Die Liebe heilt alles

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Mit Liebe lässt sich alles heilen, glaubt die Sozialarbeiterin Nina. Nur Jack Carter, der attraktive Dr. Perfect des Angel Mendez Children’s Hospital, hält das für Gefühlsduselei! Bis ein kleiner Junge rätselhaft erkrankt - und Nina und Jack gemeinsam um sein Leben kämpfen …


  • Erscheinungstag 24.10.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733728090
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Nina Wilson ist die zuständige Sozialarbeiterin für Baby Sienna.“

Aha. Jack verdrehte kaum merklich die stahlgrauen Augen, während er die Neuigkeit verdaute. Nina Wilson war ein harter Brocken, das wusste Jack aus Erfahrung.

„Der Sozialdienst scheint fest entschlossen, Sienna wieder in die Obhut ihrer Eltern zu geben.“ Dr. Eleanor Aston seufzte frustriert. „Seit vierzehn Tagen überwache ich jetzt Siennas Drogenentzug. Zwei Kinder wurden der Mutter bereits weggenommen. Zufällig habe ich mich auch letztes Jahr schon um ihren gerade neugeborenen Sohn gekümmert.“

Eleanors Ton spiegelte wider, wie nahe ihr dieses Thema ging – ein Umstand, den Jack geflissentlich ignorierte. Mit Fakten konnte er viel besser umgehen als mit Gefühlen. „Ich sehe es einfach nicht ein. Warum ihr eine dritte Chance geben, wenn sie bei ihren ersten beiden Kindern schon versagt hat?“

„Mit diesem Argument darfst du Nina Wilson nicht kommen“, gab Jack nüchtern zurück. Rasch überflog er die Einträge in der Akte – einige davon von ihm höchstpersönlich. Leicht irritiert stellte er fest, dass er sich kein Bild von Baby Sienna machen konnte, obwohl er sie sich erst vor knapp einer Woche angeschaut hatte. Fünf Tage alt, unruhig, verstört … So lautete seine Aktennotiz.

Okay, im Angel Mendez Children’s Hospital, einem der wenigen kostenfreien Kliniken in New York City, herrschte für gewöhnlich Hochbetrieb, da konnte man schon mal ein Gesicht vergessen. Als Chefarzt der Pädiatrie war Jack voll ausgelastet, darüber hinaus musste er sich ständig mit dem Verwaltungsrat herumschlagen und intensive Netzwerkarbeit leisten, um den Zufluss an dringend benötigten Spendengeldern sicherzustellen.

Wobei es durchaus von Vorteil war, einer berühmten New Yorker Park-Avenue-Ärztedynastie zu entstammen. Seine Beziehungen waren buchstäblich Gold wert. Allein sein Name öffnete so manches Portemonnaie, weshalb ihm die unbeliebte Aufgabe zufiel, auf Spendengalas ein nettes Gesicht zu machen.

Aber zurück zu Baby Sienna … Es galt, die Weichen für die Zukunft des kleinen Mädchens zu stellen.

Wieder vertiefte Jack sich in die Akte, studierte Ninas akribische Notizen. Die bemerkenswert sachlich waren – und ganz im Gegensatz zu ihrer äußerst temperamentvollen Art standen, sich für ihre Klienten zu engagieren. Nina war jung, immer auf Kriegsfuß mit der Bürokratie und wollte die Welt zu einem besseren Ort machen. Jack dagegen mit seinen vierunddreißig Jahren betrachtete alles etwas nüchterner und realistischer.

„Nina ergreift grundsätzlich für die Eltern Partei“, erklärte Eleanor jetzt frustriert.

„Nicht immer. Aber ich weiß schon, was du meinst.“

Nina glaubte an die Institution Familie. Natürlich stieß auch sie manchmal an die Grenzen des Machbaren und war dann zum Glück klug genug, das einzusehen. Trotzdem … ihm stand ein langes, anstrengendes Meeting bevor, das ahnte Jack.

Eine Diskussion mit Nina glich einem extrem langen Tennismatch … jeder Ball wurde mit Power zurückgespielt. Kein Wunder, dass Eleanor ihn gebeten hatte, an der Fallbesprechung teilzunehmen – wie immer würde Nina über jedes noch so winzige familiäre Detail informiert sein und versuchen, ihren Standpunkt mit allen Mitteln zu verteidigen.

„Also, auf in den Kampf.“ Jack schlüpfte in sein Jackett. Ein prüfender Blick in den Spiegel erübrigte sich. Wohlhabend und mit fantastischen Genen ausgestattet, machte er in jeder Situation eine gute Figur. Alle vierzehn Tage stand ein Besuch bei seinem Friseur auf dem Programm, um seine Designer-Garderobe kümmerte sich seine Haushälterin.

Jacks einzige Aufgabe bestand darin, morgens aufzustehen, der jeweiligen Sexpartnerin in seinem Bett einen Abschiedskuss zu geben, sich fertigzumachen – um wenig später wie aus dem Ei gepellt das Haus zu verlassen und die nächsten Frauenherzen zu brechen.

Auf dem Weg zum Meeting musste er flüchtig an Monicas Tränen heute Morgen denken. Warum mussten Frauen immer alles zerreden? Musste es denn für alles einen Grund geben?

Ewig die gleiche Litanei: Was habe ich falsch gemacht? Ich kann mich doch ändern! Oder: Was ist passiert, warum magst du mich nicht mehr?

Nichts war passiert. Er war einfach nur nicht der Typ für eine feste Beziehung.

Jetzt stand ihm die nächste Konfrontation mit weiblicher Emotionalität bevor. Als Jack den Konferenzraum betrat, war Nina bereits da, knöpfte ihren Mantel auf und wickelte sich aus ihrem langen, flauschigen Wollschal. Bei Jacks Anblick kniff sie leicht die Lippen zusammen. Es passte ihr sicher nicht, dass Eleanor mit Verstärkung angerückt war.

„Guten Morgen, Nina“, begrüßte Jack sie mit einem strahlenden Lächeln, um sie zu ärgern.

„Morgen, Jack“, erwiderte sie zuckersüß, bevor sie ihm den Rücken zudrehte, um den Mantel auszuziehen.

Verdammt.

Der hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie kriegten sich regelmäßig in die Haare. Mit seiner coolen, betont gleichmütigen Art ging er ihr fürchterlich auf die Nerven.

Erst kürzlich waren sie über das Schicksal von Baby Thanner zusammengestoßen. Wobei sich im Nachhinein herausstellte, dass Jack mit seiner Einschätzung recht behalten hatte. Eine Fehlentscheidung von Nina, die dem Baby fast das Leben gekostet hätte. Jack hatte ihr keine Vorwürfe gemacht, aber der Blick aus seinen stahlgrauen Augen hatte Bände gesprochen. Ich habe es Ihnen doch gleich gesagt.

Das war nicht der einzige Grund, weshalb Nina sich verunsichert fühlte.

Auch sein umwerfendes Aussehen brachte sie regelmäßig aus dem Gleichgewicht. Jacks Playboy-Dasein und seine privilegierte Herkunft waren allgemein bekannt. Die anerzogene Arroganz, die damit einherging, ärgerte Nina.

Und nicht nur das.

Wirklich zu schaffen machte ihr die Tatsache, dass er sie nicht kalt ließ. Er war arrogant, chauvinistisch, herablassend – alles Eigenschaften, die Nina nicht ausstehen konnte. Logisch betrachtet, müsste sie ihn eigentlich verabscheuen. Doch ihr verräterischer Körper ließ sie im Stich, reagierte auf ihn. Und zwar heftig.

Nina spürte Jacks Blick, war sich seiner Gegenwart nur zu bewusst, als sie zum Tisch ging, um das Meeting zu eröffnen. Fast freute sie sich schon auf die bissigen Spitzen, die er bestimmt gleich abschießen würde.

Er enttäuschte sie nicht. „Wie erfreulich, noch jemanden hier am Tisch zu sehen, der was Anständiges anhat.“ Alle anderen außer Nina und Jack waren in ihrer Krankenhauskluft zum Meeting erschienen. Und alle anderen lachten über seine launige Bemerkung.

Alle außer Nina.

Ihm wurde bewusst, dass er sie noch nie richtig hatte lachen sehen. Sie war immer ernst … und überpünktlich. Nur heute nicht. Hatte sie womöglich verschlafen?

Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte sie: „Tut mir leid, dass ich zu spät bin, aber es kam noch ein Notfall dazwischen.“

Plötzlich fragte er sich, ob es wohl einen Mr Wilson gab, der sich darüber ärgerte, dass seine Frau in aller Herrgottsfrühe vom Notfallteam aus dem Ehebett gescheucht wurde.

Die Vorstellung, sie könnte verheiratet sein, behagte Jack irgendwie nicht. Seltsam eigentlich. Ihm wurde bewusst, dass Nina nie versucht hatte, mit ihm zu flirten. Nie hatte sie es darauf angelegt, ihn mit ihren unglaublich blauen Augen zu verzaubern. Das mochte sich vielleicht arrogant anhören, aber Flirten gehörte nun mal zum Metier, wenn man Jack Carter hieß.

Ausgenommen mit Nina.

„Also, können wir anfangen?“ Sie warf einen raschen Blick in die Runde, wobei sie sich nicht die Mühe machte, zu lächeln. Wahrscheinlich war hier sowieso jeder gegen sie.

Nina fühlte sich absolut nicht wohl in ihrer Haut. Zum einen deshalb, weil sie sich nicht vernünftig hatte vorbereiten können. Ihr Wochenende hatte sie mit ehrenamtlicher Arbeit verbracht, außerdem war sie in ihre neue Dreizimmerwohnung umgezogen.

Um sich noch einmal in die Akten zu vertiefen, hatte sie heute Morgen ganz früh ins Büro kommen wollen. Doch da hatte dann der Notfall dazwischengefunkt. Jetzt fühlte sie sich schrecklich unvorbereitet.

Was ihr sonst nie passierte.

Eins wusste sie: Die Mehrzahl der hier Anwesenden war dagegen, Sienna in die Obhut ihrer Eltern zu entlassen.

Brad Davis, Chefarzt der Perinatalstation, war der Erste, der das Wort ergriff. In nüchternen Worten sagte er: „Wir haben Hannah, die Mutter, in der vierunddreißigsten Schwangerschaftswoche gesehen. Andy, der Vater des Mädchens, hatte sie dazu überredet, sich im Angel’s untersuchen zu lassen, aus Sorge um Hannahs Drogenkonsum und die Auswirkungen auf das ungeborene Baby. Hannah dagegen sorgte sich einzig und allein darum, weiter an Stoff zu gelangen.“

„Damals“, betonte Nina. „Sie ist doch in das Methadonprogramm eingestiegen, oder?“ Brad nickte, und so ging das Frage- und Antwortspiel weiter. Die Hebamme, Krankenschwestern und die Drogenberaterin, die ihre Klienten regelmäßig im Krankenhaus aufsuchte, kamen zu Wort.

Auf besonders großen Widerstand stieß Nina bei Dr. Eleanor Aston. Sie bestand mit Nachdruck darauf, Sienna nicht ihrer Mutter anzuvertrauen.

„Letztes Jahr habe ich ihren Sohn betreut.“ Eleanors Stimme bebte. „Und ich erinnere mich noch gut …“

„Siennas Halbbruder ist heute Morgen nicht unser Thema“, unterbrach Nina sie scharf. Wobei sie natürlich selbst wusste, wie schwer es war, die beiden Fälle nicht miteinander in Zusammenhang zu bringen. Zu der Zeit, als Siennas Halbbruder geboren wurde, war Hannah ganz unten gewesen, und Eleanor hatte sie von ihrer schlimmsten Seite kennengelernt: eine kalte, gefühllose Mutter, die nur an ihren nächsten Schuss dachte.

„Seit damals hat Hannah ernsthaft an sich gearbeitet und ist heute in sehr viel besserer Verfassung“, erklärte Nina. „Andy, der Vater des Babys, scheint sich sehr zu engagieren und hat Hannah dazu gebracht, überhaupt erst ins Methadonprogramm einzusteigen. Ich denke, sie ist wirklich auf einem guten Weg.“

„Ach ja, ist sie das?“ Es war das erste Mal in der halben Stunde nach Beginn des Meetings, dass Jack sich zu Wort meldete. Über den Tisch hinweg sah er Nina eindringlich an. „Seit wann genau, sagten Sie, bemüht sie sich, ihr Leben wieder in den Griff zu kriegen?“

„Seit sie sich hier in der Klinik vorgestellt hat“, erwiderte Nina gelassen.

„Sie hatte neun Monate Zeit, von den Drogen loszukommen“, erklärte Jack unnachgiebig. „Alles in allem hat sie also gerade mal zwei Wochen vorgeburtliche Betreuung in Anspruch genommen, gedrängt von ihrem Freund, sowie zwei Wochen postnatale Betreuung. Und das unter Inanspruchnahme sämtlicher staatlicher Möglichkeiten.“

„Soll heißen?“ Nina funkelte ihn gereizt an, aber Jack antwortete nicht. „Warum sollten wir ausgerechnet dieser Familie nicht sämtliche Ressourcen zur Verfügung stellen?“ Seine Miene verhärtete sich, doch sie fuhr ungerührt fort:

„Zweimal täglich nimmt Hannah die Angebote der Suchtberatungsstelle wahr. Zum ersten Mal in ihrem Leben zeigt sie echtes Interesse an der Unterstützung, die wir ihr bieten können. Sie hat mir wiederholt versichert, dass sie bereit ist, alles zu tun, damit man ihr Sienna nicht auch noch wegnimmt. Und vergessen wir nicht den Vater des Kindes, für den das Wohl des Babys ganz offensichtlich an erster Stelle steht. Ich weiß, es ist noch zu früh …“

„Meine Ärzte mussten sich bis jetzt jede Nacht ausgiebig um das Kind kümmern“, fiel Jack ihr ins Wort. „Ich übrigens auch einmal, als Sienna besonders unruhig war.“ Sein Blick bohrte sich in ihren. „Das Baby leidet unter heftigsten Entzugserscheinungen, kam mit einem viel zu niedrigen Geburtsgewicht zur Welt, genau wie sein älterer Bruder. Meiner Meinung nach ist Hannah die Letzte, die …“

„Sienna, das Baby heißt Sienna“, unterbrach ihn Nina nun nicht weniger scharf. „Ich denke, dieser Fall ist anders gelagert. Das bestätigen auch die Krankenberichte.“

Jack holte tief Luft, während Nina weiterredete. Ihr Gutmenschentum, dieses ganze Geschwafel der Sozialarbeiter über ihren ganzheitlichen Ansatz nervten ihn. Gereizt spielte er mit seinem Kugelschreiber, während sie sich lang und breit darüber ausließ, wie verheerend die Auswirkungen einer Trennung für Mutter und Kind wären. Besonders, da sich eine innige Mutter-Kind-Bindung entwickelt hätte.

Er wollte einwenden, dass sich die nicht in knapp zwei Wochen herstellen ließ, doch er verkniff sich die Bemerkung, wohl wissend, dass nicht nur Nina, sondern auch alle anderen Anwesenden im Raum dann über ihn herfallen würden.

Das Argument Mutter-Kind-Bindung zog bei ihm nicht.

Sofort musste Jack an seine eigene Mutter denken, die ganz gewiss keine solche Bindung entwickelt hatte. Jack war von zwei Nannys großgezogen worden und hatte seine Mutter nur beim Dinner oder irgendwelchen gesellschaftlichen Events zu Gesicht bekommen.

Rasch verscheuchte er diesen Gedanken und konzentrierte sich wieder auf Ninas Ausführungen. Die Sozialabteilung hatte beschlossen, der Familie eine Chance zu geben, natürlich mit der nötigen behördlichen Unterstützung. Sienna würde bei ihrer Mutter bleiben.

„Was mache ich dann eigentlich hier?“, warf Jack herausfordernd ein. „Aus medizinischer Sicht bestehen keine Einwände gegen Siennas baldige Entlassung. Sie hat ausreichend zugenommen, ist stabil und der Entzug mithilfe des Methadons scheint aussichtsreich. Etwas anderes wollen Sie von mir doch gar nicht hören, oder? Sie haben längst beschlossen, dass alles Friede, Freude, Eierkuchen ist.“

„Stopp!“ Ninas Stimme zitterte. „Wagen Sie es ja nicht, mir Leichtsinn zu unterstellen!“

Okay, vielleicht war er ein bisschen zu weit gegangen, aber er hatte nicht vor, sich zu entschuldigen.

„Selbstverständlich wurden all Ihre Einwände zur Kenntnis genommen und diskutiert.“ Ernst blickte Nina in die Runde, wobei ihr Blick sekundenlang auf jedem einzelnen Anwesenden ruhen blieb.

„Meine Aufgabe ist es, jeden Fall unabhängig von früheren Erfahrungswerten zu betrachten. Und in diesem Fall komme ich zu dem Schluss, dass die Mutter große Anstrengungen unternimmt, sich zu bessern. Mit anzusehen, was Sienna durchmachen musste, hat starke Schuldgefühle in ihr geweckt und …“, jetzt sah Nina Eleanor an, „… auch wenn ich einräumen muss, dass sie diese Gefühle nicht für ihre beiden anderen Kinder hat aufbringen können, sind die Umstände diesmal deutlich günstiger.“

Sie räusperte sich. „Diesmal gibt es einen Vater, der bereit ist, sich einzubringen, ein junges Paar, das sein Baby unbedingt behalten will. Und ja, wir haben ein Baby, das einen denkbar schlechten Start ins Leben hatte, genau wie seine Mutter. Natürlich könnte ich Sienna auch in einer Pflegfamilie unterbringen, aber glauben Sie mir, als Pflegekind aufzuwachsen, ist auch nicht gerade ein Zuckerschlecken. Mit der nötigen Unterstützung erscheint es mir sinnvoller, der Familie eine Chance zu geben.“

„Nun, meine Bedenken kennen Sie ja“, brachte Jack zwischen zusammengepressten Lippen hervor.

„Danke, ich habe sie vermerkt.“

Die Versammlung begann sich aufzulösen, und Jack stand auf. „Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen …“

Draußen sagte Eleanor zu ihm: „Danke, dass du es versucht hast, Jack.“

„Ninas Argumente waren nicht ganz von der Hand zu weisen“, erwiderte Jack. Stimmt, dachte er, diesmal hat sie mich tatsächlich rumgekriegt. „Nicht leicht, das einzugestehen, ich weiß … Aber in diesem Fall sprechen die Fakten für sich, da hat Nina schon recht. Und seien wir mal ehrlich … wissen wir denn, ob Siennas Leben besser verlaufen wird, wenn wir sie jetzt von Pflegefamilie zu Pflegefamilie schicken?“

„Mit ein bisschen Glück landet sie in der perfekten Familie. Sie könnte …“ Eleanor unterbrach sich, als Nina aus dem Konferenzraum kam.

„So was wie eine perfekte Familie gibt es nicht.“ Mit einem knappen Nicken in Ninas Richtung wandte Jack sich zum Gehen.

„Na, wenn du nicht die perfekte Familie hast, dann weiß ich auch nicht“, dachte Eleanor laut. Mit leisem Unbehagen registrierte sie, dass Nina stehen geblieben war, um mit ihr zu reden. „Haben Sie das diesjährige Weihnachtsfoto der Carter-Familie schon gesehen?“

Nina lächelte schmallippig. Klar hatte sie es gesehen. Die Carters in trauter Runde um den Weihnachtsbaum in der Klinik versammelt – die teuren Klunker strahlten mit dem falschen Lächeln der Frauen um die Wette. Doch Nina wollte jetzt nicht an Jack denken, also kam sie gleich auf den Punkt. „Tut mir leid, dass ich Sie nicht überzeugen konnte.“

Eleanors Augen hinter ihren Brillengläsern schimmerten verräterisch. „Ich habe gerade eben mit Jack geredet – er hat ja recht, Ihre Argumente sind nicht von der Hand zu weisen. Es ist nur … ach, ich habe erlebt, wie Hannah mit ihrem Sohn umgegangen ist. So schrecklich distanziert und gefühllos, unwillig, auch nur die geringste Verantwortung zu übernehmen.“

„Typisch für Drogensüchtige“, erwiderte Nina ruhig.

„Ich weiß.“ Eleanor seufzte.

„Keine Sorge, wir werden Hannah sorgfältig überwachen. Diesmal sieht die Sache ein bisschen anders aus, weil es einen Vater gibt, der bereit ist, sich einzubringen. Falls Hannah es wieder nicht packt, dann ist da wenigstens Andy, der bereit sein wird, Sienna allein großzuziehen.“

„Auch nicht gerade ideal, wenn Sie mich fragen.“

„Finde ich nicht.“ Nina lächelte optimistisch. „Der kriegt das prima hin, glauben Sie mir.“

Nachdem sie sich von Eleanor verabschiedet hatte, machte sie sich auf den Weg zu Hannah.

Soso, Jack Carter hatte eingeräumt, dass ihre Argumente nicht von der Hand zu weisen waren.

Recht hatte er, denn ihre Argumente waren stichhaltig.

Auf sein Wohlwollen konnte sie gut verzichten. Alles, was zählte, war seine professionelle Meinung, das durfte sie nie vergessen.

2. KAPITEL

Im Anschluss an das Meeting machte Jack sich gleich auf den Weg zur Entbindungsstation. Er fühlte sich ruhelos und unzufrieden, ohne zu wissen, warum. Ja, er konnte es kaum erwarten, sich in sein Büro zurückzuziehen, doch das Piepen seines Pagers vereitelte diesen Plan.

Schlecht gelaunt marschierte Jack ins Schwesternzimmer, wo das nächste Telefon stand. Während er wartete, blickte er auf die Entlassungspapiere, die eine der Schwestern gerade fertigmachte.

Sienna Andrews. Dahinter ein Kürzel, das für „neonataler Drogenentzug“ stand. Nachdem Jack sein Telefonat beendet hatte, setzte er seinen Weg durch die Station fort. Vor Siennas Zimmer blieb er stehen und spähte durch die Glasscheibe. Hannah war nirgends zu sehen, eine Schwester kümmerte sich um das Baby.

Wie immer erfüllte es Jack mit Unbehagen, auf Station zu sein, konfrontiert mit all dem Elend und den Schicksalen, die sich unter dem Dach eines Krankenhauses wie dem Angel’s versammelten. Seine Arbeit als Chefarzt der Pädiatrie stellte sich oft genug als äußerst belastend heraus, auch ohne dass er sich mit jedem einzelnen Fall intensiv auseinandersetzte.

Für den Erfolg seiner Arbeit war es wichtig, einen gewissen Abstand zu wahren. Was ihm nicht schwerfiel.

Die Kunst des Abstandhaltens hatte Jack schon lange vor seinem Medizinstudium perfektioniert. Abhärtung – körperlich und seelisch – war das oberste Erziehungsziel seiner Eltern gewesen. Also hatte er seine Gefühle abgehärtet, stets darauf bedacht, anderen gegenüber nie preiszugeben, was er wirklich empfand.

Nein, die perfekte Familie gab es nicht.

Natürlich hatte er dieses Thema nie mit einer seiner vielen Freundinnen besprochen. So nah ließ er keine Frau an sich heran. Er hatte gelernt, das Carter-Image aufrechtzuerhalten. Damit war er im Leben immer gut gefahren.

„Suchst du etwas, Jack?“, unterbrach Schwester Cindy seine Gedanken.

„Nein. Ich schau einfach nur mal nach dem Rechten. Wie macht sich Baby Sienna?“

„Erstaunlich gut. Manchmal ist sie noch ein bisschen unruhig, insgesamt wirkt sie aber ziemlich ausgeglichen. Sie nimmt brav zu, und ihre Mum hat sie heute Morgen gebadet. Wie ist das Meeting gelaufen?“

„Na, wie schon?“ Jack zuckte die Achseln. „Entlassung nach Hause, entwicklungspsychologische und sozialmedizinische Nachsorge, engmaschige Kontrollen.“ Er sah Cindy fragend an. Sie arbeitete schon seit einer halben Ewigkeit im Angel’s, und vor ein paar Jahren hatte Jack eine kurze, leidenschaftliche Affäre mit ihr. Was ihr Arbeitsverhältnis nicht getrübt hatte. Jetzt war Cindy glücklich verheiratet und erwartete ihr erstes Kind. Jack schätzte ihre Meinung sehr. „Wie denkst du darüber?“

„Tja, du hast meinen Bericht gelesen. Die Mutter strengt sich wirklich an …“

„Aber was denkst du?“

„Diesmal ist es keine Eintagsfliege. Ich glaube, sie kriegt endlich die Kurve.“

Cindy entfernte sich, um nach einem schreienden Säugling zu sehen. Jacks Blick fiel wieder auf das kleine Wesen in dem Gitterbettchen hinter der Glasscheibe. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob dies nicht der völlig falsche Job für ihn war.

Er machte seine Arbeit gut, perfekt sogar, wenn man der Krankenhausleitung glauben wollte. Stemmte mühelos eine Sechzigstundenwoche, dazu noch ein ausgedehntes Gesellschaftsleben. So manch einer hätte da längst schlappgemacht.

Jack aber nicht.

Er leistete ausgezeichnete Arbeit.

Eine Arbeit, die er nicht ausstehen konnte.

Wie es sich wohl anfühlte, für seine Arbeit zu brennen, so wie Nina?

Er dachte an das leichte Beben in ihrer Stimme, wenn sie eine ihre flammenden Reden hielt, ihr Engagement für die Familien, die Bereitschaft, gegen den Strom zu schwimmen, sich voll und ganz für einen Fall einzusetzen. Manchmal wünschte er, er besäße auch nur ein Zehntel ihrer Leidenschaft.

Nachdenklich betrachtete er die kleine Sienna. Hoffte, dass man hier alles Menschenmögliche für sie getan hatte. Sie hatte die besten Ärzte, Schwestern, Sozialarbeiter – aber war das genug?

Hinter ihm betrat Nina den Raum, und Jack drehte sich um.

„Wie geht es ihr?“, fragte sie ihn. Hatte man Jack gerufen, weil es ein Problem gab?

„Gut.“

„Ist Hannah hier?“

„Nein. Wahrscheinlich ist sie bei einer Therapiesitzung.“

„Ach so.“ Zögernd trat sie ein bisschen dichter an das Kinderbett heran, warf ein unsicheres Lächeln in Jacks Richtung. Er schien in ungewohnt grüblerischer Stimmung. So kannte sie ihn gar nicht.

„Ich habe Eleanor gerade erklärt, dass wir die Kleine engmaschig …“, begann sie.

„Danke, ich lese mir Ihren Bericht durch“, fiel er ihr ins Wort.

„Aber natürlich tun Sie das.“ In ihrem Ton schwang ein Anflug von Ironie mit, den sie sofort bereute. Jack hatte das nicht verdient, er machte wirklich einen tollen Job.

Autor

Carol Marinelli
Carol Marinelli wurde in England geboren. Gemeinsam mit ihren schottischen Eltern und den beiden Schwestern verbrachte sie viele glückliche Sommermonate in den Highlands.

Nach der Schule besuchte Carol einen Sekretärinnenkurs und lernte dabei vor allem eines: Dass sie nie im Leben Sekretärin werden wollte! Also machte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester...
Mehr erfahren

Entdecken Sie weitere Bände der Serie

Die Engel von New York