Traumfrau mit Geheimnissen

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Erst ist Singledad Joel einfach nur dankbar, dass sich die neue Kinderärztin so liebevoll um seine Adoptivtochter Chloe kümmert. Dann fühlt er sich immer mehr zu Dr. Kate McNeal hingezogen. Noch ahnt er nicht, wer Kate wirklich ist - und dass sie nicht zufällig in die Stadt gekommen ist …


  • Erscheinungstag 22.03.2021
  • Bandnummer 6
  • ISBN / Artikelnummer 9783751505789
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Dr. Kate McNeal lehnte sich auf ihrem Stuhl im neu eröffneten Coffeeshop von Jackson Hole zurück und genoss ihren Cappuccino. Es war Samstag, und den Rest des Wochenendes hatte sie frei, dem Dienstplan sei Dank. Sie musste erst am Montag wieder in die Kinderklinik.

Nichts geplant und zu allem bereit – das könnte heute ihr Motto sein. Seufzend nahm Kate noch einen Schluck. Obwohl sie jetzt schon seit zwei Jahren in Jackson Hole lebte, hatte sie noch keine engen Freundschaften schließen können. Gute Bekannte hatte sie zwar jede Menge – Männer und Frauen, die sie zu ihren Geburtstagen und zu anderen Partys einluden, aber niemand stand ihr so nahe, dass sie ihn oder sie an einem Samstagmorgen anrufen und fragen könnte: „Hey, hast du Lust auf einen Snack oder eine kleine Shoppingtour?“

Das lag zum Teil daran, dass die meisten Frauen, die sie kannte, Ehemänner und Kinder hatten. Spätestens mit Anfang dreißig hatte sie erkennen müssen, dass es nicht mehr viele Frauen in ihrer Situation gab … Single und niemals verheiratet gewesen. Aber an ihrer derzeitigen Einsamkeit war nicht nur ihr Single-Status schuld.

Als Kind war Kate entsetzlich schüchtern gewesen, und daran hatte sich bis heute nicht viel geändert, obwohl sie in ihrem Beruf äußerst erfolgreich war. Schlimmer noch: Ihre Schüchternheit brachte ihr bei jenen, die sie nicht kannten, oft das Prädikat unnahbar oder arrogant ein.

Sie strich den Rock ihres butterblumengelben Kleides glatt, das sie sich in der Woche zuvor gekauft hatte. Sie machte sich ganz gerne schick. Hübsche Sachen gaben ihr automatisch das Gefühl, selbst hübsch zu sein – ein Gefühl, das sie in ihrer Jugend nur selten empfunden hatte. Im Gegensatz zu ihrer Schwester Andrea, die alle bewunderten, hatte es bei Kate Jahre gedauert, bis ihr schlaksiger Körper ein paar Kurven bekommen und ihre Zähne nicht mehr so groß ausgesehen hatten.

Anfang zwanzig, als sie allmählich zu der Frau wurde, die sie immer hatte sein wollen, war ihre Welt komplett aus den Fugen geraten. Ihre Großmutter war gestorben, ihr Freund hatte mit ihr Schluss gemacht, und sie hatte eine Entscheidung treffen müssen, die keine Frau jemals allein treffen sollte. Eine Entscheidung, mit der sie nun jeden Tag ihres Lebens zurechtkommen musste.

Kate schluckte den letzten Bissen ihres Zitronenröllchens hinunter und schaute aus dem Fenster. Ob eine Shoppingtour sie wohl aus ihrer düsteren Stimmung reißen konnte?

Sie dachte noch darüber nach, als sie plötzlich Joel Dennes zum Hill of Beanes laufen sah, seine neunjährige Tochter Chloe im Schlepptau. Obwohl sie sich befahl, in eine andere Richtung zu schauen, konnte sie den Blick einfach nicht von den beiden abwenden.

Glücklicherweise bemerkte Joel es nicht, denn der gut aussehende Bauunternehmer war ganz und gar auf seine Tochter konzentriert. Er trug Jeans und ein gestreiftes Hemd, das das Grün seiner Augen betonte. Joel war groß – mindestens eins siebenundachtzig – und sah aus wie jemand, der viel Zeit im Freien verbrachte. Seine Tochter war zierlich und hatte zarte Gesichtszüge. Der Tasche nach zu urteilen, die sie in der Hand hielt, schienen sie gerade aus der Ballettschule am Ende der Straße zu kommen.

Während der letzten Minuten hatte Kate mindestens sechs kleine Mädchen gesehen, die mit ihrer Mutter aus dieser Richtung gekommen waren, und alle trugen die gleiche Art von Balletttasche bei sich.

Die normalerweise stets zurückhaltende Chloe lachte auf einmal laut auf, als ihr Vater etwas sagte, und um seine Augen bildeten sich Fältchen, als er ihr lächelnd die Hand auf die Schulter legte.

Kate hatte gehört, dass Joel sein Bestes gab, um Chloe Vater und Mutter zugleich zu sein, seit ihre Mom vor zwei Jahren gestorben war.

Nach Kates Ansicht verriet ein solches Verhalten viel über den Charakter eines Mannes. Sie bewunderte ihn für die Art und Weise, wie er sich dieser Herausforderung stellte.

Sie drehte sich nun mit dem Rücken zum Fenster. Sollten die beiden in ihre Richtung schauen, würden sie nur eine dunkelhaarige Frau in einem gelben Kleid sehen.

„Ist etwa Joel der Grund, warum du Ryan erzählt hast, dass du ihn nicht mehr sehen möchtest?“

Kate schaute überrascht zu Lexi Delacourt, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war und nun mit einem Latte in der Hand neben ihrem Tisch stand. Die Sozialarbeiterin trug ein modisches grün-braunes Kleid und darüber einen eng anliegenden grünen Pullover. Das lange braune Haar, das ihr sonst über die Schulter fiel, war zu einem lockeren Knoten gebunden. In ihren braunen Augen lag ein wissender Ausdruck, als ihr Blick von Kate zur Eingangstür schweifte. Jetzt läutete auch noch die Ladenglocke. Offenbar hatten Joel und seine Tochter gerade den Coffeeshop betreten.

„Na sag schon, Kate.“ Ungefragt setzte sich Lexi an Kates winzigen Tisch. „Hast du wegen Joel mit Ryan Schluss gemacht?“

Lexi und ihr Mann gehörten zu Kates guten Bekannten. Sie feierten oft Partys zusammen und verbrachten so viel Zeit wie nur möglich gemeinsam. Ryan Harcourt, Kates Ex-Freund, gehörte auch zu dieser Clique. Bis vor Kurzem war sie mit dem Anwalt zusammen gewesen, aber dann hatte sie ihm aus heiterem Himmel erklärt, es wäre besser, wenn sie sich nicht mehr sehen würden.

In Wahrheit wäre sie gern weiter seine Freundin gewesen, denn er war klug, humorvoll und hatte sie ihre Einsamkeit vergessen lassen, aber er hatte mehr von ihr gewollt … mehr, als Kate ihm zu geben bereit war.

Aufgrund ihrer Vergangenheit fiel es ihr äußerst schwer, Männern offen und unbeschwert gegenüberzutreten – selbst jenen, mit denen sie näher bekannt war. Vor allem diesen gegenüber.

Ryan hatte sich mit ganzem Herzen auf diese Freundschaft eingelassen. Sie hatte ihr Bestes gegeben, aber sie weigerte sich, Gefühle vorzutäuschen, die sie nicht empfand.

„Sei ehrlich“, drängte sie Lexi. „Magst du Joel lieber als Ryan?“

„Darum geht es doch gar nicht.“ Um Zeit zu gewinnen, trank sie einen Schluck Cappuccino. Sie redete nicht gern über persönliche Dinge. „Ryan und ich … wir sind einfach nur gute Freunde.“

Das stimmte.

„Für ihn ist es aber mehr als Freundschaft.“ Lexi ließ Kate nicht aus den Augen. „Ich weiß, dass er dich wirklich mag.“

Kate war irritiert. Nach Jahren in Pittsburgh und Los Angeles hatte sie sich noch immer nicht daran gewöhnt, in einem so kleinen Ort wie Jackson Hole zu leben, in dem jeder jeden zu kennen schien.

„Ich weiß, dass du und Nick eng mit Ryan befreundet seid.“ Kate wählte ihre Worte mit Bedacht.

„Wir betrachten dich aber auch als Freundin, Kate.“ Lexi tätschelte ihre Hand. „Genau wie Joel.“

Kate seufzte. Mit Ryan Schluss zu machen war schließlich keine große Sache gewesen.

Mit Joel Schluss zu machen wäre hingegen etwas ganz anderes.

Kate hielt den Atem an. Mit Joel zusammen sein? Wie kam sie denn jetzt darauf? Joel Dennes war der letzte Mensch, mit dem sie jemals ein Date haben würde. Wirklich der allerletzte.

„Entschuldige“, sagte Lexi errötend, als das Schweigen zu lange dauerte. „Es geht mich schließlich nichts an.“

„Ryan ist ein feiner Kerl“, sagte Kate aufrichtig „aber du hast recht. Er wollte eine engere Beziehung und ich nicht.“

Ryan wäre gern mit ihr zusammengezogen. Er war davon überzeugt, sie zu lieben. Aber wie konnte er das denken? Er kannte sie schließlich kaum.

Lexi lachte. „Na ja, dann war er wohl wirklich nicht der Richtige für dich.“

„Ryan war nicht das Problem“, verteidigte Kate ihn. „Es lag an mir. Ich bin noch nicht bereit für eine dauerhafte Beziehung.“

Geflissentlich ignorierte Kate das Versprechen, das sie sich selbst gegeben hatte. Spätestens mit dreißig wollte sie ihre Vergangenheit hinter sich lassen und nur noch in die Zukunft sehen. Doch das war offenbar leichter gesagt als getan.

„Wenn Ryan der Richtige gewesen wäre, dann hätte es keine Rolle gespielt, ob du bereit gewesen wärst oder nicht.“

Kate wollte etwas erwidern, aber Lexi hob die Hand. Der große Diamantring an ihrem Finger blitzte im Sonnenlicht auf. „Ich möchte dir gern eine Geschichte erzählen. Hättest du mich vor drei Jahren gefragt, warum ich keine Beziehung habe, hätte ich die gleiche Ausrede vorgebracht wie du. Ich habe Addie allein großgezogen und war ganz zufrieden damit, doch dann habe ich Nick kennengelernt.“

Kate beneidete Lexi um den glücklichen Ausdruck in ihren Augen. „Wohnt dein Ex hier in der Gegend?“

Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, dass Joel und Chloe nur Getränke zum Mitnehmen bestellt hatten. Kate entspannte sich.

„Es gibt keinen Ex. Addies Dad und ich haben nie geheiratet. Als Drew herausfand, dass ich schwanger war, hat er mir deutlich zu verstehen gegeben, dass er kein Kind wollte. Er befürchtete, dass ein Kind ihn von seiner Karriere abhalten könnte, die gerade erst in Schwung geriet. Er wollte mir stattdessen Geld für eine Abtreibung geben.“

„Hast du jemals darüber nachgedacht …“

„Das Baby nicht zu bekommen?“ Lexi schüttelte den Kopf. „Keine Sekunde. Trotzdem muss ich sagen, dass es kein Zuckerschlecken ist, ein Kind allein erziehen zu müssen. Ich habe ein paar harte Jahre hinter mir. Als ich Nick kennenlernte, hatte ich zwei Jobs gleichzeitig.“

„Das schafft nicht jede“, murmelte Kate beeindruckt.

„Meine Tochter zu erziehen war wesentlich leichter als der Gedanke daran, mich von ihr trennen zu müssen … das wäre unerträglich gewesen.“

Kate nickte.

„Was macht ihr beiden Hübschen denn hier?“

Beim Klang der vertrauten tiefen Stimme klopfte Kate das Herz sofort bis zum Hals. Irgendwie gelang es ihr, aufzuschauen und zu lächeln. „Ich hatte heute Frühdienst im Krankenhaus und wollte mir nur kurz Coles und Megs neuen Laden anschauen“, antwortete sie.

„Chloe und ich haben uns gerade darüber unterhalten, wie günstig es ist, dass sie ihren Coffeeshop in der Nähe der Ballettschule aufgemacht haben.“ Joel lächelte seine Tochter an. „Wir sind praktisch jeden Samstag hier.“

Sofort nahm Kate sich vor, am Wochenende nicht mehr hierher zu kommen. Ihr Blick fiel auf die neunjährige Chloe. Ihr glattes dunkles Haar hatte sie zu einem Knoten gebunden. Wie bei vielen Kindern vor dem Teenageralter schienen ihre Augen und Zähne zu groß für ihr Gesicht zu sein. Trotzdem ahnte Kate, dass sie eines Tages eine richtige Schönheit werden würde.

„Was nehmt ihr denn hier immer so?“ Lexi strahlte die beiden an.

„Kaffee mit Milch für mich.“ Joel hob seinen Becher.

„Und für mich Limonade“, ergänzte Chloe.

„Die trinke ich auch gerne.“ Kate war über sich selbst überrascht, weil sie sich in die Unterhaltung einmischte. „Am liebsten mit Wassermelone.“

„Das ist auch mein Lieblingsgeschmack“, entgegnete Chloe.

„Wassermelone.“ Joel verzog den Mund. „Muss wohl so ein Mädchending sein.“

Chloe kicherte.

Kate wurde plötzlich ganz warm ums Herz, als sie sah, wie das Mädchen sich freute. Als ihre Ärztin hatte sie Chloe bisher meist als sehr verschlossen erlebt. Sie führte es auf den Tod ihrer Mutter zurück. Sie hatte mit Joel darüber gesprochen, nachdem sie Chloe zum ersten Mal untersucht hatte. In Gegenwart von Fremden sei sie immer sehr still, hatte er ihr erklärt.

„Wollt ihr euch nicht zu uns setzen?“, schlug Lexi vor. „Wir stellen einfach noch zwei Stühle an den Tisch.“

Kate sagte nichts.

Chloe schaute hoch zu ihrem Vater.

Kate hielt den Atem an. Einerseits hoffte sie, dass er ablehnen würde, andererseits wollte sie, dass er blieb.

„Vielen Dank, aber ich bin mit einem Kunden verabredet. Deshalb müssen wir gleich wieder los.“ Es klang nicht nach einer Notlüge.

Joel baute nämlich luxuriöse Eigenheime in Jackson Hole, und trotz der Wirtschaftskrise boomte sein Geschäft, nach allem, was Kate gehört hatte.

„Falls dein Kunde Referenzen braucht, gib ihm unsere Nummer“, schlug Lexi vor. „Und Travis und Mary Karen sind auch total begeistert.“

„Vielen Dank. Das weiß ich zu schätzen.“ Joel trat von einem Fuß auf den anderen, als hätte ihn das Kompliment verlegen gemacht.

„Daddy!“ Chloe zog an seinem Arm. „Du hast versprochen, dass wir vorher noch meine neuen Schlittschuhe abholen.“

„Du läufst Schlittschuh?“ Ehe sie es sich versah, hatte Kate die Frage auch schon gestellt.

„Seit ich klein bin“, antwortete Chloe mit der Reife einer Neunjährigen. „Läufst du auch gern Schlittschuh?“

„Als ich so alt war wie du, habe ich das getan“, antwortete Kate.

„Das ist ja cool“, rief Chloe erstaunt. Dann senkte sie verlegen den Kopf und starrte auf ihre rosafarbenen Sneakers.

Joel zog sein Handy aus der Tasche und schaute aufs Display. „Wir sollten jetzt besser gehen.“

Seinem Blick nach zu urteilen, war er im Geiste bereits bei seinem Kunden.

Obwohl sie keinen Grund dazu hatte, schaute Kate den beiden enttäuscht hinterher.

„Seine Frau ist noch nicht so lange tot, und es war eine richtige Sandkastenliebe“, erzählte Lexi. „Lass ihm noch ein wenig Zeit. Er wird sich schon bei dir melden.“

Kate riss erschrocken die Augen auf. „Ich bin doch nicht an einem Date mit Joel interessiert.“

„Wirklich nicht?“ Lexi schmunzelte. „Das soll ich dir tatsächlich glauben?“

Obwohl sich Kate absolut sicher war, dass sie mit diesem attraktiven Bauunternehmer nichts anfangen wollte, musste sie doch zugeben, dass er ein echter Hingucker war. „Er sieht nicht schlecht aus.“

„Ah, das ist dir also doch aufgefallen.“ Lexi schien sich das Lachen verkneifen zu müssen. „Obwohl du gar nicht interessiert bist.“

Jetzt musste auch Kate schmunzeln. Vielleicht sollte sie Lexi einfach denken lassen, was sie wollte. Wenn sie das Ganze zu vehement abstritt, erweckte sie womöglich noch die Neugier ihrer Freundin, die daraufhin nur noch mehr Fragen stellen würde.

Fragen, die Kate zu beantworten überhaupt keine Lust hatte.

Schließlich wollte sie ihr Geheimnis tief in ihrem Herzen bewahren, und genau dort sollte es auch bleiben.

Nachdem Kate am Sonntagmorgen früh aufgewacht war, öffnete sie die Türen ihres Kleiderschranks und suchte nach einem passenden Kleid für den Kirchenbesuch. Sie hatte sich vorgenommen, in Zukunft öfter in die Kirche zu gehen – nicht zuletzt deshalb, um vielleicht neue Freunde zu finden.

Sie entschied sich für ein farbenfrohes Slip-Dress und große Ohrringe, die sie kürzlich spontan gekauft hatte. Nur für die Wahl der Schuhe brauchte sie so lange, dass die Gemeinde bereits den Eingangs-Choral sang, als sie die Kirche betrat. Als sie auf der Suche nach einem Sitzplatz an den Bänken vorbeihuschte, hörte sie plötzlich jemanden ihren Namen rufen.

Sie drehte sich um und entdeckte Chloe, die sie nun schüchtern anlächelte. Joel winkte Kate zu sich. Das braune Haar, das normalerweise immer zerzaust war, hatte er heute sorgfältig gekämmt, und er hatte sich noch dazu rasiert. In seinem blauen Blazer, der braunen Hose und dem dunkelblau karierten Hemd sah er eher so aus, als wäre er unterwegs zu einem Geschäftstermin, doch das Outfit stand ihm sehr gut.

Chloe und er rückten ein wenig zur Seite, um ihr Platz zu machen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie sich zwischen die beiden quetschte. Sie spürte Joels muskulösen Schenkel an ihrem nackten Bein, was augenblicklich Gefühle in ihr verursachte, die in einer Kirche eigentlich nichts verloren hatten.

Verstohlen betrachtete Joel ihre Ohrringe – oder ihre Brüste? –, ehe er sich wieder auf das Gesangsbuch konzentrierte.

Auf einmal kam Kate sich ganz nackt vor – wie in einem jener Albträume, bei denen man nur in Unterwäsche durch die Straßen läuft.

Der Duft seines Aftershaves stieg ihr in die Nase, und die Wärme seines Körpers umfing sie wie ein Umhang. Es war nicht leicht, sich auf die Wörter und die Noten zu konzentrieren, die plötzlich vor ihren Augen verschwammen.

Sie nahm sich vor, nach der Messe sofort zu verschwinden, aber Lexi Delacourt machte ihr einen Strich durch die Rechnung, denn von irgendwoher war sie plötzlich aufgetaucht und hatte sich an den Rand der Kirchenbank gestellt, sodass Kate nicht hinauskonnte.

„Du siehst fantastisch aus, Kate.“ Lexi umarmte sie kurz und warf dann einen Blick auf den Mann, der hinter ihr in der Bank gefangen war. „Sieht sie nicht hübsch aus, Joel?“

„Wunderschön“, erklang sein tiefer Bariton hinter ihr.

Seine Stimme ließ sie unwillkürlich erschauern. Oder war es sein warmer Atem in ihrem Nacken? Höchste Zeit, auf Abstand zu ihm zu gehen. Wenn Lexi bloß endlich zur Seite treten würde …

„Wir gehen immer im Coffeepot frühstücken, solange die Kinder in der Sonntagsschule sind“, verkündete Lexi, ohne von der Stelle zu weichen. „Ich hoffe, ihr zwei kommt auch mit uns.“

„Ich glaube ni…“, begann Kate.

„Aber sicher doch“, sagte Joel im selben Moment. „Das ist eine sehr gute Idee.“

Ein kurzes Schweigen entstand nun, und Kate wäre am liebsten im Boden versunken.

„Dr. Kate will nicht mit dir gehen, Daddy“, meldete sich Chloe jetzt zu Wort. „Ich glaube, sie mag dich nicht.“

„Entschuldigen Sie, Kate“, sagte er hastig. Seine Worte trafen sie mitten ins Herz. „Ich wollte Ihnen nicht zuvorkommen.“

Lexis braune Augen blieben auf Kate geheftet.

Kate schluckte hart. Obwohl sie ja eigentlich Abstand halten wollte, lag es ihr fern, diesen netten und aufrichtigen Mann vor den Kopf zu stoßen. Außerdem war das Ganze ja kein Date. Lexi hatte von einer ganzen Gruppe gesprochen, die sich verabredet hatte. Sie musste ja nicht unbedingt genau neben ihm sitzen.

Deshalb drehte sie sich um und schaute ihn über ihre Schulter hinweg an. „Frühstück klingt doch gut.“

Erneut lief ihr ein Schauer über den Rücken, als sie sein strahlendes Lächeln sah. Dann wandte sie sich an Chloe. „Jeder mag deinen Vater, er ist ein großartiger Mensch.“

„Du magst ihn auch?“ Chloes Forschheit überraschte Kate.

Sie zögerte keine Sekunde. „Ja, natürlich.“

„Na, dann.“ Auch Lexi lächelte jetzt übers ganze Gesicht. Sie schien erleichtert zu sein. „Das ist doch ein Wort. July und David sind bereits losgegangen, um unseren Lieblingstisch zu besetzen. Wir treffen uns dann im Café.“

Während Kate auf dem Weg hinaus aus der Kirche einige Patienten und deren Angehörige grüßte, spürte sie auf einmal Joels Hand auf ihrem Rücken. Es war eine sehr intime Geste, aber sie fand sie sehr schön.

Als sie den Vorraum erreichten, lief Chloe hinunter in den Klassenraum und ließ Kate mit Joel allein. Schweigend gingen sie gemeinsam zum Parkplatz.

„Kann ich Sie vielleicht mit in die Stadt nehmen?“, fragte er. „Im Zentrum sind die Parkplätze knapp, also wäre das ganz vernünftig. Es sei denn, Sie müssen nach dem Frühstück noch irgendwo hinfahren.“

Es geht nur um ein Frühstück, rief sie sich erneut ins Gedächtnis. Sonst nichts.

„Ja, fahren wir doch … zusammen.“ Das letzte Wort kam ihr nicht so leicht über die Lippen. „Ich hoffe, Sie haben in der Nähe geparkt, ich sterbe nämlich vor Hunger.“

Joel entging nicht, dass die Gäste im Coffeeshop sie mit mehr oder weniger verstohlenen Blicken musterten, als er sich mit Kate einen Weg durch das voll besetzte Restaurant bahnte.

Doch sie schauten nicht ihn an, sondern Kate. Wo immer sie hinkam, zog sie automatisch die Aufmerksamkeit aller anderen auf sich. Sie war einfach so schön. Ihr farbenfrohes Kleid ließ viel von ihren Beinen sehen, und die hochhackigen Schuhe – rot mit einem kleinen Riemchen um die Knöchel – waren ebenfalls ein echter Hingucker.

Obwohl es nicht fair war, verglich Joel sie unweigerlich mit seiner verstorbenen Frau. Was ihre Kleidung anging, hätten die beiden nicht unterschiedlicher sein können. Seine Frau hatte stets hochgeschlossene Kleidung bevorzugt, die nur wenig Haut zeigte, und bequeme Schuhe mit flachen Absätzen. Auch was den Schmuck anging, waren ihre Vorlieben eher konservativ gewesen. Sie hatte eigentlich immer nur ihren Ehering und kleine goldene Ohrringe getragen …

Abrupt blieb Kate stehen, sodass er fast gegen sie gestoßen wäre. Obwohl Kate es sich nicht anmerken ließ, spürte er, dass sie plötzlich verunsichert war … geradezu …

Hätte er diese Reaktion nicht von seiner Tochter gekannt, hätte er sich wohl gewundert.

Der zögernde Ausdruck auf ihrem Gesicht … die leicht gerunzelte Stirn … ihr Atem, der plötzlich schneller ging.

Sofort erwachte sein Beschützerinstinkt zum Leben.

„Manchmal kostet es Überwindung, sich zu fast fremden Leuten an den Tisch zu setzen.“ Joel sprach so leise, dass nur sie ihn hören konnte.

„Ich kenne doch alle“, widersprach sie ihm, ging aber keinen Schritt weiter.

„Klar. Aber Sie müssen sich ja auch nicht mit allen gleichzeitig unterhalten“, sagte er beiläufig. „Nur mit denen, die in unserer Nähe sitzen.“

Unserer Nähe. Das Wort ging ihm so leicht von den Lippen. Nach all den Jahren, die er verheiratet gewesen war, sah er sich noch immer als Teil eines Paares. Er hoffte, dass Kate es ihm nicht übel nahm.

Doch es schien ihr gar nicht aufgefallen zu sein. Sie schaute nur auf den großen Tisch, an den zwölf oder dreizehn Gäste passten. Nur drei Plätze am anderen Ende waren noch frei – und ein einzelner Platz neben Lexi. Der war vermutlich für Nick, ihren Mann, reserviert.

Eine Kellnerin in mittleren Jahren mit einem Nasenpiercing und orangefarbenem Lippenstift nahm bereits die Bestellungen auf.

„Wir sollten uns besser hinsetzen.“ Joel fasste sie am Ellbogen und schob sie behutsam vorwärts. Kurz bevor sie den Tisch erreichten, trat er einen Schritt zurück.

„Hallo miteinander.“ Kate lächelte etwas gezwungen.

Während die anderen zurückgrüßten, stellte Joel sich hinter einen der freien Stühle und wartete, welchen Kate auswählen würde, um ihn für sie hervorzuziehen.

Sie überlegte kurz, ob sie sich neben Lexi setzen sollte, doch in diesem Moment kam Nick herein und steuerte geradewegs auf den Stuhl neben seiner Frau zu. Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange und nahm neben ihr Platz.

Kurz darauf stieß auch Ryan zu ihnen. Im Gegensatz zu den anderen Männern, die in der Kirche gewesen waren, trug der Anwalt löchrige Jeans und ein ausgewaschenes T-Shirt. Sein Haar war noch feucht, als käme er gerade aus der Dusche.

Obwohl Joel normalerweise nichts um den Klatsch gab, wer gerade mit wem ging, hatte er dennoch mitbekommen, dass Kate vor Kurzem mit Ryan Schluss gemacht hatte. Einige spekulierten, dass es nicht lange dauern würde, bis die beiden wieder zusammenkämen. Aber selbst, wenn nicht – Joel glaubte, dass Kate sich nicht so schnell auf eine neue Beziehung einlassen würde.

Ryan wurde mit großem Hallo begrüßt. Der Anwalt schaute sich um, wobei sein Blick kurz auf dem freien Platz neben Kate verweilte. Joel entging nicht, dass er sich nach einer anderen Sitzmöglichkeit umschaute, ehe er widerwillig neben ihr Platz nahm.

„Hallo, Joel. Kate.“ Ryan breitete die Serviette auf seinem Schoß aus und sagte der Kellnerin, dass er einen Kaffee wollte.

„Heute keine Lust auf die Predigt gehabt, Ry?“

Kates muntere Begrüßung überraschte Joel. Obwohl die beiden erst kürzlich Schluss gemacht hatten, herrschte keinerlei verlegene Stimmung zwischen ihnen. Falls Kate sich unbehaglich fühlte, merkte man es ihr nicht an.

Ryan ließ sich von der Kellnerin eine Tasse mit dampfendem Kaffee servieren, ehe er sich an seine Ex-Freundin wandte. In seinen Augen glitzerte es schelmisch.

„Immerhin bin ich nicht im Unterrock in die Kirche gegangen“, konterte er mit einem Blick auf ihr Kleid. „Du hattest es heute Morgen wohl ziemlich eilig.“

Einen Moment lang war sie verblüfft, doch dann lachte sie laut. „Wenn du es sagst …“

Der muntere Schlagabtausch versetzte Joel unwillkürlich einen Stich. Fast so, als wäre er eifersüchtig, was natürlich vollkommener Unsinn war. Es war ihm egal, ob sie wieder mit Ryan zusammenkam … vollkommen egal.

„Ich habe deinen Wagen gar nicht gesehen, Kate“, sagte Ryan, nachdem die Kellnerin das Essen serviert hatte. „Ist der Subaru wieder in der Werkstatt?“

Kate schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich bin mit Joel hierhergefahren.“

Überrascht schaute Ryan zu Joel hinüber. „Wie hast du das bloß geschafft? Mit mir wollte sie niemals fahren, egal, wie sehr ich auch gebettelt … ähm … sie eingeladen habe.“

Autor

Cindy Kirk
<p>Solange sie denken kann, liebt Cindy Kirk das Lesen. Schon als kleines Mädchen in der ersten Klasse hat sie einen Preis dafür gewonnen, hundert Bücher gelesen zu haben! 1999 war es so weit: Ihr erster eigener Roman erschien bei Harlequin. Seitdem muss die Autorin ihr Lieblingshobby Lesen damit unter einen...
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