Wie stiehlt man das Herz eines Ritters?

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Reynold of Warstone, der düstere Ritter, will Rache nehmen an allen, die ihm Unrecht getan haben. Ausgerechnet jetzt taucht eine uneheliche Tochter auf, die seines Schutzes bedarf! Wem kann er sein Kind anvertrauen? Die schöne Aliette, eine einfache Diebin niedrigen Standes, sieht der Kleinen ähnlich genug, um sie als ihre Mutter auszugeben. Reynold holt sie in sein Haus, und schon bald ist er verzaubert von der Zärtlichkeit und Wärme, mit der sie seine kleine Tochter umsorgt. Wird es ihm gelingen, die finsteren Rachepläne hinter sich zu lassen und mit Aliette in eine strahlende Zukunft zu blicken?


  • Erscheinungstag 22.02.2022
  • Bandnummer 375
  • ISBN / Artikelnummer 9783751507479
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Frankreich, 1297

Ich versichere Euch, Monsieur, es ist Euer Kind.“

Reynold machte sich nicht die Mühe, sich zu der Frau umzuwenden, die hinter ihm stand. Überhaupt nahm er von kaum jemandem Notiz, außer es kam ihm gelegen. Der kehlige Akzent der Frau und der von ihr ausgehende Gestank nach altem Schweiß waren für ihn eindeutige Anzeichen, sich nicht umdrehen zu müssen.

Genau genommen galt das für nahezu jeden. Wenn Reynold gezwungen war, sich unter die Schmarotzer am Hof zu mischen, nahm er deren Gesellschaft notgedrungen hin, doch für den König von England war er unter niemandes Würde.

Im Schutz seiner eigenen vier Wände wollte er ja kaum anerkennen, dass er unter Gottes Würde war.

Er war ein Ritter, auf das Beste ausgebildet und fähig, mit so gut wie jeder von Menschenhand erschaffenen Klinge einem anderen den Tod zu bringen. Was jedoch niemand wusste, war die Tatsache, dass er bei den Spielen, auf die er sich einließ, todbringender war als jeder andere. Wer seine verborgene Gabe entdeckte, der lebte nicht lange genug, um anderen davon zu erzählen.

Zudem hatte er das Glück, so reich zu sein, dass er es mit König Edward hätte aufnehmen können. Etwas von diesem Reichtum stellte er in seinen Privatgemächern zur Schau, und genau dort hielten er und die Bäuerin hinter ihm sich in diesem Moment auf. Üppig drapierte Seidenstoffe, feinste mit Goldfäden durchwirkte Stickereien in Farben, die an Edelsteine erinnerten, dazu eine Vielzahl an Büchern. Er besaß mehr Orte, die er sein Zuhause nennen konnte, als jeder andere Mann, den er kannte. Ebenso war er weit öfter auf Reisen, auf denen ihn seine Bücher stets begleiteten.

Das Einzige, was ihn zu ärgern vermochte, war der Umstand, dass die Kirche noch reicher war als er. Aber er tröstete sich mit der Tatsache, dass die Kirche schon tausend Jahre und länger Plünderei hatte betreiben können, während er noch viele Jahre vor sich hatte, um den Vorsprung der Kirche aufzuholen.

All diese Dinge machten ihn aus, doch es war sein Familienname, der jeden anderen hinter ihm zurücktreten ließ: Warstone. Ein Name, der ihm unvorstellbare Macht gewährte und der überall eine nie dagewesene Furcht auslöste. Zwar strebte er danach, jede Verbindung zu diesem Namen auszulöschen, jedes für ihn errichtete Monument niederzureißen und jede Schriftrolle zu verbrennen, auf der er Erwähnung fand. Dennoch würde er vorerst den Namen, der ihm mit seiner Geburt mitgegeben worden war, weiter verwenden, solange der seiner Sache dienlich war.

Schließlich passte der Name zu dem Spiel, das er spielte, und dennoch freute er sich schon auf den Tag, an dem dieser Name keine Bedeutung mehr hatte. Dann würde er von dem Warstone-Vermächtnis ebenso keine Notiz mehr nehmen wie von der Bürgerlichen hinter ihm, die ungeduldig von einem Bein aufs andere trat.

Bürgerliche machten das in seiner Gegenwart oft, meistens in der Absicht, darauf gefasst zu sein, sich mit einem Sprung in Sicherheit zu bringen. Es half ihnen nie. Sie konnten rennen, so weit sie wollten, doch wenn er ihren Tod wünschte, würde der sie auch ereilen. Die Adligen waren oftmals zu dumm oder zu träge, um zu begreifen, dass sie in seiner Anwesenheit mehr Vorsicht walten lassen sollten. Stattdessen jedoch erzählten sie ihm aus ihrem Leben oder machten sogar Geständnisse, als glaubten sie, er würde Mitleid mit ihnen haben.

Er fragte sich, ob er die Frau hinter ihm würde töten müssen, und wandte den Blick von der Aussicht jenseits des Fensters ab, um die Spiegelung im Fensterglas zu betrachten, die ein verzerrtes Abbild der Frau hinter ihm zeigte … und ein ebenfalls verzerrtes Abbild des Kindes, das sie in ihren Armen hielt.

Ihre dunklen Haare und ihre zerlumpte Kleidung waren für ihn Beweis genug, dass das Kind nicht seines sein konnte, falls es das war, was sie ihm weismachen wollte. Was ihr Anblick ihm verriet, war weder überraschend noch behagte es ihm. Daher wartete er ab, was ihre Angst ihr raten sollte: Lauf weg.

Vielleicht strömte ein wenig adliges Blut durch ihre Adern, und sie wusste nicht, dass ihr Leben bald enden würde. Jedoch nicht hier, nicht in diesem speziellen unauffälligen Zuhause im Herzen von Paris. Diesen Zufluchtsort würde er nicht mit ihrem Blut besudeln.

Sterben musste sie dennoch. Er tat nie, was Lügner und Betrüger von ihm forderten, und nach ihrer Kleidung und ihrer Haarfarbe zu urteilen, trafen beide Bezeichnungen auf sie zu.

Im Augenblick wartete er weiter ab. Der Nachthimmel war schwarz, aber die Nacht war noch nicht ganz finster, denn hier und da war in den eleganten Häusern ringsum flackernder Kerzenschein auszumachen. Wenn er seine Ohren anstrengte, konnte er in weiter Ferne Gelächter und Rufe vernehmen. Paris schlief niemals, was einer der Gründe dafür war, dass er so gern herkam. Auch gefiel ihm, dass diese Stadt so gut wie jedem Unterschlupf gewährte, ganz gleich aus welcher Schicht, ganz gleich ob Mensch oder Tier. Ihm erlaubte es, sich hier völlig unerkannt zu bewegen. Schließlich wollte er ja auch nicht entdeckt werden, solange sein Spiel noch nicht beendet war.

„Monsieur?“

„Bist du immer noch hier?“, gab er zurück.

Das leise erschrockene Keuchen der Frau erinnerte ihn daran, wieso er ihr überhaupt Zutritt zu seinem Heim gewährt hatte. Derart Ungeziefer sorgte in den langen Winternächten für Abwechslung. Das war auch der einzige Zweck, dem sie hatte dienen sollen, als seine Wachen ihn hatten wissen lassen, dass eine Frau darum bat, ihn zu sehen. Der einzige Unterschied zwischen ihr und allen anderen, die zu ihm wollten, war der, dass sie ein Kind bei sich hatte.

Als er sie zu sich gelassen hatte, war Neugier nicht die treibende Kraft gewesen. Das hätte eine Gefühlsregung vorausgesetzt, doch wie üblich empfand er gar nichts. Schließlich würde sie nicht die erste Frau sein, die behauptete, von ihm ein Kind bekommen zu haben. Solche Behauptungen hatte es immer wieder gegeben, seit er alt genug war, um Nachkommen in die Welt zu setzen. Die vielen falschen Behauptungen hatten zuerst seine Sehnsucht nach einem Kind geweckt, dann aber zusammen mit seinem Herzen irgendwo auf den dunklen Pfaden begraben, die er hatte gehen müssen. Und doch sehnte er sich nach dem, was er einmal in einem Buch gelesen hatte: nämlich nach einer langen Reise an den heimischen Herd zurückkehren zu können. Jedoch hatte er das Leben mit einer Familie, mit einer echten, richtigen Familie nie erfahren können, und deshalb hatte er dieser Frau gestattet, ihm ihr Anliegen vorzutragen.

Da er nun aber ihr Spiegelbild gesehen hatte, bedauerte er seine unüberlegte Entscheidung, denn nun musste er ihre Verneinungen über sich ergehen lassen und ihr vielleicht sogar Geld zustecken. Sehr wahrscheinlich würde er ihre Ermordung anordnen müssen. Was für eine Enttäuschung!

Sein Blick kehrte zurück zu ihrem Spiegelbild, und er fuhr fort: „Das Kind ist nicht von mir, aber die Münze, die ich dir geben werde, könnte dir gehören.“ Zumindest für eine Weile. „Jedoch nur, wenn du sofort gehst und kein weiteres Wort mehr sagst.“

Er betete, sie möge den Mund halten, wusste aber, dass sie das nicht tun würde. Was für eine Verschwendung von Leben und welche Vergeudung seiner kostbaren Zeit.

Er hatte nie mit dieser Frau das Bett geteilt. Dabei war es nicht ihre Armut, die ihm das verriet, sondern ihre Haarfarbe. Er teilte niemals das Bett mit einer dunkelhaarigen Frau, waren doch schon seine eigenen Haare so schwarz wie seine Seele. Er wollte nicht, dass man von einem Kind sagen konnte, es sei seins. Natürlich wusste er, dass es keine Gewissheit gab. Doch dafür war er ein Meister darin, die Gunst auf seine Seite zu ziehen.

Daher teilte er nie zweimal mit der gleichen Frau das Bett, und er achtete gewissenhaft darauf, weder eine Spur von sich in ihrem Bett noch seine Saat in ihrem Leib zurückzulassen. Er mied alle Frauen mit dunklen Haaren und solche mit grauen Augen, denn wenn die Frau dennoch ein Kind bekam, bestand die Möglichkeit, dass es genauso blond war wie die Mutter. Damit konnte er jede Beteiligung von sich weisen.

„Es ist Euer Kind. Ihr müsst es Euch nur ansehen.“ Die Frau machte einen Schritt nach vorn, was auf dem Holzboden deutlich zu hören war. Sie war für die herrschende Kälte nicht warm genug gekleidet, eine von vielen verzweifelten Frauen, die alle irgendwie versuchten, die restlichen Wintermonate zu überleben. Zu dumm, dass sie den Mund aufgemacht und so dafür gesorgt hatte, dass sie das Ende dieses Abends nicht erleben würde.

„Da du redest“, erwiderte er, „scheinst du mein Geld nicht haben zu wollen. Ich könnte dich von meinen Wachen aus diesem Gemach schaffen lassen, aber mir ist klar, dass du ein Kind in den Armen hältst. Deshalb werde ich bis drei zählen, damit du jetzt noch gehen kannst. Gehst du nicht, dann hast du alles, was dir danach zustößt, nur dir selbst zuzuschreiben …“

Die Frau stieß ein raues Gelächter aus. „Ich wusste, dass Ihr so reagieren würdet. Kaltherzig und unerbittlich. Aber das soll mich nicht stören, mir kommt das nur gelegen.“

Diese Frau … hegte eine Absicht. Wie interessant. Wenn diese Bürgerliche eine Absicht hegte, wusste sie etwas über ihn. Und wenn dem so war, dann bewegte er sich nicht länger unerkannt durch die Stadt, was ihm keineswegs gelegen kam. Sein Überleben hing davon ab, dass niemand wusste, wer er war. Also würde diese Frau tatsächlich sterben müssen – aber erst nachdem sie ihm einige Fragen beantwortet hatte.

Bedächtig drehte sich Reynold um, sah zunächst auf die Füße der Frau und ließ dann den Blick zu ihrem Gesicht wandern. Diese Frau war weitaus ungepflegter, als es die Spiegelung hatte vermuten lassen. Trotz ihrer rauen Haut und des verdreckten Kleidersaums strahlte sie Dienstbarkeit, aber auch noch etwas anderes aus, nämlich … Habgier.

Habgier. Es war diese Erkenntnis, die ihn dazu veranlasste, sich das Kind in ihren Armen genauer anzusehen. Wenn sie sich Geld von ihm erhoffte, hatte sie ihr Vorhaben nicht gut geplant. Das Kind war noch nicht lange auf der Welt, aber er war nach fast zwei Jahren Abwesenheit erst vor Kurzem nach Paris zurückgekehrt.

Dieses Kind war noch winzig, und angesichts des eisigen Windes für den Winter in dieser Stadt viel zu dünn angezogen und nicht einmal von Kopf bis Fuß mit Stoff bedeckt. Obwohl die Mutter sich mit dem Kleinen nun schon eine Weile in seinem geheizten Heim aufhielt, waren Wangen und Hände von der Kälte immer noch gerötet.

Der Kopf war Wind und Wetter völlig schutzlos ausgesetzt, aber dafür zierte ihn ein erstaunlicher, schwarzer Haarschopf. So schwarz wie die Haare der Frau, die das Kind festhielt.

Ihm fiel auf, dass sie zwar sagte, er sei der Vater, doch mit keinem Wort war davon die Rede, ob sie überhaupt die Mutter war.

Angesichts dieser dunklen Haare konnte er ihre Behauptung nicht rundweg abstreiten. „Wer ist deine Herrin?“

„Sie ist nicht meine Herrin, auch wenn ich so tue, als wäre sie es. Sie hat mich gut bezahlt, damit ich den Mund halte. Aber ich wusste, Ihr würdet zurückkehren, also habe ich gewartet. Sie hat mich zwar gut bezahlt, aber Ihr besitzt noch mehr Geld als sie.“ Die Frau ließ den Blick durch das Gemach wandern, bis er an einem goldenen Kästchen mit Emaillearbeiten hängen blieb. „Ich würde sogar sagen, Ihr habt erheblich mehr als sie.“

„Du sagst, das ist mein Kind, und die Mutter hat dich bezahlt, damit mein Name nicht in Verbindung mit dem Kind genannt wird? Was für eine Art von Vertrauensperson willst du nur sein?“

„Ich bin weder das noch eine gute Freundin dieser Frau. Vielmehr hasse ich sie. Sie glaubt, ich wäre nur dazu gut, ihren Nachttopf zu leeren. Niemand würdigt die Diener eines Blickes, die so was machen müssen. Aber ich war in der Nacht dort, als sie sich auf den Weg machte, um Euch zu besuchen. Und ich war auch in den Monaten nach Eurer Abreise da. Als die Zeit gekommen war, ließ ich sie wissen, was mir bekannt ist.“ Die Frau lächelte boshaft. „Sie hielt sich für eine schlaue Witwe, indem sie behauptete, das Kind sei von einem anderen Mann. Als ich sagte, dass das nicht stimmt, bezahlte sie mir genau die Summe, die ich gefordert hatte. Sie flehte mich an, ihrem damaligen Liebhaber nichts davon zu verraten, weil er ihr mehr Geld gab, da er es für sein Kind hielt. Aber ich wusste es besser, und weil sie dieses Kind liebt, hat sie mich sofort bezahlt. Diese Frau ist so kaltherzig wie Ihr. Aber sie hatte keine Angst davor, dass der lustlose Prahler davon erfuhr, mit dem sie sich die Zeit vertrieb. Nein, nein, sie fürchtete sich vielmehr davor, ich könnte es dem leiblichen Vater sagen. Damit war mir klar, dass Ihr jemand Wichtiges sein müsst. Und dass Eure Taschen voller Gold sein müssen. Genug, damit ich für den Rest meines Lebens ausgesorgt habe.“

In seiner Erinnerung tauchte eine vermögende blonde Witwe auf, die sich ihre Dienste mit barer Münze bezahlen ließ. Zwar war ihm ihr Name entfallen, und er wusste auch nur noch ungefähr, wie sie aussah, aber es gab hier eine solche Witwe, mit der er vor ungefähr zwei Jahren das Bett geteilt hatte.

Eine Gefühlsregung strich über sein Herz. Eine, die er nicht mehr verspürt hatte, seit er Zeuge eines Gesprächs seiner Eltern geworden war, wie die besprochen hatten, mit welchen Methoden sie ihn brechen wollten. Dieses Gefühl breitete sich nach und nach in ihm aus, als hätte es nur darauf gelauert, wieder zum Vorschein zu kommen. Es war noch schwach, aber bereits allzu vertraut.

Angst.

Er hatte zwar ausreichend Anlass, den Wahrheitsgehalt der Worte dieser Bürgerlichen anzuzweifeln, dennoch war das Ganze zugleich stichhaltig genug, um wahr sein zu können. Eine habgierige Dienerin, ein Kind mit schwarzen Haaren, eine wohlhabende Herrin, die ihr Kind so sehr liebte, dass sie es vor ihm beschützen wollte. Die Witwe, die er im Sinn hatte, war am Hof ein und aus gegangen, aber dann war sie in Not geraten und hatte für ihn damit die Ausnahme von der Regel dargestellt. Sie war eine Adlige, die gewusst hatte, wann sie vor ihm weglaufen musste.

Doch dieser Angst dicht auf den Fersen war noch eine andere Regung, etwas Strahlendes und Durchdringendes. Wenn dies sein Kind war, dann … Nein, so durfte er nicht denken. Das konnte er sich nicht leisten, und doch verspürte er bereits das Verlangen, das Kind in seinen Armen zu halten. So wie er es schon oftmals getan hatte. Würde dieses Verlangen niemals aufhören ihn heimzusuchen?

Wie konnte eine liebevolle Mutter ihr Kind einer so verabscheuungswürdigen Kreatur wie dieser Frau überlassen? „Was hast du der Mutter angetan?“

„Gar nichts.“ Sie drehte das Kind so, dass sie es im anderen Arm halten konnte. „Die Mutter ist zu Hause, oh ja.“

„Du willst mir weismachen, dass du dieses Kind seiner Mutter weggenommen hast? Ich würde eher sagen, dass es dein Kind ist.“

„Es hat schwarze Haare.“

„Dunkle Haare hast du auch.“

Die Frau seufzte ungeduldig, was ihn nur noch mehr beunruhigte.

„Sie will Euch nicht sehen. Bezahlt mich doch einfach, dann übergebe ich Euch das Kind? Oder wollt Ihr kein eigenes Kind?“

Sie hielt es ihm wie eine Opfergabe hin, im gleichen Moment schlug das Kind die Augen auf. Die Farbe konnte er nicht erkennen, aber nun stellte er doch fest, dass das Alter des Kindes durchaus passen konnte. Dass es so klein war, lag daran, dass es nicht genug zu essen bekommen hatte. Doch es war sehr wohl alt genug, um tatsächlich sein Nachkomme zu sein.

Er riskierte viel, wenn er dieser Frau zuhörte, aber er würde noch viel mehr riskieren, wenn er es nicht tat. Er könnte die Frau und das Kind töten lassen, doch wenn eine Mutter ihr Kind als vermisst meldete, würde das so viele Leute auf den Plan rufen, die er in seinem Spiel nicht gebrauchen konnte. Es gab auch so schon zu viele Personen, die er im Auge behalten musste.

Bedauerlicherweise wusste er nicht, wo die Mutter wohnte, da sie sich seinerzeit an einem anderen Ort getroffen hatten. Das offenbarte eine Schwachstelle in seinem vermeintlich genialen Plan, der seine wahre Identität hatte geheim halten sollen.

Ihm blieb somit nichts anderes übrig, als dieser Frau nach draußen zu folgen. Es war gut möglich, dass er damit in eine Falle geriet. Das war zumindest eine Ablenkung, die seiner Aufmerksamkeit würdig war. „Liefere mir den Beweis, dass du nicht die Mutter bist, dann erhältst du, wofür du hergekommen bist.“

Die Frau sah ihn skeptisch an. „Ich bringe Euch zu ihr, und dann bezahlt Ihr mich?“

Wenn diese Mutter nicht die Frau war, mit der er das Bett geteilt hatte, dann würde er einmal mit seiner Klinge ausholen und sie für immer zum Schweigen bringen. Anschließend würde er die Klinge in das Herz dieser Dienerin bohren, damit diese Verräterin den Schmerz zu spüren bekam. Lügner, wohin man nur schaute.

Falls es sein Kind war, hatte es in seinem Leben keinen Platz. Seine Brüder würden es erst quälen und schließlich umbringen.

Falls es wirklich sein Kind war und es ihm auch nur ein klein wenig bedeutete, dann würde er sich von ihm abwenden und es abermals im Stich lassen müssen. Sein Spiel hatte bereits genügend Mitwirkende, und es gab noch viele Züge zu machen. Diese spezielle Partie hatte er zwar nicht begonnen, trotzdem würde er sie zu Ende spielen.

Für ein Kind gab es in seinem Leben keinen Platz. Was die Dienerin anging, würde sie von Glück reden können, wenn sie nicht seiner Klinge zum Opfer fiel.

Sein Blick blieb auf die zerlumpte Frau vor ihm gerichtet. „Wenn es tatsächlich mein Kind ist, dann werde ich dich gut entlohnen.“

2. KAPITEL

Du kannst das unmöglich getan haben! Ich kann es nicht glauben!“ Aliette presste sich Daumen und Zeigefinger auf den Nasenrücken, gleichzeitig kniff sie die Augen zu. Aber das war nur eine vorübergehende Lösung, um nicht die Beweisstücke sehen zu müssen, mit denen sie konfrontiert worden war, als sie von ihrer morgendlichen Arbeit nach Hause gekommen war.

„Ich war das nicht“, erwiderte Gabriel sofort.

Gabriel war zehn Jahre alt, seinen Kopf krönte ein dunkelblonder Haarschopf, seine blassbraunen Augen waren von vollen, langen Wimpern eingerahmt, die bei einem Jungen nur vergeudet waren. Er schaute unschuldig drein, aber jedes Wort war eine Lüge.

Eine gute Lüge. Vermutlich nur ausgesprochen, um sie zu beschwichtigen. Dennoch war es allzu offensichtlich, dass er losgezogen war und vier Brotlaibe gestohlen hatte.

Sie wollte nicht, dass es stimmte.

Es sollte nicht wahr sein.

Doch das war es. So wahr wie die Tatsache, dass sie für den zehn Jahre alten Jungen, dessen Eltern am Galgen ihr Leben verloren hatten, genauso verantwortlich war wie für das ältliche Paar Vernon und Helewise, die sich auf das Brot stürzten, als hätten sie seit einer Woche nichts Vernünftiges in den Magen bekommen – was den Tatsachen entsprach.

Sie hatte versagt, sie war ihrer Verantwortung nicht nachgekommen. Zumindest waren Vernon und Helewise das gewöhnt, weil sie von allen am längsten bei ihr waren. Zuvor hatten sie sich auf eigene Faust durchs Leben geschlagen. Aliette war vor über einem Jahr auf die beiden gestoßen, als sie in einem anderen Viertel von Paris unterwegs gewesen war. Beide hatten sie im Dreck auf der Straße gesessen, Helewise mit ihren krummen und schiefen Knochen, Vernon mit den getrübten Augen, die ihn kaum mehr als Schemen wahrnehmen ließen. Beide waren zu gebrechlich gewesen, um sich von der Stelle zu rühren, wenn man sie mit Abfällen bewarf.

In all den Jahren, seit man sie in Paris zurückgelassen hatte, waren ihr auf den Straßen der Stadt Hunderte Bettler begegnet. Die Alten und Schwachen überstanden meistens die erste Woche nicht, da sie entweder verhungerten oder zu Tode geprügelt wurden oder rücksichtslosen Kutschern zum Opfer fielen. Nicht so diese beiden, und daher war Aliette auch so von ihnen fasziniert.

Über viele Wochen hinweg hatte sie beobachtet, wie Helewise, die zu verkrüppelt war, um zu laufen, Vernon Anweisungen gab, wo er für sie beide etwas zu essen finden konnte. Die zwei waren miserable Diebe. Der fast blinde Vernon war zu langsam, und Helewise redete so laut auf ihn ein, dass jedes aufgeweckte Kind vor ihm die anvisierte Beute erreichen und einstecken konnte. Für sie hatte es keine frisch gebackenen Brotlaibe gegeben, auch keine Überreste in den Futtertrögen für die Tiere. Sie hatten sich mit dem begnügen müssen, was andere aus Unachtsamkeit fallen ließen und was ihnen jemand aus Mitleid in die Hand drückte.

Sie waren ungewaschen und halb verhungert, aber ihre Seelen waren im Gegensatz zu denen der anderen nicht so hart und gefühllos geworden. Sie gingen freundlich miteinander um, und sie teilten, was sie an Essen fanden. Gab es nichts zu essen, spendeten sie sich gegenseitig Wärme.

Das Beobachten endete an dem Tag, als Vernon Helewise zum Lachen brachte. Es war nicht das herablassende Lachen der besseren Leute, sondern es hatte eine fesselnde Leichtigkeit. Es hatte auch nichts von dem Spott und der Verachtung der Straße, sondern es war … Aliette konnte es nicht richtig in Worte fassen. Es erfasste die beiden und sprang auch auf Aliettes Herz über. Es war so etwas wie Wärme, noch viel besser.

An dem Tag gab sie ihnen alles, was sie an Essbarem hatte auftreiben können, und dann wurde sie von ihnen eingeladen, sich doch zu ihnen zu setzen. Dann erzählten sie ihr Geschichten davon, wer sie waren und woher sie kamen. Geschichten über Legenden, tapfere Heldinnen und Liebe. Das war das Wort, das sie benutzt hatten: Liebe.

War es Liebe, die ihre Seele am Leben erhalten hatte? Auf jeden Fall nahm an diesem Tag etwas seinen Lauf. Zuerst hatte sie noch geglaubt, dass dieser Druck auf ihre Brust womöglich daher kam, dass sie etwas Verdorbenes gegessen hatte. Doch das Gefühl hörte nicht wieder auf und fühlte sich an wie diese Wärme, die Helewise mit ihrem Lachen in ihr ausgelöst hatte. Dazu gesellte sich eine fast schmerzhafte Sehnsucht nach etwas, von dem sie wusste, sie hatte es nie besessen. Von ihren Eltern war sie im Stich gelassen worden. So sehr sie sich auch gewünscht hatte, von irgendwem geliebt zu werden, geschah das nicht. Wäre sie dazu fähig gewesen, Liebe zu geben oder zu empfangen, hätte sie in so vielen Jahren längst jemanden gefunden. Aber solange sie die Liebe zwischen Vernon und Helewise beobachten konnte, wollte sie die Hoffnung nicht völlig aufgeben. Nicht einmal dann, wenn die Sehnsucht sie nur traurig stimmte.

Sie gab dieser Sehnsucht die Schuld daran, dass sie die beiden dorthin brachte, wo sie selbst lebte: unter einer kleinen Brücke in einem Viertel von Paris, in dem praktisch nur Handwerker ihre Werkstätten hatten. Kein Bürger, der etwas auf sich hielt, wollte in der Nähe dieses Viertels wohnen, das vom Gestank der verarbeiteten Stoffe geprägt war. Damit gab es auch keine besseren Bürger, die ein Interesse daran gehabt hätten, sie von ihrem Platz unter der Brücke zu vertreiben.

Wenn eine Zuflucht Schutz für Leib und Leben bieten konnte, war es unwichtig, ob der Gestank einem die Tränen in die Augen trieb. Sie konnte gar nicht mehr mitzählen, wie oft sie schon überfallen worden war und wie oft man sie mit einem Dolch oder einem Stock bedroht hatte, um ihr das Essen oder Kleidung zu rauben.

Paris war ein Flickenteppich aus Reichtum und Armut, und Aliette hatte gelernt, auch im Schlechten noch etwas Gutes zu entdecken und für sich zu nutzen. Natürlich hatte der Platz unter der Brücke auch Nachteile, von denen fehlender Schutz bis auf die Mauer zum Ufer nur einer war. Viel schwerer wog es, dass sie hier weit weg von den Orten in der Stadt waren, an denen es Essen zu erbeuten gab. Für Helewise und Vernon war der Weg viel zu weit, womit es Aliettes Aufgabe war, für die beiden etwas zu beschaffen.

Auf einem dieser Gänge in die anderen Viertel war sie dann auf Gabriel gestoßen, der sich vor dem Gefängnis aufhielt und so entsetzlich schluchzte, dass es ihr das Herz zerriss. Es schien so, als hätte er zum ersten Mal erfahren, wie grausam das Leben sein konnte. Er weinte so, wie es nur ein wirklich unschuldiges Kind konnte. Sie hatte das Wort „unschuldig“ schon früher gehört, aber nie richtig verstanden. Sie selbst versuchte ein guter Mensch zu sein, aber sie war eine Diebin und Lügnerin, und in ihrem Leben gab es keinen Platz für etwas völlig Reines.

Gabriels Kleidung war noch so gut wie neuwertig und sauber. Er strahlte etwas Sanftes aus, obwohl dort, wo sein rechtes Ohr hätte sein müssen, nur eine blutige, verstümmelte Masse zu sehen war. Anders als sie hatte er nicht auf der Straße leben und aufwachsen müssen.

Auch die Wachen vor dem Gefängnis waren so aufgewachsen, deshalb hatte das Schluchzen eines Kindes für sie keinerlei Bedeutung. Für Aliette war es dagegen wie ein Ruf, der an sie gerichtet war. Sie ging zu ihm, begann mit ihm zu reden und erfuhr, dass man seine Eltern ins Gefängnis gebracht hatte und ihre Hinrichtung für den nächsten Tag angesetzt worden war. Er erzählte, dass er niemanden sonst mehr hatte und auch nicht wusste, wohin er sich wenden sollte. Er hatte keine Ahnung, warum man ihm ein Ohr abgeschnitten hatte, anstatt ihn zu verprügeln. Für ein so kleines Kind war es eine ungewöhnlich grausame Bestrafung.

Seine Augen waren voller Trauer und Furcht. Er war halb verhungert, auch wenn er einen so sauberen Eindruck machte. Allein an seinen Fingern konnte sie erkennen, dass er nie auf der Straße gelebt hatte. Sie wusste, was mit sanftmütigen Kindern wie ihm geschah: Sie wurden zu Dieben oder mussten für andere stehlen. Nach seinem verstümmelten Ohr zu urteilen, hatte er dabei auf ganzer Linie versagt.

Sie wollte nicht, dass ihm noch mehr zustieß, also überredete sie ihn ganz behutsam, mit ihr zu gehen und bei ihr unter der Brücke zu leben. Erschöpfung, Hunger und das Wissen, seiner Eltern beraubt worden zu sein machten seine Beine schwer wie Blei. Sein Blick wanderte unablässig von einer Ecke zur anderen, immer auf der Suche nach möglichen Fallen.

Es war egal, wie behutsam sie auf ihn einredete, er blieb misstrauisch. Erst als er von Vernon begrüßt und von Helewise in die Arme genommen worden war, ließ Gabriel den Kopf auf ihre Knie sinken und war im nächsten Moment fest eingeschlafen.

Der Wunsch, zu jemandem zu gehören, erfüllte Aliette immer dringlicher. Das Leben, das sie mit Helewise und Vernon führte, war für Gabriel nicht gut. Sie konnte nicht länger nur ein paar Rüben stehlen, der Junge brauchte etwas Vernünftiges zu essen. Sie brauchten auch mehr, als sich alle gemeinsam unter einer Decke zusammenzukauern. Damit ihr das gelingen konnte, benötigte sie eine Arbeit, für die sie bezahlt wurde.

Das stellte sie vor ein Problem, denn Arbeit brauchte jeder. Niemand würde eine Frau ohne jegliche Kenntnisse und Fertigkeiten beschäftigen und ihr auch noch einen Lohn zahlen. Nachdem sie jedoch bei jedem Marktstand, jedem Geschäft und jedem Bauern vorgesprochen hatte, fanden sich Leute, die sie mit Essen, mit Brot vom Vortag und alten Decken für ihre Arbeit bezahlten.

Sie arbeitete hart, aber nach einer Weile wurden andere darauf aufmerksam, dass sie mit einem Mal mehr zu essen und mehr als nur eine Decke hatten. Gabriel war inzwischen zu Kräften gekommen, doch das reichte noch nicht, um sich gegen Diebe und gegen jene zur Wehr zu setzen, die sie mit Waffen bedrohten. Sie musste ihre selbst gewählte Familie beschützen.

Zunächst hielt sie nach verlassenen und aufgegebenen Häusern Ausschau, aber mehr als einmal kehrte sie mit blauen Flecken und Schnittwunden zurück, die sie den Bewohnern zu verdanken hatte, die vor ihr dort Zuflucht gesucht hatten und nicht mit ihr oder sonst jemanden teilen wollte. Dadurch sah sie sich gezwungen, in die etwas besseren Viertel vorzudringen.

Dort entdeckte sie schon bald ein Haus, das einst prachtvoll anzusehen gewesen war, jetzt aber nur noch heruntergekommen dastand. Bei vielen derartigen Häusern hatte man Fenster und Türen mit Holzbrettern vernagelt, da die Eigentümer offenbar bereit waren, jahrelang darauf zu warten, dass das Viertel wieder so wohnenswert wurde, wie es einmal gewesen war. Das Haus, auf das sie gestoßen war, gehörte zu diesen Gebäuden. Über Wochen beobachtete sie das Anwesen, ob sich dort etwas rührte, dann begann sie, nach und nach die Bretter zu lockern, die den Dienstboteneingang unter Verschluss hielten.

Als sie dann endlich durch die düsteren Zimmer gehen konnte, wusste sie, sie hatte genau das gefunden, was sie brauchten. Das Dach war weitestgehend dicht, in einem kleinen Kamin würden sie ein Feuer anzünden können. Und es gab Möbel: Tische und Stühle. Und Betten!

Etwas Besseres hätte sie gar nicht finden können. Doch angesichts der edlen Möbel war es vielleicht nur so, dass die Eigentümer Paris während des Winters verlassen hatten und sie nicht dauerhaft hier leben konnten. Bald würde der Frühling Einzug halten, auch wenn davon noch nichts zu spüren war. Ein paar Monate weiter, bis es wieder wärmer wurde, würden ihnen allen guttun, und vor allem würde es Gabriel helfen, um dessen Gesundheit es nicht so gut bestellt war. So packten sie ihre wenigen Habseligkeiten und siedelten in das Haus um.

Doch jetzt hatte Gabriel einen Diebstahl begangen und damit alles aufs Spiel gesetzt.

Ohne die Augen aufzumachen, fuhr sie fort: „Sag mir wenigstens, dass du die vier Brote nicht alle ein und demselben Bäcker geklaut hast.“

„Natürlich nicht“, entgegnete der Junge ohne einen Hauch von schlechtem Gewissen. Für ihn war das, was er sagte, nichts als die Wahrheit. Und doch war es nur eine weitere Lüge, denn alle vier Brote trugen das Zeichen eines einzigen Bäckers. Er hatte das nur gesagt, damit sie sich wieder beruhigte.

Aber nichts konnte sie jetzt beruhigen. Ihr blieben nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie brachte die Brote zurück oder sie bezahlte dafür. Weder der eine noch der andere Weg würde zu einem guten Ende führen. Brachte sie die Brote zurück, war davon auszugehen, dass der Bäcker sie nicht annahm, sondern das Geld dafür sehen wollte, das sie wiederum nicht hatte.

Sie nahm die Hand von ihrem Nasenrücken, obwohl es immer noch hinter ihrer Stirn pochte. Bedächtig atmete sie aus und machte die Augen wieder auf. Als Erstes sah sie in Gabriels braune Augen, die er weiter aufgerissen hatte als je zuvor und in denen Tränen schimmerten.

Sein ganzer schlaksiger Körper erzitterte, als sie die Arme um ihn legte. Er erwiderte ihre Umarmung nicht, doch damit hatte sie schon gerechnet. Fast drei Monate war er jetzt schon bei ihr, und noch immer waren liebevolle Gesten für ihn etwas Fremdartiges. Wer mochte er bloß gewesen sein, bevor man seine Eltern am Galgen aufgeknüpft hatte?

„Ich wollte doch nur helfen.“ Mit dem Ärmel wischte Gabriel sich über die Nase. „Helewise und Vernon sitzen mit knurrendem Magen da, und die Rüben sind verfault.“

Das lag daran, dass sie sie aus einem Futtertrog für Schweine stibitzt hatte. Sie fand, dass sie Glück gehabt hatte, weil niemand ihr zuvorgekommen war und weil die Rüben nur angefault gewesen waren. Sie ging zwar arbeiten, doch damit konnte nur ein Teil aller Bedürfnisse gedeckt werden. Meistens hing alles davon ab, was sie irgendwo erbeuten konnte.

Sie waren allesamt Diebe, aber keiner von ihnen war darin wirklich gut. Und sie war von allen die Schlechteste. Das war auch der Grund dafür gewesen, dass ihre Familie sie hier in Paris zurückgelassen hatte, als sie erst fünf Jahre alt war. Fünfzehn Jahre waren seitdem vergangen, aber sie war immer noch eine miserable Diebin.

Und nun so etwas. Vier Laibe Brot, alle vom selben Bäcker. Das hieß, dass sie aufgefallen war. Zwei Laibe würde sie sofort zurückbringen, solange die noch frisch waren.

Zuerst würde sie aber beobachten, wie sich der Bäcker seinen Kunden gegenüber verhielt. Wenn sie ihm die Laibe brachte und er zeigte sich weder freundlich noch vernünftig, dann würde man sie jagen, sobald sie das nächste Mal den Markt betraten. Ein solches Risiko wollte sie nicht eingehen. Das hier war das beste Dach über dem Kopf, das sie sich vorstellen konnte, und sie war sich sicher, dass sie so etwas vor dem Ende des Winters nicht noch einmal finden würden.

„Ich muss gehen.“

„Nein“, flehte Gabriel sie an. „Lass mich das machen. Ich habe etwas falsch gemacht.“

Hatte er so auch seine Eltern verloren? Waren sie losgezogen, hatten ein Verbrechen begangen, und waren dann nicht mehr heimgekommen? Auf diese Fragen würde sie nie eine Antwort bekommen, obwohl sie vor der Hinrichtung versucht hatte, mit ihnen reden zu dürfen. Bislang hatte Gabriel nicht erzählt, was er getan hatte, dass es ihn zur Strafe sein Ohr gekostet hatte. Überhaupt sprach er nie über seine Kindheit.

Sie beugte sich vor, bis sie mit ihm auf Augenhöhe war. „Du hast nichts falsch gemacht. Denk das bitte nicht. Aber ich muss bei Vernon und Helewise bleiben, damit sie in Sicherheit sind und damit ich ihnen notfalls bei der Flucht helfen kann. Das weißt du ja.“

Gabriel biss die Zähne fest zusammen, dabei sah sie in ihm auf einmal den Mann, der er einmal sein würde. Auf der Straße blieb niemand lange Kind.

„Ich komme zu dir zurück.“

Er begann zu zittern, musste niesen und zitterte dann noch heftiger.

Sie würde nicht so sein wie seine Eltern. Sie würde keinen von ihnen im Stich lassen. Sie waren jetzt ihre Familie. Sie hatte sie gefunden, beschützte sie, und wenn es nicht anders ging, würde sie für diese Familie auch ihr Leben geben.

„Ganz gleich, was dafür nötig ist, Gabriel, aber ich werde wiederkommen.“

3. KAPITEL

Reynold folgte der Frau auf dem gewundenen Pfad, während sie weiterhin das Kind trug. Einmal hatte sie ihm noch angeboten, es zu halten, doch nach seiner erneuten Weigerung hatte sie Ruhe gegeben.

Wieder bogen sie in eine andere Gasse ein, deren unebenes Kopfsteinpflaster mit Morast bedeckt war. Dies war einmal ein prachtvolles Viertel gewesen, doch der Zahn der Zeit hatte stark daran genagt, der Verputz an den Hauswänden war schon vor Langem abgebröckelt.

Er hatte sich diesen vernachlässigten Teil von Paris ausgesucht, um dort Quartier zu beziehen, weil hier keine verschwenderisch großen Häuser standen. Hier fanden keine Bälle statt, hier tummelten sich keine einflussreichen Leute. In jeder Stadt, in der er sich aufhielt, wählte er genau diese Art von Viertel.

Es passte nicht zu den Spielen, die er trieb, dass man auf ihn aufmerksam wurde. Die Zurschaustellung von Reichtum weckte immer Aufmerksamkeit. Nur in einem Punkt machte er eine Ausnahme von seiner Regel, stets so unauffällig wie möglich zu sein: nämlich wenn es um seine Bücher ging. Er besaß zu viele, um sie irgendwo zu verstecken, und sie waren ihm zu wertvoll, als dass er sie einfach hätte zurücklassen können. Also reisten sie immer mit und stellten den sichtbaren Beweis dar, dass er unfassbar wohlhabend sein musste, um sich diesen einen Luxus zu erlauben. Aber was sollte er sonst tun? Die Bücher waren seine Familie, sie spendeten ihm Trost. Außerdem redeten sie nicht ständig drauflos, und er konnte sie ohne Probleme bei sich zu Hause lassen.

Dort hätte er selbst auch bleiben sollen. Hinter der nächsten Ecke blieb die Frau vor einer Tür stehen. Das Haus sah noch baufälliger aus als die anderen ringsum. Die Fensterscheiben waren gesprungen, die Vorhänge waren vom Sonnenschein ausgebleicht, und selbst aus ein paar Metern Entfernung war erkennbar, dass der Seidenstoff abgewetzt und ausgefranst war. Selbst der Lehm war abgebröckelt und hatte sich auf der Straße verteilt, sodass das Flechtwerk eher wie ein Skelett und weniger wie ein Haus aussah. Bei den meisten anderen Häusern in dieser Gegend waren die Fenster und Türen vernagelt, nur dieses Haus hier war wohl noch bewohnt.

Vorausgesetzt, es war noch bewohnt.

„Sie ist da drin“, sagte die Frau und nahm das Kind in den anderen Arm. Das Kind war nun wach und lag so in ihrem Arm, dass er dessen wahre Größe erkennen konnte. Ja, es war tatsächlich groß genug, um sein Kind sein zu können.

Sein Kind. Ein Hauch von Wärme und Hoffnung regte sich in seiner Brust, doch er machte alles gleich wieder zunichte, denn mehr als das, was er hatte, konnte es für ihn nicht geben.

Am Ende seiner Reise wartete kein heimischer Herd auf ihn, sondern nur der Tod würde dort sein. Seine einzige echte Hoffnung war die, dass er dann seine Familie mit ins Verderben würde reißen können.

„Lass uns reingehen.“

Sie sah vom Kind in ihren Armen zu ihm hoch, doch er hatte nicht die Absicht, ihr das Kind abzunehmen – weder jetzt noch später. Nur so hatte er die Freiheit, Angriffe abzuwehren und seinerseits Attacken auszuführen. Ohne diese Last war er frei. Er konnte weggehen, wenn er wollte, und sich weiter seinen Spielen widmen.

„Ein Blick genügt, und Ihr werdet wissen, dass sie diejenige ist, die Eure Saat in sich getragen hat“, sagte sie zu ihm. „Dann werdet Ihr wissen, dass die Verantwortung bei Euch liegt.“

Selbst wenn es so sein sollte … es war nicht von Bedeutung. Er stand zu dicht vor der Erfüllung dessen, was sein Daseinszweck war: der Sturz seiner Familie.

„Dann sollten wir hier nicht noch mehr Zeit vergeuden“, erwiderte er und hegte keine Absicht, vor ihr diese Tür zu durchschreiten. „Nur ein Blick auf sie, und dann wirst du reich sein. Worauf wartest du noch?“

Der unschlüssige Ausdruck in ihren Augen verwandelte sich wieder in Habgier und dann in Grausamkeit. Oh ja, er kannte Leute von ihrem Schlag. Es war so einfach, sie das tun zu lassen, was sie tun sollten.

Sie öffnete die Tür, und sofort stürmten Geräusche und Gerüche auf ihn ein.

Lautes Schluchzen. Eine Frau, die so weinte, als wäre ihr alles auf der Welt genommen worden. Wehklagen, unterbrochen von lautem Husten und Keuchen. Von einem nassen Röcheln, als würde sich Blut mit der Atemluft vermischen und sich durch Mund und Nase den Weg nach außen bahnen.

Das erklärt auch die Gerüche. Der feuchte Gestank nach Schimmel, der sich wegen eines undichten Dachs an den Wänden ausbreitete, und der sich mit beißenden Gerüchen menschlicher Ausscheidungen ein Wetteifern um die Vorherrschaft lieferte.

Aber da war noch etwas anderes, das ihm die Kehle zuschnürte, ein Geruch, der das ganze Haus durchdrang und sich schwer auf seine Seele legte. Der Tod. Verwesung, als würden sie in eine entweihte Grabkammer vordringen, in der erst kurz zuvor Leichen beigesetzt worden waren.

Unwillkürlich blieb er stehen.

„Ich habe Euch doch gesagt, Ihr solltet in Eurem vornehmen Zuhause bleiben, nicht wahr?“, meinte sie spöttisch. „Ich habe Euch gesagt, bleibt daheim und nehmt das Kind an Euch. Aber Ihr musstet ja unbedingt mitkommen. Mir soll es egal sein, dabei habe ich nur versucht, nett zu sein und Euch einen Gefallen zu tun. Aber Ihr musstet mir ja das Leben schwer machen. Es war schließlich nicht so, als hätte ich unbedingt wieder hierher zurückkommen wollen. Ich habe in den letzten Monaten genug gelitten, in denen ich auf Eure Rückkehr wartete. Ihr solltet mir zusätzlich noch etwas zahlen, weil Ihr mich hierher zurückgeschickt habt, während ich dachte, das alles hinter mir zu haben.“

Was war nur heute Abend mit ihm los? Warum war er stehen geblieben? Er war doch sonst nicht empfänglich für die Befindlichkeiten anderer. Und er ließ auch keine Fremden in sein Zuhause, vor allem nicht solche, die er bald zu töten gedachte.

„Cilla? Cilla, bist du da?“, rief eine schwache Frauenstimme aus einem anderen Zimmer. Sie klang kultiviert, aber auch kränklich. „Hast du sie, Cilla? Hast du sie mir wiedergebracht?“

Cilla sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an, woraufhin er nur einmal knapp den Kopf schüttelte. Es genügte, um sie wissen zu lassen, dass sie von seiner Anwesenheit nichts sagen sollte. Ihm kam zugute, dass es ihr so auch lieber war.

Mit einem Schulterzucken ging sie nach nebenan.

„Ich bin mit Eurem Bastard zurückgekommen, Mylady.“

„Oh!“ Wieder war Schluchzen zu hören, diesmal aber geprägt von Freude und Dankbarkeit. „Ich dachte, du würdest nicht wiederkommen.“

Reynold hielt sich noch zurück. Die beiden Frauen mussten noch etwas länger miteinander reden, da es seiner Sache diente.

„Ich bin nur mit ihr spazieren gegangen“, erwiderte Cilla. „Sie brauchte ein wenig frische Luft.“

„Was würde ich nur ohne dich machen, Cilla? Du bist so … so gut. Zu ihr und auch zu mir. Du bist bei mir geblieben, als alle anderen mich verließen. Du hast auf sie aufgepasst, du hast sie vor Krankheiten beschützt. Aber natürlich brauchte sie frische Luft. Aber mich braucht sie mehr. Gib sie mir bitte.“

Die Stimme, die immer wieder von hartem Husten unterbrochen wurde, war ihm nicht vertraut, also wartete Reynold weiter im Schatten, was er grundsätzlich gern tat.

Decken wurden ausgeschüttelt, Cilla brummte vor sich hin, ihre Herrin atmete laut keuchend. Reynold stellte sich dabei vor, wie Cilla der anderen Frau das Kind überreichte.

„Aber es war verkehrt von dir, mit ihr wegzugehen, ohne mir etwas davon zu sagen“, fuhr die Frau fort, deren Tonfall mit einem Mal etwas Bestimmendes angenommen hatte. „Du hast mich in Sorge versetzt. Du weißt, dass ich mich in meinem Zustand nicht aufregen darf. Wenn ich mich erst wieder erholt habe, wird dein Handeln noch Konsequenzen nach sich ziehen.“

„Selbstverständlich, Mylady“, sagte Cilla. Es klang so, als würde sie diese Worte nicht zum ersten Mal hören. Worte, die für sie keine Drohung darstellten, denn diese Frau im Nebenzimmer lag im Sterben.

Allerdings lag sie auf eine kultivierte Art im Sterben.

Vielleicht war sie tatsächlich die Adlige, mit der er vor langer Zeit das Bett geteilt hatte. Herausfinden konnte er das nur, wenn er nach nebenan ging. Leise setzte er sich in Bewegung, dann offenbarte sich ihm das andere Zimmer. Es gab nur wenige Möbelstücke, weder Tische noch Kleinkram. Der Holzboden war glatt poliert, keine Spur von einem Teppich, der dort gelegen haben musste. Die Rosé- und Gelbtöne der Sitzbank vermittelten einen Eindruck davon, was dies einmal für ein Raum gewesen sein musste: ein prachtvoller Salon.

Jetzt diente die Bank als Krankenbett mit einem Nachttopf darunter, ringsum verteilt lagen wie eine Art Heiligenschein zahllose blutverschmierte Läppchen.

Die Frau redete immer noch mit Cilla, doch ihr Blick war auf das Kind gerichtet, als wäre das ihre Rettungsleine. Die Krankheit hatte tiefe Falten rund um ihre Augen hinterlassen, die sich etwas zu glätten schienen, als sie das Kind betrachtete.

Eine einstmals bessergestellte Frau, und dennoch mit dem Blick einer Mutter, die ihr Kind ansah, einer Mutter, die das Kind liebte, das sie in ihren Armen hielt.

„Hast du daran gedacht, mir …“ Die Frau verstummte, als sie Reynold erblickte.

Er kannte weder dieses Haus noch das Zimmer, da er niemals hier gewesen war. Aber er kannte die hagere Frau, die dort auf der Bank lag. Die Krankheit hatte ihrem Körper zu schaffen gemacht und ihr das Leuchten ihrer Wangen genommen. An ihren Namen konnte er sich nicht erinnern, auch nicht daran, welche Stellung sie seinerzeit in der Gesellschaft bekleidet hatte. Er wusste nichts mehr über die Nacht, die er mit ihr verbracht hatte. Auch ihr volles goldblondes Haar war ihm nicht im Gedächtnis geblieben, weil er immer nur Frauen mit dieser Haarfarbe auswählte. Doch er wusste noch, welche Farbe ihre Augen hatten. Er wusste es, weil er damals überlegt hatte, ob sein Dunkelgrau wohl zu dicht an ihrem Dunkelblau war, und man von einem Kind, das sie zur Welt brachte, irrtümlich auf ihn als Vater schließen könnte.

Keine Frau war es wert, unnötige Risiken einzugehen. Doch er erinnerte sich noch genau an ihre gespielte hochtrabende Art und ihre Schwäche. Es waren Eigenschaften, die seinen Zwecken dienlich waren. Also hatte er für ein paar Stunden ihr Bett geteilt und sie dafür gut bezahlt. Er bezahlte jede Frau gut für ihre Dienste.

„Du“, flüsterte die Frau.

„Ich“, gab er zurück.

So schwach und dem Tod so nah sie auch war, versuchte sie bei seinem Anblick doch ein wenig Würde auszustrahlen. Zwar hielt sie die Lippen fest zusammengepresst, dennoch wurde ihr ganzer Körper von einem weiteren Hustenanfall erschüttert. Als der abebbte, sah sie von Reynold zu Cilla.

„Du hast ihn hergebracht.“

„Ihr seid krank, Herrin“, erwiderte Cilla in einem Tonfall, der Sorge heucheln sollte. „Das Kind braucht seinen Vater.“

Ihre Augen wurden größer, ein Ausdruck nackter Angst huschte über ihr Gesicht. „Er ist nicht ihr Vater. Ich habe dir gesagt, wer der Vater ist. Ich habe es dir gesagt!“

Obwohl die Mutter das Kind an sich drückte, konnte er es ansehen. Das Kleine war wach und hatte sich aufgerichtet. Ein Mädchen, was er aber nur wissen konnte, weil die Mutter es so gesagt hatte. Schwarze Haare hatte es, aber in dem herrschenden Dämmerlicht und auf diese Entfernung konnte er die Augenfarbe nicht bestimmen.

„Wir wissen doch beide, dass Ihr das nicht so gemeint habt“, erwiderte Cilla. „Das Kind hat die gleiche Haarfarbe wie der Vater, ganz im Gegensatz zu dem Lebemann mit Halbglatze, den Ihr vorgeschoben habt.“

Während Cilla redete, wandte die andere Frau nicht den Blick von ihr ab. Es schien, als hoffte sie, dass er sich in Luft auflöste, wenn sie ihn nur lange genug nicht beachtete.

Nachdem er nun ihren entsetzten Protest gehört hatte, würde er nicht weggehen. Diese dem Tod nahe Frau hatte offenbar Angst vor ihm.

Die Verbindung zu seiner erbarmungslosen Familie wäre zwar Grund genug für große Sorge gewesen, nicht aber für dieses blanke Entsetzen oder den hilflosen Ausdruck in ihren Augen. Obwohl sie ihn nicht anschaute, konnte er ihr all das ansehen.

Wieder verkrampfte sie sich, als ein Hustenanfall sie ereilte, der schlimmer war als der letzte. Sie krümmte und wand sich, dann zog sie die Knie an, um ihr Kind so vollständig wie möglich zu umschließen.

Reynold rührte sich nicht, und auch das Kind zeigte keine Regung. Die Krankheit, unter der die Mutter litt, musste sie vor langer Zeit befallen haben, denn das Kind ließ sich davon nicht beirren. Für das Mädchen waren der Gestank nach Verwesung und der Husten das, was zu einer Mutter gehörte.

„Ich habe es dir gesagt“, keuchte die Frau, für die der Husten sichtlich zu viel war. „Ich habe dir vertraut.“

„Ihr lebt, und Euer Kind ebenfalls“, gab Cilla zurück.

Die Frau versuchte durchzuatmen. Sie war zu schwach, um ihr Kind vor der Dienerin zu beschützen, die es ihr jederzeit wieder abnehmen konnte. Dennoch schob sie das Kind von ihrem Bauch, sodass es hinter sie rutschte und sicher zwischen ihr und der Rückenlehne der Bank lag. Als ob ihr schwacher Körper ihn davon abhalten könnte, ihr das Kind wegzunehmen!

Womöglich war er ja der Vater. „Ist es mein Kind?“

Die Frau hielt die Augen geschlossen, da sie sich nicht anders gegen ihn wehren konnte als so zu tun, als wäre er nicht da.

„Ist es mein Kind?“, wiederholte er.

„Natürlich ist das Euer Kind“, antwortete Cilla. „Ein Jahr ist der kleine Teufel jetzt alt. Ein Jahr lang habe ich in diesem Dreck zugebracht und diese lebende Leiche bedient, und immer habe ich darauf gewartet, dass Ihr endlich wieder herkommt.“

„Wie konntest du …?“, begann die Adlige.

„Ich tat nur, was Ihr wolltet. Das, worum Ihr mich angefleht habt. Nämlich niemanden wissen zu lassen, dass Ihr krank seid. Niemand durfte erfahren, dass Euer besseres Blut von einer so ordinären Krankheit befallen ist.“

Die Frau sah wieder nur die Dienerin an. „Ich flehe dich an. Bring sie in Sicherheit.“

Reynold wusste, dass diese Möglichkeit nicht länger gegeben war. Es war sein Kind, denn die Mutter wollte nicht, dass es vor Armut oder Krankheit beschützt werden sollte, sondern vor ihm.

„Warum sollte ich das tun?“, fragte Cilla. „Er ist hergekommen, um es zu holen.“

Das Kind … Sein Leben lang hatten Frauen behauptet, von ihm schwanger zu sein, aber nie hatte es gestimmt. Zwar nahm die Adlige weiter keine Notiz von ihm, doch er brauchte Antworten.

„Woher wusstest du, wer ich bin?“

Beide sahen sie ihn an.

„Du … du erinnerst dich nicht an mich?“, fragte sie. Enttäuschung schwang nicht in ihrer Stimme mit, aber ein gewisses Siegesgefühl war herauszuhören.

„Dein Diener … die Kutsche.“

Er heuerte immer einen Diener an. Eine vorübergehende Anstellung für eine vorübergehende Situation. Er suchte sich eine Frau aus, die ihm zusagte, dann schickte er einen Mann zu ihr, der sie zu einer bereitstehenden Kutsche brachte.

So ging er bei allen Frauen vor. Es diente seinem, aber auch ihrem Schutz. Diese für sie offenbar wichtige Erinnerung war für ihn ohne jede Bedeutung.

„Du konntest nicht wissen, wer ich bin“, sagte er. „Wer hat es dir gesagt? Wer …“

„Hier stinkt es zum Himmel, aber ich muss nicht länger bleiben“, fiel Cilla ihm ins Wort. „Sie ist es, das wisst Ihr nun. Und Ihr wisst, dass es Euer Kind ist. Ich will jetzt das, was mir zusteht.“ Ihre Habgier entlockte ihr ein gehässiges Lachen, da sie froh war, dass ihr Plan, reich zu werden, Erfolg hatte. „Ich habe die glückliche Familie zusammengeführt, dafür habe ich doch sicher eine Belohnung verdient, nicht wahr?“

Er hatte die Frau bereits vergessen. Mit seiner freien Hand fasste er nach dem Geldbeutel und hielt ihn vor sich, dabei schüttelte er ihn leicht, sodass das Klimpern der Münzen zu hören war. Der Beutel war schwer, da er ihn absichtlich bis zum Rand gefüllt hatte.

Autor

Nicole Locke
<p>Nicole Locke las ihren ersten Liebesroman als Kind im Wandschrank ihrer Großmutter. Später siedelte sie dann mit ihrer Lektüre ins Wohnzimmer um. Und noch später fing sie an, selbst Liebesromane zu schreiben. Sie lebt mit Mann und zwei Kindern in Seattle.</p>
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