert worden. Ihren Vater, den mächtigen Sigurd, hatte man genauso ermordet wie Alarrs Verlobte Gilla, die Frau seines Halbbruders Brandt sowie zahlreiche Krieger, die noch versucht hatten, das Attentat abzuwenden.

Jeden in Maerr hatte dieses Massaker zu einem anderen Menschen werden lassen, allen voran Danr und Rurik sowie ihre Halbbrüder Brandt, Alarr und Sandulf. Nach dem Anschlag waren die Suche nach Antworten und das Sinnen auf Rache für jeden von ihnen wichtiger gewesen als alle anderen Belange. Wichtiger sogar als die Frage, wer von ihnen das Königreich des Vaters weiterführen sollte.

Schließlich hatten sie alle ihre Heimat verlassen, um sich auf die Suche nach den Attentätern zu begeben, während die verwitwete Hilda sich auf die Insel Skíð vor der Westküste von Alba flüchtete und dabei von Joarr begleitet wurde, dem Steuermann des Vaters.

Anfangs hatte ihre schnelle erneute Heirat weniger als ein Jahr nach dem Mord an ihrem Mann nach einer vernünftigen Reaktion auf die erheblichen politischen Unruhen in Maerr ausgesehen. Doch nun waren Fragen aufgekommen, ganz entscheidende Fragen, auf die Antworten gefunden werden mussten.

Nur deshalb war er nach Skíð gekommen: um Fragen zu stellen. Weiter nichts. So hatte er es mit Sandulf vereinbart, als sich ihre Wege getrennt hatten. Seine Aufgabe war, Hilda mit den entdeckten Beweisen zu konfrontieren und von ihr eine Erklärung einzufordern. Auf keinen Fall sollte er Vergeltung üben, ganz gleich, wie diese Erklärung lauten würde. Natürlich war Sandulf noch immer auf der Suche nach anderen Antworten, weil er nicht wahrhaben wollte, dass seine Mutter irgendetwas mit dem Massaker zu tun hatte. Doch Danrs Gefühl sagte ihm genau das Gegenteil. Alle fünf Söhne von Sigurd waren jeder auf seine Art demjenigen auf den Fersen, der die Attentäter nach Maerr geschickt hatte, und er wusste mit absoluter Sicherheit, dass Hilda irgendwie in diese Sache verstrickt war. Er musste bloß noch den Beweis dafür liefern.

Aber so einfach konnte es nicht sein. Er hielt sich seit noch nicht einmal einem Tag auf der Insel auf, und dann lief ausgerechnet Hilda ihm als Erste über den Weg? Dazu noch allein und allem Anschein nach unbewaffnet. Nein, das wäre zu einfach gewesen. Er war für seine Schläue ebenso bekannt wie für seine gründlichen Planungen und seine geschickten Strategien im Gefecht. Er stürmte nie auf ein Ziel los, wenn er sich nicht zuvor ein klares Bild von der Situation gemacht hatte. Doch genau in diesem Moment kümmerte ihn nicht, was er sonst alles tat. Sein Temperament ging beinahe mit ihm durch, als er Hilda nun dort sah. Er wollte Antworten haben, und die würde er sich holen, ganz egal auf welche Weise. Und zwar jetzt sofort.

Er suchte ein letztes Mal aufmerksam den Strand ab, um sicherzustellen, dass niemand sonst in der Nähe war. Erst dann setzte er sich in Bewegung und überquerte zielstrebig den Kieselsteinstrand. Der See befand sich in einem langgestreckten, schmalen Tal, ihn säumte am südwestlichen Rand der Insel eine Hügellandschaft mit dichtem Waldbestand. Nach Norden erhoben sich die Berge, die einen beeindruckenden Anblick boten und sich wie Giganten aus Stein in den Himmel reckten.

Bei jeder anderen Gelegenheit hätte er wohl innegehalten, um die schroffen Bergkämme und die schneebedeckten Gipfel in der Ferne zu bewundern. Jetzt jedoch konnte er seinen vor Zorn kochenden Blick nicht von der Frau abwenden, auf die er zuging.

Hilda drehte sich im letzten Moment um, da sie auf das Knirschen der Kieselsteine unter seinen Schuhsohlen aufmerksam geworden war. Ihr zuerst noch freundliches Lächeln wich schnell einem Gesichtsausdruck, der Erstaunen und Feindseligkeit preisgab. Diese Miene war ihm auch nur zu vertraut. Offenbar hatte ihre Geringschätzung ihm gegenüber in den drei Jahren, seit sie Maerr verlassen hatte, nicht im Mindesten nachgelassen. Aber immerhin beruhte das auf Gegenseitigkeit.

„Du?“ Sie sah ihn von oben herab an.

„Ja, ich“, gab er zurück und setzte ein Lächeln auf, das keine Freundlichkeit vermittelte. „Es ist schon lange her, Stiefmutter. Habe ich dir gefehlt?“

Wäre er nicht so wütend auf sie gewesen, hätte er darüber lachen können, wie sie sich am ganzen Leib anspannte, als würde sein Anblick sie zu Stein erstarren lassen. Sie hatte es noch nie gemocht, wenn er sie anredete – was er genau aus diesem Grund so oft wie möglich getan hatte. Seine bloße Existenz – so wie auch die seines Zwillingsbruders Rurik – war Grund genug für ihren tief verwurzelten Hass, der nur noch schlimmer geworden war, als Sigurd sie beide nach dem Tod ihrer leiblichen Mutter zu sich geholt hatte.

So weit Danr zurückdenken konnte, hatte Hilda sich stets größte Mühe gegeben, von den beiden Jungs keine Notiz zu nehmen, als könnte sie dadurch auch die Untreue ihres Ehemanns vergessen. Sein Bruder hatte den gleichen Weg gewählt und sich von ihr ferngehalten, so gut es nur ging. Für Danr war es dagegen ein Vergnügen gewesen, diese Frau bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu provozieren, und er sah keinen Grund, sich jetzt anders zu verhalten.

„Was machst du hier?“ Hildas Tonfall machte keinen Hehl aus ihrem Missfallen.

„Darf ich dich nicht einfach mal besuchen?“, entgegnete er und breitete die Arme aus, als glaubte er ernsthaft, dass sie ihn umarmen würde. Dabei wusste er, sie wäre lieber über glühende Kohlen gegangen. Er wiederum hätte lieber eine Schlange umarmt. „Der alten Zeiten wegen?“

„Nein!“

„Das ist nicht sehr gastfreundlich.“

„Mir ist nicht danach, gastfreundlich zu sein.“ Sie sah mit leicht hoffnungsvoller Miene an ihm vorbei in Richtung Wald. „Ist Brandt mitgekommen? Oder Alarr? Sandulf?“

„Nein.“ Er genoss ihre unübersehbare Enttäuschung. „Ich bin allein hergekommen.“

„Warum? Was willst du, Danr?“

„So wie immer ohne lange Vorrede.“ Er legte eine Hand auf den Knauf seines Schwerts und tippte leicht mit den Fingern dagegen. „Ich will das, was meine Brüder auch wollen: die Wahrheit darüber, wer unseren Vater ermordet hat.“

„Das wollen wir alle wissen!“, erwiderte sie ungeduldig. „Das erklärt noch immer nicht, wieso du hier bist.“

„Wirklich nicht?“ Seine Finger kamen zur Ruhe, er sprach leiser weiter und ließ das Lächeln auf seinen Lippen langsam verblassen. „Kannst du dir tatsächlich überhaupt keinen Grund vorstellen?“

„Was denn?“ Die Luft zwischen ihnen war so angespannt, dass man die gegenseitige Abneigung fast mit Händen hätte greifen können. Plötzlich sah sie mit großen Augen in Richtung des Dorfs am anderen Ende dieses Strandabschnitts. „Vielleicht sollten wir besser drinnen weiterreden.“

„Hast du nicht gerade gesagt, dass ich nicht willkommen bin?“ Spöttisch zog er eine Augenbraue hoch.

„Das bist du auch nicht, aber es wird allmählich kalt. Der Wind hat gedreht.“

„Dann bringen wir das besser schnell hinter uns. Sag mir, warum du meinen Vater ermordet hast, und dann mache ich mich auch schon wieder auf den Weg.“ Er sagte diese Worte so beiläufig, als wären sie völlig nebensächlich. Dennoch tat es gut, ihr diesen Vorwurf zu machen und zu sehen, wie sie fassungslos den Mund aufriss, um nach Luft zu schnappen.

„Ich habe Sigurd nicht umgebracht!“

„Vielleicht nicht eigenhändig, aber irgendjemand hatte diesen Angriff auf ihn befohlen.“

„Aber nicht ich! Warum sollte ich das tun?“

„Weil du ihn nicht geliebt hast.“

„Richtig“, sagte sie und unternahm gar nicht erst den Versuch, es zu leugnen. „Schon seit langer Zeit nicht mehr, und trotzdem bedeutet das nicht, dass ich seinen Tod wollte.“

„Du wolltest ihn nicht mehr als deinen Ehemann haben.“ Danr machte einen Schritt auf sie zu und hoffte, dass dies einschüchternd auf sie wirkte. „Du wolltest ihn nicht mehr in deinem Bett haben.“

„Er wollte mich ja auch nicht in unserem Bett haben!“ Hildas grüne Augen funkelten vor Abscheu. „Aber das beweist gar nichts. Wie viele von den Frauen, mit denen du das Bett teilst, liebst du denn, Danr? Auch nur eine einzige? Trotzdem bringst du sie nicht um, weil du dich ihrer entledigen willst.“

„Das ist etwas anderes.“ Neue Wut stieg in ihm auf. „Du hattest meinen Vater mit seinem eigenen Steuermann betrogen, und er hat es herausgefunden. Brandt hat die beiden gehört, wie sie sich ein paar Tage vor dem Angriff gestritten haben.“

„Sigurd hat nur etwas vermutet“, sagte Hilda abfällig schnaubend. „Er wusste es nicht.“

„Dann ist es sogar noch wahrscheinlicher, dass du ihn umgebracht hast. Du hast den Angriff befohlen, bevor er einen Beweis finden und deinen Geliebten dafür bestrafen konnte.“

„Nein!“

„Und nur deshalb hast du kurz darauf Maerr zusammen mit Joarr verlassen!“

„Es war nicht kurz darauf!“, widersprach sie ihm energisch. „Ich blieb noch über Monate hinweg in Maerr, um Alarr gesund zu pflegen und um Brandt dabei zu helfen, sein Geburtsrecht zu wahren. Doch beide waren nur noch von dem Gedanken an Rache besessen. Alles ging in die Brüche, und meine Schwester …“ Sie presste die Lippen zusammen, als hielte sie es für besser, das nicht zu sagen, was ihr beinahe über die Lippen gekommen wäre. „Joarr sagte, es sei für uns zu gefährlich, noch länger zu bleiben. Darum sind wir hergekommen, um bei seinen Verwandten Zuflucht zu finden.“

„Du meinst für den Fall, dass jemand herausfindet, was du getan hast?“

„Das reicht!“ Wütend reckte sie das Kinn. „Wie kannst du es wagen, solche Dinge auszusprechen? Wenn meine Söhne erfahren, was du mir unterstellst, dann …“

„Was glaubst du denn, wer mich hergeschickt hat?“ Danr lächelte sie spöttisch an. „Nur sind sie alle anständige Söhne, die ihrer Mutter nicht solche Vorwürfe machen möchten. Erst recht nicht, wenn sie einen unehelichen Halbbruder haben, der das nur zu gern für sie erledigt. Sandulfs und meine Wege haben sich erst vor ein paar Tagen getrennt.“

Er hielt eine Weile inne, um seine Worte wirken zu lassen. Zufrieden beobachtete er, wie ihr Gesicht kreidebleich wurde. Bedauerlicherweise war er dennoch einem Geständnis noch keinen Schritt näher gekommen. Womöglich war es nicht die beste Taktik gewesen, ihr einfach geradeheraus zu sagen, was er und die anderen über sie dachten. Vielleicht hätte er doch besser erst noch eine Weile gewartet, um sie dann mit den Beweisen zu konfrontieren. Oder er hätte sich an seinen ursprünglichen Plan halten und zunächst mit Joarr reden sollen. Doch er hatte sich nicht beherrschen können, als er sie gesehen hatte. Wenn er sie schon nicht dazu verleiten konnte, ihre Schuld einzugestehen, blieb ihm nur noch ein Weg: ein Bluff. Aber er war sich sicher, dass sie ihn so sehr hasste, dass sie ihm bestimmt glauben würde, was er zu sagen hatte.

„Gib zu, dass du deine Finger im Spiel hattest …“ Während er redete, zog er mit einer fließenden Bewegung sein Schwert Bitterblade. „… dann werde ich deine Söhne darüber entscheiden lassen, wie sie dich bestrafen wollen. Ansonsten ist das eine Sache zwischen dir und mir.“

„Ich werde gar nichts zugeben“, sagte sie und zuckte nicht einmal mit der Wimper. Vielmehr wurde der Ausdruck in ihren Augen nur noch abweisender. „Ich habe dir gerade eben gesagt, dass ich damit nichts zu tun hatte.“

„Ich glaube dir kein Wort.“

„Dann wirst du mich wohl töten müssen. Aber ich weigere mich, hier zu stehen und einen Mann wie dich ein Urteil über mich fällen zu lassen. Es mag sein, dass du in der Lage bist, die Vögel aus den Bäumen zu locken, Danr, aber unter deiner charmanten Schale bist du völlig wertlos. Jede Nacht holst du eine andere Frau zu dir ins Bett, weil du glaubst, dass dich das zu einem richtigen Mann macht. Aber das Gegenteil ist der Fall. Du hast die schlimmsten Eigenschaften deines Vaters geerbt. Du bist in deinem Inneren völlig leer, Danr. Du besitzt kein Herz, keine Ehre und keinen Anstand.“

„Mir kannst du sagen, was du willst, aber du wirst nicht meinen Vater beleidigen!“ Danr machte einen Schritt auf sie zu und richtete die Spitze seines Schwerts auf ihre Brust.

„Warum nicht? Mich hat er an jedem Tag unserer Ehe beleidigt. Er hat mich mit deiner Mutter beleidigt, und mit dir natürlich auch!“

„Vielleicht hattest du es ja auch verdient.“

„Geh weg von ihr!“

Danr wirbelte herum, als er Joarrs wütenden Ausruf hörte, und ärgerte sich prompt darüber, dass er so unaufmerksam gewesen war. Allerdings musste er anerkennen, dass Hilda ihn gut getäuscht hatte. Obwohl sie ihren Mann hatte kommen sehen müssen, war ihr Blick nicht ein einziges Mal verräterisch in seine Richtung gewandert. Stattdessen hatte sie genau gewusst, wie sie Danrs Aufmerksamkeit ganz auf sich lenken konnte, indem sie seine Wut angeheizt hatte, während er darum bemüht gewesen war, sie zu einer unüberlegten Äußerung zu verleiten. Jetzt war der hünenhafte Krieger nur noch wenige Schritte von ihnen beiden entfernt, und er kam mit hocherhobenem Schwert und vorgehaltenem Schild auf Danr zu. Dabei blickte er zorniger drein, als Danr ihn je erlebt hatte. Das verwunderte nicht, schließlich musste es aus einiger Entfernung so ausgesehen haben, als wollte er Hilda kaltblütig niederstrecken.

„Hat er dir etwas angetan?“, fragte Joarr und sah dabei nur kurz zu seiner Frau.

„Nein“, antwortete sie, und Danr musste überrascht feststellen, dass sie in einem beschwichtigenden Tonfall sprach. „Sandulf hat ihn hergeschickt. Wie es scheint, hegen meine Söhne einen Verdacht gegen mich.“

„Welchen Verdacht?“

„Wegen Sigurds Tod. Sie glauben, ich hätte etwas damit zu tun gehabt.“

„Du?“ Joarr blieb eine Schwertlänge von Danr entfernt stehen, seine blauen Augen schimmerten wie Eis. „Sie hatte damit nichts zu tun. Das ist die Antwort, die du darauf bekommst.“

„Ist es das, was sie dir erzählt hat?“

„Es ist das, was ich weiß.“

„Etwas sagt mir, dass du nicht unvoreingenommen bist, wenn es um sie geht.“

„Ich glaube meiner Ehefrau.“

Danr stieß verächtlich den Atem aus. „Und dabei warst du es immer, der stets gesagt hat, ich sei derjenige, der sich von seiner Lust kontrollieren lässt. Offenbar leidest du an der gleichen Schwäche, alter Freund.“

„Ich liebe Hilda, und sie liebt mich.“ Wütend zog er die Augenbrauen zusammen. „Ist Liebe für dich so schwer zu verstehen, Junge?“

„Ja!“, antwortete Danr, ohne nachzudenken, auch wenn es nichts weiter als die Wahrheit war. Er liebte seine Brüder, aber die Liebe zu einer Frau ergab für ihn einfach keinen Sinn, obwohl er diese Liebe bei Alarr und Breanne, bei Rurik und Annis sowie bei Sandulf und Ceanna beobachten konnte. Sie hatte nie einen Sinn ergeben, und daran würde sich auch nie etwas ändern. Die Liebe seiner Mutter für seinen Vater hatte ihr nur Leid und Bedauern eingebracht, und der bloße Gedanke reichte, um seine Wut wieder hochkochen zu lassen.

„Sie muss für das bezahlen, was sie getan hat.“ Er riss den Kopf herum und sah zu Hilda, während seine ohnehin zerbrechliche Beherrschung weiter bröckelte.

„Sie hat nichts getan.“

„Dann frag sie doch, wie es sein kann, dass die Attentäter einen Teil ihres Schmucks bei sich hatten. Drei Anhänger.“

„Anhänger?“ Bei diesem einen Wort schien ihr die Stimme beinahe zu versagen.

„Aye. Die Anhänger, mit denen du sie bezahlt hast.“

„Was für Anhä…“

„Sie wird gar nichts erklären!“, ging Joarr mit so lauter Stimme dazwischen, dass sie sich wie ein Donnerschlag anhörte. „Du hast schon zu viel geredet, Danr. Du hättest ein Skalde sein sollen, kein Krieger.“

„Wartet!“ Hilda hob die Hände, als wollte sie beide Männer besänftigen. „Vielleicht sollten wir uns wirklich besser unterhalten.“

„Dafür ist es jetzt zu spät!“ Joarr fuchtelte mit seinem Schild und bedeutete Hilde, sich zurückzuziehen. „Er hat dich bedroht! Das allein ist für mich Grund genug, ihn zu töten!“

„Du kannst es ja mal versuchen.“ Danr lachte rau auf und verlagerte sein Gewicht auf den rechten Fuß, während er darauf wartete, dass der ältere Mann angriff. Das geschah überraschend schnell, denn kaum war Danr in Position gegangen, stürmte Joarr auf ihn los, um ihn mit seinem Schild zu rammen, damit er den Halt verlor und zu Boden ging. Danr war jedoch schneller, wich nach links aus, parierte die Attacke und machte einen Satz auf den anderen Mann zu, sodass er seine Klinge über dessen Kettenhemd ziehen konnte.

Der alte Steuermann grummelte verärgert, drehte sich um und holte dann mit so viel Schwung mit dem Schwert aus, dass Danr sofort in die Hocke gehen musste, um zu verhindern, dass ihm der Schädel zerschmettert wurde. Er nutzte diese Position aus, indem er Joarr gegen das Knie trat, sodass der nach hinten taumelte. Doch der Steuermann fing sich schneller, als von Danr erwartet, stürmte gleich wieder auf ihn los und stieß ihn zur Seite. Diese Attacke entpuppte sich als Fehler, denn die ganze rechte Seite des Mannes war dadurch völlig schutzlos. Hätte Danr jetzt sein Schwert hochgenommen, dann wäre es ein Leichtes gewesen, die Spitze der Klinge in die Achselhöhle des Steuermanns zu bohren. Er konnte die Stelle deutlich sehen, ein fast perfektes Ziel für sein Schwert. Hätte er es gewollt, hätte er Joarr von dieser Position aus durchbohren können. Anschließend hätte er auf Hilda losgehen und sie töten können. Es hing alles nur davon ab, dass er die Gelegenheit nutzte.

Aber er zögerte, weil eine Flut von Erinnerungen auf ihn einstürzte: Joarr, wie er ihm beibrachte, sein erstes Holzschwert richtig zu halten und es zu führen, um die Schwäche des Gegners zum eigenen Vorteil zu nutzen. Dieser Mann hatte ihm unendlich viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt als sein eigener Vater – wie sollte er da das Erlernte nutzen, um den Mann jetzt zu schlagen … und zu töten? Das ging einfach nicht. Stattdessen sprang er zur Seite, wobei er die kleinen Kieselsteine aufwirbelte. Er wollte ihn nicht töten, sondern nur zu Boden schicken, um ihn in Schach zu halten und um ihm zu erklären, woher er von Hildas Schuld wusste …

Er drehte sich um und wusste genau, wenn er vor Joarr zurückwich, dann würde der unerbittlich auf ihn losgehen. Joarr war ein Riese und ein gefürchteter Kämpfer, allerdings machte seine Größe ihn in seinem Alter eher zu einem langsamen Mann.

Danr konnte von Glück reden, dass er jahrelang von Joarr ausgebildet worden war. Daher kannte er dessen gesamte Taktiken, während er selbst in den letzten Jahren seine Bandbreite an Techniken erweitert und zwangsläufig immer weiter verbessert hatte, da er immer wieder in Gefechte verwickelt gewesen war. Hätte er nicht bei Alba diese Rippenverletzung erlitten, wäre es für ihn ein Leichtes gewesen, diesem Kampf ein Ende zu setzen. Aber er wollte seinem ehemaligen Lehrmeister auch nicht wehtun, denn einen solchen Schlagabtausch hatte er nicht gewollt. Wenn sie beide die Waffen weglegen und sich von Mann zu Mann unterhalten könnten, von Freund zu Freund, wie sie es einmal gewesen waren …

Plötzlich ertönte von irgendwoher ein lauter Schrei. Als Danr den Kopf herumriss, verzog er gleich darauf den Mund, da er sah, dass mindestens ein Dutzend Krieger aus dem Dorf am anderen Ende des Strands gestürmt kam, um Hilda und Joarr beizustehen. Die wüstesten Flüche und Verwünschungen kamen über seine Lippen. Er hatte die Gelegenheit versäumt, die Antwort aus Hilda herauszuholen, und nun blieb ihm keine Zeit mehr. Jetzt konnte er nur noch in den Wald entkommen, solange die Helfer noch nicht zu nahe waren. Dann konnte er sich immer noch einen neuen Plan überlegen. Doch als er davonlaufen wollte, fühlte sich etwas nicht so an wie erwartet.

Verdutzt sah er an sich hinab. Sein rechter Arm fühlte sich seltsam taub an, seine Finger hatten Mühe, das Schwert zu halten. Gerade stellte er das fest, da glitt ihm das Heft aus der Hand, und die Klinge schlug mit lautem Scheppern auf dem Kies auf. In diesem Moment bemerkte er einen langen Riss in seinem Kettenhemd, gefolgt von einem gewaltigen Schmerz. Die Kettenglieder mussten durchtrennt worden sein, als Joarr auf ihn losgegangen war, womit sich für ihn ein Ziel für seine Waffe ergeben hatte. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass die Klinge ihn auch nur gestreift hatte, doch es gab keinen Zweifel, dass er verletzt worden war.

Er berührte das Blut, das aus der Wunde strömte, dann sah er zu Hilda. Seltsamerweise hatte sie die Hände um Joarrs Taille gelegt und schien ihn zurückzuhalten, was aber nichts daran änderte, dass die Krieger aus dem Dorf weiter auf ihn zurannten. Wenn er noch einen Moment länger hier verharrte, würde man ihn gefangen nehmen und hinrichten. Das wäre an sich nicht ganz so wichtig gewesen, aber dann würden seine Brüder nicht die Antworten bekommen, die sie benötigten. Deshalb war er schließlich hier, und deshalb musste er für sie überleben.

Mit dem unversehrten Arm hob er Bitterblade auf, ging rückwärts ein paar Schritte in Richtung Wald und rannte schließlich los.

2. KAPITEL

Sissa trug die wenigen benötigten Gegenstände zusammen, warf sich zwei der wärmsten Felle über die Schulter, die sie finden konnte, und machte sich auf den Weg durch den Wald, zurück zu dem verletzten Mann. Es hatte wieder aufgehört zu schneien, dennoch hatte sie keine große Hoffnung, ihn noch lebend anzutreffen. Wenn sie die Menge Blut richtig einschätzte, die den Waldboden bedeckt hatte, dann würde er bei ihrer Rückkehr sehr wahrscheinlich bereits tot sein. Sollte er noch leben, dann würde sie alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihm das Leben zu retten, ob er das wollte oder nicht.

Ihr war nicht sein sonderbarer Gesichtsausdruck entgangen, als sie ihn ganz leicht mit dem Speer am Hals angestoßen hatte, um herauszufinden, ob er noch lebte. Seine Miene hatte etwas Entschlossenes an sich gehabt, als wäre er bereit zu sterben, wenn sie ihn töten wollte. Aber sie war eine Heilerin, keine Mörderin. Außerdem war sie schon viel zu oft mit dem Tod in Berührung gekommen.

Er lag immer noch genauso da, wie sie ihn zurückgelassen hatte. Sein Kopf ruhte an einer der Wurzeln der großen Eiche. Aus einiger Entfernung hätte man ihn durchaus für tot halten können, aber als sie sich über ihn beugte, konnte sie ein schwaches Pulsieren an seinem Hals ausmachen.

Sie legte den Beutel mit ihren Sachen hin und fühlte mit zwei Fingern an seinem Hals. Ja, der Puls war da. Zwar schwach, aber immer noch zu ertasten. Es war ein straffer, muskulöser Hals, was für den ganzen Mann zu gelten schien, wie ihr jetzt auffiel. An diesem Körper befand sich kein überflüssiges Fett, und auch seine Wangenknochen durchzogen sein Gesicht fast wie zwei scharfe Kanten.

Sie drückte ihre Handfläche auf seine Wange. Die Haut fühlte sich kalt an, doch das war kein Wunder, schließlich war der größte Teil seines Körpers mit Schnee bedeckt. Allerdings hatte seine Haut auch eine wächserne Bleiche angenommen, was die Frage aufwarf, woran er zuerst sterben würde – an seiner Verletzung oder an der Kälte. Es war unmöglich zu sagen, was von beidem tödlicher für ihn sein würde.

Sie würde ihm die feuchte Kleidung ausziehen müssen, doch zunächst einmal …

Nachdenklich nahm sie ein Fell von ihrer Schulter, das sie über Brust und Beinen ausbreitete, dann erst sah sie sich seine Verletzung genauer an. Offenbar hatte er ein Stück Stoff von seinem Wams abgerissen und es sich um den Oberarm gebunden, um die Blutung zu stoppen. Inzwischen war der Stoff aber völlig durchnässt und damit nutzlos. Behutsam entfernte sie den Verband und betrachtete die Wunde. Es gab keine Hinweise auf eine Entzündung, also war sie ihm erst vor Kurzem zugefügt worden. Die Verletzung stammte von einer Klinge, doch dabei musste es sich um ein Schwert oder einen Dolch gehandelt haben, da der Schnitt sehr gerade und sauber geführt worden war. Glücklicherweise war es zwar ein langer, aber nicht sehr tiefer Schnitt.

Der Mann versuchte, sich zu winden, als sie aus einer Flasche Wasser auf die Wunde laufen ließ, um sie zu säubern. Anschließend verrieb sie ein Pulver aus Wildknoblauch und geriebener Eichenrinde auf der Stelle, damit die Blutung zum Stillstand kam. Als Nächstes trug sie eine Lage getrocknetes Torfmoos auf, das als Wickel diente, danach folgte ein Stück Stoff als Verband.

Während sie die Wunde versorgte, kam ihr sein Atem auf einmal flacher und angestrengter vor, doch sie konzentrierte sich so auf ihre Arbeit, als würde es nichts Wichtigeres um sie herum geben. Als sie fertig war, lehnte sie sich zurück und betrachtete ihr Werk. Nicht schlecht. Diese Maßnahme hatte der Mann zumindest bis jetzt überlebt, was schon mal ein gutes Zeichen war. Doch er brauchte auch noch Wärme, etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf in genau dieser Reihenfolge, wenn er die kommende Nacht überstehen wollte.

Sie biss sich auf die Unterlippe und sah hinauf zum Himmel. Es wurde allmählich dunkel. Außerdem war er für sie viel zu groß und viel zu schwer, als dass sie ihn hinter sich her hätte schleifen können. Ein Feuer zu entfachen, stellte ein zu großes Risiko dar, weil es nur die Leute anlocken würde, die sehr wahrscheinlich nach ihm suchten. Jemand hatte ihm schließlich diese Wunde zugefügt, und dieser Jemand würde sich vermutlich nicht damit begnügen, ihn mit einer blutenden Schnittwunde entkommen zu lassen. Andererseits würde ihn die eisige Kälte mit Sicherheit umbringen, wenn sie kein Feuer anzündete. Im Augenblick erschien ihr ein Feuer als das kleinere Übel.

Sie griff in ihren Beutel und holte die trockenen Zweige heraus, die sie vorsorglich eingesteckt hatte, dann legte sie sie übereinander und entfachte ein kleines Feuer dicht an dem Fremden. Auf dem feuchten Untergrund dauerte es zwar etwas länger, doch schließlich sorgte ein Funke ihres Feuersteins dafür, dass einer der Zweige zu glimmen begann. Als das Feuer schließlich groß genug war, um für ausreichende Wärme zu sorgen, zog sie das Fell zur Seite und betrachtete den Mann. Seine Kleidung bestand zum großen Teil aus Leder, über der er ein Kettenhemd trug. Während ihn das Leder wohl gut vor den Elementen beschützte, sah das Kettenhemd so schwer aus, dass es ihn wahrscheinlich beim Atmen behinderte. Um den Hals trug er einen Leinenkragen, der völlig durchnässt war. Zum Glück war das Kettenhemd vorn zu öffnen, sodass sie nur den Gürtel und die Klammern lösen musste, um es dann nach links und rechts aus dem Weg zu schieben. Dann ergriff sie ihr Messer und schnitt sorgfältig den Waffenrock auf, sodass seine blanke Brust zum Vorschein kam. Im Weg war jetzt nur noch der Tragegurt seiner Umhängetasche aus Leder.

Der Anblick seines nackten Oberkörpers raubte ihr einen Moment lang den Atem, dann begann sie ungewöhnlich hastig zu atmen. Zwar hatte sie als Heilerin schon viele unbekleidete Menschen zu sehen bekommen, doch dieser hier unterschied sich von allen anderen. Dieser Körper war so makellos, als hätte ein Bildhauer ihn aus einem Stein erschaffen. Von Natur aus muss dieser Mann eigentlich recht schlank sein, dachte sie, während sie sich mit der Zunge über ihre mit einem Mal sehr trockenen Lippen fuhr. Mit Sicherheit konnte sie das aber angesichts seiner außergewöhnlichen Muskelmasse nicht sagen, zumal sie an Stellen Muskeln feststellen konnte, von denen sie bis dahin gar nicht gewusst hatte, dass sich dort überhaupt Muskeln befanden.

Die Schnittwunde am Arm war nicht der einzige Hinweis darauf, dass er erst vor Kurzem in ein Gefecht geraten war. Sie konnte etliche, kreuz und quer über seine Rippen verlaufende Narben erkennen, außerdem einen beträchtlichen blauen Fleck am Bauch. Sie fragte sich, wie sein letzter Kampf verlaufen sein mochte und in welcher Verfassung sich sein Widersacher befand. Jedenfalls bezweifelte sie, dass es sich um eine einseitige Auseinandersetzung gehandelt hatte. Nach den muskulösen Oberarmen und den Armreifen aus Bronze und Silber zu urteilen, war der Schwertkampf für diesen Mann nichts Ungewöhnliches.

Diese Erkenntnis bereitete ihr Unbehagen. Er war eindeutig ein Krieger, ein Mann von jenem Schlag, der glaubte, das Leben mit Kämpfen verbringen und anderen, friedliebenden Menschen mit Gewalt das wegnehmen zu können, was er haben wollte. Von allen Männern waren Krieger diejenigen, die sie am wenigsten leiden konnte und denen sie mehr misstraute als jedem anderen. So sehr sogar, dass sie in diesem Moment versucht war, nach Hause zurückzukehren und diesen Mann seinem Schicksal zu überlassen. Doch das konnte sie nicht machen. Er war verletzt und hilflos, und sie war die Einzige, die ihn retten konnte.

Sie legte das Fell wieder über ihn und betrachtete sein Gesicht. Die Falten auf seiner Stirn und an den Mundwinkeln, die zuvor seine Schmerzen und die innere Anspannung hatten erahnen lassen, waren weitgehend verschwunden, seit sie begonnen hatte, seine Wunde zu versorgen. Dadurch sah er jetzt jünger und viel zu gut aus, vor allem gar nicht wie ein Krieger. Unter den neuen Siedlern war er ihr bislang nicht aufgefallen, denn sie war sich sicher, dass sie sich an ein so bemerkenswertes Gesicht erinnert hätte – und erst recht an diese dichte, volle Mähne aus goldblondem Haar. Also musste er neu auf der Insel sein.

Ein wenig erinnerte er sie an Birger, einen Jungen, den sie vor vielen Jahren in ihrem Dorf gekannt hatte. Mit seinen damals siebzehn Jahren war er vier Jahre älter als sie gewesen, und er hatte so gut ausgesehen, dass alle Mädchen im Dorf mit ihm geschäkert und um seine Aufmerksamkeit gebuhlt hatten. Sie selbst hatte ihn auch nie aus den Augen gelassen, immer von der Hoffnung erfüllt, er könnte sie eines Tages bemerken. Doch er hatte sie nie bemerkt, bis er es eines Tages ohnehin nicht mehr gekonnt hätte, weil er tot war. So tot wie fast alle in ihrem Dorf, ausgenommen sie selbst und die Wölfin Tove.

Sie streckte die Hand nach der Wölfin aus, die zu ihr gekommen war, ihr über die Finger leckte und sie mit der Nase anstieß. Ihr Vater hatte Tove als ausgehungerten Welpen gefunden und ins Dorf mitgebracht, um sie großzuziehen und zum Wachhund auszubilden. Sissi hatte sich dabei vorwiegend um die Ausbildung gekümmert, weshalb das Tier auch zu ihrer ständigen Begleiterin und Bewacherin geworden war. Sie war sich nicht sicher, ob Tove in ihr eine Schwester oder die Mutter sah, aber auf jeden Fall hatte sie sie als Teil ihrer Familie angenommen. Die Bande zwischen ihnen hatten ihr zahllose Male das Leben gerettet, angefangen beim Überfall auf das Dorf.

So wie immer, wenn sie daran denken musste, trat ihr der kalte Schweiß auf die Stirn. Um sich abzulenken, griff sie nach dem Wasserschlauch. Vorsichtig gab sie ein paar Kräuter dazu und träufelte dem Mann die Flüssigkeit in den Mund. Als er zu husten begann, bedeckte sie seine Lippen mit einer Hand, damit er nicht alles wieder ausspuckte. Das war erledigt. Zufrieden lehnte sie sich zurück, sodass sie wieder neben ihm hockte. Mehr konnte sie für ihn im Moment nicht tun, da das Tageslicht immer weiter schwand. Sollte er den Morgen noch erleben, dann würde sie um ihn herum etwas errichten, das ihn vor der Kälte schützte. Für den Augenblick musste das reichen, was sie für ihn getan hatte.

Sie wickelte sich in das zweite Fell und legte sich neben dem Feuer hin. Tove war bei ihr, Halvar hatte sich zu ihrer anderen Seite niedergelassen. Er wirkte unnahbar, war aber so wachsam wie immer. Er gehörte ebenfalls zu ihrer Familie, dennoch vermutete sie, dass er sie nur seiner Gefährtin Tove zuliebe duldete. Gemeinsam würden sie abwarten, was der Morgen ihnen bringen würde.

Hinter ihr murmelte der Krieger etwas im Schlaf. Die Worte waren kaum zu verstehen und wirkten wie ein Durcheinander aus Namen und Flüchen. Er klang aufgebracht, fast sogar gequält. Es hörte sich auch so an, als würde er sich hin und her wälzen. Durchlebte er in seinem Traum den letzten Kampf noch einmal? Auf jeden Fall bewirkte seine Stimme, dass ihr ein Schauer über den Rücken lief.

Schließlich drehte sie sich um, weil sie sich davon überzeugen wollte, dass er nicht das Fell von sich geschoben hatte. Erschrocken zuckte sie zusammen, als sie sah, dass er sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Sein Blick war so sehr von Schmerz und Traurigkeit geprägt, dass es ihr vorkam, als würde sich eine eisige Hand um ihr Herz schließen.

Gleich darauf machte er die Augen wieder zu.

Wieder lief ihr ein Schauer über den Rücken, wesentlich kälter als der vorangegangene. Einen schrecklichen Moment lang hatte sie das Gefühl gehabt, in ihre eigenen Augen zu schauen.

Langsam atmete sie aus, barg das Gesicht in Toves Fell und fragte sich, ob es richtig gewesen war, diesem Mann das Leben zu retten.

3. KAPITEL

Bin ich tot?

Danr zwang sich, die Augen aufzumachen, und erinnerte sich an das Gefühl der knorrigen Wurzeln, auf denen sein Kopf gelegen hatte. Doch er sah nun nicht mehr den grauen Himmel und Schneeflocken, die ihm im Gedächtnis geblieben waren. Vielmehr befand sich über ihm eine Art Dach aus unzähligen Zweigen, die miteinander verflochten und mit Moos bedeckt worden waren.

War er nun tot oder nicht? Falls ja, dann hatte er seinen Brüdern gegenüber versagt. Dieser Gedanke war an sich schon entsetzlich genug, doch die Tatsache, dass er sich an alles erinnern konnte, war noch viel verheerender. Alles, was er in den letzten drei Jahren getan und empfunden hatte, ging ihm durch den Kopf. Alle Schuld, jedes Versagen, die Selbstverachtung … all seine viel zu vertrauten Begleiter waren immer noch da und machten ihm genauso zu schaffen wie seit eh und je.

Er versuchte, sich hinzusetzen, um ihnen zu entkommen, sackte aber gleich wieder nach hinten, da sich alles um ihn herum zu drehen begann. Ein heftiges Zittern durchfuhr ihn.

Das war sicher nicht Walhalla. Aber er hatte auch gar nicht erwartet, so eine Ehre zu verdienen.

Er hörte leise Schritte näher kommen und drehte den Kopf gerade noch rechtzeitig zur Seite, um die geisterhafte Frau mit den blassblauen Augen aus seinem Traum zu sehen, die zu ihm unter das Dach aus Zweigen kroch. Genau genommen war das Dach mehr so etwas wie ein Tunnel, wie ihm jetzt klar wurde, als er sah, dass es zu beiden Seiten bis zum Boden reichte. Er musste sagen, dass dieser Schutz vor Wind und Wetter meisterlich errichtet worden war.

War das etwa ihr Werk gewesen? Er furchte die Stirn und versuchte zu verstehen, was sich hier eigentlich abspielte. Vielleicht war er ja gar nicht tot. Und womöglich träumte er auch nicht bloß. Jedoch hatte sie für eine echte Frau etwas sehr Unheimliches an sich, da ein Wust aus wilden, weißgoldenen Haaren ihren Kopf umgab und halb ihr Gesicht verdeckte, als sie sich neben ihn hockte. War sie eine Normannin oder eine Gälin? Um den Hals trug sie einen spiralförmigen Torques aus Bronze, jedoch fehlten jegliche Gravuren, die einen Hinweis darauf hätten geben können, wer sie war …

„Habt Ihr das gebaut?“, brachte er krächzend heraus, froh darüber, dass er endlich wieder ein Wort sagen konnte.

Die Frau sah ihn weder an noch antwortete sie ihm. Stattdessen hockte sie über ihn gebeugt da, wickelte eine Art Leinenverband von seinem Arm und nahm etwas von der Wunde, was nach einem Stück Moos aussah. Dann beugte sie sich noch weiter vor, um sich den Schnitt genauer anzusehen.

Danr verkrampfte sich ein wenig, da ihr warmer Atem ihm über die Haut strich. Dann bedeckte und verband sie die Wunde wieder.

„Schneit es immer noch?“, wagte er einen zweiten Anlauf.

Keine Reaktion.

„Wer seid Ihr?“ Dafür wechselte er vom Normannischen ins Gälische, trotzdem war ihr nicht anzusehen, dass sie auch nur eine Silbe verstanden hatte … oder verstehen wollte. Danr zog verwundert eine Augenbraue hoch. Selbst wenn sie ihn verstand, musste ihr doch klar sein, dass er etwas von sich gab. Aber es schien sie einfach nicht zu interessieren. Wie höchst sonderbar!

Angesichts des Aufwands, den sie offenbar betrieben haben musste, um ihm das Leben zu retten, war es ihm ein Rätsel, wieso sie nicht einmal mit einer Geste auf seine Worte reagierte.

„Danr.“ Er hob den unversehrten Arm und legte sich eine Hand auf die Brust. „Ich bin Da…“

Weiter kam er nicht, da auf einmal hinter ihr einer der Wölfe auftauchte. Der war ihr in den Tunnel gefolgt und schaute nun drein, als würde er überlegen, ob Danr sich als Mahlzeit eignete oder nicht.

Instinktiv griff er nach Bitterblade, doch in diesem Moment drehte sich die Frau um, legte eine Hand auf den Kopf des Tiers, gab ein tiefes Summen von sich, das aus der Tiefe ihrer Kehle zu kommen schien, und verließ mit dem Wolf den Unterstand.

Erleichtert atmete er auf, konnte sich von dem Schreck aber gar nicht erholen, da sie gleich darauf wieder zurückkehrte und in der Hand einen Becher mit einer seltsam riechenden Flüssigkeit hielt. Er erkannte das Aroma wieder, obwohl er keine Erinnerung daran hatte, es schon einmal gerochen zu haben. Vielmehr kam es ihm so vor, als wäre es ein Teil seiner Träume gewesen, sofern das überhaupt die angemessene Bezeichnung für das war, was er durchgemacht hatte. Es waren wohl eher Albträume gewesen, die sich mit Schreckensbildern aus seiner Erinnerung gepaart hatten, die sich alle um einen bestimmten Tag vor drei Jahren drehten.

Die Frau hielt ihm den Becher an die Lippen, er begann zu trinken und war froh, dass er dadurch von den Bildern in seinem Kopf abgelenkt wurde. Der Geschmack war nicht angenehm, aber noch erträglich. Außerdem beruhigte das Getränk ihn und sorgte dafür, dass er sich entspannter fühlte.

„Danke.“ Er hoffte, dass sie ihm wenigstens in die Augen sah, wenn sie den Becher wegnahm, aber auch diesen Gefallen tat sie ihm nicht. Es störte ihn, dass es ihm nicht möglich war, mit ihr zu reden, und er somit auch keine Ahnung hatte, was sie wohl dachte. Er war es nicht gewohnt, nicht beachtet zu werden, vor allem nicht von Frauen. Die meisten von ihnen waren meist sehr darauf aus, mit ihm zu reden, doch diese Frau hier war ihm ein Rätsel. Sie versorgte ihn, damit er genesen konnte, aber gleichzeitig sah sie ihn weder an noch gab sie einen Laut von sich.

Wer war sie? Das war auch sein letzter Gedanke, ehe er wieder in einen tiefen Schlaf versank.

Was war das?

Danr starrte wieder das Dach aus Zweigen an und fragte sich, was das wohl für ein Lärm war. Diesmal war er sich ziemlich sicher, dass er nicht tot war. Allerdings kam es ihm so vor, als wäre er im Verlauf der letzten Stunden … oder vielleicht auch Tagen … immer wieder für kurze Zeit aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht. Er konnte nicht sagen, wie lange er jetzt schon hier geschützt lag. Auf jeden Fall fühlte er sich besser und wieder mehr so wie sein altes, vertrautes Ich. Wäre da nur nicht dieses laute Trommeln in seinen Ohren gewesen.

Er drehte sich auf seine unversehrte Seite, weil er von hier entkommen wollte, doch gleich darauf musste er feststellen, dass die Frau neben ihm lag, zusammengerollt unter einem großen Fell. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, ihr Hinterkopf war nur ein paar Fingerbreit von seinem Gesicht entfernt. Vor Schreck blieb er wie erstarrt liegen. Sie hatten doch nicht etwa … 

Nein. Verstand und Körper entrüsteten sich über diesen Gedanken. In seiner derzeitigen Verfassung wäre er dazu gar nicht in der Lage gewesen, und selbst wenn, hatte er doch nach dem Massaker in Maerr einen Schwur abgelegt. Keine Frau sollte je wieder das Bett mit ihm teilen, solange er nicht Wiedergutmachung seinen Brüdern gegenüber geleistet und sich deren Vergebung verdient hatte. Vor allem galt das für Brandt und Alarr. Erst wenn er das geschafft hatte, würde er vielleicht wieder nach einer Frau Ausschau halten, doch selbst dann nicht mehr mit der Einstellung, die er bis vor einer Weile gepflegt hatte. Mit einer Frau das Bett zu teilen, war für ihn nicht mehr als ein angenehmer Zeitvertreib gewesen, doch das würde nicht mehr geschehen. In den letzten drei Jahren hatte er nicht ein einziges Mal einer Frau hinterhergesehen. Allerdings musste er zugeben, dass der Anblick einer Frau, die so dicht neben ihm lag, seinen Körper zu unerwarteten Reaktionen veranlasste.

Was machte sie überhaupt hier neben ihm?

Er beugte sich vor, so gut er konnte, um einen Blick nach draußen zu werfen. Vermutlich war es Morgen, auch wenn er das durch den Tunnel aus Zweigen nicht richtig erkennen konnte. Was er sah, war eine Welt hinter einem grauen Schleier, der die Bäume als dunklere Schemen darstellte. Offenbar war der Schneefall einem beharrlichen Regen gewichen, der wie Hagelkörner auf das Dach aus Zweigen trommelte und in Rinnsalen den Waldboden überzog. Er konnte auch die Überreste eines erloschenen Lagerfeuers sehen. Das erklärte, wieso die Frau bei ihm war.

Autor

Jenni Fletcher
<p>Jenni Fletcher wurde im Norden Schottlands geboren und lebt jetzt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Yorkshire. Schon als Kind wollte sie Autorin sein, doch ihr Lesehunger lenkte sie davon ab, und erst dreißig Jahre später kam sie endlich über ihren ersten Absatz hinaus. Sie hat Englisch in...
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