Dr. Jacksons süße Versuchung

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Schwester Scarlet kann die hilflosen Erziehungsversuche von Dr. Jackson nicht mit ansehen. Also begleitet sie den attraktiven Kinderarzt und seine mutterlose Tochter auf einen Ausflug. Nur um zu helfen, redet sie sich ein. Aber warum endet der Tag dann mit einem heißen Kuss?


  • Erscheinungstag 24.10.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733728144
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Scarlet Miller, Stationsschwester der Frühchen-Intensivstation am Angel Mendez Children’s Hospital, das von allen liebevoll „Angel’s“ genannt wurde, betrat den nagelneuen Trakt, den sie maßgeblich mitgeplant und – gestaltet hatte. Mit zweiundsechzig Bettchen und hochmoderner Technik ausgestattet, war die NICU für hohe Pflegestandards und die geringste Sterblichkeitsrate im ganzen Land bekannt. Hier wurden kranke und frühreife Babys betreut, und Scarlet, seit vier Jahren in leitender Position, war stolz auf ihr Team, das Eltern und Familien die Hoffnung zurückgab, wenn eine Schwangerschaft nicht so glatt verlief wie erwartet.

„Sieht so aus, als hätte jemand ein heißes Wochenende hinter sich.“ Linda, eine der älteren Krankenschwestern, tauchte neben ihr auf.

„Falls du mich damit meinst …“ Scarlet blieb an der Schwesternstation stehen, nahm den Stapel rosa Nachrichtenzettel von einer der Stationssekretärinnen entgegen und bedankte sich mit einem Lächeln, ehe sie sich wieder Linda zuwandte. „Und mit ‚heiß‘ eine schweißtriefende Samstagnacht, weil ich in Weehawken am wärmsten elften Mai seit Beginn der Wetteraufzeichnungen sechzehn Stunden ohne Strom dasaß – also auch ohne Klimaanlage –, dann ja. Ich hatte wirklich ein heißes Wochenende.“

„Oh, oh.“ Linda warf einen bedeutsamen Blick auf die Vase am Ende des Tresens, in der mindestens zwei Dutzend langstielige samtrote Rosen, umarmt von zartem Farngrün, prangten.

„Oh, oh … was?“, fragte Scarlet verwundert.

„Ich habe euch ja gesagt, wir sollen es lassen“, meinte Ashley, die Sekretärin.

Scarlet blickte sie an. „Was lassen?“

Cindy, eine der neuen Schwestern, die sich zur Einarbeitung Patientenmonitore und Videoaufzeichnungen ansah, zeigte auf eine längliche goldene Pralinenschachtel. Die Zellophanhülle fehlte.

„Kann mir bitte jemand erklären, was hier los ist?“ Scarlet hatte keine Zeit für Ratespiele. Ihr Dienst hatte mit mehreren Besprechungen begonnen, und jetzt wartete die Familie des jüngsten Neuzugangs auf sie. Das winzige Mädchen war mit einem Gewicht von 900 Gramm in der sechsundzwanzigsten Schwangerschaftswoche zur Welt gekommen.

„Wir dachten, es wären deine“, antwortete Cindy.

„Was …?“

„Die Blumen und die Pralinen.“

„Warum …?“ Ja, warum sollten sie annehmen, dass jemand ihr rote Rosen schickte? Rote Rosen, als Zeichen von Liebe und Leidenschaft, die Männer ihren Ehefrauen, ihren Freundinnen oder Geliebten schenkten. Sie lebte praktisch im Krankenhaus und hatte keinen Mann mehr in ihrem Leben gehabt seit …? Scarlet wand sich innerlich, weil sie sich nicht auf Anhieb erinnern konnte. Wahrscheinlich musste sie erst im Kalender nachsehen. War es im letzten oder sogar im Jahr davor gewesen?

Sie verdrängte die Frage und verteidigte sich damit, dass sie ohne unzählige Überstunden niemals so viel Erfolg im Beruf gehabt hätte. Erfolg, der nicht nur ihr guttat, sondern auch dem Angel’s, ihren kleinen Patienten und deren Angehörigen. Für eine Beziehung hatte sie eben keine Zeit.

„Weil dein Name auf der Karte stand.“ Linda deutete auf einen kleinen blassgrünen Umschlag, der in dem duftenden Bouquet steckte.

Tatsächlich, und sogar richtig geschrieben mit einem „t“ – auch wenn sie nach der berühmten Scarlett aus „Vom Winde verweht“ benannt worden war. Ihre Mutter hatte in den offiziellen Unterlagen nur den Namen nicht richtig geschrieben.

Scarlet pflückte das Brieflein aus dem Rosenstrauß und öffnete es.

Liebe Scarlet,

zu spät ist mir aufgefallen, dass Du mir Deinen Nachnamen nicht genannt hast. Ich hoffe, die Blumen erreichen Dich trotzdem. Samstagnacht hast Du meine Erwartungen übertroffen.

An dieser Stelle wusste Scarlet, dass die Karte mit Sicherheit nicht für sie gedacht war. Trotzdem las sie weiter … nicht aus Neugier, nein, sie wollte nur herausfinden, ob es Hinweise auf die wahre Empfängerin gab.

Lass es uns bald wieder tun.

Viel Glück bei Deinem neuen Job.

Ruf mich an.

Brandon

Unter dem Namen standen drei Telefonnummern – von zu Hause, vom Arbeitsplatz und vom Handy – und seine E-Mail-Adresse! Scarlets Namensschwester musste ein heißer Feger sein.

„Ruf doch mal in der Personalabteilung an“, sagte Scarlet zu Ashley. „Frag nach einer neuen Kollegin namens Scarlet und danach, wo sie arbeitet.“

Während Ashley zum Hörer griff, schnappte sich Cindy die Karte und las sie.

„Junge, Junge!“ Sie fächelte sich mit dem Kärtchen Luft zu.

Ashley legte auf und machte ein betretenes Gesicht. „Eine Scarlett Ryan hat heute als Stationssekretärin in der pädiatrischen Notaufnahme angefangen.“

„Und ihr …“ Vorwurfsvoll zeigte Scarlet mit dem Finger auf ihre Kolleginnen, „… habt dem armen Mädchen die hart verdienten Pralinen weggegessen!“

„Es gibt eine ungeschriebene Regel, dass Pralinenschachteln auf den Stationen Gemeingut sind“, entgegnete Linda würdevoll. „Bedien dich, aber beschwer dich nicht, wenn du leer ausgehst. Die Pralinen sind für alle da.“

„Krankenschwestern haben viel Stress“, fügte Cindy hinzu. „Schokolade macht uns glücklich, und dann können wir viel besser arbeiten.“ Sie schnipste mit den Fingern. „Gib mir fünf Minuten, dann finde ich eine Studie, die das belegt.“

Scarlet lächelte. „Wie auch immer.“ Sie hob den Deckel der Schachtel an. Umgeben von dreißig kleinen leeren Vertiefungen lag eine einsame Vollmilchpraline vor ihr, leicht eingedrückt, sodass sie ein dunkelrosa Innenleben enthüllte.

„Ich habe ihnen gesagt, dass sie eine für dich übrig lassen sollen“, meldete sich Ashley zu Wort.

„Wir nehmen an, dass sie mit Himbeer gefüllt ist“, fügte Cindy hinzu.

„Du magst Himbeer“, sagte Linda.

Da die Praline sowieso nicht mehr vorzeigbar war, steckte Scarlet sie sich in den Mund. Hmm, tatsächlich. Himbeercreme, umhüllt von schmelzender Schokolade. Scarlet ließ sich die Köstlichkeit langsam auf der Zunge zergehen und hätte fast vor Behagen geseufzt. Doch sie besann sich rechtzeitig. „An die Arbeit“, verkündete sie, ganz die strenge Stationsschwester.

„Und was machst du jetzt wegen der Pralinen?“, wollte Ashley wissen.

Du. Nicht wir. Weil Scarlet sich immer vor ihre Mitarbeiter stellte, was auch passierte. Und das wussten sie. Sie vertrauten ihr.

Sie legte den Deckel auf die Schachtel und warf sie in den Papierkorb. „Welche Pralinen?“, fragte sie mit einem unschuldigen Lächeln.

Alle Frauen lächelten zurück.

„Und die Blumen?“

Scarlet schob die Karte wieder in den Umschlag und steckte ihn in den Kartenhalter aus durchsichtigem Plastik. „Ich bringe sie nach unten in die Notaufnahme, sobald ich mir die kleine Gupta angesehen habe.“

Im letzten Dreivierteljahr vom Schicksal auf eine harte Probe gestellt, hatte Dr. Lewis Jackson, Chefarzt der pädiatrischen Notaufnahme am Angel’s, nicht geglaubt, dass es noch schlimmer kommen konnte.

Ein schwerer Irrtum.

Es war schon nicht einfach gewesen, plötzlich Vater eines Teenagers zu sein, der sich als wahrer Satansbraten entpuppte, und für den Lewis das alleinige Sorgerecht hatte. Aber der heutige Tag schickte ihn nach sämtlichen vorangegangenen höllischen Tagen direkt in Teufels Küche!

Zwei Schwestern krankgemeldet. Eine neue Stationssekretärin, die zwar hübsch anzusehen war, aber ihre Fähigkeiten eindeutig überschätzte. Und dann Jessie, von der Polizei aufgegriffen, weil sie nicht nur die Schule geschwänzt, sondern in einem Drogeriemarkt ein paar Kosmetika hatte mitgehen lassen.

Der einzige Lichtblick an diesem verfluchten Nachmittag bestand darin, dass der diensthabende Beamte den Filialleiter dazu überredet hatte, es für Jessie bei einer Verwarnung zu belassen. Ob es daran lag, dass Lewis in der Eile in OP-Kleidung und mit Krankenhausausweis an der Brusttasche erschienen war, oder weil er in einem der angesehensten Krankenhäuser des Landes arbeitete, wusste er nicht. Es interessierte ihn auch nicht weiter.

„Das ist mit Abstand der größte Blödsinn, den du je verzapft hast, seit du bei mir bist!“ Und das wollte etwas heißen.

Lewis stand am Straßenrand vor der Wache und hob den Arm. Ein gelbes Minivan-Taxi hielt, und er riss die hintere Tür auf, packte Jessie bei den Armen und schob sie auf die Rückbank.

„Angel Mendez Children’s Hospital“, befahl er dem Fahrer, während er die Tür schloss. „Eingang pädiatrische Notaufnahme. Wenn Sie uns in weniger als fünfzehn Minuten dorthin bringen, gebe ich Ihnen zwanzig extra.“

Als er das hörte, schwenkte der Taxifahrer zurück auf die Straße, schnitt ein anderes Taxi. Und einen Bus. Rammte beinahe einen Fahrradkurier. Ein Hupkonzert ertönte. Fahrer brüllten ihren Ärger aus geöffneten Fenstern. Nicht wenige hoben den Mittelfinger.

Der alltägliche Wahnsinn einer Taxifahrt in New York City.

Lewis richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Jessie. „Was hast du dir dabei gedacht?“ Die Schule zu schwänzen. Durch Manhattan zu streunen. Ohne Begleitung, ohne Schutz. Bei dem Gedanken, was ihr alles hätte zustoßen können, bekam er Magenschmerzen.

Wie immer sah Jessie ihn nicht an. Sie saß einfach da in ihrer ausgebeulten schwarzen Baggyhose und dem unförmigen schwarzen Sweatshirt und machte ein Gesicht, als hätte die ganze Welt sie verraten. Sie beachtete Lewis nicht einmal. Doch als sie in ihre Tasche griff, um die geliebten Kopfhörer hervorzuholen und sich mit dröhnender Musik von allem abzuschotten, riss er ihr die weißen Schnüre aus der Hand.

„Ich rede mit dir, junge Dame. Und ausnahmsweise wirst du mir zuhören!“

Wenn Blicke töten könnten, hätte ihn augenblicklich der Schlag getroffen.

„Dein Benehmen ist unmöglich, und ich habe endgültig genug. Es tut mir leid, dass deine Mutter gestorben ist. Es tut mir leid, dass sie mir nie von dir erzählt hat.“ Und noch mehr, dass sie anscheinend viel Zeit damit verbracht hatte, ihn nach Kräften schlechtzumachen. Sodass Jessie ihn schon hasste, bevor sie ihn überhaupt kennenlernte. Er hatte nicht die geringste Chance gehabt. „Es tut mir auch leid, dass du aus Maryland weg nach New York ziehen musstest“, fuhr er fort. „Es tut mir leid, dass ich so viel arbeiten muss. Aber ich bin alles, was du hast. Und ich gebe mir große Mühe.“

Um Zeit für seine Tochter zu haben und ihr ein gutes Vorbild zu sein, hatte Lewis sein gewohntes Privatleben aufgegeben und damit ein aktives, sehr befriedigendes Sexleben. Er hatte eine Tagesmutter nach der anderen eingestellt, damit nach der Schule jemand für Jessie da war, wenn er arbeiten musste. Es endete damit, dass keine länger als vier Wochen blieb, weil Jessie alle Register zog, die ein rebellischer Teenager auf Lager hatte.

Für die Zeit, in der er Dienst hatte, organisierte Lewis einen Fahrdienst, der sie zur Schule bringen und abholen sollte. Leider passierte es nicht nur einmal, dass Jessie einfach nicht auftauchte, der Fahrer eine Weile auf sie wartete – und das Unternehmen die Zeit minutengenau in Rechnung stellte.

Lewis brachte Pizza mit nach Hause, weil er dachte, dass alle Kinder Pizza liebten. Jessie wollte etwas vom Chinesen. Kam er ihrem Wunsch nach, verlangte sie italienische Küche. Er kaufte ihr ein schickes Smartphone, damit sie in Verbindung bleiben konnten, während er arbeitete. Bis heute hatte sie weder einen seiner Anrufe entgegengenommen noch auf seine SMS reagiert noch überhaupt darüber Kontakt mit ihm aufgenommen. Mit der einzigen Ausnahme, als sie ihn heute von der Polizeiwache aus anrief.

Verdammt, er hatte doch alles versucht, um ein gutes Verhältnis zu ihr aufzubauen. War es da zu viel verlangt, dass sie sich auch ein bisschen anstrengte?

„Du hast mich zwei Stunden lang bei der Polizei warten lassen.“ Das klang vorwurfsvoll und wütend.

„Weil ich bei der Arbeit war, als du deine Nummer abgezogen hast, und ich nun einmal nicht den Job habe, bei dem ich innerhalb von fünf Minuten alles stehen und liegen lassen kann. Ich trage die Verantwortung für meine Patienten. Ich musste einen Kollegen an seinem freien Tag anrufen, ihn bitten, für mich einzuspringen, und warten, bis er da war. Erst dann konnte ich weg.“

Jessie verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich hasse dich“, sagte sie.

Nichts Neues. „Okay.“ Lewis verschränkte ebenfalls die Arme vor der Brust, genau wie seine starrsinnige, launische Tochter, und erwiderte ihren abfälligen Blick, während er antwortete: „Ich hasse dich gerade auch.“

Kaum waren die Worte heraus, bereute er es auch schon. Lewis Jackson, vom Erfolg verwöhnt, ein Überflieger, der nie versagte, scheiterte als alleinerziehender Vater auf ganzer Linie.

Mit quietschenden Reifen hielt das Taxi vor der Notaufnahme. Jessie sprang aus dem Wagen und ging auf die automatischen Türen zu, noch bevor Lewis bezahlt hatte. Er warf dem Fahrer den Betrag plus Trinkgeld plus einer Zwanzigdollarnote praktisch in den Schoß, stieg hastig aus und folgte seiner Tochter. „Jessie, warte!“

Tat sie natürlich nicht.

Er eilte in die Notaufnahme. „Bleib sofort …“

Jessie rannte los, Richtung Flur.

Nein, nicht schon wieder. Lewis lief hinterher. Als er um die Ecke bog, sah er gerade noch, wie sich die Tür zur Behindertentoilette schloss.

Er erreichte sie in dem Moment, in dem von innen verriegelt wurde. Klick. Lewis hämmerte an die Tür. „Verflucht, Jessie, komm da raus!“ Damit er sich entschuldigen konnte. Damit er versuchen konnte, ihr alles zu erklären. Damit er sie in sein Büro bringen und einsperren konnte, weil sie dort sicher war. Wenigstens für die nächsten Stunden.

Wie ein Tiger im Käfig marschierte er auf und ab, wütend, angespannt, hilflos. Ihm kam der Gedanke, dass es vielleicht besser wäre, wenn sie blieb, wo sie war. Lewis schwankte zwischen dem Drang, sie zu schlagen, und dem Wunsch, sie in die Arme zu nehmen. Er hätte sie anschreien und gleichzeitig vor ihr die Knie sinken und um Verzeihung bitten können. Er war hin- und hergerissen, sie bei sich zu behalten oder nach einem streng geführten Internat weit weg in Europa zu suchen, das Verwandtenbesuche nur unter Aufsicht erlaubte – ein Mal im Jahr.

In seinem gesamten Erwachsenenleben hatte er sich noch nie so unsicher, so nutzlos und so überwältigend unfähig gefühlt.

„Jessie“, sagte er durch die Tür und drückte die Klinke hinunter. Ohne Erfolg. „Bitte komm raus.“ Lewis zwang sich, ruhig zu sprechen. „Ich muss zurück zur Arbeit.“

Sie antwortete nicht. Wie immer, wenn er mit ihr durch eine geschlossene Tür zu reden versuchte. Wie oft war das inzwischen vorgekommen? Ein Dutzend, dreißig, hundert Mal? Lewis stellte sich vor, wie sie grinsend auf der anderen Seite dieser Tür stand und eine abartige Befriedigung daraus zog, dass er hier frustriert und zornig im Flur wartete. Drauf und dran, das letzte bisschen Beherrschung zu verlieren, das ihm noch geblieben war.

„Na schön.“ Lewis stürmte zur Schwesternstation. „Rufen Sie in der Wartungsabteilung an“, fuhr er die neue Stationssekretärin an, die anscheinend mehr Interesse an einer riesigen mit roten Rosen gefüllten Glasvase hatte als daran, ihre Arbeit zu erledigen.

Ungeduldig wartete er, bis sie sich auf ihren Platz am Telefon begab, wo sie eigentlich hingehörte.

„Die sollen jemanden schicken, der mir wieder die Tür zur Behindertentoilette im hinteren Flur öffnet. Und diesmal können Sie mir gleich einen Schlüssel dafür mitbringen!“

Sobald sie ihm mitgeteilt hatte, dass in wenigen Minuten ein Mitarbeiter hier wäre, eilte er zurück zum Toilettenraum. Hoffentlich hatte Jessie nicht die Gelegenheit genutzt, um zu verschwinden und erst kurz vor seinem Dienstschluss wieder aufzutauchen. Wie immer in letzter Zeit.

Nach dem ersten Schock, dass er Vater eines Teenagers war, hatte Lewis sich schnell mit dem Gedanken angefreundet, in der Stadt, die er liebte, mit seiner Tochter zu leben. Er stellte sich vor, wie sie Radtouren durch den Central Park unternahmen, Museen besuchten, gemeinsam ins Ballett und in die Oper gingen. Ja, er wollte ihr Kultur nahebringen, sie in seiner Obhut Neues entdecken lassen und ihr alles bieten, damit sie für ihr Erwachsenenleben gut gerüstet war.

Die Ernüchterung folgte, als er sie kennenlernte.

Lewis kam um die Ecke und blieb abrupt stehen. Mit dem Rücken zu ihm stand Jessie im Flur und sprach mit einer dunkelhaarigen Krankenschwester, die er nicht kannte. Der kurze weiße Laborkittel, den sie über ihrer hellblauen Krankenhauskleidung trug, verriet jedoch, dass sie eine leitende Position bekleidete.

„Jetzt muss ich bestimmt nicht mehr mit zu diesem blöden See“, hörte er Jessie sagen. „Er kann mich seinen Eltern nicht zumuten.“

Zorn, wie er ihn noch nie erlebt hatte, erreichte den Siedepunkt und kochte über. „Deshalb hast du das Gesetz gebrochen?“, brüllte er, während er zu ihr marschierte. „Deshalb riskierst du, verhaftet und vor Gericht gestellt und zu gemeinnütziger Arbeit oder einer anderen Strafe verdonnert zu werden? Nur um einem schönen Wochenendausflug mit deinen Großeltern und deinen Cousinen zu entgehen? Wie dumm …“

Jessie verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich hab dir gesagt, dass ich nicht mit will.“

„Und ich sage dir eins, junge Dame. Mein Entschluss steht fest. Endgültig. Du fährst zum Lake George.“

In elf Tagen. Weil Lewis eine Pause brauchte und Sex und ein paar Tage, um wieder er selbst zu sein. So wie früher, als er noch locker und entspannt war und sich leiden mochte. Damit er sich in Ruhe Gedanken machen konnte, wie er in Zukunft ruhig und gelassen mit seiner Tochter umging.

„Er will mich loswerden.“ Jessie warf sich der verblüfften Krankenschwester in die Arme.

Nicht für immer. Nur für eine kurze Verschnaufpause. „Ich …“

„Er will mich nicht“, schluchzte sie. „Er hat mich nie gewollt. Das hat meine Mom gesagt. Und jetzt ist sie nicht mehr da, und ich hab niemanden mehr.“

Die Verzweiflung in ihrer Stimme schnürte ihm die Kehle zu. Zugegeben, Kinder waren in seiner Lebensplanung nie vorgekommen. Aber seit der Vaterschaftstest bewiesen hatte, dass Jessie seine leibliche Tochter war, wollte Lewis alles tun, dass es seinem Kind gut ging. Auch wenn sie nicht nur das hübsche Gesicht, sondern auch das unberechenbare Temperament ihrer Mutter geerbt hatte.

Allerdings hätte er sich in seinen schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können, wie schwer es war, ein guter Vater zu sein.

„Jessie …“ Er streckte die Hand aus, wollte derjenige sein, der sie in den Armen hielt und tröstete.

Doch Jessie hob abwehrend den Arm, während sie schluchzend Luft holte und sich bitter beschwerte: „Er sagt, dass ich dableiben muss. Egal, was ist, ich darf nicht früher nach Hause kommen.“

„Weil ich arbeiten muss.“ Das war gelogen. Aber es klang besser als: Weil ich ein paar Tage Ruhe vor dir haben muss, um wieder zu Kräften zu kommen.

„Du arbeitest ständig“, konterte sie und warf ihm über die Schulter der Krankenschwester einen anklagenden Blick zu.

„Warum auch nicht?“, gab er zurück. „Es ist ja nicht so, dass du etwas mit mir unternehmen willst, wenn ich nicht arbeite.“

„Hörst du, wie er mit mir redet? Er hasst mich.“

„Findest du nicht, dass du ein bisschen dick aufträgst?“, fragte die Frau, entwand sich Jessies Umklammerung und trat einen Schritt zurück.

Jetzt konnte Lewis auch das Namensschild an ihrem Kittel lesen.

Scarlet Miller, RN, BSN, MSN, CCRN

Stationsschwester NICU

Sie war staatlich geprüfte Kranken- und Intensivpflegeschwester, hatte einen Bachelor in Krankenpflege und den Master dazu und leitete die Frühgeborenen-Intensivstation.

„Bestimmt nicht.“ Jessie wischte sich mit den Handrücken über die Augen. „Er hat’s mir selbst gesagt. Vorhin im Taxi.“

Scarlet wandte sich ihm zu. „Unglaublich“, sagte sie kopfschüttelnd. „Und ich habe Jessie die ganze Zeit gesagt, dass Sie gar nicht so schlimm sein können, wie sie Sie beschreibt. Da muss ich mich wohl korrigieren.“

Wache blaue Augen blickten ihn herausfordernd an. Ihr Gesicht strahlte eine attraktive Mischung aus natürlicher Schönheit und Klugheit aus, und einen Moment lang verlor sich Lewis in der Betrachtung seidiger schokoladenbrauner Haare und der wohlgeformten Figur von Scarlet Miller.

Und noch etwas machte ihn neugierig. Die ganze Zeit, hatte sie gesagt. Lewis fragte sich, warum eine leitende Krankenschwester, die vom Alter her ihm näher war als seiner Tochter, sich mit einem jungen Mädchen angefreundet hatte.

„Wenn er mich zwingt, laufe ich weg“, sagte Jessie zu Scarlet, als wäre ihr Vater gar nicht da.

„Nein, das tust du nicht“, antwortete diese bestimmt.

„Du hast es auch gemacht.“

Lewis traute seinen Ohren nicht. War die Frau verrückt geworden, so etwas einem Mädchen zu erzählen, das schon genug Flausen im Kopf hatte?

„Hast du mir nicht zugehört? Ich habe dir gesagt, wie gefährlich und dumm das war.“ Scarlet Miller packte sie bei den Schultern und drehte Jessie zu sich herum. „Sieh mich an, Jess.“

Jess. Das klang vertraut. Fast liebevoll.

Ein verletzlicher Ausdruck erschien auf Jessies Gesicht, und zum ersten Mal sah Lewis hinter die Fassade von Teenagerzorn und Trotz, die sie bisher perfekt vor ihm gewahrt hatte. Dahinter kam ein verängstigtes kleines Mädchen zum Vorschein. Und das vor einer Fremden. Warum?

„Du hast jemanden, den ich nicht hatte. Du hast mich.“ Sie holte eine Visitenkarte aus ihrer Kitteltasche, schrieb etwas hintendrauf und reichte Jessie das Kärtchen. „Vorne steht meine Nummer hier im Angel’s, hinten meine Handynummer. Du kannst mich jederzeit anrufen, warum auch immer. Ich habe es dir nicht schon eher angeboten, weil ich mich nicht in eure Angelegenheiten einmischen wollte.“

Sehr richtig, dachte er.

„Du bist nicht allein, Jess. Du hast deinen Vater, und du hast mich.“ Scarlet sah ihn an, bevor sie hinzufügte: „Und falls bei diesem Wochenendausflug irgendjemand versucht, dich zu etwas zu bringen, das du nicht möchtest, und dein Vater dich nicht abholt, verspreche ich dir, dass ich komme.“

Oh nein, Verehrteste. „Meine Tochter wird von ihren Großeltern zum See gefahren und wieder zurück. Sie braucht Ihre Telefonnummern nicht, weil sie mich anrufen kann – jederzeit, warum auch immer.“ Lewis griff nach der Karte.

Jessie versteckte sie hinter ihrem Rücken.

„Die Sache läuft aus dem Ruder, Jess“, sagte Scarlet. „Du musst es ihm sagen.“

Lewis richtete sich auf und starrte sie an. „Was muss sie mir sagen?“

„Das bleibt unter uns!“, schrie Jessie Scarlet an. „Du hast es versprochen!“

„Das war, bevor du von der Polizei aufgegriffen wurdest und damit gedroht hast wegzulaufen.“

„Heißt das, Sie …?“ Lewis wurde von einer Lautsprecherdurchsage unterbrochen.

„Scarlet Miller in die Notaufnahme. Sofort“, ertönte eine drängende Stimme. „Scarlet Miller in die Notaufnahme.“

„Gerettet von der Telefonzentrale.“ Scarlet zwinkerte Jessie zu. „Sprich mit deinem Vater“, fügte sie noch hinzu, bevor sie eilig davonging.

2. KAPITEL

Scarlet erreichte die Schwesternstation im Zentrum der Notaufnahme.

„Ich bin Scarlet Miller“, sagte sie zu der Scarlett, der sie vor ein paar Minuten die Blumen gebracht hatte. Dr. Jackson und Jessie waren ihr gefolgt und standen neben ihr.

„Sie werden in Schockraum drei gebraucht“, antwortete eine Schwester. „Schwangerer Teenager. Kam allein, mit fortgeschrittenen Wehen. Keine Identifizierung möglich. Keine Schwangerschaftsvorsorge. Sie sind nicht sicher, in welcher Woche sie ist, vermuten aber um die dreiunddreißigste. Dr. Gibbons hat ein Frühchen-Team angefordert.“

„Und meine Leute sind bei einer riskanten Mehrlingsentbindung, die für heute Nachmittag geplant wurde.“ Drillinge, einer davon in besorgniserregendem Zustand, die per Kaiserschnitt in der neunundzwanzigsten Woche geholt werden sollten. Scarlet zog ihren Kittel aus und drückte ihn Jessie in die Hand. „Dann will ich mal. Bitte rufen Sie in der NICU an und sprechen Sie mit Ashley“, wandte sie sich an die Sekretärin. „Sagen Sie ihr, dass ich hier bin und dass sie Dr. Donaldson verständigen soll. Ich melde mich bei ihm, wenn ich ihn brauche. Und bitten Sie sie, einen Inkubator runterzuschicken.“

„Kann ich helfen?“, fragte Dr. Jackson.

„Könnten Sie dafür sorgen, dass der Wärmetisch eingeschaltet wird? Ich brauche auch einen Einwegkittel, Handschuhe und angewärmte Handtücher.“

„Bekommen Sie sofort.“ Er drehte sich zu Jessie um. „Warte in meinem Büro auf mich. Und geh nicht weg!“

Scarlet betrat den Schockraum und stellte sich vor: „Ich bin Scarlet von der NICU.“

Auf der Liege lag ein fünfzehn-, vielleicht auch sechzehnjähriges Mädchen mit raspelkurzem schwarzem Haar. Zwei Schwestern hielten ihre nackten blassen Beine angewinkelt. Zwischen den geöffneten Beinen stand ein älterer korpulenter Arzt, ganz auf die Entbindung konzentriert.

„Es tut so weh“, schrie das Mädchen auf.

Autor

Wendy S Marcus
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