Zum Küssen, diese Nanny!

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Endlich eine Familie? Die hübsche Nanny Emma fühlt sich gleich zuhause bei Justin Flint und seinem süßen kleinen Sohn Kyle. So ungeahnt zärtlich Justins Küsse sind, muss sie allerdings fürchten: Sobald der attraktive Single Dad hinter ihr Geheimnis kommt, ist alles wieder vorbei …


  • Erscheinungstag 02.11.2020
  • Bandnummer 2
  • ISBN / Artikelnummer 9783751504249
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

„Ich bin nicht auf der Suche nach einer Ehefrau.“

„Dann sind wir uns ja einig. Als ich meine Bewerbung losschickte, habe ich nämlich eindeutig Nanny angekreuzt, nicht Ehefrau.“

Doktor Justin Flint starrte die junge Frau an, die ihm gegenüber am Schreibtisch saß. Ihr Name war Emma Roberts, und abgesehen von ihren tadellosen Referenzen hatte sie offenbar auch einen Sinn für frechen Humor.

Das änderte natürlich nichts an der Tatsache, dass sein Kommentar vollkommen unangebracht gewesen war. Warum war ihm das herausgerutscht? Wollte er sie entmutigen? Emma Robbins entsprach einfach nicht seiner Vorstellung einer Nanny.

Sie war schlicht viel zu hübsch für den Job.

Aber das hätte er ihr niemals gesagt. Einem plastischen Chirurgen, der gerade seinem luxuriösen Leben in Beverly Hills den Rücken gekehrt hatte, um nach Blackwater Lake in Montana zu ziehen, war auch ein bisschen mehr Verstand zuzutrauen. Zumindest genug Verstand, um nicht noch einmal auf ein hübsches Gesicht hereinzufallen.

„Entschuldigung.“ Er fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. „Das soll nicht arrogant klingen, aber leider musste ich bereits die Erfahrung machen, dass Frauen sich von dieser Stelle … mehr erwarten. Aber Sie sollen sich schließlich um Kyle kümmern – nicht um mich.“

„Sie haben recht. Das klingt ziemlich arrogant.“ Sie zeigte ihm ein freches Lächeln, das sie allerdings noch viel hübscher aussehen ließ. „Aber ich erkenne den besorgten Vater in Ihnen. Und das verstehe ich sehr gut. Also seien Sie gewiss: Mein Interesse gilt ausschließlich dem Job. Nicht Ihnen.“

„Schön.“ Sehr schön. Auch wenn er nicht leugnen konnte, dass ein kleines bisschen an seinem Ego kratzte. „Na gut. Das Vorstellungsgespräch hat nicht ideal begonnen. Und das war allein meine Schuld. Bitte glauben Sie mir, für gewöhnlich gehe ich die Dinge professioneller an.“

„Das habe ich nicht anders erwartet. Ich kann mir gut vorstellen, warum die Ladys mit Ihnen flirten möchten. Aber ich gehöre nicht dazu.“

Würde er noch immer in Beverly Hills leben, hätte er die Auswahl der Nanny einer Agentur überlassen. Aber hier in der Kleinstadt musste er sich selbst darum kümmern. Er hatte eine Anzeige in der Lokalzeitung aufgegeben und sich bei der Suche auf die Empfehlungen von Kollegen aus der Mercy Medical Klinik gestützt.

Das Ergebnis waren sechs potenzielle Kandidatinnen. Vier von ihnen waren allerdings schon ausgeschieden. Für Justins Geschmack hatten sie ein bisschen zu viel mit den Wimpern geklimpert und dabei vergessen, dass die eigentliche Hauptperson der zehn Monate alte Kyle war.

Justin überflog den Bewerbungsbogen. „Also, Miss Robbins. Sie kommen aus Kalifornien?“

„Richtig, Studio City. Das ist im San Fernando Valley, nördlich von Los Angeles.“

„Ein weiter Weg bis Blackwater Lake.“

Sie lächelte. „Das stimmt.“

Er kannte die Gegend gut. Emma Robbins hatte also ebenfalls nahe der Glitzerwelt gewohnt, wo er jahrelang als plastischer Chirurg gearbeitet hatte. Mit ihrem Gesicht hätte sie dort gute Chancen auf eine Karriere gehabt. Zusammen mit unzähligen anderen Stars und Sternchen, die die Straßen von Beverly Hills bevölkerten.

Für eine Sekunde verharrte sein Blick prüfend auf ihrem Gesicht. Nein. Diese Frau hatte nicht Hand anlegen lassen. Sie war eine vollkommen natürliche Schönheit. Mit diesen Gesichtszügen brauchte sie nicht einmal Make-up, um vor einer Kamera glamourös auszusehen.

Ihr langes, glänzendes Haar fiel ihr über die Schultern und war von einer warmen, dunkelbraunen Farbe, durchzogen von goldenen Strähnchen. Ihre großen dunkelbraunen Augen wurden von dichten, schwarzen Wimpern eingerahmt. Aber was Justin am meisten in den Bann zog, war ihr Mund. Die vollen, geschwungenen Lippen ließen nur einen Gedanken aufkommen: Das waren Lippen zum Küssen.

So viel zum Thema Verstand.

Er räusperte sich. „Was hat Sie nach Blackwater Lake geführt, Miss Robbins?“

„Urlaub.“

„Waren Sie schon einmal hier?“

„Nein.“

„So. Und während andere Urlaub in Hawaii machen, zieht es Sie in diese nette Kleinstadt in den Bergen.“ Seine Gedanken machten eine unwillkommene Wende. In einem Bikini würde sie mit Sicherheit für Aufsehen sorgen.

Dabei war sie gerade alles andere als aufreizend angezogen. Mit dem tadellosen weißen Blusenkragen, der unter ihrem marineblauen Pullover hervorlugte, wirkte sie eher wie ein adrettes College-Mädchen. „Ich frage nur, um Sie besser kennenzulernen.“

Sie zögerte. Bildete er sich das ein, oder mied sie plötzlich seinen Blick?

„Es klingt vielleicht albern“, sagte sie schließlich, „aber eines meiner Lieblingsbücher spielt in Montana. Ich habe ein wenig recherchiert. Angeblich ist Blackwater das neue Aspen – nur noch nicht so überlaufen von Ski-begeisterten Touristen. Also dachte ich mir, ich sehe es mir mal an.“

„Und – gefällt es Ihnen?“

„Es ist wunderschön hier“, antwortete sie wahrheitsgemäß. „Die Berge sind so majestätisch, und der See ist wirklich bezaubernd. Außerdem gibt es hier den schönsten und blausten Himmel, den ich je gesehen habe.“

Justin nickte. Er empfand ganz genauso. Allerdings beantwortete das nicht die Frage, ob die junge Frau wirklich dauerhaft hierbleiben wollte. „Sehen Sie, ich möchte ehrlich zu Ihnen sein. Über meine derzeitige Lebenssituation.“

„Das würde ich sehr begrüßen, Dr. Flint.“ Ihr Tonfall war plötzlich ungewohnt ernst. Womöglich war jemand in der Vergangenheit nicht so ehrlich mit ihr umgegangen.

„In Beverly Hills hatte ich eine sehr zuverlässige Nanny für Kyle. Zurzeit wohnt sie hier in meinem Haus, aber sie wird nicht mehr lange bleiben. Es ist nicht so, als würde es ihr hier nicht gefallen. Aber sie hat eigene Kinder, die sie sehr vermisst, und ihre Tochter bekommt bald ein Baby.“

„Und sie möchte zurück, um ihrem Enkelkind nahe zu sein“, beendete sie seinen Satz. „Das ist mehr als verständlich.“

„Ich konnte sie überzeugen, noch zwei Wochen zu bleiben. So kann ich jemand anderen für Kyle finden. Und er hat Zeit, sich umzugewöhnen. Ich möchte, dass ihm die Veränderung so leicht wie möglich fällt.“

Emma Robbins nickte verständnisvoll. Dann zeigte sie auf das Babyfoto, das auf Justins Schreibtisch stand. „Darf ich?“

„Selbstverständlich.“

„Oh, das ist aber ein Hübscher. Ganz der Vater.“ Sie biss sich auf die Lippe. „Das war kein Flirtversuch, versprochen. Ich wollte nur sagen, dass er Ihnen sehr ähnlich sieht. Mehr nicht.“

Wortlos nahm Justin das Foto entgegen. Es gefiel ihm, was sie darin sah. Wenigstens hatte Kyle etwas Gutes von ihm geerbt. Er hoffte bloß, dass sein Sohn irgendwann ein besseres Urteilsvermögen beweisen würde, wenn es um Frauen ging.

„Jedenfalls will ich nur das Beste für ihn“, nahm Justin das Gespräch wieder auf. „Und ich wünsche ihm Stabilität und Kontinuität. Können Sie das garantieren?“

In Wahrheit war diese Frage völlig unerheblich. Denn niemand konnte im Leben für irgendetwas garantieren. Justin wusste das besser als jeder andere. Und wenn die heiligen Mutter- und Ehepflichten seine Frau nicht davon abgehalten hatten, ihren eigenen Weg zu gehen – wie sollte dann ein einfacher Arbeitsvertrag eine völlig Fremde dazu bewegen, ihm Versprechungen zu machen?

Kyles Mutter hatte ihren Sohn im Stich gelassen. Immer und immer wieder. Seit ihrem Tod hatte Justin sich geschworen, zumindest die beste Nanny für ihn zu finden.

„Dr. Flint“, begann Emma und beugte sich zu ihm. „Ich merke, wie wichtig Ihnen diese Aufgabe ist. Und ich merke, dass Sie sehr vorsichtig sind. Selbst wenn ich Ihnen versprechen würde, mich bestmöglich um Ihren Sohn zu kümmern, wären Sie wahrscheinlich nicht restlos überzeugt.“

Sie breitete die Arme aus. „Deshalb mache ich einen Vorschlag. Sie können gern sämtliche meiner Referenzen überprüfen. Ich habe Frühpädagogik studiert. Und ich hatte bereits mehrere Jobs in dieser Richtung. Rufen Sie meine ehemaligen Arbeitgeber an, wenn Sie möchten. Und wenn Sie sich damit wohler fühlen, können wir zunächst einen befristeten Vertrag schließen und schauen, wie es läuft. Wenn einer von uns nicht zufrieden damit sein sollte, können wir uns noch immer etwas anderes überlegen.“

Das war eine vernünftige Lösung, aber noch war Justin nicht bereit einzuwilligen. „Was ist mit Ihrem Leben in Kalifornien?“

„Was genau möchten Sie wissen?“

„Haben Sie dort Familie? Freunde? Müssen Sie ein Haus verkaufen oder vermieten?“ Gab es einen Mann in ihrem Leben?

Zu seinem Ärger war das die Frage, die ihn am meisten beschäftigte. Na schön, sie sah gut aus. Sehr gut. In ihrem Leben gab es mit Sicherheit einen Mann. Und selbst wenn sie keinen festen Freund hatte, standen die jungen Männer bestimmt Schlange, um mit ihr auszugehen.

Emma lehnte sich wieder zurück und schlug die Beine übereinander. „Ich habe keine Familie. Ich bin ein Einzelkind, mein Vater ist gestorben als ich zehn war. Meine Mutter starb vor einem knappen Jahr.“

„Das tut mir sehr leid.“

„Danke.“ Ihr Mund wurde zu einer schmalen Linie. Es hatte beinahe den Anschein, dass sich hinter der Trauer noch etwas anderes verbarg. Aber was es auch war – Wut, Ärger oder Enttäuschung –, eine Sekunde später schien sie das Gefühl wieder vollkommen abgestreift zu haben. „Meine Mutter hat mir ihr Haus vererbt, aber es gibt da jemanden, der sich darum kümmert.“

Am liebsten hätte er gefragt, ob es sich bei dem jemand um einen Mann handelte, aber diese Frage war ebenfalls unangebracht.

In diesem Augenblick klopfte es an die Tür seines Büros. Es war die Arzthelferin Ginny Irwin, die Justin darüber informierte, dass sein erster Nachmittagspatient eingetroffen war. Bevor sie die Tür wieder schloss, warf sie einen neugierigen Blick auf Emma Robbins.

Willkommen in der Kleinstadt, dachte Justin. Er erhob sich. „Ich denke, das war’s fürs Erste.“

Als die junge Frau ebenfalls aufstand, wurde Justin bewusst, wie zierlich sie war. Ihre schmale Gestalt weckte unwillkürlich seinen Beschützerinstinkt.

„Nur eins noch“, sagte sie und sah ihn direkt an.

„Ja?“

„Ich möchte diesen Job wirklich. Und ich kann sehr gut mit Kindern umgehen.“

„Gut. Allerdings gibt es noch eine letzte Bewerberin um den Job.“

„Bitte lassen Sie mich wissen, wie Sie sich entschieden haben. So oder so.“

„Das werde ich. Und ich werde Ihre Referenzen gründlich überprüfen.“

„Das habe ich nicht anders erwartet.“ Sie lächelte. „Und ich werde dasselbe tun.“

Er hob die Braue. „Bitte?“

„Es handelt sich um eine Vollzeitstelle, richtig? Ich muss doch wissen, mit wem ich unter einem Dach wohne.“

Justin zog die Stirn kraus. „Das stimmt. Auch wenn ich Ihnen versichere, dass es nur im Interesse meines Sohnes ist. Immerhin muss jemand im Haus sein, wenn ich nachts zu einem Notfall gerufen werde.“

„Ich verstehe. Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Dr. Flint.“ Sie streckte die Hand aus.

Justin ergriff sie. Als er ihre zarten Finger berührte, war ihm, als würde ein Funke überspringen. Seine Haut begann zu prickeln.

Bitte lass die nächste Bewerberin Mary Poppins sein, bat er im Stillen.

Denn obwohl Emma Robbins die bisher am besten qualifizierte Nanny war, hatte er Skrupel, sie einzustellen.

Er nahm sie überdeutlich wahr. Als Frau.

Und das war kein gutes Zeichen.

Emma folgte dem Weg den Hügel hinauf und parkte den Wagen vor Justin Flints beeindruckendem Heim.

Es war ein hübsches zweistöckiges Haus in bester Lage, mit Blick auf den Blackwater Lake. Emma atmete tief ein, stieg aus dem Auto und sah sich aufmerksam um. Eine breite Veranda verlief um das Haus und gab auf der Frontseite den Eingang frei. Drei Stufen führten zu einer großzügigen Doppeltür aus geätztem Glas, durch die warmes Licht fiel.

„Heimelig“, murmelte Emma leise. Sie musterte die Schaukelstühle, die jemand einladend auf der hölzernen Veranda platziert hatte. Mit so viel Wohnlichkeit hatte sie gar nicht gerechnet. Vielmehr mit kühlem, modernem Beverly-Hills-Schick.

Nachdem sie die Stufen hinaufgegangen war, drückte sie auf den Klingelknopf. Im Inneren des Hauses vernahm sie Schritte. Sie straffte sich.

Doch es war nicht Dr. Flint, der ihr die Tür öffnete, sondern eine füllige blonde Frau um die Fünfzig. Sie schenkte Emma ein warmes Lächeln und streckte die Hand aus. „Ich bin Sylvia Foster.“

„Emma Robbins. Freut mich, Sie kennenzulernen.“

„Sie werden also meine Nachfolgerin.“ Ein gutmütiges schelmisches Glitzern lag in ihren blauen Augen.

„Das hoffe ich. Vorerst bin ich einfach nur froh, zu einem zweiten Vorstellungsgespräch eingeladen worden zu sein“, räumte Emma ein. Sie war überrascht gewesen, als Justin angerufen hatte. Nach der Verabschiedung in der Klinik hatte sie sich wenig Hoffnung gemacht.

„Ich sollte Ihnen das vielleicht nicht sagen, aber er ist verzweifelt. Ich musste ihm ein Ultimatum setzen, auch wenn es mir das Herz zerreißt. Es fällt mir wirklich schwer, die beiden im Stich lassen zu müssen“, erklärte Sylvia bedauernd.

„Ich kann verstehen, dass Sie bei der Geburt Ihres Enkels dabei sein wollen.“

„Es wird ein Junge“, verkündete die ältere Dame jetzt voll Stolz. „Ich bin wirklich hin- und hergerissen. Ich werde Kyle schrecklich vermissen, aber meine eigenen Kinder wohnen nun einmal in Kalifornien. Ebenso wie meine Schwester und mein Bruder. Ich möchte wirklich bei meiner Familie sein.“

In diesem Augenblick drang leises Kindergebrabbel aus dem Flur. Sylvia machte einen Schritt beiseite, sodass Emma einen Blick in den geschmackvollen, mit warmen Holzdielen ausgelegten Flur werfen konnte.

Ein niedliches Baby, das unverkennbar Dr. Justin Flints Sohn sein musste, krabbelte mit erstaunlich schneller Geschwindigkeit auf die Haustür zu.

„Kyle Flint“, tadelte Sylvia gutmütig. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du dich davonstehlen kannst.“ Sie bückte sich, um den Jungen aufzuhalten, doch Emma ließ sich auf der Veranda auf die Knie sinken und bat: „Wäre es in Ordnung, wenn er für einen Augenblick nach draußen kommt? Immerhin hat er sich so viel Mühe gegeben. Eine kleine Belohnung für seinen Forschungsdrang kann doch nicht schaden.“

„Mir gefällt, wie Sie denken.“ Sylvia lächelte. „Bitte. Er gehört Ihnen.“

Emma wartete, bis der Kleine vorsichtig die Schwelle überquert hatte. Er robbte auf die Veranda, begab sich wieder auf alle viere und kam zu ihr herüber. Aufmerksam musterte er sie aus großen grauen Augen. Er hat die Augen seines Vaters, dachte Emma unwillkürlich. Und den gleichen forschenden Gesichtsausdruck.

„Hallo, du Hübscher.“ Sie ließ ihm Zeit. Er sollte sich ganz langsam an sie gewöhnen, auch wenn sie ihn am liebsten gleich auf den Arm genommen und geknuddelt hätte.

Zwei Minuten später kroch er noch näher auf sie zu, stützte sich auf ihren Oberschenkel und versuchte, sich hochzuziehen. „Hat er schon die ersten Schritte gemacht?“

Sylvia schüttelte den Kopf. „Nein. Er ist noch ein bisschen zögerlich.“

Genauso fühlte sich Emma auch. Sie zögerte ebenfalls, den ersten Schritt zu machen – immerhin gab es einen bestimmten Grund, warum sie nach Blackwater Lake gekommen war.

Hier lebten ihre leiblichen Eltern. Die Frau, die sie ihr Leben lang als ihre Mutter gekannt hatte und die vor einem Jahr verstorben war, hatte sie jahrelang belogen. Erst kurz vor ihrem Tod hatte sie Emma gestanden, dass sie sie als Baby entführt und danach als ihr eigenes Kind ausgegeben hatte.

Geraubt von einem Paar, das hier in Blackwater Lake lebte.

Emma hatte einige Tage lang völlig unter Schock gestanden. Bis heute fiel es ihr schwer, das ganze Ausmaß des Geständnisses zu begreifen.

Dann war sie in die idyllische Kleinstadt gefahren. Bei ihrem ersten Besuch hatte sie dreieinhalb Wochen in Blackwater Lake verbracht und herausgefunden, dass ihre leiblichen Eltern ein Restaurant besaßen. Es schien gut zu laufen, und sie wirkten jedes Mal sehr beschäftigt, wenn Emma sie aus der Ferne beobachtete.

Noch hatte sie allerdings nicht den Mut aufgebracht, ihnen die Wahrheit zu sagen.

Vielleicht würde sie ihn niemals aufbringen. Vielleicht würde sie alles nur noch schlimmer machen, wenn sie diesen fremden Menschen nach all der Zeit gegenübertrat. Immerhin schien es, als hätten sie sich nach dem Verlust zusammengerissen und weitergemacht. Sie hatten einen – wenn auch zerbrechlichen – Frieden gefunden. Warum also ihre Welt noch einmal auf den Kopf stellen und womöglich alles zerstören?

Der kleine Junge zupfte an ihrem Hosenbein. „Hey, Kleiner“, sagte Emma sanft. „Du bist wirklich zum Anbeißen süß.“

„Er wird mit Sicherheit einige Herzen brechen, wenn er groß ist. Genau wie sein Vater“, bemerkte Sylvia mit einem Lächeln.

Emma begann sich zu fragen, warum Justin Frauen gegenüber diese Abwehrposition einnahm. Wollte er sie wirklich vor einem gebrochenen Herzen schützen?

Er war immerhin Arzt. Eine Person, die andere Menschen heilte, anstatt ihnen Leid zuzufügen. Oder war er noch immer zu tief verstrickt in den Kummer über den Tod seiner Frau?

Emma hatte einige Recherchen angestellt und herausgefunden, dass seine Frau bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Es gab erstaunlich viele Berichte über den smarten Chirurgen aus Beverly Hills, der nach dem tragischen Tod seiner Frau Ruhm und Geld aufgegeben und sich aus der Glamour-City zurückgezogen hatte.

Beim Geräusch eines herannahenden Wagens drehte Emma sich um. Ein teurer silberner SUV fuhr auf das Haus zu und parkte neben dem kleinen Mietauto, das sie am Flughafen entgegengenommen hatte.

Dr. Justin Flint war zu Hause. Und wenn dieses zweite Interview so gut lief, wie Emma es sich erhoffte, würde sie ihr eigenes Auto aus Kalifornien herbringen lassen müssen. Und weitere Schritte planen.

„Daddy ist da, Kyle.“ Sylvia klatschte in die Hände.

„Da…“, gab das Baby gurgelnd zurück.

„Kluger Junge“, bemerkte Emma. Sie erhob sich und streckte Kyle die Arme entgegen. Erst nachdem er ebenfalls die Ärmchen nach ihr ausstreckte, hob sie ihn hoch und verlagerte sein Gewicht auf ihre Hüfte. „Wow. Du bist ja ganz schön schwer.“

Justin stieg aus dem Auto und kam auf sie zu. Dafür, dass er unendlich müde wirkte, sah er umwerfend gut aus. Sein kurzes dunkles Haar wirkte zerwühlt, als wäre er im Laufe des Tages mehrere Male mit den Fingern hindurchgefahren.

Der Ausdruck in seinen stahlgrauen Augen wurde weicher, als sein Blick auf seinen Sohn fiel. Für den Bruchteil einer Sekunde war es, als könne man zusehen, wie die Tür zu seiner Seele weit geöffnet wurde. Seine Gefühle waren so offen an seinem Gesichtsausdruck ablesbar, dass es Emmas Herz zusammenzog.

Ganz gleich, wie attraktiv dieser Mann war: Erst in diesem verletzlichen Moment wurde er für Emma unwiderstehlich.

„Tut mir leid, dass ich zu spät komme“, entschuldigte er sich und trat neben Emma. „Es gab einen Notfall.“

„Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes passiert.“ Unwillkürlich wiegte sie das Baby auf ihrer Hüfte sanft hin und her. Derweil hatte Kyle die Kette entdeckt, die um ihren Hals lag, und griff nach dem kleinen Schmetterlingsanhänger.

„Ein kleines Mädchen hat ein Glas zerbrochen und sich geschnitten.“ Er folgte Emmas Bewegungen aufmerksam. Seine Augen schienen eine Spur dunkler zu werden.

„Geht es ihr gut?“

„Ich habe ihr hoch und heilig versprochen, dass die Narben auf ihren Knien nicht mehr zu sehen sein werden, wenn sie ihre Cheerleader-Uniform trägt.“

„Sie sind ein Held“, sagte Sylvia mit einem Lächeln.

„So würde ich das nicht sagen. Ich habe nur meinen Job gemacht.“ Er streckte die Arme nach Kyle aus. „Hey, Kumpel. Bekomme ich eine Umarmung?“

Der Junge zögerte und vergrub das Gesicht in Emmas Schulter. Natürlich war das nicht ihre Schuld. Doch natürlich war es nicht das, was sich ein Vater erwartete, der den ganzen Tag hart gearbeitet und sich auf seinen Sohn gefreut hatte.

„Das ist ungewöhnlich“, gab Sylvia zu bedenken. „Aber wissen Sie was? Ich habe ein gutes Gefühl bei Emma. Kyle scheint sie zu mögen.“

„Das sagen Sie nur, weil es Ihnen dann leichter fällt, sich aus der Affäre zu ziehen.“

„Das ist wirklich gemein von Ihnen, Dr. Flint. Mein schlechtes Gewissen hat ohnehin schon biblische Ausmaße angenommen. Sie müssen es nicht noch schlimmer machen.“

„Würde ich das je tun?“

Die ältere Nanny zwinkerte Emma zu. „Ohne mit der Wimper zu zucken.“

„Gehen wir ins Haus“, meinte der Chirurg. Ob er verärgert war, ließ er sich nicht anmerken.

Im Foyer sah Emma sich bewundernd um. Die Eingangshalle wurde zu beiden Seiten von breiten Treppen beherrscht, die in das obere Stockwerk führten. In der Mitte der Halle befand sich ein kleiner runder Tisch, auf dem eine Vase mit frischen Blumen stand.

Zur Linken befand sich ein großes, elegantes Esszimmer mit einem langen Tisch, an dem acht holzgeschnitzte Stühle Platz fanden. Zur Rechten befand sich das Wohnzimmer, in dem eine ausladende Couch und mehrere bequeme Sessel standen. Zu ihrer großen Freude entdeckte Emma sogar einen Kamin.

Sie ließen Ess- und Wohnzimmer hinter sich und gingen in den hinteren Teil des Erdgeschosses, wo sich die Küche befand. Auf dem Weg dorthin begann der Junge auf Emmas Armen zu zappeln. „Da!“

Justin nahm ihn ihr behutsam ab. „Na, Großer? Hast du mich vermisst?“ Er kitzelte den Jungen an der Nase, und Kyle quietschte vergnügt.

„Ich werde Kyle etwas zu essen machen, während Sie mit Miss Robbins sprechen“, schlug Sylvia vor.

„Das wäre schön. Danke.“ Justin überließ den Jungen der Obhut des Kindermädchens und führte Emma in sein Büro. Dort forderte er sie auf, in einem der bequemen Ledersessel Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich hinter seinen Schreibtisch.

Emma sah sich neugierig um. „Ihre Einrichtung ist überraschend wohnlich und … gemütlich.“

„Warum überraschend?“

Emma hätte sich ohrfeigen können, dass sie ihre Beobachtung laut ausgesprochen hatte. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

„Nun, ich habe ein bisschen recherchiert, und Sie … Sie waren der Superstar-Chirurg in Beverly Hills. Der Mann, zu dem Stars gehen, wenn sie eine neue Nase wollen. Oder Lippen. Oder …“ Sie senkte den Blick auf ihr Dekolleté, das ihr plötzlich ziemlich kläglich vorkam. Als sie wieder aufsah, bemerkte sie den amüsierten Ausdruck in seinen Augen. „Und so weiter“, beendete sie tapfer den Satz.

Autor

Teresa Southwick
<p>Teresa Southwick hat mehr als 40 Liebesromane geschrieben. Wie beliebt ihre Bücher sind, lässt sich an der Liste ihrer Auszeichnungen ablesen. So war sie z.B. zwei Mal für den Romantic Times Reviewer’s Choice Award nominiert, bevor sie ihn 2006 mit ihrem Titel „In Good Company“ gewann. 2003 war die Autorin...
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