In den wilden Wogen des Verlangens

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Hellblondes Haar wie eine Nixe, das Korsett gewagt geschnürt, die meerblauen Augen voller Entsetzen: Natürlich rettet Captain Aulay Mackenzie die betörende Lottie Livingstone und ihre Leute, bevor das kleine Boot in den Fluten des Atlantiks versinkt! Obwohl der schottische Seefahrer immer glaubte, vor der Liebe gefeit zu sein, beweist Lottie ihm in seiner Koje sinnlich das Gegenteil. Allerdings darf Aulay bei aller Leidenschaft nicht vergessen, dass seine Geliebte ein gefährliches Geheimnis mit an Bord gebracht hat - schwarz gebrannten Whisky, den sie in Dänemark verkaufen möchte. Käme das heraus, wären sie alle dem Untergang geweiht …


  • Erscheinungstag 08.10.2019
  • Bandnummer 345
  • ISBN / Artikelnummer 9783733736620
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Ann Leslie Tuttle

Bei manchen Autorinnen ist jedes Wort, das sie schreiben, ein Treffer. Andere (ich zum Beispiel) brauchen immer Hilfe. Ich habe schon mit einigen guten Lektorinnen zusammengearbeitet, aber Ann Leslie ist eine der besten. Sie hat mir mit viel Herz und Verstand dabei geholfen, diese Reihe von Geschichten zu erzählen, die in Schottland im 18. Jahrhundert spielen. Ich bin ihr auf ewig dankbar für ihr scharfes Auge.

1. KAPITEL

Lismore Island im schottischen Hochland 1752

Die Männer von Laird Campbell landeten bei Sonnenuntergang am nördlichen Ufer von Lismore. Nachdem sie den schmalen Streifen Sandstrand überquert hatten, schwärmten sie zwischen Felsen und den vielen Kaninchen aus, die auf der Insel zur Plage geworden waren.

Sie waren auf der Suche nach Schwarzbrennern.

Außerdem suchten sie nach einem Schiff, das wahrscheinlich in einer Bucht versteckt lag, die sie noch nicht gefunden hatten. Aber die Brennereien und das Schiff waren hier. Es war alles nur eine Frage der Zeit.

Duncan Campbell, der junge Laird von Lismore, wusste, dass seine hiesigen Pächter – um die zweihundert Livingstones – zusammengekommen waren, um das Fest von Sankt Hans zu feiern, das auch Mittsommer genannt wurde. Diesen Brauch hatten ihre Vorfahren aus Dänemark mitgebracht, als diese die kleine Insel besiedelt hatten.

Gemessen an den Vorstellungen der Campbells waren die Livingstones ewige Zauderer und auch faul… bis vor Kurzem zumindest, denn Duncan hatte erfahren, dass dieser unglückselige Clan ohne Genehmigung damit angefangen hatte, Whisky zu brennen. Die Gerüchte machten in Oban und Port Appin die Runde, wo sie auch Duncan zu Ohren gekommen waren. Anscheinend prahlten die Livingstones auch gern. Den Gerüchten zufolge hatten sie ein altes dänisches Schiff flottgemacht, auf dem Platz für einige Fässer und ein paar Männer war.

Da es den Livingstones an rechtschaffenem Ehrgeiz fehlte, glaubten die Campbells, dass ihr eigener Clan aus anderem, besserem Holz geschnitzt war. Sie waren Führungsfiguren in Schottland, Säulen der Gemeinschaft der Highlander, Priester der Gerechtigkeit und sie brannten ihren Whisky mit der dazugehörigen Genehmigung, um ihn anschließend mit guten Gewinn zu verkaufen, und zwar legal. Sie hatten kein Verständnis für Schwarzbrenner, die ihnen das rechtmäßige Geschäft verdarben. Sie hielten es sogar für eine Beleidigung, wenn jemand ihrem erstklassigen Brand einen billigeren Fusel vorzog. Sie verabscheuten die illegale Konkurrenz sogar so sehr, dass sie keine Mühe scheuten, sie zu finden und ihr das Handwerk zu legen. Meistens mit Hilfe von Feuer.

Die Campbells, die sich den Strand entlang anschlichen, konnten die Stimmen der Livingstones hören, die zum Klang einer Fiddle sangen und lachten. Wenn es dunkel wurde, waren diese Heiden sicher betrunken und zündeten ein Lagerfeuer an, um das sie dann tanzten. Verdammte Trunkenbolde. Aber leider hatten die Campbells auf ihrer Suche gerade die ersten Schritte gemacht, als sie ein warnendes Hornsignal hörten. Der Klang war so schrill, dass er die Kaninchen aufschreckte, die in alle Richtungen davonhoppelten. Duncans Herz machte sogar einen Sprung. Er hatte seine Gedanken noch nicht wieder beieinander, da sausten auch schon die ersten Schrotkugeln über ihn hinweg.

Duncan seufzte gen Himmel. Er sah seinen Begleiter Edwin MacColl an, dessen Clan den südlichen Teil von Lismore bewohnte und der weder jemals mit der Pacht in Rückstand geriet noch Whisky brannte. Duncan hatte den sehr zögerlichen Schotten unter Druck gesetzt, ihm zu helfen, indem er ihm damit gedroht hatte, ihm andernfalls die Pacht zu erhöhen. „Das war’s dann, oder?“, fragte er MacColl, während der nächste Schuss knallte und den Sand aufspritzen ließ, als er am Strand einschlug. „Sie haben uns gesehen und warnen jetzt die anderen.“

„Aye.“ MacColl nickte zustimmend. „Die passen gut auf alles auf, was ihnen gehört. Wie alle Schotten“, fügte er vielsagend hinzu.

Campbell hatte die Stichelei zwar verstanden, aber er kam nicht mehr dazu, MacColl daran zu erinnern, dass illegaler Whisky schlecht war. Oben auf der Hügelkuppe waren nämlich vier Reiter mit Gewehren aufgetaucht, die sie auf die Brust der beiden richteten. Natürlich wurden sie von Miss Lottie Livingstone angeführt, der Tochter des Chiefs, die auf dieser Insel tun und lassen konnte, was sie wollte. Wenn sie seine Tochter gewesen wäre, hätte Campbell sich ihrer angenommen und diesem wilden Benehmen sofort ein Ende gesetzt.

„Laird Campbell!“, rief sie fröhlich und trieb ihr Pferd den grasbewachsenen Abhang hinunter zum Strand. „Sie sind ja schon wieder hier!“

Campbell stöhnte. „Warum ist es bloß so schwer, Korruption und ungesetzliche Machenschaften auszumerzen?“, flüsterte er MacColl zu. „Warum ist das schönste Mädchen in ganz Schottland gleichzeitig das widerspenstigste und wildeste?“

Mr. MacColl konnte die Frage offensichtlich nicht beantworten, und er wandte sogar den Kopf ab, sodass Duncan sein Gesicht nicht sehen konnte. Duncan verdrehte die Augen und sagte zu der Frau, die sich wie eine verwilderte Katze auf dieser Insel herumtrieb: „Machen Sie mal halblang, aye, Miss Livingstone? Ich bin immer noch Ihr Laird!“ Eigentlich brauchte er das niemandem zu erklären.

„Und wie kann ich Ihnen helfen, Laird?“, fragte sie.

„Nicht Sie, Mädchen. Ich will mich mit Ihrem Vater unterhalten.“

Ihre Augen funkelten, und sie sagte mit einem strahlenden Lächeln: „Oh, da wird er sicher begeistert sein.“

Manchmal kicherte dieses Mädchen so, wenn sie mit ihm redete, dass Duncan sich fragte, ob sie sich über ihn lustig machte oder ob sie einfach nicht ganz richtig im Kopf war. Er rief seine Leute zu sich und winkte ihnen, dass sie ihm folgen sollten, als er und MacColl den Hügel hinauf zum Anwesen der Livingstones stapften.

Wenn sie die Destille schon nicht finden konnten – und Livingstone würde niemals zugeben, dass es sie überhaupt gab –, dann würde Campbell ihn bei Gott wenigstens fragen, was mit den Pachtzahlungen war, die er ihm noch schuldete. Die ganze Mühe sollte nicht umsonst gewesen sein.

2. KAPITEL

Auf der Nordsee, zwei Wochen später

Es wehte ein schwacher Westwind, der jedoch dichte Wolken mitbrachte. Die Fahrt der Reulag Bahlhaire war bislang ohne Störungen verlaufen. Das beruhigende Heben und Senken des Schiffsbugs in den anrollenden Wellen bewies immer wieder, dass alles in bester Ordnung war.

Captain Aulay Mackenzie hörte zu, wie seine Leute sich gegenseitig Kommandos zuriefen, während sie die Segel bemannten. Er schloss die Augen und spürte die Seeluft als feinen Sprühregen auf seinem Gesicht. Der Wind zauste sein Haar. An Tagen wie diesem – aber natürlich waren ihm die strahlenden Tage voller Sonnenschein lieber – war er ganz er selbst. Hier fühlte er sich zu Hause. Er hatte sein Schiff, seine Laune und seine ganze Welt unter Kontrolle. Dies war wohl der einzige Ort auf der Welt, an dem er dieses Gefühl hatte.

Es war viel zu lange her, dass er das letzte Mal in See gestochen war – ein paar Monate, das war für ihn wie ein ganzes Leben. Der Alltag auf dem Familiensitz Balhaire machte Aulay zu schaffen. Er hatte fast sein ganzes Erwachsenenleben auf See verbracht, und an Tagen, an denen er nicht auf seinem Schiff war, fehlte ihm etwas. Auf Balhaire wusste er nichts mit sich anzufangen. Sein Vater war Chief des Mackenzie-Clans. Sein älterer Bruder, Cailen, war der Verwalter seines Vaters und vertrat ihn dem Rest der Welt gegenüber. Rabbie, Aulays jüngerer Bruder, kümmerte sich um das Tagesgeschäft auf den ausgedehnten Ländereien von Balhaire, gemeinsam mit seiner jüngsten Schwester Catriona. Seine Mutter und seine Schwester Vivienne versorgten Sozialfälle. Aber Aulay? Für ihn gab es an Land keine Aufgabe, nichts, mit dem er seinen Tag hätte ausfüllen können. Er war dort völlig nutzlos.

Sein Vater hatte als junger Mann den Grundstein für den Seehandel der Mackenzies gelegt, und unter seinem wachsamen Blick war er aufgeblüht, während seine Söhne langsam heranwuchsen. Die Schlacht von Culloden vor beinahe sieben Jahren hatte ihnen einen Dämpfer verpasst. Nach der grausamen Niederschlagung des Jakobitenaufstandes hatten zuerst die englischen Truppen unter der Bevölkerung gewütet und dann die Armut. Nach dem Wiederaufbau verlegten sich die Bauern mehr auf die Schafzucht auf dem weitläufigen Weideland und verdienten ihren Lebensunterhalt nicht mehr nur mit dem Ackerbau auf ihren kleinen Höfen. Nicht wenige Highlander suchten ihr Glück sogar in Glasgow und noch weiter weg.

Die Mackenzies von Balhaire hielten sich aus den Auseinandersetzungen heraus, verloren aber trotzdem rund die Hälfte ihres Clans. Ihr Vieh und ihr zweites Schiff wurden von der englischen Krone beschlagnahmt. Aber sie konzentrierten sich auf das ihnen verbliebene Schiff, genau wie auf den schrumpfenden Handel. Nach den letzten Reparaturen allerdings war sein Vater drauf und dran gewesen, das Handelsgeschäft ganz aufzugeben. „Es hat doch keinen Sinn“, sagte er. „Die Seefahrt kostet uns mehr als sie einbringt, aye? Wir haben ganz schön was an die MacDonalds verloren, so viel ist sicher.“

Wenn er so redete, bekam Aulay es mit der Angst. Er hatte keine Ahnung, wer er ohne sein Schiff war. Er wusste nicht, was er dann tun sollte.

Doch dann geschah ein Wunder. Aulay, der den Verlust von einigen Handelsgeschäften zu verkraften hatte, suchte nach neuen Möglichkeiten. Er schloss einen Vertrag mit William Tremayne aus Port Glasgow. William war zwar Engländer, aber er hatte Waren, die er loswerden wollte, und brauchte ein Schiff, mit dem er sie transportieren konnte. Aulay war Kapitän mit einem leeren Schiff. Es passte perfekt zusammen. Aber trotzdem waren sein Vater und seine Brüder gegen dieses Geschäft. Sie fanden das Risiko zu hoch, wenn er Ware für jemand anderen transportierte. Aulay versicherte ihnen, dass es kein Risiko gab. War er etwa kein guter Kapitän? Hatte er nicht unzählige Male einen Frachtraum voller Waren sicher ausgeliefert und auch wieder nach Hause gebracht? Er hatte sich am Ende durchgesetzt, aber sein Vater war ganz offensichtlich nach wie vor skeptisch.

Jetzt befand er sich auf seiner Jungfernfahrt für Tremayne. Er hatte Wolle und gepökeltes Rindfleisch geladen und war auf dem Weg nach Amsterdam und wollte anschließend weiter nach Cadiz, wo sie für den Rückweg Baumwolle laden sollten.

Die Männer an Bord waren gut gelaunt, weil der Seehandel der Mackenzies ihren Lebensunterhalt sicherte und sie arbeiten konnten. Also hatte Aulay auch gute Laune. Er war lange nicht in Amsterdam gewesen und er kannte dort eine Frau mit Augen, die so schwarz waren wie Obsidian und einem üppigen Mund, der er einen Besuch abstatten wollte.

Er dachte gerade daran, wie sie sich unter ihm bewegte, als er von einem lauten Knall aus seinen Gedanken gerissen wurde. Es klang ein bisschen wie ein Donnerschlag.

„Licht an Steuerbord, Captain!“, rief einer der Männer vom Ausguck herunter.

Aulay drehte sich nach der Steuerbordseite um, woraufhin sich Beaty, sein Bootsmann, neben ihn stellte. Was er sah, war nicht wirklich ein Licht, eher ein Glühen auf einem anderen Schiff. „Da brennt es, aye?“, fragte er Beaty, der durch ein Fernrohr spähte.

„Aye“, brummte Beaty.

„Der Wind frischt auch auf“, sagte Iain der Rote, der an die Reling getreten war, um sich die Sache anzusehen. „Wenn der noch stärker wird, dann können sie nichts dagegen tun, dass sich das Feuer ausbreitet.“

„Oh, sie sind auf Kurs zur Küste“, sagte der runzlige alte Haudegen Beaty. Man durfte sich von seinem Äußeren nicht täuschen lassen – er war stämmig und rotgesichtig, aber immer noch genauso flink wie vor vierzig Jahren als junger Mann. Er schlang einen Arm um ein dickes Seil in den Wanten und stemmte sich hoch auf eine der Sprossen am Hauptmast, dabei hielt er das Fernrohr in der anderen Hand, um sich die Sache genauer anzusehen. „Die macht bestimmt fünf oder sechs Knoten, wenn der Kapitän nicht seinen verdammten Kopf verliert, dann schaffen sie es an Land, ehe es zu spät ist.“

„Kannst du eine Flagge erkennen?“, fragte Aulay.

„Aye, die des Königs, Captain. Das Schiff sieht nicht so aus, als ob es groß genug für die Navy wäre, aber sie fährt unter dem Union Jack.“

Aulay streckte die Hand nach dem Fernrohr aus. Er sprang mit einem sicheren Schritt auf die Wanten, den man nur bekommt, wenn man sein ganzes Leben auf See verbracht hat, und spähte in das immer dunkler werdende Grau von Himmel und Meer. Er konnte Männer erkennen, die die Segel trimmten, um besser in den Wind zu kommen, während andere Eimer ins Wasser tauchten und versuchten, das Feuer zu löschen. Normalerweise brach nicht einfach so Feuer auf einem Schiff aus, nicht wenn nicht der Blitz eingeschlagen hatte oder etwas in der Art, aber darauf deutete überhaupt nichts hin. Aulay musterte durch das Fernrohr den Horizont in der dem brennenden Schiff entgegengesetzten Richtung und versuchte, die Wellen vom Himmel zu unterscheiden.

„Aye, da ist sie ja“, sagte er. Er hatte ein anderes, kleineres Schiff entdeckt. Es sah so aus, als hätte es die obere Hälfte seines Hauptmastes verloren. Er zeigte in die Richtung und gab Beaty das Fernrohr, dann sprang er von den Wanten herunter.

„Ich würde sagen, das ist ein Holländer“, meinte Beaty, nachdem er sich die Sache angesehen hatte.

„Holländer!“, rief Iain, den der Gedanke zu amüsieren schien. „Was haben die denn hier draußen verloren? Die sollen mal schön an ihrer Küste bleiben, wo sie hingehören.“

„Wir sind doch gar nicht so weit weg von der Küste“, sagte jemand anderes. „Vielleicht ist sie ja vom Kurs abgekommen, aye?“

Aulay blickte in die Runde seiner Männer, die sich inzwischen versammelt hatten, um einen Blick auf das Schiff zu werfen. Es war ein gutes Gefühl, wieder gemeinsam mit ihnen auf See zu sein. Er bekam noch bessere Laune und Lust auf ein kleines Abenteuer. „Sollen wir uns das mal ansehen?“

Die Reulag Balhaire hatte noch nie ein Schiff in Seenot gerettet. Es galt überhaupt als unklug, sich einem anderen Schiff zu nähern, wenn man nicht von einer Kanonenkugel getroffen werden wollte. Aber ihre Neugier war nun einmal geweckt. Das brennende Schiff war inzwischen nicht mehr als ein Punkt in weiter Ferne, deswegen setzten sie Kurs auf die Steuerbordseite des kleineren Schiffes. Dabei richteten sie sicherheitshalber eine Kanone auf dessen Vorderdeck.

Aulay beobachtete das kleinere Schiff, während es langsam in Sicht kam. Seine Umrisse waren vor dem wolkenverhangenen Himmel kaum zu erkennen. Erst als sie beinahe längsseits waren, sahen sie, dass es Schlagseite hatte.

Iain der Rote beobachtete es aufmerksam, während sie sich näherten. „Das ist ja ein Bilander“, sagte er.

„Ein Bilander!“, prustete Beaty. „So ein Blödsinn!“

Ein Bilander eignete sich eigentlich nicht für das offene Meer. „Kannst du eine Flagge erkennen?“, fragte er.

„Nein.“ Iain der Rote schwieg und fing dann an zu lachen. „Guck dir das an, wie die versuchen, das Segel zu reffen.“ Er lachte laut auf. „Die sehen aus wie Kinder, die um einen verdammten Maibaum herumspringen! Guck dir mal an, wie die versuchen, die Leinen von den Wanten zu entknoten, aye? Die sind ja völlig durcheinander – ups, das war’s, einer von ihnen ist auf seinem Hintern gelandet!“

Die Männer drängten sich an der Reling, um sich das Spektakel anzusehen und lachten über die Ungeschicklichkeit der Mannschaft auf dem anderen Schiff. „Aye, gib mal her, Iain, wir wollen auch mal gucken“, sagte einer und ließ dann das Fernrohr kreisen. Bald darauf hielten sich alle die Bäuche vor Lachen.

Das Fernrohr kam wieder bei Iain an, aber als er es ans Auge hielt, hörte er auf zu lachen. „Diah, dè an diabhal?“, rief er und ließ das Instrument sinken. Dann drehte er sich mit weit aufgerissenen Augen zu Aulay um.

„Was ist denn?“, fragte Aulay, der einen leisen Schrecken verspürte. Vielleicht hatte jemand eine Waffe auf sie gerichtet oder die da drüben fuhren unter Piratenflagge.

„Eine Dame“, sagte Iain, als hätte er noch nie vorher eine Frau gesehen.

Eine Dame? Es war an und für sich nicht ungewöhnlich, wenn eine Frau mit auf hoher See war; die Ehefrauen von Kapitänen fuhren manchmal mit ihnen, aber eine Dame in gehobener Stellung wäre wohl kaum auf einem heruntergekommenen Kahn wie diesem unterwegs.

„In einem richtigen Kleid und allem drum und dran“, sagte Iain voller Ehrfurcht in der Stimme.

Aulay hatte keine Ahnung, was für Iain ein richtiges Kleid war, deswegen streckte er die Hand nach dem Fernrohr aus, um sie sich selbst anzusehen. Er konnte sie kaum erkennen, aber an der Reling stand definitiv eine Frau und winkte mit einer weißen Fahne, die kaum heller als ihr langes Haar war, das ihr offen ums Gesicht flatterte. Neben ihr standen einige Männer, die sich an die Reling klammerten und voller Verzweiflung in Richtung seines Schiffes blickten.

Aulay befahl Beaty, sie näher heranzubringen, und als nur noch ein schmaler Streifen Wasser zwischen den beiden Schiffen lag, hörten die Männer damit auf, wie wild an den Segeln zu zerren und ließen stattdessen ein Beiboot zu Wasser. Sie stellten sich dabei ebenso ungeschickt an wie vorher mit den Segeln, doch dann kletterten vier Männer über eine Strickleiter in das kleine Boot und ruderten nach Leibeskräften auf die Reulag Balhaire zu. Die Frau blieb mit ein paar Männern an Deck zurück. Einer von ihnen war groß wie ein Berg. Er überragte die anderen um einen ganzen Kopf.

Als das Beiboot sie erreicht hatte, hielt sich einer der Männer an der Jakobsleiter fest, um das Boot stabil zu halten. Ein anderer richtete sich auf und stellte sich breitbeinig hin, damit er nicht umkippte. „Madainn mhath!“, rief er und machte mit einer affektierten Handbewegung eine tiefe Verbeugung. Dabei wäre er beinahe gestürzt, als eine kleine Welle ihn unerwartet traf.

„Schotten“, sagte Beaty. „Das ist ja schon mal was.“

„Wir brauchen dringend Ihre Hilfe, ehrwürdige Herren!“, rief der Mann, dem es inzwischen gelungen war, das Gleichgewicht wiederzufinden. „Wir sind Piraten zum Opfer gefallen, aye?“ Er hatte einen seltsamen Tonfall, als ob er ein Stadtausrufer wäre, der einer Menschenmenge eine wichtige Neuigkeit zu überbringen hat.

Soweit Aulay sehen konnte, hatten die Männer keine Schwerter oder Feuerwaffen. Sie schienen alle Hände voll damit zu tun zu haben, das Beiboot am Kentern zu hindern. „Das Schiff fährt unter königlicher Flagge“, antwortete er.

Der Mann, der gesprochen hatte, wirkte erschrocken. Er hockte sich ins Boot, um sich mit den anderen Männern zu beraten. Sie schüttelten alle den Kopf und fingen gleichzeitig an zu reden, bis der Mann wieder aufstand und sagte: „Als die auf uns gefeuert haben, hatte es keine solche Flagge, Sir! Sie haben ohne Grund auf uns geschossen!“ Er legte sich eine Hand an den Brustkorb, um zu zeigen, wie ernst es ihm war.

„Das kommt mir merkwürdig vor“, murmelte Iain.

„Wieso habe ich das Gefühl, dass mir hier Theater vorgespielt wird?“, fragte Aulay wie beiläufig. „Was denkst du, Beaty? Könnte ein Freibeuter eine königliche Flagge in die Hände kriegen?“

„Eher einer von denen, die auf eigene Rechnung Fracht transportieren“, sagte Beaty. Solche Schiffe gaben oft vor, im Auftrag der Krone unterwegs zu sein. „Die sind sich für ein bisschen Piraterie nebenher nicht zu schade, oder? Könnte doch sein, dass die die Flagge einfach irgendwo haben mitgehen lassen.“

Das war möglich. Im Nachhinein ließ sich kaum feststellen, wer wen angegriffen hatte, wenn sie es nicht mit eigenen Augen gesehen hatten. Aber es erschien Aulay unwahrscheinlich, dass dieses Schiff hier Opfer von Piraten geworden sein sollte. Es war viel zu klein, als dass sich darauf irgendetwas Wertvolles hätte befinden können.

Aulay beugte sich über die Reling. „Was haben Sie an Bord, das einen Angriff wert war?“

„Nur eine Dame, Captain!“

„Und wer ist diese Dame?“

Auf diese Frage hin entbrannte eine hitzige Auseinandersetzung auf dem kleinen Beiboot.

„Was denn jetzt? Die wissen nicht, wie die Dame heißt?“ Iain schnaubte.

Der Mann richtete sich wieder auf, stemmte eine Faust in die Taille und rief: „Die Lady Larson, Sir! Wir bringen sie nach Hause zu ihrer kranken Großmutter!“ Er schwieg einen Augenblick, bevor er hinzufügte: „Es ist eine Reise von schwerer, unerträglicher Trauer, denn es heißt, dass die Großmutter der Dame es wahrscheinlich nicht überleben wird!“

Larson. Diesen Namen hatte Aulay noch nie gehört.

„Kranke Großmutter, von wegen“, murmelte Beaty.

Aulay war ebenfalls noch immer misstrauisch. Diese Männer schienen keine Ahnung zu haben, was sie da eigentlich taten, wen sie an Bord hatten, ja nicht einmal wie sie die Segel setzen sollten, um den Weg zur guten alten Großmutter fortzusetzen. Außerdem hatte der Mann die merkwürdige Angewohnheit, so zu reden, als wäre er Schauspieler in einem Theaterstück. „Wo wollen Sie denn hin?“, rief Aulay.

„Nach Dänemark, Captain. Ihre Großmutter ist Dänin, aber wir sind Schotten wie Sie.“

„Ich habe noch nie einen vernünftigen Dänen getroffen“, sagte Iain nachdenklich. „Keinen einzigen.“

„Aye, sie sieht verdammt vornehm aus“, sagte einer der Seeleute, während er durchs Fernrohr spähte. Der Mann neben ihm boxte ihn in den Oberarm und wollte ihm das Fernrohr abnehmen, als ob er schon viel zu lange darauf gewartet hätte.

Offensichtlich hatten die Männer es weitergegeben, um sich einer nach dem anderen die Frau anzusehen, während Aulay, Beaty und Iain sich mit den Männern in dem kleinen Beiboot befasst hatten.

„Segeln Sie schon lange?“, erkundigte sich Beaty.

„Einen Tag“, entgegnete der Mann.

„Nein Junge, ich wollte wissen, was Sie für ein Seemann sind!“

„Also das ist es ja gerade, Sir, aye? Wir sind keine Seeleute. Keiner von uns, außer unserem Captain. Wir sind christliche Soldaten auf einer Gnadenreise. Wir haben alle unsere Sinne beisammen, aye, und guten Willen noch dazu. Aber wir sind eigentlich keine Seeleute.“

„Das ist doch alles äußerst seltsam“, sagte Beaty leise und zog die buschigen Augenbrauen zusammen.

„Denke ich auch.“ Aulay nickte.

Billy Botly, der Jüngste und Kleinste von seinen Leuten, bekam das Fernrohr als Letzter und musste es sich regelrecht erkämpfen. Er war so schmal, dass ein einziger heftiger Windstoß ausgereicht hätte, ihn über Bord zu werfen, wenn er nicht aufpasste, und als er jetzt ein Bein über die Reling schwang, um sich das andere Schiff genauer anzusehen, hatte Aulay Angst, dass dieser Augenblick gekommen war. „Aye, aus sehr guter Familie“, sagte der Junge hingerissen.

Aulay streckte die Hand über die Schulter des Jungen hinweg nach dem Fernrohr aus, um sich die Sache selbst anzusehen. Die Dame stand noch immer da und drückte sich die weiße Fahne an die Brust. Sie hatte beide Hände über dem Stück Stoff verschränkt, als hätte sie Angst, dass sie es sonst verlieren könnte.

Er ließ das Fernrohr sinken und sah zu dem Mann hinab. „Aye und was wollen Sie dann von uns? Ich habe keine Zeit, irgendjemanden zu seiner kranken Großmutter zu bringen.“

Seine Leute pflichteten ihm mit leisem Lachen bei.

„Das Schiff, Sir, es hat ein Leck, wir schaffen es nicht bis morgen früh.“

„Dann hätten Sie eben kein Schiff nehmen dürfen, das nicht für das offene Meer gedacht ist“, erwiderte Beaty. Offensichtlich war er der Einzige, den der Anblick einer hübschen Dame in Nöten überhaupt nicht berührte.

„Aye, aber jetzt haben wir die Dame und ihren Vater an Bord, der bei dem Gefecht verletzt worden ist. Es ist niemand da, der sich um sie kümmert.“

„Und jetzt soll ich mich um sie kümmern?“, fragte Aulay und brach mit seinen Leuten zusammen in Gelächter aus. Er war auf dem Weg nach Amsterdam und durfte keine Zeit verlieren. Diese Reise war wichtig für seine Familie und er war davon überzeugt, dass am Ende lukrative Geschäfte für die Mackenzies herausspringen würden, auch wenn sein Vater daran zweifelte. Nach vielen Jahren, in denen sie gerade so über die Runden gekommen waren, war Aulay entschlossen zu beweisen, dass sie noch immer eine Rolle im Seehandel spielen konnten.

„Wir müssen nur bis in den nächsten Hafen, Sir, das reicht schon“, rief der Mann von unten und umklammerte dabei unwohl den Saum seiner Weste. Sie wirkten alle aufgeregt und sahen immer wieder verstohlen zu ihrem Schiff hinüber, als hätten sie Angst, dass es untergehen würde, wenn sie ihm den Rücken zukehrten.

„Sie können wieder an Land sein, ehe es dunkel ist“, rief Aulay ihnen zu. „Fahren Sie einfach auf demselben Weg wieder zurück, auf dem Sie gekommen sind, aye? Das haben Ihre Angreifer auch getan. Sie haben ja noch zwei gute Segel, und wenn Sie die richtig setzen, erledigt der Wind den Rest. Gun déid leat“, fügte er noch hinzu, um ihnen Glück zu wünschen, ehe er sich von der Reling abwandte. Er hatte sich wirklich lange genug mit diesem ungewohnten Anblick auf See aufgehalten.

„Captain, Sir!“, rief ihm der Mann aufgeregt nach. „Dafür läuft es viel zu schnell voll Wasser, sehen Sie das denn nicht? Es ist ein Wunder des Himmels, dass Sie überhaupt vorbeigekommen sind, und wir danken unserem Schicksal dafür! Wir hatten schon Strohhalme gezogen, wer von uns die Dame und ihren Vater im Beiboot mitnimmt und wer von uns mit dem Schiff untergeht! Wollen Sie uns jetzt wirklich einfach im Stich lassen?“

„Aye, Captain, es sinkt“, sagte Billy eifrig.

„Und was ist mit dem da los?“, fragte Iain und betrachtete dabei neugierig den Mann in dem Beiboot. „Wieso redet der so geziert?“

Das war allerdings eine gute Frage, und wer fuhr überhaupt ohne erfahrene Leute aufs offene Meer? Das alles kam ihm sehr seltsam vor, aber während Aulay noch darüber nachdachte, hörten sie die Frau stöhnen. Der Wind hatte aufgefrischt, und der Bilander war von einer hohen Welle erfasst worden. Jetzt hatte das Schiff sogar noch mehr Schlagseite. Er hob das Fernrohr. Die Frau klammerte sich an den Arm des Riesen neben ihr.

Verdammt nochmal. Das Schiff war im Begriff zu sinken.

„Wie viele sind Sie denn?“

„Zehn!“, sagte der Mann.

Einer der anderen Männer boxte ihn ins Bein und sagte etwas. Sie wechselten ein paar Worte und dann verbesserte er sich: „Verzeihen Sie bitte, Sir, wir sind nur acht!“

„Sind die so dumm, dass sie nicht einmal die Seelen auf ihrem Schiff zählen können?“, murmelte Aulay.

„Dummköpfe!“ Beaty schüttelte verächtlich den Kopf.

Aulay rang mit sich. Er war ein Mann der Seefahrt, und ihm war klar, dass die See einfach manchmal die Oberhand hatte. Ihnen allen … mit Ausnahme von Billy vielleicht … war bewusst, in welche Gefahr sie sich jedes Mal begaben, wenn sie die Segel setzten. Dieses Risiko machte ja gerade den Reiz aus. Aber irgendetwas an dieser Frau, die sich an den Arm des Mannes neben ihr klammerte, nagte an Aulays Gewissen. Das Bild seiner jüngeren Schwester Catriona tauchte vor seinem inneren Auge auf, und er schauderte innerlich bei dem Gedanken, dass sie in die Lage dieser Dame geraten könnte. „Nun gut“, sagte er. „Bringen Sie die Dame und Ihre Leute an Bord. Und vergessen Sie nicht Ihre Vorräte, aye? Ich habe nicht vor, Sie alle durchzufüttern. Außerdem müssen Sie die Überfahrt abarbeiten.“

„Selbstverständlich. Danke, Captain, vielen Dank“, sagte der Mann und winkte schnell seinen Männern, dass sie rudern sollten.

Als sie das kleine Beiboot wendeten und dabei an den Bug von Aulays Schiff stießen, seufzte Beaty laut und sah Aulay von der Seite an.

„Was ist? Soll ich die Dame vielleicht ertrinken lassen?“, fragte Aulay.

„Nein!“, rief Billy.

„Nein“, sagte auch Beaty, allerdings etwas zögerlicher. „Aber das sind einfach zu viele, und einer von denen ist so ein Riese, dass er Ärger für drei machen kann. Wo sollen wir die denn unterbringen? Haben wir genug Wasser für alle? Und was ist mit diesen Hornochsen?“, fragte er und zeigte dabei auf Aulays Männer, die immer noch an der Reling standen und sich die Köpfe über die Frau heiß redeten. „Die tun so, als ob sie noch nie ein Mädchen gesehen hätten.“

„Wir bringen sie unter Deck und stellen eine Wache auf, aye?“, sagte Aulay.

„Sollen wir Waffen ausgeben?“, fragte Beaty.

Aulay sah zu dem manövrierunfähigen Schiff hinüber. „Die stellen keine Gefahr für uns dar.“

Beatys gemurmelte Antwort war nicht zu verstehen.

Sie mussten zweimal hin und her fahren, ehe alle an Bord waren. Als die ersten Männer mit einer Kiste voll Vorräte ankamen, fragte Beaty wütend: „Warum haben Sie die Dame nicht zuerst herübergebracht, wenn Sie solche Angst haben, dass sie ertrinkt?“

„Sie will auf dem Schiff bleiben, bis ihr Vater in Sicherheit ist“, erwiderte der Mann, der schon vom Beiboot aus mit ihnen geredet hatte.

Sie sahen der zweiten Bootsladung Männer zu, und als alle ohne irgendwelche Zwischenfälle an Bord waren, stellten sich alle gemeinsam in einer Traube an die Reling und ließen das Beiboot nicht aus den Augen, das sich wieder auf den Weg zu dem führerlos treibenden Schiff machte.

Keiner von ihnen kam Aulay vor wie ein Seemann. Die meisten konnten sich an Bord kaum auf den Beinen halten. Sie stolperten und stießen jedes Mal zusammen, wenn das Schiff in den Wellen schaukelte. Anschließend suchten sie nach einem festen Halt. Das war alles mehr als seltsam – das Übersetzen dauerte zu lange. Die Reulag Balhaire musste immer wieder wenden, damit sie sich nicht zu weit von dem kleineren Schiff entfernte. Aulay sah zu, wie die übrigen Schiffbrüchigen sich auf den Weg machten. Der riesengroße Mann warf mit einer Hand eine Seilschlinge auf das wartende Beiboot. Als Nächstes kletterte die Dame erstaunlich behände die Strickleiter hinunter. Sie sprang an Bord, ohne sich um die helfenden Hände zu kümmern, die ihr entgegengestreckt wurden. Dann wandte sie sich dem Riesen zu. Er kletterte ebenfalls hinunter, aber viel unbeholfener – er geriet ins Wanken, denn er schien Schwierigkeiten zu haben, seine riesigen Füße in die Sprossen der Jakobsleiter zu bekommen. Als er schließlich an Bord war, mussten alle anderen sich verteilen, damit das Beiboot nicht unter seinem Gewicht kenterte. Das Boot selbst schien sofort tiefer im Wasser zu liegen, als sie die beschwerliche Überfahrt begannen.

Als sich das kleine Boot dem Schiff der Mackenzies näherte, verrenkten sich alle die Hälse, um einen Blick auf die Frau zu werfen. Sie hielt den Kopf gesenkt und kümmerte sich um einen Mann, der verletzt zu sein schien. Das Einzige, was an ihr auffiel, war ihr offenes Haar. Es war lang und beinahe so weiß wie Schnee, ein Leuchtfeuer vor dem grauen Himmel und der rauen See.

Als das Boot längsseits lag, gab es Gedränge unter Aulays Männern, weil jeder von ihnen derjenige sein wollte, der der Dame half, an Bord zu kommen. Wenn sie zur Seite geschoben wurden, hingen sie über der Reling, um besser sehen zu können. Als Erste kamen zwei Männer an Bord, die anschließend den verletzten Mann mit Hilfe von Seilen an Bord hievten. Es gab große Aufregung, als der Mann in eine der Kabinen getragen wurde. Aulays Männer schenkten dem Mann jedoch kaum Beachtung – sie interessierten sich mehr für den Aufstieg der Frau. Ein paar von ihnen hockten sich sogar wie die Gockel auf die Reling, während sie ihr aufmunternde Worte zuriefen.

Aulay sah auf ihren Scheitel hinab, als sie über die Reling an Deck sprang. „Madainn Mhath, sagte sie in einem Ton, als wäre sie zu einer Teegesellschaft eingeladen. Die Männer drängten sich um sie.

„Also, jetzt lasst der Dame doch ein bisschen Luft zum Atmen“, sagte Iain der Rote wütend. „Billy, Junge, rück der Lady doch nicht so auf den Pelz.“

„Ist Ihnen was passiert?“, fragte Fingal MacDonald, einer von Aulays Männern.

„Alles in Ordnung, vielen Dank.“ Sie hatte einen angenehmen schottischen Akzent. „Macht es Ihnen etwas aus, Sirs, ein paar Schritte zurückzutreten? Ich kann mich ja kaum bewegen.“

„Aus dem Weg, aus dem Weg!“, rief Iain ihnen zu.

Die Mannschaft kam in Bewegung, aber keiner seiner Männer gönnte dem anderen auch nur einen Fußbreit. Iain schob einen Mann zur Seite und als er das tat, konnte Aulay einen kurzen Blick auf die zarte Hand werfen, mit der die Frau sich das Haar aus dem Gesicht strich.

„Also sind Sie nicht verletzt?“, fragte Beaty und dabei war in seinem Ton nichts mehr von seinen ursprünglichen Vorbehalten gegen diese Rettung zu hören.

„Oh, aye, danke, ich bin mit dem Schrecken davongekommen“, entgegnete sie.

„Sie haben ziemlich viel Blut auf Ihrem Kleid“, sagte Beaty.

„Habe ich das?“

Ihre melodische Stimme klang seltsam, sie hatte ganz klar einen schottischen Akzent, sprach aber wie eine echte Engländerin. Sie erinnerte Aulay ein wenig an seine eigene Mutter, die in England aufgewachsen war, aber inzwischen seit beinahe vierzig Jahren in Schottland lebte. Ihr Akzent klang ganz ähnlich.

„Aye, Sie haben recht“, fuhr sie erstaunt fort. „Aber das ist nicht so wichtig – ich mache mir mehr Sorgen um meinen Vater.“

In diesem Augenblick stolperte der Riese über die Reling, und es fühlte sich beinahe so an, als ob das ganze Schiff ein bisschen Schlagseite bekäme. „Was soll ich jetzt tun, Lottie?“, fragte er. „Ich kann mich nicht erinnern, was ich jetzt tun soll.“

Dieser Riese von einem Mann klang wie ein Schwachkopf.

„Bleib in meiner Nähe“, antwortete sie freundlich. „Sie sind alle sehr nett“, sagte sie zu Aulays Männern. „Ich sollte mich bei Ihrem Captain bedanken, aye? Sagen Sie mir, wer es ist?“

Die Männer schoben einander zur Seite und murmelten Entschuldigungen – Aulay hatte eigentlich noch nie gehört, dass sie solche Worte gebrauchten. Aber seine Leute, raubeinig wie sie waren, kamen ihm jetzt beinahe schüchtern vor. Sie fielen fast übereinander, als sie den Weg für die Lady freigaben.

Nachdem sie eine Gasse gebildet hatten, verstand Aulay sofort, warum sie so fasziniert waren. Das Erste, das ihm an ihr auffiel, war ihr Haar, eine dicke Welle fließender Seide von so hellem Blond, dass es Aulay an die Farbe von Perlen erinnerte. Ihre Augen waren groß und rund und hatten dieselbe Farbe wie das warme Wasser der Karibik. Volle, rosafarbene Lippen, die einen Mann in ihren Bann schlagen konnten. Ihre engelsgleiche Schönheit war überraschend und passte so gar nicht zu den Männern, die sie begleiteten. Diese junge Frau hier war bòidheach. Wunderschön. Bei ihrem Anblick begann sein Herz schneller zu schlagen.

Aulay spürte im ganzen Körper etwas Starkes und Merkwürdiges. Es kam ihm so vor, als stünde er vor etwas Ungeheurem, als ob ein Teil seiner Selbst in Gefahr schwebte. Unwillkürlich verstand er dieses Gefühl. Er hatte es schon einmal empfunden, als er zum ersten Mal an Bord eines Schiffes gegangen war und sofort gewusst hatte, dass dies sein Leben sein würde. Oder das erste Mal, als er das Bett mit einer Frau geteilt hatte. Aulay wusste es einfach. Er war kein Mann der unnötigen Schmeichelei, aber er war verhext.

Als sie auf ihn zuschritt und ihn mit ihren warmen blauen Augen ansah, überkam ihn ein merkwürdiges Gefühl wie ein Rausch. Ihre Wangen waren gerötet vom Wind und von der Anstrengung, und ihr Haar, Diah, ihr Haar – es fiel ihr in unwirklich schönen Strähnen wild ins Gesicht. Sie trug ein Kleid aus silberfarbener Seide über einem blauen Rock, und ihr Mieder war so fest geschnürt, dass es ihre vollen Brüste kaum halten konnte.

Beaty, dem es offensichtlich die Sprache verschlagen hatte, deutete auf Aulay, der bislang eigentlich geglaubt hatte, immun gegen weibliche Schönheit zu sein, so viele Häfen wie er in seinem Leben schon angelaufen hatte, dem jetzt aber trotzdem die Worte fehlten.

„Captain“, sagte sie und machte einen Knicks. „Ich danke Ihnen.“

Aulay umfasste ihren Ellenbogen und half ihr auf. Dabei dachte er, dass sie sich vor niemandem verneigen sollte.

Das Schiff schwankte ein wenig, und sie hielt sich an seinem Arm fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dabei spreizte sie die Finger auf dem Stoff seiner Jacke und drückte sanft zu. „Ich bin Ihnen auf ewig zu Dank verpflichtet“, sagte sie. „Wer weiß, was aus uns geworden wäre, wenn Sie nicht gekommen wären, um uns zu retten.“ Sie lächelte.

Ein unsichtbares Band schlang sich um Aulays Brust, und er konnte nicht mehr richtig atmen. Ihm war klar, dass sie keine makellose Schönheit war, aber ihre gesamte Erscheinung machte sie zur schönsten Frau, die er je gesehen hatte.

„Sie haben ja keine Ahnung, was wir heute schon alles durchgemacht haben“, sprach sie weiter und legte sich die schlanke, elegante Hand aufs Herz. „Ganz im Ernst, ich dachte, das ist unser Ende. Sie haben uns das Leben gerettet, mein Herr!“

„Und wessen Leben habe ich gerettet, wenn ich fragen darf?“, fragte Aulay, während er den Blick von ihrem Gesicht zu ihrem Dekolleté und ihrer schlanken Taille schweifen ließ.

„Oh du lieber Gott“, erwiderte sie und lächelte verlegen, während seine Leute näherkamen, um alles mitanhören zu können. „Diese ganze Tortur hat mich um meine Manieren gebracht. Larson, Sir. Lady Larson.“

„Madam“, sagte er und senkte den Kopf. „Captain Mackenzie von Balhaire. Zu Ihren Diensten.“

„Balhaire, natürlich!“, rief sie erfreut. „Sie sind also kein Engel, den der Himmel geschickt hat, aber die Mackenzies sind ja auch in aller Munde.“ Sie lächelte dankbar.

Es verwirrte Aulay, dass sie ihn mit einem Engel verglich und dass sie seinen Namen kannte, aber er war schon wieder ungewohnt sprachlos.

„Haben Sie sie auch gesehen?“, fragte sie und strich sich dabei wieder die Haare aus dem Gesicht. „Die Piraten?“

Ihre Augen, von denen eins ein wenig größer war als das andere, strahlten wie ein klarer Frühlingsmorgen.

„Wie sind Sie auf die gestoßen?“, erkundigte Aulay sich neugierig.

Sie richtete den Blick aus diesen strahlend blauen Augen wieder auf ihn. „Sie haben uns mit einer Kanone beschossen!“, berichtete sie mit Nachdruck. „Wir hatten ihnen nichts getan! Wir hätten fast nicht einmal gemerkt, dass sie da sind, und dann: Bumm!“ Sie breitete die Arme aus, und dabei hoben sich ihre Brüste beinahe aus ihrem Mieder heraus. Seine Leute schwankten bei diesem Anblick und traten einen Schritt zurück, als ob sie befürchten müssten, dass sie abgeschossen wurden. Da das nicht geschah, kamen sie wieder näher.

„Mein armer Vater hat eine schlimme Verletzung am Oberkörper“, fügte sie hinzu und dabei erstarb ihr Lächeln.

„Genau wie Sie“, stellte Beaty fest und zeigte dabei auf einen Riss im Rock ihres Kleides, der von Blutspritzern umgeben war.

Sie sah auf die Stelle hinab, auf die er gezeigt hatte. „Oh, aye, das habe ich in der Aufregung ganz vergessen.“

„Wir sollten uns das mal ansehen, Miss Livingstone“, sagte einer ihrer Männer, der hinter Aulays Leuten stand. „Wundbrand und so.“

Wundbrand. Aulay verdrehte die Augen.

„Wundbrand!“, rief sie entsetzt.

„Ich glaube, darum müssen Sie sich keine Sorgen machen“, sagte Beaty und sah den Mann gereizt an, der das Wort aufgebracht hatte.

Plötzlich beugte Lady Larson sich vor, raffte den Saum ihrer Röcke und hob ihn bis zur Mitte ihrer Wade an.

Aulays Männer stürzten auf sie zu wie ein Schwarm Gockel, sie konnten ihre Blicke nicht von ihren Beinen und ihren kleinen Stiefeln und Strümpfen abwenden. „Ich sehe nichts. Wahrscheinlich ist es noch weiter oben“, sagte sie und hob zu Aulays Überraschung den Rock bis über die Knie.

Sie machte sich in diesem Augenblick überhaupt gar keine Gedanken, sondern hob ihr Kleid noch höher, über den Rand ihrer Strümpfe, sodass alle ihre nackten Oberschenkel sehen konnten. Ihre Haut war weiß und glatt wie frische Milch. Sie hatte tatsächlich eine kleine Schnittwunde, die aber weder groß noch besonders tief war und nicht der Grund für das ganze Blut auf ihrem Kleid sein konnte.

Lady Larson sah die Männer an, dann richtete sie den Blick auf Aulay. „Glauben Sie, dass es sehr schlimm ist?“, fragte sie geziert und lud ihn gleichsam ein, näher hinzuschauen, indem sie ihr Bein ein Stückchen nach vorne streckte. „Kann einer von Ihnen was erkennen?“

Aulay bekam keine Gelegenheit, die Frage zu beantworten, denn plötzlich gab es auf dem anderen Schiff eine so laute Explosion, dass sie alle erschraken – in diesem Augenblick fiel Aulay wieder ein, dass Schiffe wie dieses normalerweise eine kleine Kanone an Bord hatten oder auch zwei.

Ehe er ein Wort sagen oder einen Befehl geben konnte, traf ihn von hinten ein Schlag mit solcher Wucht, dass er zu Boden ging und nicht mehr wusste, wo unten und oben war. Sofort wollte er wieder aufstehen, aber es kam ihm so vor, als ob das Schiff sich im Kreis drehte, und er konnte seine Beine irgendwie nicht richtig bewegen. Es gelang ihm, sich so weit aufzurappeln, dass er sich hinknien konnte, dabei sah er, wie Lady Larson ihn mit ihren leuchtend blauen Augen ansah. Sie lächelte bedauernd und sagte: „Es tut mir wirklich aufrichtig leid.“ Dann trat sie ihn mit dem Knie so heftig gegen das Kinn, dass er hintenüberfiel.

Aulay hielt sich an der Reling fest und versuchte, sich wieder aufzurappeln. Er kam wieder auf die Beine und wollte Lady Larson packen, doch da bekam er wieder einen Schlag auf den Kopf.

Das Letzte, was ihm durch den Kopf ging, ehe ihm schwarz vor Augen wurde, war, dass er nach all den Jahren auf See doch zu Boden gegangen war. Nicht in einem Sturm oder in einer Schlacht, sondern einer Frau wegen.

3. KAPITEL

Als sie am Strand von Lismore mit der Margit in See gestochen waren, wäre Lottie niemals auch nur auf den Gedanken gekommen, dass sie zwei Tage später so etwas Ähnliches wie Piraten sein könnten, aber es gab wahrscheinlich keinen passenderen Ausdruck für das, was sie getan hatten.

Der Aufruhr hatte sich inzwischen gelegt und die Livingstones hatten die Schlacht gewonnen, soweit man das sagen konnte. Sie und ihr Clan hatten die arglosen Mackenzies völlig unvorbereitet getroffen. Was jetzt vor ihnen lag, war eine Katastrophe von so ungeheurem Ausmaß, dass es Lottie den Atem verschlug. Hinter ihren Schläfen pochten heftige Kopfschmerzen, während sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Wie in Gottes Namen hatten sie an einem einzigen Tag ihr eigenes Schiff verlieren und dann auch noch ein anderes kapern können?

Keiner von ihnen hatte das so gewollt.

Sie blickte auf ihren verwundeten Vater hinab, den man in der Kajüte des Kapitäns untergebracht hatte, weil es sonst keinen passenden Platz für ihn gab. In der Back waren zwei Mackenzies und ein Livingstone untergebracht, die auch alle verletzt waren. Zum Glück schwebte keiner von ihnen in Lebensgefahr. Morven, der sich bei den Livingstones noch am besten mit Heilkunde auskannte, war sich ganz sicher gewesen.

Ihr Vater hatte jedoch weniger Glück gehabt. Lottie konnte sein aschfahles Gesicht kaum ansehen und den blutgetränkten Verband um das klaffende Loch in seinem Oberkörper schon gar nicht, ohne dass ihr übel wurde.

Jetzt stöhnte er laut und griff nach Lotties Hand. Und die anderen? Die Männer, die sich noch auf den Beinen halten konnten und sich um sie drängten? Jeder von ihnen hatte eine andere Meinung, was als Nächstes zu tun sei, und sie alle warteten gespannt auf ihre Entscheidung. Alle außer Gilroy, dem Kapitän der Margit, mit dem ihr Vater seit über vierzig Jahren befreundet war. Er stand am Bullauge und sah seinem Schiff dabei zu, wie es auf den Wellen rollte und abdriftete. Mit dem Bug lag es bereits im Wasser.

„Was machen wir denn jetzt?“, fragte Norval Livingstone.

Diah, Lottie tat der Kopf so weh. Wenn sie nur alle damit aufhören würden, sie anzustarren und darauf zu warten, dass sie für sie alle Probleme löste. War ihnen denn gar nicht klar, in was für einem Schlamassel sie jetzt schon steckten? Der Schreck und die Angst, die sie ergriffen hatten, als Gilroy rief, dass sie einen Schuss in den Bug abbekommen hätten und leckgeschlagen seien, hatte ihren gesunden Menschenverstand völlig außer Kraft gesetzt. Sie wussten nicht, wer sie angegriffen hatte, sie wussten nicht, wieso und sie hatten nur eine einzige Kanone an Bord, mit dem sie das Feuer des Schiffes erwidern konnten, das viel größer war als ihres. Außerdem wussten sie nicht einmal genau, wie man eine Kanone abfeuerte. Aber sie taten es trotzdem, und mit diesem Schuss trafen sie auf dem anderen Schiff irgendetwas, das dann explodierte. Es gab eine meterhohe Stichflamme, aber das alles war nur Zufall – es glich ja schon einem Wunder, dass sie das andere Schiff überhaupt getroffen hatten. Genauso schnell wie sie angegriffen worden waren, wendete das Schiff und hielt auf die Küste von Schottland zu.

Sie hätte auf Gilroy hören sollen, nachdem der Kampf vorbei und das andere Schiff verschwunden war. Sie hätte die Mannschaft Strohhalme ziehen lassen sollen, um zu klären, wer von den Männern sie und ihren Vater im Beiboot zurück an die Küste bringen sollte, während die anderen versucht hätten, das Schiff trotz der Schlagseite an Land zu manövrieren. Aber dann rief jemand, dass ein anderes Schiff auf sie zukomme, und ihr Vater hatte sie angefleht, nicht umzudrehen. Deswegen hatte Lottie diesen unüberlegten, dummen, gefährlichen Plan gefasst, von dem sie hoffte, dass er sie alle retten würde.

Er war so abwegig, dass sie immer noch nicht glauben konnte, dass er tatsächlich funktioniert hatte.

„Aye, Gilroy, was sehen Sie denn?“, fragte Duff MacGuire. Er war der Schauspieler des Livingstone-Clans und hatte auf dem Beiboot die Rolle des Sprechers gespielt, als das Schiff der Mackenzies ihnen zu Hilfe gekommen war.

„Es hat angefangen zu regnen“, sagte Gilroy rundheraus. „Und mein Schiff ist gesunken.“

Er kehrte dem Bullauge den Rücken. Er hatte Falten im Gesicht, die Lottie noch nie an ihm gesehen hatte. „Wir hätten niemals hier rausfahren dürfen“, meinte er niedergeschlagen. „Das habe ich Bernt auch gleich gesagt, aber er hat mir eingeredet, dass wir eine selbstlose Mission zu erfüllen haben. Diah, und jetzt ist sie verloren.“

„Es tut mir schrecklich leid, Gilroy“, murmelte Lottie.

„Mir gefällt das alles nicht“, sagte Drustan und klang dabei verängstigt. Lotties jüngerer Bruder wippte vor und zurück auf den Zehenspitzen, aber weil er so riesig war, stieß er dabei immer wieder gegen den Tisch. Sie legte ihm eine Hand auf den Arm, um ihn zu beruhigen, aber er starrte voller Entsetzen ihren Vater an. Eine Schweißperle rollte Drustan die Schläfe hinab. Er war verwirrt. Aber der arme Drustan war eigentlich immer verwirrt. Als er auf die Welt gekommen war, hatte sich ihm die Nabelschnur um den Hals gewickelt. Er wäre beinahe gestorben und hatte bleibende Schäden davongetragen.

Lotties Mutter hatte immer gesagt, Drustan sei etwas ganz Besonderes, so wie niemand sonst auf der Welt. „Glaubt mir, der Junge trägt einen Glanz in sich. Wir haben ihn nur noch nicht entdeckt.“

„Mach dir keine Sorgen um Papa“, sagte Lottie zu Drustan. „Er ist stark. Das weißt du doch. Er schläft jetzt, weil Morven ihm einen Schlaftrunk gegeben hat, damit er wieder gesund werden kann, aye? Mats und du, ihr könnt jetzt Gilroy helfen. Es gibt eine Menge zu tun.“ Sie sah Gilroy an, aber der starrte tief in Gedanken versunken seine eigenen Füße an.

Mathais, Lotties frecher jüngster Bruder, kam mit stolzgeschwellter Brust auf sie zu. Er sah aus wie eine fette Taube. Er war vor Kurzem vierzehn geworden und viel jünger als Drustan mit seinen einundzwanzig und Lottie mit ihren dreiundzwanzig Jahren. Er hatte das Herz eines Kriegers, aber er war noch ein Kind. Jetzt verkündete er: „Ich gehe, Lot. Du brauchst Drustan nicht zu schicken. Der steht doch sowieso nur im Weg rum.“

Lottie war zu verzweifelt, um sich auf einen Streit einzulassen. „Aye, dann geh“, sagte sie und winkte Mathais zu. „Aber nimm Drustan mit.“

Mathais verdrehte die Augen.

„Gilroy?“

„Hm?“ Er hob den Kopf.

„Wäre es nicht besser, wenn jemand das Schiff steuert?“, fragte sie sanft.

Er runzelte die Stirn, so als wäre ihm der Gedanke eben erst gekommen. „Soll das etwa heißen, dass niemand am Ruder steht?“

„Wer sollte das denn sein, Gilroy?“, fragte Duff kopfschüttelnd.

„Zur Hölle nochmal, haben denn alle hier den Verstand verloren?“, fragte Gilroy streng und machte sich daran, die überfüllte Kabine zu verlassen.

Mathais wandte sich um, um ihm zu folgen und stolperte dabei über seine eigenen Füße, die von Woche zu Woche um einen Zoll zu wachsen schienen. Drustan, der sie alle überragte, folgte Mats so schnell, als ob er Angst hätte, ihn zu verlieren.

Jetzt blieben nur noch Duff, Robert MacLean und Lottie übrig. Mr. MacLean kümmerte sich bei den Livingstones um die Buchhaltung. Man konnte auch sagen, er war derjenige, der sie jede Woche besuchen kam, um ihnen zu erklären, dass ihr Vermögen immer kleiner wurde. Er wurde bei den Livingstones verehrt, weil er immer wieder Wege fand, Geld aufzutreiben. „Wir sollten umkehren, ehe es zu spät ist“, schlug sie vor.

„Unsinn!“, rief Duff. „Dänemark ist nur drei Tagesreisen weg. Ihr Vater hätte etwas dagegen, wenn Sie jetzt umkehren würden, nach allem was wir getan haben.“

„Aber er ist wirklich schwer verletzt“, sagte Lottie und musste ein Gefühl der Übelkeit unterdrücken, nachdem sie einen Blick auf die klaffende Wunde auf seinem Bauch geworfen hatte. Es gelang ihr jedoch nicht, die nackte Angst auch mit herunterzuschlucken, die von ihr Besitz ergriff.

„Morven kennt sich in Heilkunde so gut aus wie kein zweiter in den Highlands, aye?“, sagte MacLean. „In Lismore wird er auch nicht besser versorgt. Außerdem will Bernt, dass Sie die Reise fortsetzen, nicht wahr?“

Sie wollte nicht mehr an den Schrecken von heute morgen denken, aber sie nickte zustimmend, denn er hatte mehr als deutlich gemacht, dass sie weiterfahren sollten. „Aber wir können ihn nicht in der Kajüte des Captain lassen.“ Alle drei drehten sich nach der Gestalt in der Ecke um, dem Kapitän der Reulag Balhaire, der gefesselt, geknebelt und an ein kleines Pult gekettet war, das im Boden verschraubt war. Er war noch immer bewusstlos. Er hatte zwar auch ein paar Schläge abbekommen, aber es lag an der Tinktur, die Morven ihm eingeflößt hatte, dass er aufgehört hatte zu brüllen und zu fluchen. „Meine Großmutter hat immer gesagt, damit kann man ein Pferd von den Füßen holen“, hatte Morven gesagt und kopfschüttelnd das Fläschchen betrachtet, das er in der Hand hielt. Er hatte offensichtlich große Ehrfurcht vor der Wirkung der Tinktur, nachdem der Kapitän ins Land der Träume gedriftet war.

„Lassen Sie Ihren Vater hier liegen, Lottie“, sagte Duff. „Die vordere Kajüte ist sowieso voll. Er kann entweder hierbleiben oder wir bringen ihn unter Deck, wo eine Horde wütender Männer aneinandergefesselt auf ihn wartet. Wenn Sie ihn da hinunterbringen, gerät die Lage außer Kontrolle, das garantiere ich Ihnen.“

„Machen Sie sich um den Captain keine Sorgen, Mädchen“, sagte Mr. MacLean. „Der kann Ihnen jetzt nichts mehr tun.“

Die drei sahen noch einmal zum Kapitän hinüber. „Er ist doch nicht verletzt?“, fragte Lottie.

„Dem fehlt nichts“, entgegnete Duff mit einer Überzeugung, von der Lottie sich nicht sicher war, ob er sie nicht nur spielte. „Sein Stolz hat wahrscheinlich mehr gelitten als sein Körper.“

Diah, sein Körper. Nachdem die Menge von Männern, die sie anstarrten, sich geteilt und Lottie ihn zum ersten Mal zu Gesicht bekommen hatte, war sie überrascht gewesen, wie attraktiv er war. Da stand er in all seiner Pracht und trug nur eine Hose ohne Jacke oder Weste, sondern nur ein Hemd, das am Kragen offen war. Sie hatte auf diesem Schiff keinen so starken Mann erwartet, sondern eher jemanden wie Gilroy – älter und sehniger. Aber es lag nicht nur an seinem guten Aussehen, das ihr Herz schneller zu klopfen begann, sondern an seinem Blick. Er hatte sie mit so durchdringender Intensität angesehen, dass sie das Gefühl gehabt hatte, als ob ihre Haut unter seinem Blick in Flammen aufginge.

„Es ist herzlos, ihm so etwas anzutun“, murmelte Lottie und wandte sich von dem außerordentlich schönen Mann in Ketten ab, damit Duff und Robert ihre Schuldgefühle nicht bemerkten … oder wie angetan sie von ihm war. „Es ist schon so ein Verbrechen, dass wir sein Schiff ohne seine Zustimmung übernommen haben. Ich will nicht, dass er noch einmal verletzt oder gedemütigt wird.“

„Ach, passiert ist passiert, Mädchen“, erklärte Duff wegwerfend. „Wir gründen hier ja keine Lebensgemeinschaft, oder? Er wird machen, wozu er gezwungen wird. Er hat ohnehin keine Wahl.“

Natürlich hatte Duff recht, aber das änderte nichts daran, wie sehr Lottie bedauerte, dass es so weit hatte kommen müssen. Sie wollte den Männern auf der Reulag Balhaire nicht noch weiteren Schaden zufügen. Oh, diese Reise war von Anfang an einfach eine ganz schlechte Idee gewesen! Und jetzt waren sie in einem Albtraum gefangen.

„Also dann, wir sollten helfen, wo wir können“, sagte Mr. MacLean. „Ich traue Gilroy nicht über den Weg, der ist ja völlig von Sinnen.“ Er sah Lottie an. „Sie kommen doch zurecht, oder, Mädchen?“

Sie warf noch einen Blick auf den bewusstlosen Kapitän und auf ihren bewusstlosen Vater und zuckte dann mit den Schultern. „Scheint so.“

„Also gut.“ Mr. MacLean öffnete die Tür der Kajüte. „Wir postieren einen Mann direkt vor der Tür“, versicherte er Lottie. „Sie brauchen nur zu rufen, aye?“

Sie sah ihm nach, während er den Raum verließ.

Ruhe. Wunderbare, kostbare Ruhe. Es war alles so schnell gegangen! Wenn sie doch bloß mehr Zeit gehabt hätte, um darüber nachzudenken, welche Möglichkeiten ihr blieben! Aber die hatte sie nicht, und niemand hatte etwas gegen ihren Plan einzuwenden gehabt. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken, um alles noch einmal genau abzuwägen und dem Himmel sei Dank war Lottie jetzt endlich, zum ersten Mal, seitdem sie Lismore verlassen hatten, allein.

Also … nicht allein. Aber es herrschte Ruhe.

Sie merkte plötzlich, wie schwer sich alle ihre Glieder anfühlten und die Erschöpfung sie überfiel. Sie sank auf einen Stuhl. Sie verschränkte die Arme vor sich auf dem Tisch, legte ihren Kopf darauf und schloss die Augen … aber die Ereignisse des Tages ließen sie nicht los.

Es war die reine Katastrophe – anders konnte man es nicht sagen. Vor zwei Wochen hatte alles angefangen, am Abend als sie Sankt Hans gefeiert hatten, ihr jährliches Mittsommernachtsfest. Der Livingstone-Clan bereitete sich auf die Aufführung eines Theaterstückes vor, das Duff geschrieben hatte. Duff hielt sich selbst für einen hervorragenden Schauspieler und hatte einige Clanmitglieder überredet, sich seiner Theatertruppe anzuschließen. Sie waren zu sechst und wollten gerade mit der Aufführung beginnen, als das warnende Hornsignal vom alten Donnie ertönte. Donnie lebte an der Spitze der Insel, gegenüber von Port Appin auf der anderen Seite des Loch, und seine Aufgabe war es, ein Hornsignal zu geben, sobald irgendjemand auf der Insel an Land ging.

Alle sprangen sofort auf, um die verräterischen Whiskykrüge einzusammeln. „Was ist mit meinem Stück?“, jammerte Duff immer wieder.

Es war reiner Zufall, dass Lotties Pferd Stjerne, mit dem sie an den Rennen teilgenommen hatte, noch gesattelt war, und als sie sah, wie Norval und Bear Livingstone zu ihren Pferden rannten, hatte sie sich ihnen angeschlossen. So war das eben auf Lismore – sie war immer mitten im Geschehen.

Es überraschte sie dann auch überhaupt nicht, dass Laird Campbell sich mit seiner eng gekräuselten und übertrieben gepuderten Perücke bei den Kaninchen herumtrieb. Es war nicht das erste Mal, dass er sich auf die Suche nach den Destillen machte. Natürlich war er in Begleitung von Mr. Edwin MacColl, dem Chief des Clans, der den Teil der Insel bewohnte, den die Livingstones für den besseren hielten.

Lottie hatte Mr. MacColl immer gemocht, zumindest solange er auf seiner Seite der Insel blieb. Er war verwitwet, seine Kinder waren schon erwachsen, verheiratet und hatten eigene Kinder. Er war älter als Lotties Vater, hatte aber noch immer eine breite Brust und dichte, schneeweiße Augenbrauen, die er hochzog, wenn er Lottie sehnsüchtig ansah.

In letzter Zeit besuchte er die Nordspitze der Insel allerdings viel zu häufig und versuchte sogar Bernt einzureden, dass Lottie eine gute Ehefrau für ihn wäre. „Ich hab ein schönes Haus, um das sie sich kümmern kann und reichlich Essen auf dem Tisch“, sagte er dann. Offensichtlich dachte er, dass das seine besten Argumente waren.

Das Angebot traf Lottie nicht unvorbereitet. Auf einer Insel, auf der unverheiratete junge Frauen Mangelware waren, hielt sich offenbar jeder Mann für eine gute Partie, genau wie ihre Mutter vorausgesagt hatte. Möge Gott ihrer Seele Frieden schenken.

Ihre Mutter hatte Lottie davor gewarnt, welche Wirkung sie auf Männer haben würde. „Du bist eine Schönheit, Mädchen, und Männer werden von Schönheit angezogen wie Motten vom Licht, auch wenn es ihr Ende ist, aye? Du darfst nicht zulassen, dass sie dir mit schönen Worten und leeren Versprechungen den Kopf verdrehen. Du musst dir einen Mann suchen, der dich um deines Herzens willen zu schätzen weiß und nicht wegen deines Gesichts, hast du mich verstanden? Und nimm dich vor deinem Vater in Acht, Mädchen – aye, er liebt dich, mehr als sein eigenes Leben, aber er lässt sich viel zu leicht von Versprechungen blenden.“

Falls die Worte ihrer Mutter noch nicht gereicht hätten, um sie zur Vorsicht zu mahnen, hatte Anders Iversen, ihr einziger Liebhaber, sie bestätigt.

Aber wie dem auch sei, als Lottie den Laird beim Herumschleichen erwischte, brachte sie ihn zu sich nach Hause, wo sie erschrocken feststellen musste, dass ihr Vater ein bisschen Schieflage hatte, als er aus dem Haus kam. Er hatte ganz offensichtlich zu viel getrunken.

„Ah, Laird Campbell. Fáilte!“, rief ihr Vater leutselig. Ganz gleich, in was für Schwierigkeiten er steckte, er blieb stets fröhlich und sorglos. Lottie stieg vom Pferd und ging zusammen mit den Männern ins Haus, aber der Laird drehte sich abrupt um und sagte: „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Miss Livingstone, wir Männer würden uns gern ungestört unterhalten. So ein Gespräch ist nicht für Ihre Ohren bestimmt.“

Lottie widersprach, dass sie und ihr Vater das zu entscheiden hätten, aber ihr Vater stimmte zu: „Aye, natürlich, Laird. Lottie, Mädchen, geh und… kümmere dich um das Fest, aye?“ Er schickte sie mit einer abwehrenden Handbewegung weg und wies dem den Laird den Weg ins Haus.

Es dauerte scheinbar endlos, bis der Laird und Mr. MacColl endlich wieder herauskamen und sich von ihr verabschiedeten – Mr. MacColl mit einem verlegenen Lächeln – und zu ihrem Boot zurückkehrten. Lottie, Duff und Mr. MacLean waren sofort zu ihrem Vater geeilt, um zu hören, worum es bei den Gespräch gegangen war.

Natürlich hatte der Besuch des Laird ihren Vater überhaupt nicht beeindruckt. „Er ist wegen der Pacht hiergewesen“, teilte er ihnen mit. Dann bückte er sich mit einem respektlosen Kichern und holte hinter einer Anrichte die Whiskykaraffe hervor, die er dort versteckt hatte.

„Ich habe ihm gesagt, dass wir nicht so viel Geld haben, wie wir ihm schulden, noch nicht, aber, habe ich zu ihm gesagt, dem hier oben fällt schon was ein.“ Dabei klopfte er sich an den Kopf.

„Diah“, sagte Lottie stöhnend.

„Und der Laird, er hat gesagt, also, ist dem da oben schon eingefallen, wann genau die Pacht gezahlt wird?“ Ihr Vater lachte, während er ihnen allen Whisky einschenkte.

„Und?“, hakte Lottie ungeduldig nach.

„Ich habe gesagt, in einem Monat haben wir das Geld.“

Lottie sank der Magen bis in die Kniekehlen. Ein Monat war viel zu wenig Zeit.

Ihr Vater winkte ab, als er ihren verzweifelten Gesichtsausdruck sah. „Beruhige dich, Lot. Wir denken uns schon was aus. Und das ist auf jeden Fall besser als das, was Campbell vorgeschlagen hat, aye?“

„Und was?“, fragte sie. „Was hat er vorgeschlagen?“

„Ach, er findet, dass ich über MacColls Angebot nachdenken sollte, meine Tochter zur Frau zu nehmen.“

Lottie verschlug es die Sprache. Ihr wurde ein wenig schwindelig.

„Aber natürlich findet er das! Ich habe die schönste Tochter in den ganzen Highlands. Das habe ich schon mehr als einmal gehört. Es gibt auf ganz Lismore keinen einzigen Kerl, der sie nicht irgendwann einmal angeschmachtet hätte, was, Robert?“

Mr. MacLean war ganz rot im Gesicht und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf seinen Whisky.

„Aber wie ich dem Laird schon gesagt habe, können sie schmachten so viel sie wollen, weil sie keinen von ihnen erhören wird. Das liegt daran, das ihr das Herz gebrochen worden ist.“

„Vater!“, rief Lottie und spürte, wie ihr die Schamesröte den Hals hinaufkroch. „Mein Herz ist bestimmt nicht gebrochen!“

„Der Laird besteht darauf, dass ich das Angebot von MacColl annehme und dich ihm zur Frau geben soll, und im Gegenzug bezahlt MacColl unsere Pacht und kümmert sich um die Livingstones. Dann wären mit einem Schlag alle unsere Probleme gelöst.“

„Und das sind so einige.“ Duff nickte nachdenklich.

„Mir ist schlecht“, sagte Lottie und ließ sich auf der alten gepolsterten Bank nieder.

„Ich finde Edwin MacColl bewundernswert, das kann ich dir sagen“, erklärte ihr Vater vollkommen unbekümmert. „Er ist wirklich ein schlauer Kerl, das habe ich schon immer gesagt. Aber ich habe einen Plan, der genauso gut ist wie der von MacColl.“ Er leerte sein Whiskyglas in einem Zug.

Das einzige Problem war, dass es üblicherweise in einer Katastrophe endete, wenn ihr Vater einen Plan hatte. „Was für einen Plan?“, fragte Lottie mit schwacher Stimme.

„Dazu komme ich gleich“, antwortete er und hob dabei die Hand. „Der Laird war da aber noch nicht fertig mit mir, nein“, fuhr er fort, während er sich Whisky nachschenkte. Er genoss seinen Bericht sichtlich. „Er hat gesagt, ich bin zu nichts nütze.“

„Das hat er nicht“, widersprach Mr. MacLean und klang dabei ehrlich entrüstet, obwohl diese Feststellung des Laird eindeutig einen wahren Kern hatte.

„Er hat über die Kalköfen geredet und die Leinenweberei“, hatte ihr Vater gesagt und dabei mit der Hand gewedelt, als ob er diese beiden desaströsen Unternehmen ungeschehen machen wollte, die beide schiefgegangen waren und die Livingstones erhebliche Summen gekostet hatten. Bernt Livingstone war ein wunderlicher Mann, es war nicht leicht, seinen Gedanken zu folgen, er hatte keinen Sinn für das Praktische und war anfällig für alle möglichen Ideen, die ihre Kasse schröpften. Einmal, als Lottie noch ein kleines Mädchen gewesen war, wurde über einen neuen Chief geredet. Aber am Ende hielten sich die Livingstones an die Regeln ihres Clans – Bernt war der Enkelsohn von Vilhelm Livingstone, einem dänischen Baron, der während des Schwedenkrieges aus Dänemark geflohen war und ein beträchtliches Vermögen mitgebracht hatte. Er war der unangefochtene Gründer, und deshalb war Bernt sein rechtmäßiger Erbe und ihr Chief.

Lottie konnte sich noch gut daran erinnern, wie ihr Vater am Nachmittag breitbeinig dagestanden hatte und seine Augen gefunkelt hatten, während er an seinen Plan dachte. Sie hob den Kopf und sah ihn an. Er schlief dank Morvens Tinktur tief und fest und litt im Augenblick keine Schmerzen, trotz der Wunde in seinem Bauch. Sie liebte ihren Vater abgöttisch, aber es machte sie wahnsinnig, wie sprunghaft er war. Er hatte sein ganzes Vermögen für abstruse Unternehmungen verschwendet, von denen nie eins von Erfolg gekrönt gewesen war.

In solchen Augenblicken vermisste Lottie ihre Mutter am meisten. Sie war ein gutes Gegengewicht zu ihrem Mann gewesen. Sie war seit über zehn Jahren nicht mehr am Leben, gestorben zusammen mit der Tochter, die sie gerade zur Welt gebracht hatte, als Mathais noch ein Baby gewesen war und Lottie selbst erst dreizehn. Aber ihre Mutter sah auf ihrem Totenbett alles kommen. Das war Lottie Jahre später klar geworden. Sie wusste, dass sie im Sterben lag, und in diesen letzten Stunden rief sie Lottie zu sich und umklammerte ihre Hand mit einer Kraft, die nicht zu ihrer augenscheinlichen Zerbrechlichkeit zu passen schien. „Dein Vater braucht dich, Leannan, genau wie die Jungs, aye? Hör mir zu, Mädchen – es kommt dir vielleicht so vor, als ob du nicht selbst über dein Leben bestimmen könntest, aber du musst mir hier und jetzt schwören, dass du nicht vergisst, wer du bist, Lottie.“

„Wie meinst du das?“, fragte Lottie verwirrt und voll Trauer.

„Du musst mir hier und jetzt schwören, dass du deine wahre Sehnsucht und was du willst nicht vergisst, aye? Du verdienst im Leben nur das Beste. Es wird dir unmöglich erscheinen, es wird dir so vorkommen, als ob es keinen Platz für dich gäbe, aber du kannst dein eigenes Leben führen, wenn du nicht aus den Augen verlierst, was du willst. Verstehst du, Mädchen? Hast du mich verstanden?“

„Aye, Mama“, entgegnete Lottie, aber in Wirklichkeit hatte sie damals überhaupt nicht verstanden, was ihre Mutter sagen wollte. Sie war überwältigt von Trauer und hielt das Flehen ihrer Mutter für Fieberwahn. Aber sie hatte recht behalten – vom Augenblick ihres tragischen Todes an, war Lottie Mutter, Tochter und Haushälterin der Familie. Sie hatte versucht, das Gegengewicht zu sein, das ihre Mutter für ihren Vater gewesen war. Er hätte es bitter nötig gehabt, aber bei Gott im Himmel, ihr Vater hatte es ihr nicht leicht gemacht.

Und jetzt? Sie saß am Tisch eines Kapitäns, den sie nicht kannte, in seiner persönlichen Kajüte auf einem Schiff, das sie gekapert hatte und das alles nur wegen dieses verdammten Whiskys, noch so einer hirnrissigen Idee ihres Vaters.

An dem Tag, als sie Sankt Hans gefeiert hatten, hatte der Laird ihrem Vater Schwarzbrennerei vorgeworfen.

„Das habe ich natürlich abgestritten“, hatte ihr Vater erklärt. „Aye, der hat mich vielleicht gelangweilt mit seinem Gerede von Geldstrafen und Steuerbetrug an der Krone und dass ich ein rechtmäßiges Geschäft zerstöre. Er hat behauptet, dass sein Clan als einziger das Recht hätte, Whisky zu brennen und zu verkaufen, und dass ich über MacColls Angebot nachdenken soll, um meinen verdammten Arsch zu retten.“

Autor

Julia London

Julia London hat sich schon als kleines Mädchen gern Geschichten ausgedacht. Später arbeitete sie zunächst für die US-Bundesregierung, sogar im Weißen Haus, kehrte aber dann zu ihren Wurzeln zurück und schrieb sich mit mehr als zwei Dutzend historischen und zeitgenössischen Romanzen auf die Bestsellerlisten von New York Times und USA...

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